Karin A. Wurst Erzählstrategien im Prosawerk von J. M. R. Lenz Eine Leseanleitung Jakob Michael Reinhold Lenz' Erziihlwerk wurde lange Zeit zu Gunsten seines DramenschafFens vernachlässigt. Dies lung unter anderem mit einer problematischen Rezeptionsgeschichte zusammen, in der die Prosaschriften weniger ernst genommen wurden.1 Ein Grund fur diese Vernachlässigung ist der fragmentarische Charakter, das Unabgerundete und Ungewöhnliche der Lenzschen Prosa. Durch den mehr oder minder deutlichen Bezug auf eigene und fremde Texte, auf literarische Formen und Konventionen, stellen sich die Texte selbst infrage.2 Lenz konsrruiert eine disparate, auf den ersten Blick chaotische fiktionale Welt - Beispiele aus drei seiner wichtigsten Prosaerzählungen will ich hier genauer betrachten: »Zerbin oder die neuere Philosophie« (1775), »Der Waldbruder: Ein Pendant zu Werthers Leiden« (entstanden 1776) und »Der Landprediger« (1777).' »Zerbin oder die neuere Philosophie«, entstunden in Straßburg zur Zeit von Lenz' größter Produktivität, enthält Elemente, die auch in Lenz' »Soldaten« (1776) vorkommen, zum Beispiel das bürgerliche Mädchen, das sich durch eine Liaison mit einem Offizier Hoffnungen auf sozialen Aufstieg macht, und die moralische Korruption der Offiziere. Die Erzählung enthält zugleich Elemente, die in der zeitgenössischen Diskussion präsent waren, zum Beispiel den Kindsmord.4 Der Briefroman »Waldbruder: Ein Pendant zu Werthers Leiden« ist eine Reaktion auf Johann Wolfgang Goethes Roman »Die Leiden des jungen Werthers« (verknüpft mir Lenz' Rezension des Romans in den »WertherBriefen«, entsranden 1774—75)"', steht aber nicht in seiner enthusiastisch zustimmenden Nachfolge und ist auch nicht rationalistisch-aufklärerische Kritik, sondern problematisiert Goethes »Werther«. Die drei Texte werden so zu einem sich teilweise entsprechenden, widersprechenden oder relativierenden Diskursgeflecht6 um die Diskussion über die Rolle und Funktion des Romans, die Goethes »Werther« provoziert hatte. In der Erzählung »Der Landprediger«, entstanden im Anschluss an das Prosafragment »Der Waldbruder« kurz nach Lenz' Ausweisung aus Weimar, geht es um die Möglichkeit oder Unmöglich keit der tätigen und produktiven Integration des Künstlers beziehungsweise Intellektuellen in die zeitgenössische Gesellschaft. Spielte Lenz im »Waldbruder« die Möglichkeit des Ausstiegs, des radikalen Rückzugs auf die eigene Subjektivität im Sinne des Werdier'- Erzählsrratcgien im Prosawerk von ]. M. R. Lenz sehen Vorbilds durch, so bietet er im »Landprediger« die aufklärerische Perspektive der tatkräftigen Integration in die bürgerliche Welt als Möglichkeit an. Zentral für diese Aufklärungsideologie waren die Diskurse der Religion, der Bildung und der Literatur. Begleiret werden diese bei Lenz von sozialen Fragestellungen, wie der Frage nach der Familienkonzeption, insbesondere dem Verhältnis der Gatten zueinander, dem gesellschaftlichen Zusammenleben in einer größeren Gemeinschaft, dem Verhältnis zwischen Adel und Bürgertum und, im »l.andprediger« ganz wichtig, der materiellen und der sozialen Verbesserung durch wirtschaftliche Reformen. Indem er diese Diskurse in seinen Texten gegeneinander setzt, weigert sich Lenz theoretisch und prakrisch - so meine These -, monoperspektivische, einheitliche, geschlossene Werke zu schaffen. Diese Haltung hat vermutlich zutun mit seiner eigenen