Zaimoglu, Feridun: Zwölf Gramm Glück. Köln 2004. S. 105-121. Häute Der Antiquar ist nur noch Haut und Knochen. Er kneift sich in den Handrücken - an einer juckenden Stelle, vielleicht massiert er sie auch nur. Ein Hund streckt seine Schnauze durch die Plastikstrippen des Fliegenvorhangs an der Tür. Der Antiquar greift in einen Eimer neben dem Schemel und wirft eine Handvoll Kiesel in die Richtung des Hundes, der sein Fell sträubt und sich heulend davonmacht. Ich stelle den Messingkerzenhalter wieder an seinen Platz, dabei stoße ich eine bauchige Dose um. Ihr Deckel löst sich, kreiselt scheppernd auf dem Boden. Der Kellnerjunge balanciert auf dem Tablett zwei Gläser grünen Tee und blickt erst auf, als er vor dem alten Mann steht. Der Antiquar greift mit beiden Händen zur Untertasse, spitzt den Mund und nimmt einen Schluck. Als er nickt, wendet sich der Junge mir zu, er starrt meine langen Haare an, dann huscht sein Blick zu meinen unlackierten Fingernägeln. Die Kinder hier sind dafür bekannt, daß sie sich am Ortsausgang versammeln und Jagd auf feminin anmutende Fremde machen. Ein Stein aus einer Zwille hat einmal einen Langhaarigen das Leben gekostet. Die Auswärtigen heißen in ihrer bäurisch verschliffenen Sprache »ausgestopfte Puppenleiber«. Der Junge sammelt die leeren Kaffeetassen der ersten Bestellung ein, dann rückt er den Bleistiftstummel hinter seinem Ohr gerade _ 105 und schlappt in seinen großen Badeslippern davon. Wir warten auf die Frau des Antiquars, sie macht die Preise, sie nimmt das Geld entgegen. Ihr Mann hat die Aufgabe, den Kunden die Wartezeit zu versüßen. Eine sprechende Attrappe. Er zeigt auf die überzuckerten Teigfladen unter der Drahthaube, ich schüttele den Kopf. Ich setze die Tasse auf dem Beistelltisch ab, stehe auf, gehe in die Knie und streiche über das auf einem Teppich ausgebreitete Hochzeitslaken. Der Antiquar hat gesagt, sie hätten es von einer betagten Bäuerin auf Kommission bekommen, die es wiederum von ihrer Großmutter väterlicherseits geerbt habe. Der Handel auf fremde Rechnung wird sich für sie lohnen, ich bin mir sicher, daß ihr Aufschlag zwei Drittel des Preises ausmacht. Das Laken der ersten Nacht weist einen hellbraunen Fleck auf, das Entjungferungsblut ist ein Echtheitssiegel. Entlang der umgeschlagenen Längs- und Breitseite ranken sich Phantasiepflanzen um Adam und Eva, man sieht ein löwenmähniges Rehkitz neben einem Löwen liegen, der zwei behufte Vorderläufe vorstreckt. Eine alte Legende, gestickt in einen Stoff, der sich wie Narbengewebe anfühlt. Für das Laken verlangt der Antiquar tausend Dollar, und er hat mir die Hoffnung genommen, mit seiner Frau, der Patronin, feilschen zu können. Ich lasse mich in den Korbsessel fallen und trinke den bitteren grünen Tee, vor dem man mich gewarnt hatte. Man stopft eine Frauenfaust-große Siebkapsel mit Blättern voll und serviert die ersten vier Aufgüsse leicht verzuckert. Das bittere Gebräu schlägt mir auf den Magen, ich trinke es in einem Zug aus, weil ich weiß, daß man hier mit hochdosiertem grünen Tee die auswärtigen Männer auf die Probe stellt. 