(MAK ^ciUk&j^y^ . Z^cL : Afekt, Zjpoh. X. 3 - A\. Sediment Er ist wieder da. In all seiner Pracht, leuchtend, schimmernd, unwiderstehlich. Er ist wieder da und hat mich überrascht, wie immer. Er meldet sich nie an. Er kommt und geht, wie es ihm paßt. Heute hat er mich auf der Weidendammer Brücke eingeholt. Hinter mir rauscht der Feierabendverkehr die Friedrichstraße entlang. Neben mir lehnt mein Fahrrad am schmiedeeisernen Geländer. Zwischen dem Tränenpalast und dem alten Brecht-Theater sehe ich in die untergehende Sonne, die sich glitzernd und blendend in der Spree spiegelt. Dort, auf dem Wasser, steht er, groß, still und unbezwingbar. Der Damä-wand. Der Berg. Die Krone Teherans. Er steht auf dem Wasser, wächst aus ihm heraus zu seinen fast sechstausend Metern Höhe, breitet sich rechts und links über die Ufer der Spree, legt sich auf Straßen und Häuser, und sein weißbedecktes Haupt leuchtet strahlender als die Berliner Abendsonne. Meine Kehle ist rauh. Ich kenne das schon. Erst 9 kommt die Atemnot, dann der Kloß im Hals. Ich weiß, daß es nachläßt, wenn ich ruhig bleibe und nicht an dem zweifle, was ich sehe. Ich habe schon alles mögliche versucht. Einfache Dinge, wie Umdrehen oder Wegfahren, aufwendigere, wie die Einnahme unterschiedlichster Betäubungsmittel. Aber es nützt nichts. Ist er einmal da, der Damäwand, dann hat er seinen Grund dafür. Dann läßt er sich nicht vertreiben, dann bleibt er, wo er ist und solange er will. Ohnehin ist das Ansinnen albern. Einen Berg zu vertreiben, den Berg der Berge verscheuchen, verjagen zu wollen, wie kindisch. Also atme ich gründlich aus, warte den Bruchteil einer Sekunde, hole dann wieder Luft und betrachte das überwältigende Felsmassiv, das so unerwartet in meinem kleinen, zerklüfteten Berlin aufgetaucht ist. Die Stille des Damäwand ist bis hier unten zu spüren, und der braunblaue Schimmer seiner faltigen, rissigrauhen Flanken legt sich auf die Mitte meiner alt gewordenen, neuen Heimat. Das ockerfarbene Dorf an seinem Fuß döst in der Abendsonne, obwohl ich weiß, daß es in Wahrheit nicht mehr existiert. Die Stadt hat es sich einverleibt. Möglicherweise ist es zum Altstadtkern eines neuen Bezirks geworden, wenn es auch wahrscheinlicher ist, daß es dem Erdboden gleichgemacht wurde und verschwunden ist. Nicht aber seine Bewohner, die arm sind und ein- 10 Rauchen wäre gar keine so schlechte Idee. Ich würde tief inhalieren und dann einen langen grauen Silberstreifen in die Luft schicken. In die Luft vor mir, vor meinem Gesicht. Einen Streifen silbrigen Rauchs, der meine Sicht vernebeln und meinen Anblick verstecken würde, verstecken vor dem Berg. Natürlich nur für Sekunden, für Bruchteile von Sekunden. Ohnehin wäre das Ansinnen albern. Mich vor dem Berg zu verbergen, vor dem Berg der Berge, mich wegmachen, ihm ausweichen, entwischen zu wollen. Abwesend taste ich in meiner Jackentasche nach einer vergessenen Packung Zigaretten, aber es ist zu lange her, daß ich das Rauchen aufgegeben habe. Ich entsinne mich noch gut an den Moment. Wir saßen auf den Stufen eines kleinen Ladens, der leer stand wie die meisten Wohnungen in dem alten baufälligen Haus. Wir, das waren Mira und ich. Sie rauchte nach Pfeife riechende, filterlose Zigaretten und brachte Geschichten mit. Ich war zuständig für ein Sixpack Billigbier und einen Stapel alter Zeitungen gegen die Kälte von unten. Damais war ich schon auf leichte Sorten umgestiegen und handelte mir dafür jeden Abend Miras Spott ein. Von Ende März bis Anfang Oktober saßen wir bis weit nach Mitternacht auf dem Treppchen, tranken jede drei Bier und verloren uns in dem, was sie erzählte. Es waren Träume für die Zukunft oder Geschichten aus der Vergangenheit. 