ungesicherten Position. Was sich aus heutiger Sicht als Übergangszeit, als Sattelzeit (Reinhari Koselleck) auf dem Weg in die Moderne charakterisieren lässt, stellte sich für Lenz als philosophisches Schwanken zwischen gegensätzlichen anthropologischen Modellen7 dar, nämlich als die Spannung zwischen dem idealistischen Postulat einer Subjekt-Autonomie einerseits und der materiellen Diagnose einer Subjekt-Determination auf der anderen Seite.8 Anstatt diesen Widerspruch aufzulösen, konstruiert Lenz ein Netz aus verschiedenen zeitgenössischen Diskursen, literatischen Konventionen und des an ihnen geschulten Rezeptionsverhaltens in seinen Texren. Lenz entwirft offene Texte als Spannungs- und Kräftefelder9, als Orte des Dissens, als Gelegenheit für das Aufeinanderprallen verschiedener Tendenzen und Wertesysteme in entwicklungsfähigen Kommunikations- und Sinnkonstituierungsmodellen. Die künsderische Re-Prä-sentation von Beziehungsfeldern innerhalb der einzelnen Texte, die wiederum mit anderen Lenzschen Nebentexten und Prätexten sowie mit fremden lexten in weiteren Beziehungsfeldern stehen, betont die Konrextabhängig-keit aller literarischen Formen. Der wohl wichtigste Aspekt dieser Erzählstrukrur ist die Intertextualität, der Bezug von Texten auf Texte im weitesten Sinne. Der Begriff der Intet-textualität, wie ich ihn zur Beschreibung der Lenzschen Narrativik verwende, bezieht sich auf Texte, die bewusst eingesetzte Bezüge zu anderen Texten oder Textgruppen aufweisen. In ihnen haben die intertextuellen Bezüge eine beabsichtigte und markierte Bedeutung, und die Zitate und Anspielungen bilden strukturelle Muster. Dies dient der Relativierung von Texten und den ihnen zu Grunde liegenden Normensystemen."1 Intertextuelle Markierungen im »Zerbin« wären zum Beispiel der proble-matisierende Bezug auf »Werther« sowie auf das Genre des zeitgenössischen Entwicklungsromans. Beide Verweise sind bedeutungsvoll, da die in ihnen etablierten Normen der bürgerlichen Subjektivität im »Zerbin« durch die z~? Karin A. Wurst differenzierende Bezugnahme infrage gestellt werden. Der poetologische Vorspann verweist deudich auf den beabsichtigten Bezug auf andere Texte. Die Zitate und Anspielungen auf Geliert (357), in Bezug auf Zerbins Moralphilosophie, oder Petrarch (363), in Bezug aufsein Verhältnis zu Renatchen, bilden strukrurelle Muster. Die Romanlösung »Selbstmord« wird gezielt auf »Werther« bezogen. Der Erzählung wird eine zweifache Einleitung vorausgeschickt. Das Shakespeare-Motto ordnet die Erzählung zunächst in die Shakespeare-Tradition des Sturm und Drang ein. Gleichzeitig wird das Thema des menschlichen Elends als Erwartungshorizont konstruiert: »Wie mannigfaltig sind die Arten des menschlichen Elends!« (354), mit diesem Ausruf beginnt die als Halbrahmen konzipierte poetologische Einleitung der Erzählung. In einer paradoxen Formulierung charakterisiert der Erzähler die Aufgabe der Dichter folgendermaßen: Sie bestehe darin, die »vertaubten Nerven des Mitleids« wieder »aufzureizen«, und das, obwohl sie in einem Jahrhundert lebten, »wo Menschenliebe und Empfindsamkeit nichts Seltenes mehr sind« (354). In einer Zeit, wo der Höhepunkt der Empfindsamkeit schon überschritten war und sie der Kritik unterzogen wurde, sieht sich der Erzähler veranlasst, auf die erneute Reizung der Empfindungsfähigkeit zu pochen. Im poetologischen Vorspann charakterisiert der Erzähler