Diese Geschichten führen uns in das Damaskus der fünfziger Jahre, in dem Rafik Schami als Sohn eines Bäckers im Christenviertel aufwuchs. Es ist eine arme Gegend, in der es kein Kino und natürlich noch kein Fernsehen, sondern allenfalls Radio gibt. Man lebt von der Hand in den Mund und amüsiert sich, so gut es geht. Eine wichtige Rolle dabei spielt Onkel Salim, den wir schon aus anderen Büchern Rafik Schamis kennen, ein alter Mann, der ein bewegtes Leben hinter sich hat und unzählige phantastische Geschichten zu erzählen weiß. Aber der Bäckerjunge erlebt auch selbst einige Geschichten - zum Beispiel, wie er einen Süßwarenhandel anfängt und seinen Vater fürchterlich verärgert, weil er mehr verdient als dieser, oder wie er erste erotische Erfahrungen mit der hübschen Salma macht, deren Mann so gerne nach Aleppo fährt. Rafik Schami, 1946 in Damaskus geboren, lebt seit 1971 in der Bundesrepublik. Verschiedene Arbeiten auf Baustellen und in Fabriken. Studium der Chemie mit Promotionsabschluß. Seit 1982 freier Schriftsteller. Lebt in Kirchheimbolanden. Werke u.a.: >Das Schaf im Wolfs-pelz< (1982), >Das letzte Wort der Wanderratte< (1984), >Der erste Ritt durchs Nadelöhr< (1985), >Eine Hand voller Sterne<, >Märchen aus Malula< (1987), >Die Sehnsucht fährt schwarz< (1988), >Erzähler der Nacht< (1989), >Der Wunderkasten< (1990), >Der Zauber der Zunge<, >Der fliegende Baum< (1991), >Der ehrliche Lügner< (1992), >Reise zwischen Nacht und Morgen< (1995). Rafik Schami Der Fliegenmelker Geschichten aus Damaskus Deutscher Taschenbuch Verlag München 1997 Nuh, mein Freund Nub und seinem kurdischen Volk Ein Putsch bedeutet für uns Schüler drei bis fünf Tage schulfrei. Putsche gehen in Damaskus oft und schnell über die Bühne. Meist finden sie im Morgengrauen statt. Wir im alten Viertel erfahren davon erst durch das Radio. Es wird plötzlich still, und dann folgt Marschmusik. Wir wissen dann, daß der Putsch erfolgreich war. Schießereien hören wir bei einem geglückten Putsch kaum. Wenn aber ein Putsch scheitert und die Kämpfe heftiger werden und länger dauern, dann hören wir das Rattern der Maschinengewehre und den dumpfen Aufschlag der Granaten. Eine Weile spielt dann die Musik, und darauf folgen die Kommuniques des neuen Regimes, die das alte Regime wegen allem beschuldigen, so als würden alle Putschisten voneinander abschreiben. Sie sagen grundsätzlich dasselbe: das alte Regime sei schuld an Korruption, Vetternwirtschaft und vor allem daran, daß Palästina noch nicht befreit sei. Das neue Regime verspricht: die Korruption an der Wurzel zu packen, Gerechtigkeit walten zu lassen und Palästina im Handumdrehen zu befreien. Onkel Salim erzählte mir, er habe beim ersten Putsch vor fünfzehn Jahren gejubelt und bis zum Morgen des nächsten Tages gefeiert und getrunken. Beim zweiten Putsch habe er nur geklatscht, und seit dem dritten Putsch lache er nur noch. »Bei der Suche nach den Wurzeln der Korruption verfangen sich die neuen Machthaber im Gestrüpp dieser gewaltigen Schlingpflanze und vergiften sich an ihrem süßen Geschmack. Sie werden schnell alt, und so werden sie von neuen hungrigen Suchenden abgelöst«, meinte mein Vater vor ein paar Tagen, als eine neue Regierung unsanft die alte vertrieb. 98 »Das hast du gut gesagt... Ja, das süße Gift macht sie schnell alt... Das hast du gut gesagt«, lobte Onkel Salim ihn beim Teetrinken. Ich war stolz auf meinen Vater, denn Onkel Salim stimmt nur selten einem Erwachsenen zu. »Und Palästina, wann wird es befreit?« fragte ich. »Im Handumdrehen«, wiederholte Onkel Salim den Spruch aus dem Radio und lachte. »Amerika«, fuhr er fort, »wird in zwei Handumdrehen erledigt, Rußland in drei«, und er lachte. »Aber die Russen sind doch unsere Freunde, das sagen doch die im Radio immer«, widersprach ich. »Was für ein Quatsch! Ein Herrscher, der eine solche Hand hat, braucht keine Freunde. Nur, in drei Monaten kommt eine neue Regierung und sagt, die alte hätte Palästina befreien können, wenn sie nicht mit der einen Hand uns am Hals gepackt und mit der anderen die Gelder in die Schweiz geschmuggelt hätte.