106 Eine Hand teilt die Fliegenschutzstrippen, und im nächsten Moment steht eine massige Frau im Raum. Ihr Kleid nimmt die Konturen der Wülste und der Tiefen ihres Fleisches auf und endet an den Fußknöcheln mit einem Fransenbesatz. Sie hat sich eine Samtpelerine über die Schultern geworfen, eine verdreckte Gardinenkordel dient als Gürtel. Der alte Mann steht umständlich auf, es ist an der Zeit, daß er der Herrin das Feld überläßt. Ich starre die Frau an, sie ist es gewöhnt und verzieht keine Miene. Ihre Unterlippe ist komplett tätowiert, so als hätte sie sie in Tinte getaucht. Auf ihrem Kinn entdecke ich einen umgekehrten Dreizack mit stumpfen Zinken - das Abwehrzeichen, das die Schlechtigkeit in alle vier Winde verstreuen soll. Auf dem Melkmuskel ihrer linken Hand prangt ein Sinnbild, das sich auch der Antiquar hat tätowieren lassen: ein Kreis, durchbohrt von einem Pfeil, dessen Spitze nach innen weist. Der alte Mann hat es mir vorhin verraten und dabei genau darauf geachtet, ob ich bei seinen Worten rot anlaufe: das Zeichen symbolisiert den in die Scheide vollends eingedrungenen Penis und die vom männlichen Saft angespritzte Eizelle. Die einwärts gerichtete Pfeilspitze gibt den Wunsch der Mutter nach einem männlichen Nachkommen wieder. Mädchen werden hier weggegeben, sie nehmen den Namen einer fremden Familie an, ein Mädchen ist ein unnützer Mund, den man füttert, bis er Kußreife erreicht. Von Töchtern hat man nichts Gutes zu erwarten. Einen Gast sehen wir bei uns oft, sagt die Frau, es hat sich herumgesprochen, daß ein Mensch, der sich mit Zeitdokumenten umgibt, glücklicher wird. Das Wort Zeitdokument spricht sie aus, als wolle sie ein Stück al- 107 ten Kaugummi ausspucken. Sie steckt sich im Stehen eine Selbstgedrehte in ihre Zigarettenspitze aus Perlmutt, reißt ein Streichholz an einem abgetrennten Zündstreifen an und hält die Flamme unter die krumme Zigarette. Nach einem tiefen Zug nimmt sie auf einer Mitgifttruhe Platz. Der Antiquar schrumpft in Anwesenheit seiner Frau zu einem Buckelgnom, er knetet und kneift sich die Hände, und weil keine Anweisung kommt, beschließt er, vor dem Laden nach dem Rechten zu sehen. Es ist noch nicht die Dämmerung der Hunde, und man muß nicht fürchten, daß die hungrigen Tiere zu dieser Tageszeit Witterung aufgenommen haben und zur Dorfmitte preschen. Doch dem Antiquar ist der Anblick der schwarzen Hundeschnauze sauer aufgestoßen, er greift sich einen Viehstachel, der eigentlich auch zum Verkauf angeboten ist. Seine Frau schaut ihm nach. Hat er dir den Preis gesagt? sagt sie. Tausend Dollar, sage ich, soviel kann ich nicht ausgeben. Mit dem Geld muß ich sonst drei Monate wirtschaften. Miete und die laufenden Kosten nicht mitgerechnet, sagt sie. Natürlich, sage ich, ich meine auch nur das Haushaltsgeld. Was ist denn für dich drin? sagt sie. Dreihundertfünfzig, sage ich, das ist mein Maximum. Eindeutig zuwenig, sagt sie, schau dich ruhig um, finde ein anderes Zeitdokument. Dein Geld macht dich in meinem Laden glücklich. Sie wirft eine mottenzerfressene Büßerkappe auf das 108 Hochzeitslaken, sie gehörte, wie sie mir versichert, einem Einsiedler in den Wäldern, der sie sich immer dann aufgesetzt habe, wenn er das Dorf aufsuchte. Es gelang ihm nicht, sich den Selbstabscheu durch Entsagung auszutreiben, und er brüllte in seiner