dann diese moralische Haltung der Zeitgenossen folgendermaßen: Sie hätten lediglich gelernt, die eigenen Ungerechtigkeiten »schöner (zu) bemänteln« und aus »allzugroßer Menschen freundschaff (würden, K.A.W.) desro unbiegsamere Menschen-fei nde« (354). Diese auf den ersten Blick paradoxe, aufhorchen lassende Wendung findet ihre Erklärung in der Gegenüberstellung von der Liebe zum menschlichen Geschlecht einerseits und zum jeweils spezifischen Individuum andererseits. Die Lenz'sche Denkweise will den Menschen als Individuum im situationsgebundenen Kontext darstellen und nicht als ein Ideal oder als ein repräsentatives Konstrukt. Der im Halbrahmen angedeutete Gegensatz zwischen Idealität und situationsgebundener Individualität durchzieht dann auch die Erzählung. Eine Spielart des menschlichen Elends unter vielen anderen entsteht zum Beispiel durch das die eigene individuelle Situation verkennende Festhalten an starren idealen Normen. Anspielend auf Goethes »Werther«, will der Erzähler in »Zerbin« in der »folgenden Erzählung, die aus dem Nachlaß eines Magisters der Philosophie in Leipzig gezogen ist«, »auf der Karte menschlicher Schicksale verschiedene neue Wege entdecken, für welche zu warnen noch keinem unserer Reise-beschreiber eingefallen ist, ob schon unser Held nicht der erste Schiffbrüchige daraufgewesen« (354). Wie Werther scheitert Zerbin »an der eigenen Idealisierung der Umwelt«.'' Die Differenz zum zitierten Prätext liegt in der Weigerung, dieses Scheitern durch die »Zaubereien einer raffaelischen Einbildungskraft« (378) zu asthetisieren und damit zu überhöhen. Erzahlstraiegien im Prosawerk von J. M. R. Lenz Auch im »Waldbruder« lässt sich Intertextualität als wichtiges Strukturprinzip ausmachen. Lenz' Protagonist mit dem sprechenden Namen Herz12, eine Wertherfigur, zieht sich aufs Land zurück, um seinen Gedanken an eine ihm unerreichbare Geliebte nachzuhängen. Lebte Wetther in der Idylle einer Frühlingslandschaft, so zieht Herz im Winter in den Odenwald, in eine Hütte aus »Moos und Baumblättetn« (380). Er legte »seine Bedienung bei der Kanzlei« (381) nieder, nachdem er sich in eine Gräfin verliebt hatte, die er lediglich aus Briefen seiner Wirtin kannte und die er sodann auf einem Ball kennengelernt zu haben glaubte. Dass er, wie sich später herausstellt, eine Fremde für seine Geliebte gehalten hat, scheint ihn jedoch nicht weiter zu stören; er tut den Irmim mit der Begründung ab, dass er in »ihren Geist, ihren Charakter« (384) verliebt sei und nicht in ihre Gestalt. Aus im Roman nicht geklärten Gründen (es liegen lediglich Spekulationen der verschiedenen Briefeschreiber darüber vor) lässt sich die Gräfin malen. Herz nimmt an, dass das Bild für ihn gedacht sei, und versucht, es in seinen Besitz zu bringen; er will damit nach Amerika in den Krieg ziehen. Die von Herz freudig begrüßte Möglichkeit einer Karriere beim Militär scheint auf eine Intrige seiner Freunde zurückzugehen: Sie wollen ihn von einer Geliebten entfernen, die, was Herz nicht weiß, den Vorgesetzten heiraten wird, unter dem Herz in den Krieg ziehen will. Der Roman endet mit einem Brief dieses Verlobten, der die Annahme bezüglich des Bildes als Herz' Irrtum darstellt. Herz' Perspektive wird zunehmend aus dem Briefgeschehen hinausgedrängt. Im Gegensatz zur älteren, »vor-werther'schen« Form des Briefromans, in der sich die Aussagen der Briefschreiber zu einem