Emine Sevgi Ozdamar , &uo: x Die Brücke vom Goldenen Horn S.W^W, k<&~- W i. Teil: Der beleidigte Bahnhof Als alle anderen zum Wienerwald und zu Aschinger gingen, gingen wir drei Mädchen und noch ein paar andere Frauen mit unserem kommunistischen Heimleiter und seiner Frau Taube zum türkischen Arbeiterverein in einer Ladenwohnung gegenüber unserem Wonaym, zwischen dem Pferdeboulettenimbiß und dem Hebbeltheater. Dort trafen wir zum ersten Mal in Berlin türkische Männer. Wir sahen sie nicht, wir hörten sie. Sie standen da wie in einem Traum. Das Zimmer war voller Rauch. Eine Männerstimme sagte: »Freunde, machen wir die Tür auf, hier kann kein Auge ein Auge sehen.« Einer machte die Tür auf, draußen drehte sich der Schnee im Wind, und die Straße glänzte. Als der Rauch mit dem Wind hinausging, drehte sich der Schnee vor der offenen Tür und sah wie ein flatternder Tüllvorhang aus. Die Männer hatten schon, als wir hereingekommen waren und durch den Rauch im Zimmer kein Auge ein Auge sehen konnte, angefangen zu lächeln. Bis der Wind den Rauch auf die Straße herausgeweht hatte, hatten sie ihr Lächeln auf ihren Lippen festgehalten. So konnten sie zuerst nicht sprechen, sie schüttelten ihre Köpfe und schauten uns an, bis ihr Lächeln in ihre Augen hinaufstieg und ihre Augen uns anlachten. Dann konnten sie reden. Die Männer nahmen ihre Zigaretten aus ihrer rechten Hand in die linke und gaben uns die Hand. Eine Hand roch nach kaltem Zigarrenrauch. Ein Student, seine ausgegangene Zigarre noch im Mund, sagte: »Ich heiße Yagmur (Regen).« Eines der Mädchen aus dem Frauenwonaym sagte aus Spaß: »Und ich heiße Camur (Schlamm).« Das Mädchen und der junge Student verliebten sich sofort und rauchten zusammen an einer Zigarette. Im türkischen Arbeiterverein rauchten alle wie in einem alten französischen Film, jeder hatte eine Zigarette in der Hand. Große Rolle, kleine Rolle -egal, rauchen machte das Leben und das Warten photogen. Die Männer waren in der Türkei in die Busse eingestiegen, dann in die Züge, dann in die Flugzeuge und waren nach Berlin gekommen. Jetzt standen sie hier vor einer Leiter, deren Ende im Himmel verschwand. Sie stiegen diese Leiter herauf und dachten: nur ein Stückchen, danach kommen wir wieder herunter. Dann wollten sie wieder in Züge und Busse einsteigen und zu den Orten, aus denen sie gekommen waren, zurückkehren. Die Männer redeten wie die Frauen in unserem Wonaym: »Nach einem Jahr sieht mich hier keiner mehr.« Sie redeten von diesem Jahr, für das sie nach Berlin gekommen waren, als ob es nicht zu ihrem Leben gehörte, rauchten, tranken Tee und liefen zusammen durch die Stadt, als ob sie in einem Dschungel wären - ohne Väter, die vor ihnen gingen. Die Fabriksirenen, die auf und zu gehenden Bustüren, die über dem süßen Schlaf plötzlich ausgeschalteten Lichter, der Seifenschaum in den Spiegeln, Rasierklingenstimmen, in Waschbecken fallende Haare, Kachelöfen, morgens noch kälter als Zimmerwände, die elektrischen Schalter, das nervöse Licht der Bäckereien, der schmutzige Schnee zwischen den Busrädern, schlafende Menschen in Zügen, kein Vogel am Himmel, keine Telegrafenmasten, nur einsame, zerstörte Telefonzellen. Wären die Männer alleine durch die Straßen gelaufen, wären sie vielleicht weggeweht worden von der Erde und hätten sich ihre Köpfe an den Hauswänden geschlagen. Deswegen liefen diese Männer immer zusammen. Der Schnee bedeckte ihre Schnurrbarte. Drei mit Schnee bedeckte Schnurrbarte laufen besser als ein mit Schnee bedeckter Schnurrbart gegen den Schnee. So fand jeder Mann, wenn er zusammen war mit anderen, seinen Vater, seinen Großvater, und es war schön, auf einem Weg, dessen Ende man nicht sehen konnte, neben einem Vater oder neben Großvaterfüßen herzulaufen. Die Männer liefen zusammen durch die Berliner Straßen und sprachen laut ihre Sprache, es sah so aus, als ob sie hinter ihren Wörtern hergingen, die