Erdhöhle, er brüllte, daß sogar vor dem unirdischen Irrsinn des Mannes die wilden Hunde davonstoben, und er brüllte, bis es vorbei war und der damalige Dorfälteste nach ihr, der Patronin, rufen ließ. Und so raffte sie den Rock, kniff sich in den Nasenhöcker, weil dort, unter dem dritten Geistauge, die Flüsse des Kopfes zusammenströmen, sie riß sich fort vom Geschwätz der Schwiegertochter, der sie die fünf Finger ihrer Rechten aufs Gesicht drückte, um ihr zu bedeuten, daß sie in der Patronin Achtung gesunken sei; sie stieg den Hang hoch, dem das Dorf seinen Namen verdankt, schritt von einem Felsbrocken zum nächsten, wich Wurzelfallen aus, die unbeschäftigte junge Krüppel legen, bat währenddessen um die Gunst, um Seine Gunst, daß sie nicht erschrecke beim Anblick eines Toten - denn daran habe sie sich nicht mehr gewöhnen können: der Tote sei Zeugnis einer anderen Welt, von der sie nichts wissen wolle, solange ihr Atem in ihrer Brust nicht verschwendet würde. Und als sie ins Erdloch hinabstieg, habe sie die ihr entgegengestreckten Hände übersehen, denn damals gehörte sie zu den schönsten Mädchen, und jeder Mann mit Saft in den Lenden habe sie berühren, flüchtig streifen, zum Kuß zwingen und ihre großen wohlgestalteten Brüste in den Mund nehmen wollen. Mein Herz ist nicht vergeben, sagt sie, und daß ich den Kerl zum Manne nahm, hat nichts zu bedeuten, denn er hat mich gegen meinen Willen entführt und 109 wundgestoßen, so daß meinem Vater nichts anderes übrigblieb, als mich wegzugeben, Brüder habe ich keine, und Blutrache wird nicht von Memmen geübt. Zurück zum Erdloch, sagt sie, ich stieg hinab, und weil sein Kopf in der Nähe der Öffnung lag, fiel genug Licht, um die Todesfratze zu erkennen, zu der sich seine Gesichtszüge verzerrt hatten. Ich bin sofort ohnmächtig geworden und stürzte wie ein Zuckerrübensack auf den toten Einsiedler. Als ich die Augen wieder aufschlug, hatten sie mich mit vereinten Kräften herausgeholt. Ich bin mir sicher, sie haben sich die Chance nicht entgehen lassen, mich überall dort zu berühren, wo ein Weib seine Wertgegenstände hat, so sagt man das bei uns, nicht Scheide, sondern Wertgegenstand, nicht Brüste, aber Wertgegenstand. Ich bin jenseits von Gut und Böse, sagt sie, deshalb kann ich vor einem Fremden frei sprechen, aber zurück zur Büßerkappe, man holte das ganze Hab und Gut des Toten heraus, und da war außer abgenagten Knochen, mit Totenwasser besudelten Stoffen eben diese Filzkappe, ich habe sie sofort als meinen Besitz beansprucht, Geld bekam ich ja nicht dafür, daß ich ihn für das Jenseits besprach, und hier ist sie, und du kannst sie haben, das originelle Beutestück kostet nur hundert Dollar. Es gibt für diese Kurpfuscherin ohne Zweifel unterschiedliche Rechenwege, sie schreibt die Zahlen untereinander auf, zieht einen Strich und notiert eine Summe nach ihrem Gefühl. Die Kopfglocke strömt Unheil aus, und doch hat sie sie als Ware zur Schau gestellt. Ich glaube ihre Geschichte, die Menschen in dieser Gegend werden mit Gewalt davon abgehalten, ihre Siedlungen 110 aufzugeben. Man unterstellt ihnen einen bösen Einfluß, sie bringen die Lebendigen zu Fall. Ich muß darüber nachdenken, sage ich, ich mache einen