einheitlichen Gesamtbild runden, bewirkt die multiperspektivische Anlage dieses Romans, dass die wahren Umstände und Motivationen des Protagonisten Herz letztlich ungeklärt bleiben. Die Aussagen der einzelnen Briefeschreiber relativieren die Einschätzungen des Protagonisten und widersprechen ihnen teilweise sogar. Die subjektive Perspektive des wertherisierenden Herz wird somit in Zweifel gezogen. Die Leser werden verunsichert, weil sie nicht über den »wahren Sachverhalt« informiert werden. Sie finden kein verlässliches Erzählzentrum und keine zuverlässige Perspektive. Auch die strukturbildende Rolle des Zufalls verunsichert die an kausalen Zusammenhängen und Motivationen geschulten Leser. Wie sich an Hand der verschiedenen Perspektiven abzeichnet, hängt die jeweilige psychische und physische Situation des Protagonisten nicht ausschließlich von seinem Willen ab, sondern ebenso stark von der spezifischen Figurenkonstellation, in der er sich an einem bestimmten zeitlichen und örtlichen Punkt befindet. In diesem polyphonen Text ergänzen und brechen sich, vom Autor orchestriert, eine Vielzahl von divergenten Stimmen, Perspektiven und Weltanschauungen. Er selbst nimmt lediglich als eine Stimme von mehreren an dem dynamischen Sinnkonstituierungsprozess teil. Im Gegensatz zu einem monologischen Werk verkörpert der polyvalente Roman 39 Kariu A. Wurst anti-hierarchische Werte. Die aus der zeitgenössischen Erwartungshaltung heraus reagierenden Leser werden zunächst von diesem widersprüchlichen Bild verunsichert und dadurch gezwungen, über das Präsentierte nachzudenken. Das utopische Potential dieser skeptischen, fragenden Haltung wurde von Ernst Bloch mit Bezug auf Brechts Verfremdungstechnik auf den Begriff gebracht: »Der Effekt soll dann der sein, daß Verwundern eintritt, also jenes wissenschaftliche Stutzen, philosophisches Staunen, womit das gedankenlose Hinnehmen von Erscheinungen, auch Spielerscheinungen aufhört und Fragestellung, erkennenwollendes Verhalten entspringt.«13 Im »Landprediger« besteht die intertextuelle Diskrepanz zwischen der knappen Form der runfzigseitigen Erzählung und den Ansprüchen eines breit angelegten Bildungsromans, der hier auch noch die Erfolgsgeschichte dreier Generationen umfasst, eine der Strategien, mit denen Lenz die auf den ersten Blick organische Einheit seiner künstlerischen Vision aufbricht und damit auch ihren Inhalt problematisiert. Laut eigenem Anspruch will der Erzähler die Geschichte eines Mannes aufschreiben, »der sich wohl unter allen möglichen Dingen dieses zuletzt vorstellte, auf den Flügeln der Dichtkunst unter die Gestirne getragen zu werden«. (413) Durch diese einführende Bemerkung wird die Leseerwartung des Publikums auf eine »falsche Fährte« geführt; die Leser werden auf einen Künstlerroman eingestim mt. Aber weder die Frage nach dem Wesen des künstlerischen Schaffens noch die Freiheit des schaffenden Genies stehen im Mittelpunkt. Die Schriften des Protagonisten können darüber hinaus kaum als Dichtkunst bezeichnet werden, sie sind nämlich Abhandlungen »von der Viehseuche, von den Pferdekuren, von dem Wieswachs und dem Nutzen der englischen Futterkräuter, von dem Klima und dessen Einfluß auf Menschen Tiere und Pflanzen (...)