FRANZISKA GERSTENBERG ANNA-RESA KÜSSTE NICHT 1 Anna-Resa trug ausschließlich Rosa, rosa Jacken mit Reißverschlüssen, die in der Sonne glänzten wie aufgesprungene Lippen bei Frost, knielange rosa Röcke und rosa Plastikklemmen, um die schwarzen Haare aus dem Gesicht zu halten. Anna-Resas Hände waren schmal, die Finger rot und feucht, als reibe sie sie in jeder Pause mit Vaseline ein. Die Haarspangen und die Röcke stammten aus braunen Paketen aus Düsseldorf, die monatlich an die Adresse von Anna-Resas Eltern gingen. Wir besuchten die vierte Klasse, und Anna-Resa spielte Klavier, auf ihrem Kindergeburtstag und vor der Patenbrigade. Ihre Fingernägel waren kurz geschnitten, zu gleichmäßig geschwungenen Bögen, die Nagelhaut zurückgeschoben. Auch ich spielte Klavier, aber niemand forderte mich auf, einer Brigade ein Ständchen zu bringen, mein Spiel klang hart und der Anschlag unsauber im Vergleich zu dem von Anna-Resa. Die Klaviere schepperten und klirrten, sobald ich mich auf den schwarzen Hockern mit den gedrechselten Beinen niederließ. Meine Finger waren breit und kurz, zeigten Tintenflecken auf trockener Haut und dicke Falten über den Knöcheln, kleine schmerzhafte Risse im Nagelbett. Mutter sagte, die weißen Streifen auf meinen Nägeln seien das erste Zeichen für einen Mangel an Calcium. Anna-Resas Nägel waren rosa und durchscheinend wie die Zungen junger Katzen. Obwohl ich schon seit der ersten Klasse nur eine Bankreihe hinter Anna-Resa saß, hatten wir nie versucht, einander kennen zu lernen. Anfang März sprach ich mit ihr das erste Mal im Schuljahr, sie lieh mir ihren Radiergummi. Er hatte 118 FRANZISKA GERSTENBERG die Form eines weißen Hasen mit Sonnenbrille, einen solchen Radiergummi hätte ich niemandem ausgeliehen. Vom nächsten Tag an brachte ich Anna-Resa die Schulmilch zum Platz und kratzte sogar den roten Verschluss aus Alufolie vom Glasrand, damit sie trinken konnte, ohne sich in die blassen Lippen zu schneiden. In den Hofpausen lief ich hinter ihr her, und wenn sie mit ihren Freundinnen Gummihopse spielte, biss ich die Zähne zusammen und reihte mich ein, obwohl ich die Hüpferei hasste. Ab April spielten Anna-Resa und ich viermal in der Woche nach Schulschluss im Garten von Anna-Resas Eltern. Wir waren zu alt für Spiele wie das vom Prinzen, der die Prinzessin befreit, wir wussten das, unsere Gesten und Rufe blieben gedämpfte Heimlichkeiten. Aber Anna-Resa wollte Schauspielerin werden und legte ihre ganze Seele in die Qual der hinter den Treppengittern des Gartenhauses gefangen gehaltenen Königstochter. Sie streckte sich auf dem Treppenabsatz aus, drehte sich auf den Rücken und ließ den Kopf über die oberste der fünf bröckelnden Stufen hängen. Ich sah den braunen gedehnten Hals, unter dessen Haut etwas sprang und tanzte, wenn Anna-Resa sprach. Auch ich wollte Schauspielerin werden, und an manchen Tagen wäre ich gern die Prinzessin gewesen, aber die Regeln in unserem Spiel blieben ungeschrieben und fest. Da ich Hosen trug, weite, über den Schuhen enger werdende graue Cordhosen, fiel mir die Rolle des Prinzen zu. Ich verachtete diesen Prinzen, der erst zum Schluss des Spieles auftauchte, die Prinzessin über das Geländer hob und sich vor ihr verbeugte, bis seine Stirn den Boden berührte. Stundenlang, wie mir schien, saß ich zuvor im Nussbaum und sah auf Anna-Resa hinunter, die stöhnend und jammernd ihre Hüften gegen den Stein presste. Aber wenn ich fragte, ob es jetzt Zeit für den Prinzen sei, zischte sie, ich solle Ruhe geben, sie versuche, sich zu konzentrieren. Lieber als den Prinzen spielte ich den Räuber und stürzte ANNA-RESA KÜSSTE NICHT 119 mich aus dem Gartenhaus heraus auf Anna-Resa, die zwischen den Beeten stand und versonnen in die Baumkronen blickte. Ich riss sie zu Boden, so dass das Gras schmierige Flecken auf ihrem rosa Rock hinterließ. Die Hände unter ihren Armen, zog ich