Rundgang durchs Dorf und komme in einer Stunde wieder. Du ziehst dich doch nicht aus der Affäre? sagt sie, ich habe keine Lust, umsonst auf dich zu warten. Wenn du nicht kaufwillig bist, sag es mir einfach. Ich schließe den Laden, du gehst deiner Wege, und wir beide haben Frieden mit Gott. Weib, halt deinen Mund im Zaum, sage ich, oder willst du dich mit mir streiten? Nein, sagt sie, es sei, wie es dem Herrn gefällt. Als ich den Fliegenschutz teile und hinaustrete, huscht der Antiquar heran und übergibt mir den Vieh-stachel. Die Hunde, Herr, sagt er, man weiß ja nie, wo sie einen erwarten, eins aufs Fell, und sie kapieren deine Macht. Ich gehe weiter, ein Kerl in gelben Gummistiefeln zieht einem frisch geschächteten Schaf den Balg ab, er verharrt und schaut mich hart an, er hat für die Glaubenslahmen kein Fleisch und keinen Gruß übrig, er wartet einfach, daß ich aus seinem Gesichtsfeld verschwinde. Im trockenen Bachbett stolpern Ziegenböcke an kleinen Ackergründen vorbei, die die Bauern mit trockenen Stecken und Stäben umfriedet haben. In der Hitze knacken die Zapfen zu Füßen der Pinien, von Wind und Witterung angeschliffene Granitbrocken liegen, zu Hunderten gestreut über das in Brauntönen gebrannte und erstarrte Land, auf Feldern, in Wäldern und in den Gärten der Bauernhäuser. Der Wohlstand ist vor einiger Zeit ausgebrochen und hat aus den Knech- 111 ten Ackerherren gemacht. Ich folge einem Weg, der mit Kopfstein gepflastert ist, und finde mich vor einem Kaffeegarten wieder. Ich passiere ein Drehkreuz und werde von einem alten Mann in weißem Unterhemd zu einem Tisch unter einer alten Eiche geführt. An der dicksten Astgabel ist ein Holzschild angebracht, in das eine Weissagung des wegen seines Zukunftsunmuts bekannten Dorfheiligen eingebrannt ist: »Wir machen sauber. Die Endzeitsauerei wird uns vorführen!« Ich bestelle kaltes frisches Wasser. Alle Tische sind besetzt mit Männern, die ihre Arme, wie zur Abwehr futterneidischer Attacken, um die Teller legen, sie kauen und starren, es bietet sich ihnen kein Schauspiel, das sie davon abhielte, zu starren und die Bissen zu schlucken. Sie haben Papierservietten hinter die Rundkragen ihrer Pullover gesteckt, ein Zipfel Manieren. Der Kellnerjunge von vorhin bringt den Krug Wasser und ein Glas, er betrachtet wieder meine Haare, dann schließt er Zeigefinger und Daumen zu einem Kreis und stößt seine Nase mehrmals hinein. Hau bloß ab, sage ich, ich breche dir die Knochen, ich breche dir jeden Finger einzeln, ich schneide dir alle Finger ab und stecke sie allesamt ins Hurenloch deiner Mutter. Du doch nicht, sagt er, wer bist du schon? Wenn du nicht aufpaßt, spreche ich einen Fluch unseres Heiligen aus, und du kannst ihn nicht mehr heben, er zerfällt zu Staub, das kannst du mir glauben. Eine schöne Narbe hast du da an der Stirn, sage ich, ich zeichne dir eine zweite daneben, und du kannst als Mistbengel Karriere machen - stell dich auf den Marktplatz und erzähl den Fladenfressern hier deine 112 Geschichte. Wer sein Glück herausfordert, kriegt eine gewischt. Du doch nicht, sagt er, paß auf, daß man dich nicht an deinen Frauenhaaren packt und durchs Dorf schleift. Der Mann im weißen Unterhemd pfeift ihn an, und