« (445). Lenz beschreibt in einer Art Bildungsroman die phantastisch anmutende Erfolgsgeschichte dreier Generationen der Theologenfamilie Mannheim. Der Vater, »ein großer Freund der Dogmarik und Orthodoxie« (413), schickt seinen Sohn Johannes, der im Mittelpunkt der Erzählung steht, mit der Warnung vor den »Modewissenschaften« (414) an die Universität, wo Johannes Theologie studieren soll. Jedoch schon vor Beginn des Theologiestudiums, auf das ihn der Vater mit den grundlegenden Schriften vorbereitet hatte, war das Religionsverständnis des Sohns auf die einfache Vorstellung reduziert, dass »Gott litte, wenn wir sündigten und daß er auferstünde und gen Himmel führe, wenn wir andere glücklich machten« (415). Diese wohl kaum orthodox zu nennende religiöse Einstellung bildete sich wohlgemerkt im Hause des orthodoxen Vaters heraus, obwohl der sich die größte Mühe gegeben hatte, seinen Sohn von den ketzerischen »sozianischen Meinungen« (413) fernzuhalten. Die Diskrepanz zwischen väterlicher Intention und ihrem Resultat lässt die Leser aufmerken, da sie keine traditionelle Lesart im Sinne der Rezeption eines ernstgemeinten Bildungsromans zulässt. ái\ Erzählstrategien im I'rosawcrk von J.M.R. Lenz Durch weitere Verweisungsstrategien dieser Art (zum Beispiel den spielerisch-montierenden Umgang mit den verschiedenen Romanformen in dieser kurzen Erzählung, die ungleichmäßige und obendrein scheinbar willkürliche Betonung einiger Episoden aus dem Leben dreier Generationen, die an sich kaum als zentral zu bezeichnen sind) fordert der Autor den Rezipi-enten zur Dekonstruktion seines Textes auf, indem er den Zweifel an der »Ernsthaftigkeit« seines Entwurfs mit in den Text einbaut. Lenz, der selbst der Verfasser zahlreicher Reformschriften ist, lässt in diesem Text gängige Reformideen, wie zum Beispiel den sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg durch landwirtschaftliche Reformen, als Zitat anklingen, lässt diese aber dialektisch in ihr Gegenteil, nämlich in behäbige Anpassung umschlagen. Man kann nicht davon ausgehen, dass Lenz Reformhaltungen ausschließlich bestätigen oder kritisieren will. Er will gewissermaßen beides und schreckt dahervor einer eindeutigen systematischen Theoriebildung zurück. In seinen Texten vermeidet Lenz Eindeutigkeit dadurch, dass er bestimmte Themen innerhalb eines Textes durch eine perspektivische, verschiedene Aspekte der Sache einander zuordnende Schreibweise abhandelt und sie zum größten Teil auch noch zu anderen Texten, ja sogar verschiedenen Textsorten, zum Beispiel dem Drama »Die Soldaten« mit der Reformschrift »Über die Soldatenehen« (geschrieben um 1776), in Beziehung setzt. Erst durch die durch formale Verweisungsstrategien entstandene Problematisierung der Klischees kann deren inhärentes Konfliktpotenzial aufgedeckt werden. Lenz bietet im »Landprediger« und in den anderen Erzählungen jedoch keine Revision dieser Positionen, keinen eigenen geschlossenen sozialreformerischen Entwurf an, sondern problematisiert die vorhandenen Entwürfe lediglich. Lenz geht es gerade nicht um systematische, in sich stimmige Positionen, und seine Ästhetik baut die Grenzen zwischen den theoretischen, moralphilosophischen, autobiografischen (z. B. Briefe) und fiktionalen Einzeltexten ab; seine Texte dürfen nicht jeweils einzeln und für sich gesehen werden, sondern sie geben erst in ihrer Gesamtheit die Fülle der sich gegenseitig erhellenden, differenzierenden, problematisierenden und auch durchaus widersprechenden Perspektiven. Die Leser werden in diesem Labyrinth zunächst onentierungslos. Sie