Anna-Resa die Treppe hinauf und griff dabei in die langen Haare, die weich waren, weicher als meine. Vielleicht lag es am Shampoo, auch Anna-Resas Shampoo kam aus Düsseldorf. Ich wickelte Bindfaden um die beweglichen Handgelenke und band Anna-Resa an den scharfen rostigen Streben des Gitters fest. Meine schmutzigen Schuhe links und rechts von ihrem rosa Körper, blickte ich drohend hinunter und wusste nie, wohin mit meinen Händen. Aber nicht an jedem Nachmittag, den wir im Garten verbrachten, kam der Räuber im Ablauf vor. Anna-Resa bestimmte die Handlung unseres Spiels, und immer häufiger bildete die schon geraubte, auf der Treppe weinende Prinzessin die erste Szene. Nie begriff ich, warum Anna-Resa den Prinzen nicht küsste. Ich brachte Märchenbücher mit, um die Unabänderlichkeit des finalen Kusses zu beweisen. Aber Anna-Resa küsste nicht. Sie ließ mich ihre Schultasche ins Haus tragen, und alles, was der tapfere Prinz mit seinen taub prickelnden Lippen berühren durfte, blieb der Rand einer Tasse Kakao. Zu Hause übte ich Klavier. Zuerst freute sich Mutter über mein neu erwachtes musikalisches Interesse. Noch kurz zuvor hatte sie mich beiseite nehmen und mir erklären müssen, dass meine Unterrichtsstunden sie und Vater Geld kosteten. Sie sagte, zur Investition dieses Geldes seien sie nur bereit, wenn ich meine Begeisterung für das Klavierspiel ein wenig deutlicher zeige. Nun übte ich wieder, aber schon bald litt Mutter darunter, dass ich achtlos über unsichere Stellen hinwegging und nie innehielt, um Töne zu korrigieren. Ich spielte schnell, aber falsch. Sie forderte mich auf, zeilenweise zu üben, wenn nötig taktweise. Ich schüttelte den Kopf und beobachtete meine Finger auf den Tasten, wobei ich die Auf- 120 FRANZISKA GERSTENBERG und Abbewegungen mit der Leichtigkeit von Anna-Resas Spiel verglich, aber das konnte Mutter nicht wissen. Ich stellte einen Spiegel neben das Klavier und hob nach jedem schwungvollen Triller den Blick, um mich darin zu sehen. Kein einziges Mal erreichte ich eine Annäherung an das Bild in meinem Kopf: Anna-Resa am Flügel ihrer Eltern. Ich dehnte den Hals zur einen und dann zur anderen Seite, ich blies gegen meinen Pony und beugte den Rücken im musikalischen Bogen der Etüden, aber ich blieb ein Clown mit runden Armen und hochgezogenen Schultern vor einem halbblinden Badezimmerspiegel. Beharrlich arbeitete ich daran, mein Leben zu ändern. Ich stellte mir vor, Anna-Resa besitze in ihrem braunen, stets abgeschlossenen Einbauschrank einen Monitor, über den sie mich vierundzwanzig Stunden am Tag beobachten könne. Ich steckte die kurzgebissenen Nägel in Mutters streng riechende Krampfadernsalbe, um nicht länger an ihnen zu kauen. Ich räumte mein Zimmer aus und schob die Schlafpuppe unter das Bett, ihr kaputtes Auge starrte lidlos aus der Dunkelheit. Die Drachen und hölzernen Steckautos ließ ich von Vater auf den Dachboden tragen, und in die frei gewordenen Fächer des zerkratzten Regals stapelte ich Schulzeug, Wolle zum Häkeln, Noten von Mozart und Bartók, Bücher über Pferde, Klassenphotos und Photos, die Mutter an meinem Geburtstag gemacht hatte. Weil es Schwarzweißphotos waren, malte ich das helle Grau von Anna-Resas Kleidung mit einem rosa Buntstift aus. Ich legte Listen an, in denen ich notierte, wie oft ich baden, wann ich meine Haare waschen und meine Nägel schneiden wollte. Ich versuchte Frisuren, drehte die Haare in Schnecken, die nach zehn Minuten wieder zu dicken Strähnen zerfielen. In die graue Cordhose schnitt ich ein Loch, um eine neue zu bekommen, aber Mutter setzte einen roten Flicken auf die Stelle. Der Flicken hatte die Form eines Apfels, einen braunen Stiel und einen gelben Wangenfleck. Wenn ich auf die ANNA-RESA KÜSSTE NICHT 121 Toilette ging, versuchte ich, mich so zu setzen, dass Anna-Resa auf ihrem Monitor möglichst wenig erkennen konnte. Vielleicht mochte