12 flußlos. Ja, es wird wohl eher so sein. Das Dorf wird vielgeschossigen Neubauten aus billigem Beton Platz gemacht haben, die trockengewohnt werden, wie vor der Jahrhundertwende die Gründerzeithäuser Berlins. Trockengewohnt von denen, die dort vorher in Lehmhütten und schmalen, an den Fels geschmiegten Häusern aus Selbstgebrannten Ziegeln lebten. Wie Musik brandet das Hupkonzert des Teheraner Verkehrs an meine Ohren. Der Schiffbauerdamm ist über und über behängt mit bunten Lichtern, es wird ein Feiertag sein, und mir läuft das Wasser im Munde zusammen, als ich die Männer neben ihren kleinen Petroleumöfen entdecke, die, am Straßenrand hok-kend, Labu verkaufen, in Salzwasser gekochte rote Bete. An den Hängen des Damäwand im Norden Teherans plätschert die Spree unter meinen Füßen, und eine der Punks, die vor dem Tränenpalast ihr Lager aufgeschlagen haben, will Zigaretten schnorren. Daß ich ihr keine geben kann, sage ich, weil ich nicht mehr rauche. Sie glaubt mir nicht und besteht auf mindestens einem Exemplar. Ich frage, ob sie den Berg sieht. Eine alte Sau sähe sie nur, und zwar genau da, wo ich stünde, gibt sie zur Antwort, pfeift nach ihrem Hund und geht. Ich wende mich wieder zum Höchsten der Hohen. // Eines aber war ihnen gemeinsam: Sie spielten immer in Berlin, in Miras Berlin, einer Stadt, die ich nicht kannte und deren Straßen gesäumt waren von Gefängnissen, Heimen und Asylen. Ihre wichtigsten Bewohner waren arme Huren, reiche Huren, Kinder und Hunde. Sie war angefüllt mit Politik, massenweise Politik. Von unten, darauf legte Mira wert. Über mein Berlin sprachen wir nicht. Es interessierte Mira nicht, und ich konnte das verstehen, denn mein Berlin war ein verwischtes. Eines, das nicht richtig zu sehen war, sich stets entzog und irgendwie nebelhaft blieb. Es war mir ähnlich: eigenbrötlerisch, ein wenig verloren, häßlich, widersprüchlich und vernarbt. An einem dieser Abende waren wir unterwegs in der Strafvollzugsanstalt Söthstraße, wo Frauen mit gebeugtem Rücken hölzerne Wäscheklammern fertigten. Mira erzählte von einer leidenschaftlichen Liebe, die hier ihren Lauf genommen hatte, nur um einige Jahre später, allerdings in Italien, ebenso dramatisch zu enden, wie sie begonnen hatte. Völlig in ihre Geschichte versunken, drückte ich meine siebenunddreißigste Zigarette des Abends mehrmals auf den Boden und bekam, als ich den Stummel schließlich fallen ließ, plötzlich keine Luft mehr. Ich japste und machte quietschende, ächzende Geräusche, dachte panisch, daß das Leben nicht so urplötz- lieh, so unerwartet und auf so gemeine Weise zu Ende gehen könne, und hörte durch das anschwellende Rauschen in meinen Ohren eine Stimme, die immer wieder energisch sagte: »Ausatmen! Du mußt ausatmen!« Es war Mira, die diesen Befehl ein ums andere Mal wiederholte und mir gleichzeitig die Arme hochriß, weit über den Kopf - im Mundwinkel eine Kippe. Seitdem rauche ich nicht mehr. Einmal habe ich Mira vom Damáwand erzählt. Da stand er gerade bei uns im Hinterhot. Ich überlegte kurz, gab mir schließlich einen Ruck und fragte sie, ob sie ihn sähe. »Wen?« wollte sie wissen. »Den Berg«, sagte ich leise, »da vorne.« Wir saßen auf dem Fensterbrett unserer Bruchbude, vierter Stock Altbau, und blickten nach unten. Es war Spätsommer oder Frühherbst, goldene Reste von Sonnenstrahlen, die über dem Hof hingen, ein paar langgezogene Spinnweben, an unsichtbaren Enden befestigt, die scheinbar im Nichts vor uns aufgespannt waren, und ein Geruch, der all der Stadt um uns zum Trotz voll Erde war. Der Damáwand stand genau vor uns. Um seinen schneebedeckten Gipfel zu sehen, mußte ich den Kopf weit in den Nacken legen. Ich freute mich über seine Nähe und dachte an meinen Vater, wie er mir bei