sie laut sprachen, als ob ihre laute Sprache ihnen den Weg freimachte. Wenn sie eine Straße überquerten, überquerten sie sie nicht, um in eine andere Straße zu gehen, sondern, weil ihre lauten Wörter in der Luft vor ihnen hergingen. So gingen sie hinter ihren Wörtern her und sahen für die Menschen, die diese Wörter nicht verstanden, so aus, als ob sie mit ihren Eseln oder Truthähnen durch ein anderes Land gingen. Die Männer kamen hinter ihren Wörtern her bis zum türkischen Arbeiterverein, dort rauchten sie und tranken Tee. Sie sagten nicht »ich gehe« son- dem einer stand auf und sagte: »Wir gehen.« Wenn einer Tee in ein Glas goß, sagte er: »Wir trinken Tee.« Wenn eine Zeitung auf dem Tisch lag, sagte einer: »Wir werden Zeitung lesen.« Jedes »Ich« nähte sich an das nächste »Ich« und machte ein »Wir«. Nur die Stoffe ihrer Hosen oder ihre Strickwesten erzählten ihre »Ich«-Geschichten, oder die Farbe ihrer Haut, die Falten an ihren Hälsen, nur ihre verschiedenen Dialekte zeigten, daß sie von verschiedenen Müttern geboren worden waren. Wenn sie nicht sprachen und einfach im Raum standen, sah es aus, als ob sie um ein Pferd herum standen, ihre Hände auf dem Pferd, an dem sie sich gemeinsam wärmten. Wenn draußen auf der Straße ein Auto im Schnee rutschte oder laut bremste, sagten sie: »Wir gehen einmal schauen.« Dann gingen sie und kamen mit nassen Schuhen, Jacken und Haaren zurück, zogen ihre Jacken gleichzeitig aus und drehten zusammen die Löffel in ihren Teegläsern. Einer sagte: »Zieh noch einen Schluck Tee hinein.« Der andere sagte: »Ziehen wir noch einen Schluck.« Dann trank er aus seinem Glas. Regen, der im türkischen Arbeiterverein der einzige Student war, sagte zu einem von ihnen: »Du bist ein Arbeiter, der Arbeiter hat keine Heimat. Wo die Arbeit ist, da ist die Heimat, das hat der große türkische Dichter Nazim Hikmet gesagt. Er hat dreizehn Jahre im Gefängnis gesessen.« Der Arbeiter, dem Regen diese Sätze gesagt hatte, wiederholte Regens Sätze und sagte: »Du sagst richtig, Bruder, wir sind Arbeiter, Arbeiter haben keine Heimat.« Wenn einer krank war und mit seinem Fieber am Tisch saß, sagte er nicht »Ich bin krank«, die anderen sagten über ihn: »Er ist krank.« Im türkischen Arbeiterverein sagten nur Regen und unser kommunistischer Heimleiter »ich«. Die beiden gingen zusammen ins Kino, dann kamen sie zum türkischen Arbeiterverein, und Regen sagte: »Ich habe einen Film gesehen, soll ich ihn euch erzählen, der Film heißt >Das Schweigens der Regisseur heißt Ingmar Bergman.« Dann erzählten sie beide den Film. Sie fingen zusammen an, aber irgendwann sagte jeder der beiden: »Nein, so war es nicht, laß mich erzählen, wie ich es gesehen habe.« So unterbrachen sie sich ständig, einer klaute dem anderen den Film, und so sahen wir immer zwei verschiedene Filme vor unseren Augen ablaufen. Nur am Ende, wenn sie mit der Filmgeschichte fertig waren, sagten sie zusammen: »Bergman will uns zeigen, daß Europa die Scheiße gegessen hat.« Und dabei schauten sie lachend in unsere Augen. Sie rauchten beide Zigarren. Wenn einer redete, streckte der andere seinen Kopf hoch und blies ein paar Ringe in die Luft, und wir, die drei Mädchen am Tisch, versuchten mit unseren Heiratsfingern in diese Ringe reinzukommen und sie festzuhalten. Regen ging mit kranken Arbeitern zum Arzt, suchte Wohnungen oder gab Anzeigen in den Zeitungen für sie auf. Er hatte einen Freund, einen Bauern, der jetzt Arbeiter geworden war. Er trug eine numerierte Brille und hieß Hamza. Auch er sah so aus, als ob er mit seinem Esel in Berlin herumlaufen würde. Er hatte seine Frau in der Türkei im Dorf gelassen und sagte zu uns: »Schwestern, kapitalistische Hämmer haben mich zerschlagen.« Er rauchte so viel, daß er einmal seine brennende Zigarette, anstatt sie in den Aschenbecher zu tun, in seine Hemdtasche steckte. Er sagte zu Regen: »Bruder, mein Herz brennt.«