Anna-Resa, dass ich sie auf dem Schulhof verteidigte. Die Jungen in der Klasse schlugen sich um ihre Brotdose, nahmen ihr die als Tauschobjekte in der ganzen Schule begehrten Haarklemmen weg und versuchten, sie in der Pausenhofecke bei der verkrüppelten Birke anzurempeln oder die Hand auf die noch nicht vorhandene Brust zu legen. Anna-Resa schrie und kreischte oder blickte mit hilflos niedergeschlagenen Augen um sich und rief nach mir. Und während sie zwischen ihren Freundinnen an der Mauer stand und lachte, verteidigte ich den Halbkreis um die Birke mit meinem Körper. Ich schlug und trat, rammte meinen Kopf blind gegen alles, was sich zwischen mich und Anna-Resa drängen wollte, bis Rico und Ronny, Benjamin, Jens und Johannes zurückwichen und sich vorsichtig mit den Fingern gegen die Stirnen tippten. Allein Norbert blieb hartnäckig. Er zerrte an Anna-Resas Haaren, bis sie sich bei der Klassenlehrerin Frau Schmitt beschwerte, und legte ihr Zettel ins Fach, die sie niemandem zeigte. Norbert war ein Jahr älter als wir, und auch seine Familie bekam um jeden Monatsersten herum ein braunes Paket mit Aufklebern neben der Adresse. Er mochte Donald Duck und Calimero, das Küken mit der Eierschale auf dem Kopf, schnitt die Aufkleber aus dem Packpapier und legte sie in die durchsichtigen Schutzumschläge seiner Hefte. Auf irritierende Weise lag schon in der Luft, dass sein Vater ein Jahr später, kurz nach der Wende, das erste private LKW-Unternehmen der Stadt aufbauen und damit zwei Millionen verdienen würde. Ich würde, da ich nur eine Straße weiter wohnte, jeden Tag die den Reinick-Platz blockierenden Fahrzeuge sehen, fabrikneu und blau, mit weißem Schriftzug und mich überragenden Rädern. Ich würde sie LKWs nennen, obwohl Norbert nachdrücklich von Trucks sprach und ich im Intensivkurs Englisch zu lernen begann. 122 FRANZISKA GERSTENBERG Während der Sommerferien sah ich Anna-Resa nur, wenn sie mit ihrer Mutter vom Einkaufen kam, sie trug dann gelbe Netze an beiden Armen. Einmal presste sie eine Basttasche gegen die Brust, prall gefüllt mit spitzen Paprikaschoten. Als ich Mutter davon erzählte, rief sie bei Anna-Resas Eltern an und fragte, in welchem Geschäft es denn Paprika zu kaufen gebe. Im September besuchten wir die fünfte Klasse, und der erste Wandertag fand schon nach einer Woche statt. Es hatte geregnet, wir fuhren eine Dreiviertelstunde mit der Bahn, und die Felsen über dem Fluss glänzten glitschig und grün. Als wir am späten Vormittag den Wald hinter uns gelassen hatten, betraten wir nacheinander die im Stein verankerten schmalen Stiegen und hielten uns an den Geländern fest. Zu Beginn der Mittagsrast ließ Frau Schmitt durchzählen, und wir bemerkten, dass Anna-Resa und Norbert verschwunden waren. Die Sonne schien durch teigig wirkende Wolken, das Licht stand greifbar zwischen uns, und irgendjemand lachte und fuhr mit dem Zeigefinger der rechten Hand in ein von Daumen und Zeigefinger der Linken gebildetes Loch hinein. Es hatte keine Abzweigungen gegeben, und Ronny war auf den Stiegen stets der Letzte gewesen, Anna-Resa und Norbert konnten uns nur voraus sein. Jens sagte, Anna-Resa und Norbert seien uns immer in allem ein wenig voraus gewesen. Frau Schmitt atmete hörbar und drängte uns, schnell zu kauen. Vögel gab es hier oben keine, der Riemen vom Rucksack hatte einen wunden Streifen in meine Schulter geschnitten. Rico packte ein Zehnerpack hart gekochte Eier aus, die niemand essen wollte, dazu Salz in einer winzigen Streudose mit verschließbarem Deckel. Es blieb uns nichts anderes übrig, als nach der Rast weiter den auf die Felsen gemalten Wanderzeichen zu folgen, zwei gelbe Striche und zwischen ihnen ein roter. Wir hofften, dass Anna-Resa und Norbert dasselbe taten. Als wir den Bahnhof erreichten, rückten die Zeiger der über dem Eingang hängenden Uhr auf vierzehn Uhr fünfzig vor. Anna-Resa und