er ist für einen Moment unschlüssig, ob es ihm nach geltendem Männerrecht als Feigheit ausgelegt wird, wenn er seinem Brotgeber gehorcht. Ein paar Bauern sind auf mich aufmerksam geworden, sie heben die Köpfe, ihre Arme bleiben da, wo sie sind. Der Junge eilt zu einem anderen Tisch und räumt die Teegläser ab, ich fülle das am Trinkrand verschmutzte Glas mit Wasser, gieße es mir den Rücken herunter und setze die Karaffe an den Mund. Ich leere sie und lenke meine Schritte zum Drehkreuz, ich gehe denselben Weg zurück, der Schächter tut seine Arbeit und verschwendet keinen Blick auf mich, ich betrete den Antik-Laden, und es ist, als hätte sich die Patronin in der Zeit nicht vom Platz bewegt, ich bin nicht in der Laune, sie zu grüßen, der Antiquar sitzt stumm auf seinem Schemel. Der Herr hält sein Versprechen, sagt sie, ein zweites Mal willkommen, und wie hast du dich entschieden? Ich will es haben, sage ich und gehe hoch auf vierhundert. Vierhundert sind weniger als die Hälfte, sagt der Antiquar, daß wir uns auch ja richtig verstehen. Da machen wir keinen Gewinn, und die Besitzerin des Lakens wird unter diesen Bedingungen keinen Grund sehen, sich davon zu trennen. Wir führen unser Geschäft ja nicht als Durchgangsschleuse für anderer Leute Waren, wovon sollen wir denn leben? Das alles interessiert unseren Herrn nicht besonders, sagt sie, er hat begrenzte Mittel, und ich habe keine Vollmacht, den Preis zu senken. 113 Sie verstummt, es hat keinen Sinn, auf sie einzuwirken. Was sind das für Tätowierungen? sage ich. Ein alter Brauch, sagt sie, ich war keine sechs Jahre alt, da fing der Heilige an, mir Risse in die Haut zuzufügen und den Absud mit einer Nadelspitze einzugeben, er hat die Paste selber zubereitet. Als bekannt wurde, daß eine Frau ein Mädchen geboren hatte, suchte er sie auf und verlangte Muttermilch, die er der Asche aus dem Steinofen beigab, er rührte Tiergalle und zermah-lene Walnußschalen und etwas Henna hinein, und dann nahm er sich viel Zeit, um mich zu schmücken, denn das ist Gnade. Nach der Heirat aber darfeine Frau sich bei uns nicht zeichnen lassen, ich habe viele durchstoßene Kreise an meinem Körper, ich denke, der Heilige war von meinen Reizen sehr in Anspruch genommen und durfte aber keine weitere Frau heiraten, seine Frauen hätten ihm das Leben zur Hölle gemacht. Handelt es sich bei diesem Heiligen um den Einsiedler? sage ich. Nein, sagt der Antiquar, der Einsiedler war auch ein heiliger Mann, doch er hat sich von uns abgewandt, und wir wissen ja, was dabei herausgekommen ist. Sprich nicht schlecht über einen Toten, sagt sie, ich hätte allen Grund, ihm böse zu sein, aber ich halte den Mund. Von wegen heilig. Wenn er in der Stadt war, hat er uns Mädchen auf seinen Schoß setzen und schaukeln wollen, und er schaukelte uns, bis er naß wurde zwischen seinen Lenden. Da siehst du mal, ich habe also doch schlecht über ihn gesprochen. Junger Herr, wenn du die Büßerkappe sorgsam prüfst, findest du zwei winzige Sehschlitze, durch die der Einsiedler heraus- 114 gespäht hat. Der Mensch bleibt eben bis zum Tode neugierig. Und er sucht den Tod, weil er vor Neugier platzt und es nicht erwarten kann, über die Grenze zu gehen. Ja, sage