« Unser Geschichtslehrer ist im Gefängnis. Das erfuhren wir in der ersten Woche nach dem Putsch. Ein sympathischer Palästinenser, der witzig war und viel mehr als die Bücher erzählte, dafür viel weniger in der Prüfung verlangte. Ich glaubte nun nicht mehr, daß die Regierung im Handumdrehen Palästina befreien würde, denn ich spürte ihre gnadenlose Hand an meinem Hals. Der neue Lehrer war ein ängstlicher Typ. Das ist nicht schlimm, denn die meisten Lehrer unserer Schule sind Angsthasen. Sie'haben Angst, an eine Schule in »Sibirien« versetzt zu werden. Sibirien ist bei uns die Grenzregion zu Israel. Kein Lehrer will gerne dahin, und eine Stelle an der schlechtesten Schule in Damaskus ist immer noch besser als die beste Schule in Sibirien. Nein, es hat uns nicht gestört; wenn ein Lehrer ängstlich war, hatten wir Mitleid mit ihm, aber der neue Lehrer war widerlich. Nach der ersten Unterrichtsstunde wußte ich, daß wir keine Freunde werden würden. Er liebte Daten, und sein Unterricht wurde von Mal zu Mal langweiliger. Wir hatten gerade die Omajjadendynastie von 661 bis 750 durchgenommen. Der Lehrer erzählte begeistert von 99 den Taten der Omajjaden. Er schien nichts von Geographie zu halten, denn die Welt schmolz bei ihm zu Arabien und einigen mickrigen Staaten zusammen, die von der Gnade der Araber lebten, und er betonte, daß die Araber viele Länder geöffnet hätten. Beim Wort »Öffnung« schrie er laut, als wollte er uns seinen Stolz über die Eroberung klarmachen. »Warum geöffnet und nicht besetzt? Waren die Länder denn abgeschlossen?« fragte Nuh, ein kurdischer Junge, der oft krank, aber ungeheuer mutig war. »Sicher geöffnet, du Idiot. Sie wurden der arabischen Zivilisation geöffnet und aus der Barbarei befreit.« »Dann haben die Osmanen uns vierhundert Jahre und die Franzosen fünfundzwanzig Jahre lang geöffnet«, machte sich Nuh wieder bemerkbar. »Das ist Kolonialismus. Das ist etwas anderes.« Wir lachten über den aufgeregten Lehrer, und Ismail rief aus der hinteren Bank: »Also ich, ja? Ich will von niemandem geöffnet werden.« Der Lehrer wurde zornig, er klopfte mit einem Lineal auf den Tisch. »Was für eine Ehre wurde mir zuteil, vor einer so dämlichen Herde die ruhmreiche arabische Geschichte zu unterrichten.« Er wandte sich an Nuh und starrte ihn an. »Du da, steh auf!« Nuh stand auf und blickte dem Lehrer in die Augen. Nie senkte er den Kopf, auch dann nicht, wenn der Leiter der Schule mit ihm sprach. »Bist du eigentlich nicht stolz darauf, daß du Araber bist?« »Nein!« antwortete Nuh bestimmt. »Wie? Was?« zürnte der Lehrer und glotzte ihn mit aufgerissenen Augen an. »Er ist doch Kurde«, flüsterten einige. »Ja! Ich bin Kurde«, bestätigte er. »Was bitte? Kurde? Das gibt es nicht! Setz dich!« brüllte der Lehrer. ioo Wir wußten schon, daß es in Syrien über dreihunderttausend Kurden gibt. Wir spielten oft mit Nuh und einigen seiner kurdischen Freunde. Sie erzählten uns vom Kampf der Partisanen, und wir wußten über Kurdistan besser Bescheid als über Marokko. Der Lehrer wußte nur von den Omajjaden, seinen Omajjaden, die die Welt in Staunen versetzt hatten. Später, als wir die Omajjaden hinter uns gebracht hatten, ließ der Lehrer seine ganze Wut an dem Gesindel aus, das dann die Macht übernahm. Nuh blieb monatelang ruhig, bis wir die Kreuzzüge durchnahmen. Die Schule gehörte der christlichen Gemeinde, und der Lehrer hatte große Mühe mit seiner Wortwahl. Er betonte, daß er als Muslim großen Respekt vor dem Christentum habe, aber die eingefallenen Horden aus Europa seien echte Schweine gewesen, die von Nächstenliebe nichts gewußt hätten. Die Christen aus Arabien hätten an vorderster Front dagegen gekämpft. Als er aber Saladin als