verlieren den Mittelpunkt, denn die verschiedenen Perspektiven und Fragmente lassen eben gerade keinen Blick auf ein einheitliches Erzählzentrum zu. Alle Perspektiven sind gleichetmaßen »wirklich« oder »unwirklich«. Es wird keine Hierarchisierung versucht, die bestimmte Aspekte gegenüber anderen privilegiert. Die Arbeit, das Sichabarbeiten an der Begtiffsbildung, das ungeordnete, sich selbst störende Erkennen, die Diskontinuität des Denkens ist seinen Texten eingeschrieben. Indem er die eigene Argumentation ständig unterbricht, verhindert er jegliche Ganzheitsfik-tion. In der Lenz'schen Prosa ersetzt eine Sprach- und Begriffsskepsis, »Lautes á i Karin A. Wurst Denken« und prozessuelles Vorgehen, das einen Reichtum der Bezüge ermögliche, jegliche Eindeutigkeit. Verschiedenartige Positionen, die über die bloße polare Gegensätzlichkeit hinausgehen, bilden die Struktur seines Gesamtwerks. Diese Struktur determiniert nicht nur das jeweilige Einzelwerk, sondern stellt auch ein Beziehungsgeflecht zwischen den verschiedenen literarischen, theoretischen, ästhetischen und moralischen Schriften her. In seiner Prosa erfordert die Selbstreflexivität neue Darstellungsmuster, die nicht mit den Maßstäben der zeitgenössischen Ästhetik erfasst werden konnten. Daher Stammt die oft befremdliche Reaktion der (zeitgenössischen) Kritik. Dabei ist hervorzuheben, dass es sich bei der Lenzschen Erzählstruktur nicht um die Darstellung eines planlosen, beliebigen Chaos handelt. Statt dessen konstruiert er eine Form von Offenheit, die sich ihrer konkreten Bedingtheit und der Begrenztheit ihrer jeweiligen, momentan eingenommenen Positionen bewusst ist und die gleichzeitig willens ist, diese immer wieder neu zu erarbeiten und zu verhandeln. Die Lenz'sche Erzählstruktur ist ungewöhnlich, weil sie die Unvereinbarkeit vetschiedener Positionen, Haltungen und Meinungen bestehen lässt. Sie wirkt dadurch zwar ambivalent und desorientierend offen, erweist sich durch diese Mehrstimmigkeit jedoch auch als konfliktfähig. Lenz ist kein systematischer Denker, weil er keine absolute Sinnhaftigkcit suggerieren will., sondern Heber vorläufige Erkenntnisse präsentiert. Dennoch kann man eine Suche, einen Wunsch nach Syn-therisierung der verschiedenen Positionen, nach Konsens und Vercinheidi-chung spüren, denn Lenz enrwirft immer wieder Modelle - wenn auch, wie oben ausgeführt, eingeschränkte -, die dem Chaos einer als kontingent14 erfahrenen Welt entgegensteuern und die Fiktion von Stabilität schafFen sollen. Lenz sieht also den Versuch, sich dem Prozess der eigenen Positionsfin-dungzu unterziehen, auch wenn dieser nie zu einem eindeutigen Ende kommen kann, als notwendig für die Identitätskonstitution und -Stabilisierung des Menschen an. 1 Zur Rezeptionsgeschichte vgl. Alan Leidner und Karin Wurst: ..Unpopulär Virtues: /. M- R. Lenz and the Critics.., Drawer, SC 1999- Eine erste wichtige Einschätzung der Prosa bot John Osborne in mehreren Artikeln zur Prosa, die er in seinem Band »J. M. R. Lenz: The Renunciation of Heroism», Göttingen 1975, zusammenstellte. In neuerer Zeit vgl. auch die Arbeiten von Hans-Gerd Winter, bes.: »J. M. R. Lenz as Adherent and Critic of Enlightenment in >Zerbin; or Modern Philosophy and The Most Scntimenral of AH Novels..