ich, wird wohl so sein, ich beschränke mich darauf, die Neugier der Menschen zu dämpfen und sie ins Leben zurückzuholen. Was ist dein Handwerk? sagt der Antiquar, und als ich ihm verrate, daß ich Arzt sei, blickt er zur Patronin, fängt an, an seinem Handrücken wie verrückt zu reiben. Auf einen Schlag weicht die Spannung, die Dicke bringt ihre Haare in Ordnung, als müßte sie vor einen wirklichen Herrn treten. Du bist ja gut, sagt sie, du bist ja gut. Hätten wir das gewußt, wärest du, Herr, eines besseren Empfangs sicher gewesen, und wir hätten mit dir gesprochen, wie es dein Stand und dein Beruf verdienen. Vagabunden suchen uns heim, und sie denken, sie könnten uns übers Ohr hauen, wir würden nicht wissen, was unsere Zeitdokumente wert sind. Das erzürnt uns. Der Antiquar verläßt eilig den Raum, er werde bald wieder zurück sein, der Herr solle sich wohl fühlen, ihr Haus sei mein Haus. Du bist also Arzt, sagt sie, hast du auch Neugeborene von ihren Müttern entbunden? Nein, sage ich, mein Gebiet ist die Allgemeinmedizin. Ich war einmal dabei, sagt sie, ich stand neben einer Hebamme, ich habe mich nicht schlecht erschrocken, als ich das nasse brutale Gesicht des Säuglings sah. Manche Babys haben schon ein Gesicht, wenn sie zur Welt kommen, bei anderen muß es sich noch herausbilden. 115 Die Hebamme hat mir erklärt, daß das Kleine nicht so viel Stauraum im großen Mutterkörper hat. Stauraum ist gut, sage ich, ihr seid mir schöne Bauern. Die Patronin blickt auf, sie vergewissert sich, daß ich sie nicht beleidigen möchte, sie lächelt falsch und zeigt ihre Goldzähne. Die Herrin des Tands. In den offenen Schubfächern eines Wandschranks liegen Rosenkränze aus Oliven- oder Dattelkernen, angeschlagene Kristallschalen, Lupen, Monokel, Brillengestelle, Armbanduhren mit beschädigten Zifferblättern, Silberschatullen und sogar verrostete Pillendosen. Sie muß viele Nachbarn überlebt und ihre Hinterlassenschaften gekauft oder an sich gerissen haben. Auf einem Regalfach entdecke ich eine ganze Sammlung von Mohrenfiguren: man muß dem Verfall etwas entgegensetzen, und sei es nur das Gerumpel aus den Haushalten der Toten. Der Antiquar stürmt mit entschiedenem Schritt herein und zerrt ein Mädchen hinter sich her, das man aus einem tiefen Schlaf gerissen haben muß. Es schaut sich ratlos um, und auf ein Zeichen der Patronin setzt es sich neben sie auf die Mitgifttruhe. Seine langen Wimpern sind dick getuscht. Der Rock reicht ihm bis an die nackten Füße, dem Kräuselkrepp ihres Überkleids sind runde Flicken aufgenäht. Nur mit Mühe unterdrückt das Mädchen ein Gähnen, es beißt die Zähne zusammen, seine Kaumuskeln treten hervor. Seine Unterlippe ist tätowiert, ein Strich-Punkt-Muster zieht sich vom Kinn abwärts und verschwindet unter dem Stehkragen der Bluse. Herr, das ist meine Enkeltochter, sagt die Patronin, Gott hat sie schön erschaffen, die Frauen meiner Sip- 116 penlinie können sich wirklich sehen lassen. Ich kann es dir nicht verdenken, daß du sie anstarrst, denn die jungen Männer des Dorfes geraten bei ihrem Anblick in große Unruhe. Ohne daß ich ihn dazu ermutigt hätte, hat ein Kerl bei einem Fest wegen ihr eine Rauferei angefangen und dabei den kürzeren gezogen. Wir lassen