den größten arabischen Feldherrn anpries, der den Europäern die Stirn geboten hatte, sprang Nuh wie von einer Tarantel gestochen auf. »Saladin ist aber Kurde gewesen«, rief er aufgebracht, und wir waren alle überrascht. Das hatten wir nicht gewußt. Das Grab Saladins ist zwar in Damaskus, aber in keinem Buch steht nur ein einziger Buchstabe darüber, daß er Kurde war. Saladin muß tatsächlich den Europäern eins auf die Fresse gegeben haben, so daß der führende General der französischen Armee, die Damaskus siebenhundert Jahre nach dem Tod Saladins eroberte, als erstes am Grab von Saladin laut gerufen hatte: »Wir sind wieder da.« Das erzählen alle alten Leute sogar heute noch. »Saladin war ein tapferer Muslim. Er verteidigte das Arabertum, und deshalb ist er in seinem Herzen Araber gewesen.« Das war schwach. Ismail rief: »Dann bin ich Marlon Brando.« Wir lachten, denn wir wußten, daß Ismail Marlon Brando abgöttisch verehrte. Er ging nicht nur in jeden seiner Filme, er kaufte auch alle Bilder von ihm. 101 Nuh bekam die schlechteste Note im Mai. Seitdem sprach er nur noch wenig im Unterricht. Anfang Juni fehlte er zwei Wochen. »Wo ist denn unser angeblicher Kurde?« fragte der Geschichtslehrer hämisch und sank noch tiefer in den Augen der Schüler, denn wir wußten, daß Nuh sehr krank war. Am Nachmittag half ich meinem Vater in der Bäckerei ein paar Stunden, schnappte mir heimlich einen Kuchen und eilte zu meinem Freund. Das Slumviertel am östlichen Rand der Stadt ist noch ärmlicher als unser Viertel. Dort leben die verarmten Bauern, die der Hunger aus ihren Dörfern vertrieben hat. Sie kamen auf der Suche nach Arbeit nach Damaskus. Sie bauten ihre Behausungen aus Lehm, Wellblech und Holz, und die Regierungen drückten ein Auge zu. Alle Regierungen erklären die Behausungen für illegal, doch die Bewohner kümmern sich nicht darum. Sie haben keine andere Wahl. Die neue Regierung versprach, menschliche Wohnungen für die Bewohner zu schaffen, aber das hatte auch schon der vorherige Machthaber versprochen. Die Gassen schlängeln sich zwischen den niedrigen, meist einstöckigen Hütten. Überall liegt Abfall auf der Straße, und die Kinder tollen noch lauter herum als bei uns. Ich fragte ein barfüßiges Kind nach der Hütte von Nuh, und es rannte mir kichernd voraus. Die Tür war wie viele in diesem Viertel aus dem Sperrholz alter Transportkisten gebaut. Ich klopfte an, und ein wunderschönes Mädchen machte die Tür auf. »Ein Freund von Nuh«, rief sie auf arabisch in das Wohnungsinnere, hielt die Tür einen Spalt auf und lächelte mir verlegen zu. »Komm herein, Junge«, forderte mich ein großer Mann freundlich auf, der die Tür aufriß. Er streckte mir die Hand entgegen und tadelte das errötende Mädchen auf kurdisch. Ein einziges großes Zimmer war der dunkle Raum hinter der Tür. Matratzen stapelten sich in der einen Ecke bis zur Decke. Die Mutter von Nuh lächelte und begrüßte mich. 102 Der große Mann, ein Onkel von Nuh, übersetzte den Gruß der Mutter. Unbeholfen gab ich ihr mein Mitbringsel und schaute mich nach Nuh um. Er lag in der Ecke auf einer Matratze, neben ihm saß ein alter Mann. Das war sein Großvater, wie ich später erfahren habe. »Was machst du für Sachen?« fragte ich und drückte Nuhs fiebernde Hand. Er lächelte müde. »Du hast dich bemüht wegen mir?« »Hör doch auf! Ich besuche dich gerne. Die anderen wollten auch kommen, da sagte ich mir, ich beeile mich, daß ich auch etwas von dem Kuchen abkriege. Wenn Isam kommt, bleibt nichts übrig.« Nuh lachte bei der Erinnerung an den Klassendrescher Isam. Der Onkel übersetzte der Mutter, die nur ein paar arabische Wörter verstand, was wir redeten, und sie lachte. Es wurde draußen dunkel. Die Mutter stand auf und zündete eine Öllampe an. »Warum das? Habt ihr etwa keinen Strom?« staunte ich, da ich elektrische Birnen von der Decke baumeln sah. »Die neue Regierung, Gott soll sie strafen, hat den Strom abgestellt, damit wir abhauen«, erklärte der alte Mann wütend auf Hocharabisch. »Was hast du denn eigentlich?