-, in: Daniel Wilson/Robert C. Holub (Hg.): »Impure Reason; Dialectic ol Enlightenment in Germany». Detroit 1993, S. 443-464, sowie seinen Beitrag in diesem Band. Außerdem Hartmut Dedert: Erzählstrategicn im Prosawerk von J. M. R. Lenz «Die Erzählung im Sturm und Drang: Studien zur Prosa des achtzehnten Jahrhunderts», Stuttgart 1990; Martin Kagel: »Strafgericht und Kriegstheater: Studien zur Ästhetik von Jakob Michael Reinhold Lenz«, St. Ingbert 1997, S. 13-55- — 2 Dieses Verfahren, sowohl die Entstehungsbedingungen als auch die ungelösten Widersprüche, also den prozessualen Charakter des Schreibens als Spur sichtbar im Text zu hinterlassen, habe ich an anderer Stelle als »Poetik der Bcdingungsverhältnisse« bezeichnet. Karin A. Wurst: »J. M. R. Lenz' Poetik der Bedingungsverhälinisse: Werther, Die >Wcrther-Briefe. und >Der Waldbruder ein Pendant zu Werthers Leiden.«, in: dies. (Hg.): »J. M. R. Lenz. Positionsanalysen zum 200. Todestag«. Köln 1992, S. 198-219. — 3 Sämtliche Texte in: »Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Briefe in drei Bänden«, hg. von Sigrid Damm, Leipzig 1987. Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf Bd. 2 dieser Ausgabe. — 4 Vgl. auch John Osbornc: »The Postponed Idyll. Two Moral Tales by J. M. R. Lenz«, in: »Neophilologus«, 59 (11)75), S. 69, und Martin Kagel: ■ Strafgericht und Kriegstheater«, a.a.O., bes. S. 13-28. — 5 ]. M. R. Lenz: »Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers«, in: »Werke und Briefe», Bd. 2,a. a. O., S. 673—690. — 6 Diskurs ist die sprachliche Realisation einer weitreichenden diskursiven Praxis, die die gesamte Wissensproduktion eines Spezialgebiets mit seinen eigenen Formationsregeln umfasst. Dem literarischen Diskurs kommt ein besonderer Status zu, da er einerseits als Spezial-diskurs funktioniert, andererseits jedoch auf diskursübergreifende Elemente zurückgreift. — 7 Martin Rector: »La Mettrie und die Folgen. Zur Ambivalenz der Maschinenmetapher bei jakob Michael Lenz«, in: Erhard Schütz (Hg.): »Willkommen und Abschied der Maschinen«, Essen 1988, S. 23-41, hier bes. S.24. — 8 Gleichzeitig wird damit der Sturm und Drang-Mythos vom Originalgenie, das eine Welt aus sich selbst schafft, sowie die Hochschätzung des prometheischen Individuums problematisiert. Das reine, über äußere Verhältnisse hinwegsehende »Beisichsclbstscin« wird mit den sozialen und materiellen Kontexten in Beziehung gesetzt. Dies hat die Kritik an der Nichtbeachtung von »Beziehungen und Umständen in denen ein Mensch existiert« zur Folge. Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow: »Subjekt und Subjektivität. Beitrag zu einer Begriffsgeschichte«, in: Manfred Hahn/ Hans Jörg Sandkühlcr (Hg.): »Subjekt der Geschichte«. Köln 1980, S.65- Lenz' literarische Position ergibt sich -wie Martin Rector gezeigt hat — aus seinem philosophischen Schwanken zwischen gegensätzlichen anthropologischen Modellen: 1. der Spannung zwischen dem idealistischen Postulat einer Subjekt-Autonomie einerseits und der materiellen Diagnose einer Subjekt-Determination auf der anderen Seite; 2. dem Konflikt zwischen seiner Haltung als von der Theologie herkommender Leibniziancr sowie als erklärter Empirist und Sensualist. So erklärt sich dann auch seine Suche nach »einer angemessenen Form für seine nominalistische Kritik am begrifflich Allgemeinen». Vgl. Martin Rector: »Götterblick und menschlicher Standpunkt. J. M. R. Lenz' Komödie 'Der Neue Menoza« als Inszenierung eines Wahrnehmungsproblems«, in: »Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft«, 