sie natürlich nicht aus den Augen, aber wie lange soll sie das Leben einer Inhaftierten führen? Außerdem ist sie in Hitze. Meine Worte machen sie verlegen, du bist ein Mann und ein Arzt, und verstehst schon, was ich meine. Nächstes Jahr wird sie fünfzehn, und dann muß sie unter die Haube, sonst versündigen wir uns an ihr. Hör auf mit den Unverschämtheiten, sagt das Mädchen, du brauchst nicht für mich zu werben. Du bist dem Herrn noch unbekannt, sagt die Dicke, er würde dir vielleicht gerne einige Geheimnisse entlok-ken, nur meine Anwesenheit hält ihn davon ab. Du bist unverheiratet, das sehe ich doch richtig, oder? Ja, sage ich, ich hatte dafür noch keine Zeit. Ein schlechtes Argument, sagt der Antiquar, wenn man will, kann man, und dann geht man mit der Zeit. Ob der Einfalt der Bemerkung schnaubt die Dicke, sie nickt mit dem Kinn in Richtung Tür, sie stehen auf, und kurz vorm Rausgehen sagt sie: Wir sind in einer halben Stunde wieder zurück. Ihr könnt euch frei unterhalten. Das Mädchen hat nur darauf gewartet: Kaum wähnt es sich der Erziehungsgewalt entzogen, kratzt es am Spann seines Fußes, es hat gejuckt wie verrückt, sagt es, ich mußte mich zurückhalten, sonst hätte ich mir eine Backpfeife eingefangen, du kennst sie schlecht, sie wird mich nachher fertigmachen, weil ich fast gegähnt hätte, was kann ich dafür?, da stürzt der Kerl ins Zimmer und 117 kneift mich in den Arm, ich habe mich zu Tode erschrocken, er hat es mit dem Kneifen, dir ist es bestimmt auch aufgefallen, nicht wahr? Ja, sage ich, hat er irgendeine Hautkrankheit? Wo hat er sich gekniffen? sagt das Mädchen. Na hier, sage ich und zeige ihm die Stelle am Handrücken. Ach, das hat mit uns beiden zu tun, sagt es, es ist Reibungszauber, der uns zusammenführen soll. Er hat meistens Erfolg damit, den aber meine Großmutter als ihren eigenen ausgibt. Wie alt bist du denn? Ich bin achtunddreißig, sage ich, zwischen uns ist ein Altersunterschied von vierundzwanzig Jahren. Du siehst jung aus, sagt es, mir macht es nichts aus. Was denn? sage ich. Wenn du mich zur Frau nimmst, sagt das Mädchen, bin ich deine Frau, und du kannst mich in Maßen schlagen und züchtigen, falls ich gegen deine Hausgesetze verstoße, nur, du mußt sie mir erst beibringen, dann halte ich deinen Familiennamen auch in Ehren. Ich schlage keine Frau, sage ich, ich denke nicht im Traum daran ... Ich ertappe mich dabei, wie ich diesem blutjungen Mädchen den Hof mache, unmerklich habe ich meinen Körper gespannt und den Bauch eingezogen, mir liegt seltsamerweise plötzlich viel daran, daß es mich nicht ganz abstoßend findet. Das Mädchen dreht sich sitzend mir zu und knöpft die oberen zwei Blusenschließen auf, und ich sehe, daß sich die gestrichelte Linie am Brustbein gabelt, und sie bedeckt ihre Brüste und sagt: Meine Haut ist frisch, und als sie glaubt, der Bewerber habe genug gesehen, knöpft sie ihre Bluse wieder zu, die Frau, diese Frau. 118 Wie wird das jetzt weitergehen, sage ich, sie haben dich mir vorgeführt, du bist wirklich sehr hübsch, sie wollen dich also hergeben. Du hast gehört, was meine Großmutter erzählt hat, sagt sie, ich bin in einem Alter, in dem es mich nach einem kräftigen Mann verlangt, ich mag ein