« fragte ich Nuh. »Ach, nur eine blöde Grippe«, antwortete Nuh und hustete kurz. Die Mutter erkundigte sich bei ihrem Bruder, und er übersetzte es für sie. Sie begann erregt auf ihn einzureden, und er sagte mir dann, daß Nuh einen Herzfehler habe. Ich wußte bis dahin nicht, was das ist. »Quatsch, Herzfehler! Der Arzt hat einen Fehler im Kopf. Ich bin so gesund wie ein Pferd«, wehrte Nuh ab und hustete wieder. Die Mutter schaute ihn traurig und besorgt an, dann stand sie auf und verschwand hinter einem Vorhang, der die Kochecke vom Zimmer trennte. »Opa, erzähl meinem Freund eine Geschichte. Er hört gerne alte Dinge.« 103 »Ich kann doch nicht so gut Arabisch sprechen, warum kann dein Freund denn kein Kurdisch?« »Er ist doch Araber!« »Ja und? Können Araber kein Kurdisch lernen? Sie lernen doch auch Französisch und Englisch...«, der alte Mann winkte mit der Hand ab, »bald wirst auch du kein Kurdisch mehr können.« Seine Stimme klang so verbittert wie die Stimme meiner Mutter, wenn sie mir vorwirft, daß ich ihre Sprache nicht kann. Sie spricht Aramäisch. Eine alte Sprache, die nur noch die Bewohner von ein paar Dörfern sprechen. Diese alte Sprache soll Jesus gesprochen haben. Auch Onkel Sa-lim kann Aramäisch. Er sagte einmal, als er betrunken war, die Römer hätten Jesus nicht deshalb gekreuzigt, weil er gesagt hatte, er sei der Sohn Gottes, denn sie hatten viele Götter, und einer mehr oder weniger machte ihnen nichts aus. Die Römer waren nicht kleinlich, aber sie hätten Jesus gekreuzigt, weil er es auf Aramäisch gesagt hatte. Nuh verdrehte die Augen und schwieg eine Weile. »Na gut«, sagte er plötzlich, »erzähl auf kurdisch, und ich übersetze für meinen Freund.« Sein Großvater erzählte, und Nuh übersetzte, aber nur ein paar Satze, dann fing er an zu husten. Ich bat ihn aufzuhören, weil es zu anstrengend für ihn sei und mir keinen Spaß mehr machte. Es war sehr spät, als Nuhs Vater von der Arbeit kam. Er wusch sich, während die Mutter den Gemüsetopf auf ein breites Tuch mitten ins Zimmer stellte. Ich wollte gehen, aber Nuh ließ mich nicht. »Nicht bevor du Brot und Salz mit uns geteilt hast«, bekräftigte sein Vater, und ich aß gerne, neben Nuh sitzend. Nach drei Tagen wollte ich mit Isam, Ismail und einigen anderen aus unserer Klasse Nuh besuchen. Da schlug am frühen Morgen die Nachricht wie eine Bombe in der Schule ein, Nuh sei nach einer Herzoperation gestorben! Der Physiklehrer erlaubte uns, am Nachmittag zur Beerdigung zu gehen, die auf denselben Tag angesetzt war, 104 aber nur wenige haben mich begleitet. So sterben die Armen in meiner Stadt, lautlos. Meine Mutter sagt, vom Tod der Armen und der Zuhälterei der Reichen erfährt kein Mensch etwas. Es war sehr traurig. Die Mutter heulte vor der Tür, und viele Männer sprachen auf den blassen Vater ein, der sich an den Sarg krallte, als wollte er Nuh behalten. Seine Hände sahen grau wie die Erde aus und waren mit tiefen Furchen übersät. Ich sah den Großvater abseits stehen, die Tränen liefen über sein unrasiertes Gesicht. Ich eilte zu ihm, als der Sarg mit Nuh aus dem Zimmer gebracht wurde. Ich konnte meine Trauer nicht verbergen, und als ich die verhornte Hand des Großvaters packte, fing ich an zu weinen. Er schaute mich an, dann drückte er mich fest an sich und küßte mich auf den Kopf. »Nuh hat dich sehr geliebt«, flüsterte er mir zu. Ich weinte bitter. Dieser Hurensohn von Geschichtslehrer hat ihm das Herz gebrochen, dachte ich plötzlich. Ich werde es auf die Tafel schreiben: In dieser Klasse lebte der Kurde Nuh. Auf den Mauern der Schule und auf den Stämmen der Bäume im Schulhof, überall wird es zu lesen sein. »Opa, bringst du mir Kurdisch bei?« bat ich den Großvater auf dem Rückweg. »Gerne, wenn du willst.« Ich wollte, denn das war die Sprache von Nuh. 105