einer Gebirgs fahrt geologische Formationen erklärte. Er und jederzeit kühles Pils garantierte, und setzte sich wieder neben mich. Ein Zischen flitzte durch die Küche, als sie mit geübtem Druck die Aluminiumlasche versenkte. Wie jedes Bier trank Mira auch dieses genießerisch in Ruhe und voller Anerkennung. Schließlich betrachtete sie eine Weile lang aufmerksam den Hinterhof. »Seh' ihn noch immer nich', dein' Berg«, sagte sie und schlenkerte mit den Beinen dabei. Ich nickte, und wir schwiegen weiter. Dann zeigte Mira auf die Silhouette von Herrn Börne, die sich gegenüber auf der Milchglasscheibe seiner Küche abzeichnete. Er hatte sie dort eingebaut, weil er wußte, daß Mira und ich, wenn wir nicht unten auf dem Treppchen saßen, hier oben herumlungerten und in seine Küche schauten. Die aber zierte neuerdings eine Kastendusche. Offenbar gingen Herrn Börne die dadurch entstandenen neuen Aussichten zu weit, und so hatte er mit Hilfe der undurchsichtigen Scheibe unseren optischen Radius auf ein annehmbares Maß zurückgeschraubt. Mira zeigte mit der Dose auf Herrn Börnes durchscheinenden Glasschatten, sagte, daß der sie an IVIax erinnere, und begann damit eine neue Geschichte. Herrn Börnes Schatten vor Augen, gebe ich die Suche nach Zigaretten auf und ziehe die Hand aus der Tasche. Neben mir scharrt etwas auf dem Pflaster. 16 erzählte von Tieren, die hier vor Hunderttausenden von Jähren gelebt hatten. Unter dem Wasser gelebt hatten, denn wir bewegten uns auf Sedimentgestein. Auf dem durch gigantische Kräfte an die Erdoberfläche gedrückten Boden eines uralten Ozeans, Am-moniten, Trilobiten, Tiere der Vorzeit mit akademischen Namen, tief vergraben ins Gestein. »Ne, seh' ich nich', dein' Berg«, sagte Mira nach einem Blick in den Hof. Ich habe ihr dann von ihm erzählt. Wie er damals im Flugzeug erschien und ich fürchtete, die Maschine könnte das Gewicht nicht tragen. Wir Passagiere, die Stewardessen, die Sitze und die kleinen, ovalen Fenster schimmerten genauso durch den Damáwand wie jetzt der Efeu und die Vorderhaus fas-sade, während unter uns, still und unbeachtet, mein Teheran verschwand. Ich habe Mira auch erzählt, wie der Berg dann in Berlin in der Schule auftauchte. Im Sportunterricht bei Herrn Katzing und beim Putzen in Frau Malikowskis Wohnung. Eigentlich immer wieder irgendwo. »Und, na ja, jetzt ist er hier im Hof. Diesmal schon ziemlich lange. Ich glaube, fast zwei Wochen.« Mira schwieg. Dann schwang sie die Beine über das Fensterbrett, holte sich eine Dose Bier aus unserer neuesten Anschaffung, dem Kühlschrank, der unser ganzer Stolz war, weil er nichts gekostet hatte IJ Bei meinem Fahrrad steht ein Esel. So weit ist der Berg noch nie gegangen. Konzentriert atme ich aus und ein und aus und bemerke erleichtert, daß der kleine Junge, der auf dem Tier sitzt, blond und außerdem in Begleitung eines bunt gekleideten, gut genährten Herrn ist, den eine vielzipflige, glöck-chenbekränzte Mütze schmückt. Er schwenkt ein klapperndes Töpfchen mit Münzen hin und her. Das Trio sammelt Spenden für einen Zirkus, der in Schöneberg gastiert. Ich brauche mein Geld selber, schüttle den Kopf und finde, daß das Kind dringend ins Bett muß. Der Gedanke beschert dem unbekannten Mann einen vorwurfsvollen Blick, den er nicht versteht. Der kleine graue Esel schnaubt leise, und ich könnte wetten, daß er mich angrinst, als er so zu mir hochblickt. In Gedanken sage ich zu ihm, daß ich auch endlich nach Hause muß. Der Esel nickt zufrieden. Ich greife nach meinem Fahrrad und wende mich um, dem Damáwand zu winken. Der aber ist verschwunden, wie schon so viele Male zuvor. Und die Spree, die alte, sie schwappt und plätschert, als wäre nichts, aber auch gar nichts geschehen.