Gefängnis nicht gegen ein anderes eintauschen, wenn die jungen Kerle mich anstarren, dann weiß ich, was mir blüht: sie wollen mich heimtreiben wie ein Eselsfüllen und dann in einem besseren Stall einschließen. Und ich bin da ganz anders? sage ich, du kennst mich gar nicht. Ich muß aus diesem Dorf raus, sagt sie, es wird nicht so lange dauern, bis ich mich in dich verliebe, und ich sorge dafür, daß du dich nicht nach einer anderen Frau umsiehst. Frauen gibt es wie Sand am Meer, du mußt aber die richtige Wahl treffen, sonst kannst du gleich die Kopfhaube des Einsiedlers überstülpen. Ich möchte schon zu einer Antwort ansetzen und mich über ihr Gottvertrauen wundern, sie fragen, wie sie sich so ohne weiteres einem wildfremden Mann überstellen lassen kann, da höre ich von draußen die heisere Stimme der Patronin. Sie klingt, als würde sie mit einem scharfen Schnabel auf einen Wurm einhak-ken. Der Antiquar mischt sich mit kurzen Ermahnungen ein, und als ich durch die vom Wind gebauschten Plastikstrippen hinausblicke, sehe ich, wie er versucht, einen großgewachsenen Mann am Eintreten zu hindern. Die Patronin hält den Mann am Arm fest, mit einem Ruck reißt er sich aber los und steht im nächsten Moment im Laden, dicht gefolgt vom Kellnerjungen, dem Antiquar und zuletzt der Dicken. 119 Dein Säuferwahnsinn bringt dich noch um, sagt das Mädchen, du hast hier nichts zu suchen, du machst mich unglücklich, verschwinde sofort. Der Mann, das merke ich auf den ersten Blick, ist in seiner eigenen Welt und für Appelle unempfänglich, jahrelange schwere Arbeit im Steinbruch hat seinen Körper gezeichnet. Er wäre imstande, mit einem einzigen Fausthieb zu töten oder eine Menge zum Verstummen zu bringen, höbe er nur drohend die große Hand. Es scheint, als habe der Kellnerjunge dem Antiquar den Viehstachel entwunden, er schlägt sich damit immer wieder auf die Flanke, bis die Patronin ihm in den Arm fällt. Ich habe ein älteres Recht an dir, sagt der Steinbrecher, da kann nicht so ein Geschminkter daherkommen. Das Mädchen schaut weg, keiner wagt es, ein Wi-derwort zu geben, es ist so still, daß ich hören kann, wie die Pinienzapfen knacken. Als ich die Augen aufschlage, sehe ich, wie der Kellnerjunge zum Steinbrecher aufschließt, er öffnet den Mund, greift sich mit drei Fingern unter die Zunge und bringt eine halbe Rasierklinge zum Vorschein, und ehe irgend jemand Gelegenheit dazu hat einzugreifen, hat er sich gebückt und in wenigen schnellen Bewegungen das Hochzeitslaken zerschnitten. Er richtet sich wieder auf und wirft die Rasierklinge fort, die Patronin bedeckt ihr Gesicht mit beiden Händen, aus den Tiefen ihres Körpers entfährt ihr ein grollender Klageruf, der Antiquar geht zu dem abgewandten Mädchen und streichelt ihm über den Kopf. Du, Geschminkter, wirst jetzt sofort aufbrechen, sagt der Steinbrecher, du hast den Weg in unser Dorf gefunden, du wirst auch wieder rausfinden. Oder sollen wir dich begleiten? 120 Ist nicht nötig, sage ich, ich trete aus dem Laden und verlasse mich auf meinen inneren Kompaß, der meine Schritte zum Ortsausgang leiten wird, und wie ich mein Glück an solchen Tagen kenne, wird mich kein Stein aus einer Zwille treffen noch ein Hund anfallen. 121