Leseprobe^**/ (We) Aus: Dies ist kein Liebeslied, S. 122-124 Kontext: Im Rückblick während des Landeanflugs auf London, wo die Erzählerin den Jugendfreund Peter Hemstedt besuchen wird, schildert sie ihre Zeit in der zehnten Klasse. Damals entschloss sie sich, etwas mit Peter anzufangen, der damals zu den wenigen Jungen gehörte, die am Fach Gymnastischer Tanz teilnahmen. Die meisten Mädchen hatten zu der Zeit bereits einen Freund, was Anne unter Druck setzte. Klein-Doris ist ihre Kinderfreundin und Tischnachbarin. Nur Klein-Doris hatte natürlich keinen Freund. In dieser Hinsicht war sie ein beruhigendes Moment in meinem Leben. Sie war immer noch nicht gewachsen, und sie war immer noch klapperdürr. Ihre Mutter packte ihr neuerdings dicke Brotscheiben mit Käse oder Nutella darauf ein, aber wenn sie glaubte, ihre disziplinierte Tochter damit in Versuchung führen zu können, mußte sie ganz schön naiv sein. Doris wickelte die Brote während der Unterrichtsstunden aus und sah sie sich an. Sie sah sie bloß an, und dann legte sie sie unter ihren Tisch. Mich machte das wahnsinnig. Seit einiger Zeit versuchte ich, nur noch mittags zu essen. Wenn Doris diese dicken Käse- und Nutellascheiben unter den Tisch legte, hatte ich seit mindestens zwanzig Stunden nicht mehr gegessen. Und natürlich bot Doris sie mir jedesmal an. .78...........,........ , „ „.....,-,■ Karen Duve: Dies ist kein Liebeslied „Wulst du? Ich finde das eklig, dieses Schokoladenzeugs", sagte sie. Zuerst lehnte ich ab. Ich fragte mich: Was ist dir wichtiger - daß die Jungen hinler dir her sind oder daß du jetzt dieses Brot in dich hineinstopfst? Aber nach vier oder fünf Tagen kam ich an den Punkt, wo es eindeutig wichtiger wurde, das Nutellabrot zu essen. Und zwar jetzt! Sofort! Auf der Stelle! Irgendwann fraß ich Doris' Stullen regelmäßig. Irgendwann fragte ich sie danach. Daraufhin wollte sie ihr Pausenbrot plötzlich doch wieder essen. „Nein, heute habe ich selber Hunger", sagte Doris, biß ein winziges Stück heraus und mummelte stundenlang darauf herum. Das angebissene Brot legte sie unters Pult, wo ich es die ganze Zeit sehen mußte. Sie wollte, daß ich darum bettelte, und manchmal tat ich es tatsächlich. „Los, gib schon her", knurrte ich, „du willst es doch gar nicht!" „Wie kann man bloß so verfressen sein", sagte Klein-Doris dann und reichte mir mit knochigen, beflaumten Armen ihr Brot. Das war ihr Kick, das war das Größte für sie, wenn sie zusah, wie ich ihr Brot aß. Was sie nicht wußte, war, daß ich es hinterher auskotzte. Ich verbrachte immer noch eine Menge Zeit auf Toiletten, blieb aber trotzdem auf diesen 69 Kilo hängen. Doris wog jetzt 40 kg und hatte einen Notendurchschnitt von 0,9. Sie wollte unbedingt noch darunter kommen. „Wozu?", sagte ich, wenn sie wieder davon anfing, daß sie mehr lernen, daß sie besser werden müßte. „Wozu denn? Ändert doch nichts. Ist doch trotzdem alles scheiße!" Ich selber wurde nämlich von Woche zu Woche schlechter. Ich konnte mich einfach nicht mehr konzentrieren. Selbst wenn der Unterricht eigentlich interessant war, befiel mich jedesmal die Vorstellung, da wäre noch etwas viel Wichtigeres und Dringenderes, das meine ganze Aufmerksamkeit erforderte, nur wollte mir auch dieses Dringendere nicht einfallen. Statt dessen sah ich Filme. Ich wollte zuhören, ich gab mir alle Mühe, aber während die Lehrer auf mich einredeten, schaltete jemand in meinem Kopf einen winzigen Projektor an, und ich mußte wieder und wieder denselben Film sehen. Ich war die einzige Darstellerin, und die einzige Einstellung zeigte mich, wie ich da auf meinem Stuhl im Klassenzimmer saß. Alle Plätze vor oder neben mir waren leer. Plötzlich stand ich auf, ich begann zu laufen, und dann sprang ich aus dem Fenster. Das war alles. Im ganzen keine fünf Sekunden. Ich sprang seitlich, ein Bein vorgestreckt, das andere angezogen, und mit einem angewinkelten Arm vor dem Gesicht, wie ich das in einer ,Kung-Fu'-Folge gesehen hatte. Der Film hörte in dem Moment auf, in dem das Glas splitterte. Kein Aufprall. Am schlimmsten war es in Chemie. Unser Chemielehrer nannte einen Begriff, eine Formel, die furchtbar kompliziert klang, obwohl sie dann doch wieder nur Eisen oder Kupfer meinte, und schon ging mein Kopfkino los. Ich sah, wie ich aufstand, Anlauf nahm, auf das Fenster zurannte und dann: klirr. In manchen Stunden spulte ich das zwanzigmal ab. Nicht, daß ich mir gewünscht hätte, aus dem Fenster zu springen, oder diese Vision absichtlich produzierte. Die Szene war eher wie eine banale Melodie, die man längst über hat, die einem aber nicht mehr aus dem Kopf will. Ich langweilte mich richtig dabei.