Norbert saßen im Wartesaal, in dem es ANNA-RESA KÜSSTE NICHT 123 weich und süß nach Schimmel roch. Sie saßen unter einem verblassten Abfahrtsplan, und Anna-Resa hielt den Kopf gesenkt. Das Linoleum auf dem Boden wellte sich. Frau Schmitt war zu erleichtert, um über Regeln und Regelverletzungen zu sprechen und eine Aussprache mit der Pionierleiterin Renate Eilhauer anzukündigen. Norbert stülpte die Lippen vor und prahlte, er kenne hier jeden Stein, regelmäßiges Wandern sei in seiner Familie ebenso Tradition wie das gemeinsame Öffnen der Pakete aus Hamburg. Frau Schmitt rief, er solle den Mund halten oder sie melde sich noch heute bei seinen Eltern zum Elternbesuch an. An Norberts Hals bildeten sich hektische Flecken, Anna-Resas Augen waren aufgerissen und katzenbraun wie immer. Dann sagte Norbert zu Frau Schmitt, sein Vater werde in diesem Fall den Schulleiter einschalten müssen wegen schwerer Verletzung der Aufsichtspflicht. Er sagte: Wir sind schließlich noch Kinder. Frau Schmitt las den Abfahrtsplan von unten nach oben und schwieg. Die Sonne hatte die gelbe Farbe aus dem Papier gezogen, es schimmerte grünlich. Während der Rückfahrt blieb Anna-Resas Hand in der von Norbert, ich saß auf der schräg gegenüberliegenden Sitzbank und sah aus dem Fenster. Den Garten von Anna-Resas Eltern habe ich nicht mehr betreten. Mit dem Wandertag war die Zeit der Prinzen und Prinzessinnen vorbei. Ich trug meine grauen Cordhosen, bis ich aus ihnen herauswuchs, und spielte seltener auf dem Klavier, das Mutter nicht stimmen ließ, so dass die Töne von Monat zu Monat schriller klangen. Mit Vaters Taschenmesser schabte ich das mit Kreide gemalte Herz um die Anfangsbuchstaben von Anna-Resas und meinem Namen aus der Turnhallenmauer. Am Morgen packte ich ein Buch in meinen Lederranzen, um in den Pausen nicht auf die Birke im Hof und die an ihr lehnende Anna-Resa sehen zu müssen. Mutter sagte in dieser Zeit oft, das habe ja alles so kommen müssen. Ich wusste nie, was sie meinte, obwohl sie 124 FRANZISKA GERSTENBERG den Zeigefinger gegen den Fernseher richtete, auf dessen Bildschirm der Nachrichtensprecher seine Aufregung nicht verbergen konnte. Auch nachdem ich zum Halbjahr die Schule gewechselt hatte, blieb der Herbst der Wende für mich der Herbst, in dem ich begriff, dass Anna-Resa küsste, aber einen anderen Prinzen als mich. 2 Seit einem halben Jahr wird wieder Rosa getragen, auch von Frauen in meinem Alter, T-Shirts und Ringelsocken mit aufgedruckten Katzenköpfen. Zwischen den Katzenohren sitzen riesige Schleifen. Die Röcke sind knielang und die Reißverschlussjacken eng. Gestern habe ich Anna-Resa wieder gesehen. Sie stand neben mir in der Straßenbahn, eine Hand an der oberen Haltestange. Auch Anna-Resa trug Rosa. Ich sprach sie an, und sie blickte irritiert auf mein schwarzes Hemd und das graue Jackett. Sie erkannte mich nicht. Ich zählte Namen auf, Rico und Ronny, Benjamin, Jens und Johannes, Frau Schmitt, die den Wandertag später mit keinem Wort mehr erwähnt hatte. Viereinhalb Jahre im gleichen Klassenzimmer, und Anna-Resa sagte noch einmal, sie könne sich nicht an mich erinnern. Ich schwieg, dachte an den Nussbaum im Garten ihrer Eltern und wartete auf die nächste Station, um auszusteigen. Anna-Resas Hand an der Haltestange war rot und feucht. Es war, als habe sich Anna-Resa überhaupt nicht verändert. Sie sah aus, als sei sie in den zwölf vergangenen Jahren unentwegt in der fünften Klasse und auf dem Weg zum Klavierunterricht gewesen. Als ich aus dem Waggon auf die neugepflasterte Straße trat, zwischen Kippen und Rosenblätter vom Blumengeschäft gegenüber, schaffte ich es, mich nicht umzudrehen. Neben mir stand ein Mädchen, das seine Puppe am linken Fuß festhielt. Ich hörte, wie es zu einer Frau mit mehreren Ringen am Zeigefinger sagte, das sei doch keine Prinzessin, das sei eine Barbie. ANNA-RESA KÜSSTE NICHT 125