33 (1989), S.206. Lenz' Thema ist daher immer wieder, im Drama wie in der Prosa, der »Widerspruch zwischen beanspruchter persönlicher Autonomie und tatsächlicher Determiniertheit des Menschen durch Verhältnisse, die ihrerseits keinem vernünftigen und durchschaubaren Prinzip folgen: materielle, persönliche, psychische Abhängigkeiten, banale Umstände, läppische Zufälle». Ebd., S. 206. — 9 Kräftefcldcr ist meine Übersetzung von »fields of force« von Stephen Greenblatt (Hg.) »The Forms of Power and the Power of Forms m rhe Renaissance«, in: »Genre«, 15 (1982). S- 6. — 10 Der Begrifilichkeit der Intertextualiät liegen u.a. die Arbeiten und Diskussionen m dem folgenden Band zu Grunde: Ulrich Broich und Manfred Pfistcr (Hg.): »Intertextua-liiät«, Tübingen 1985, S. 1 -30, bes. 29-30. — 11 Klaus Scherpe: »Werther und Werther-wiikung: Zum Syndrom bürgerlicher Gesellschaftsordnung im 18. Jahrhundert«, Bad Homburg 1970, S. 67. — 12 Die Anspielung auf Werthers Sensibilität durch dessen wiederholten Verweis aufsein Herz ist deutlich. Vgl. auch Clark Muenzcrs Bezeichnung des »Werther« als »quintessential novel of the heart«. Clark S. Muenzcr: »Figures of Identity. Goethe's Novels and the Enigmatic Self«, University Park 1984, S.4. — 13 Ernst Bloch: »Das Prinzip Hoffnung«, Bd. 1, Frankfurt/M. 1959; 1973, S. 481. — 14 Zum aus der Soziologie stammenden Kontingenzbegriff siehe vor allem Niklas Luhrnann: »Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft«, in: ders.: »Beobachtungen der Moderne«, Opladen 1992, S. 93-128. TEXT+I Zeitschrift für Literatur Herausgeber: 1 leinz Ludwig .Arnold Redaktion: Hugo Dittbcrncr, Hermann Korxe, Frauke Meyer-Gosau, Axel Ruckaherle, Michael Scheffel. Jan Suümpd. Michael Töteberg und Peter Waterhousc Verlag: edition text + kritik im Richard Boorbcrg Verlag GmbH & Co Posiikh 800529, 81605 München Redaktion: liickermannweg 10, 37085 Göningen, Telefon: (05 50561 53, Telefax: (0551)57196 TEXT + KRITIK erscheint mit vier Nummern im Jahr und kann durch jede Buchhandlung bezogen werden. Die Kündigung des Abonnements ist bis zum Oktober eines jeden Jahres für den folgenden Jahrgang möglich. Zusätzlich erhalten Abonnenten den jährlich erscheinenden Sonderband mit Rückgaberecht. Preis für dieses Einzelheft DM 26,- / öS 190,- / sfr 24,- Satz: Fotosatz Schwarrenbück, Hohenlinden Druck und Buchbinder: Bosch-Druck, Landshut Umschlagabbildung: Kupferstich von G. F. Schmoll, um 1775 ISSN 0040-5329 ISBN 3-88377-627-0 Ausführliche Informationen über alle Bücher des Verlags im Interner unter: http://www.etk-muenchen.de TEXT+I Heft 146 JAKOB MICHAEL REINHOLD LENZ April 2000 (Redaktionelle Mitarbeit: Martin Kagel) INHALT CHRISTOPH WEISS Elisabeth Hauptmanns Hörrunksendung über Jakob Michael Reinhold Lenz am Vorabend der Premiere von Brechts »Hofmeis ter«-Bearbeitung PETER STAATSMANN Inszenierung des Realen. J. M. R. Lenz und die Bühne 16 DAVID HILL »- und macht mir die Erde zum Himmel«. Utopisches in der Lyrik von J. M. R. Lenz KARINA. WURST 27 Erzählstrategien im Prosawerk von J. M. R. Lenz. Eine Leseanleitung 36 JAKOB MICHAEL REINHOLD LENZ Chemisches Theater 44 INGE STEPHAN Geniekult und Männerbund. Zur Ausgrenzung des >Weibüchen< in der Sturm und Drang-Bewegung HANS-GERD WINTER 46 »Pfui doch mit den großen Männern«. Männliche Kommunikationsstrukturen und Gemeinschaften in Dramen von J. M. R. Lenz 55 10 40