DIE ZEIT 11/2008 S. 3 [http://www.zeit.de/2008/11/Jugendgewalt] Jugendgewalt Gewalt von unten Koma-Saufen, Bandenkriege, Hoffnungslosigkeit: Die Verwahrlosung weiter Schichten schreitet voran – und trifft Jugendliche am härtesten. In Großbritannien wird darüber offen gesprochen. In Deutschland noch nicht Von Susanne Gaschke und John F. Jungclaussen Juli 2007. Christine Lakinsky ist auf dem Weg vom Baumarkt nach Hause, als sie zusammenbricht: »Versagen der Bauchspeicheldrüse« wird der Arzt später auf den Totenschein schreiben. Die Sterbende schleppt sich in einen Hauseingang, sucht mit letzter Kraft nach Hilfe. Doch statt auf einen Mitmenschen trifft sie auf drei junge Männer, betrunken, von Haschisch benebelt, in brutaler Spaßlaune. Sie holen nicht etwa den Krankenwagen, sondern quälen und erniedrigen die Wehrlose – und filmen ihre Untaten mit der Handykamera. Etwas für YouTube. Dezember 2007. Nass Osawe und ein Freund sind im Schlussverkauf unterwegs, auf Schnäppchenjagd. Dabei geraten die beiden 16-Jährigen auf das Terrain einer gewalttätigen Jugendbande. Feindselige Blicke werden getauscht, dann erstechen zwei der Gangmitglieder Osawe, schneller, als man schauen kann. Im vergangenen Jahr starben allein in der Hauptstadt 27 Kinder und Jugendliche in Bandenkriegen; in diesem Jahr gab es schon 13 Opfer. Erwachsene, die schlichtend eingreifen wollten, wurden reihenweise angegriffen. An Samstagabenden verwandeln sich Kneipen und Diskotheken regelmäßig in alkoholgetränkte Kampfzonen. Die Gewalt von Fußballhooligans gehört zur Alltagskultur. Die Hauptstadt, von der hier die Rede ist, heißt London – und wenn in Deutschland vergleichbare Exzesse an der Tagesordnung wären, hätte nicht nur die Bild-Zeitung längst den Ausnahmezustand ausgerufen. Gesellschaftliche Trends schwappen häufig von unseren angelsächsischen Nachbarn auf den Kontinent herüber: Das gilt für Mode und Musik ebenso wie für das Kampftrinken und das »Happy Slapping«, die Gewalttat extra fürs Fotohandy. Yob Nation, zu deutsch »Prollnation«, hat der Autor Francis Gilbert die Briten 2006 in einem hochkontroversen Buch genannt – und behauptet, die antisoziale Proletenkultur infiziere inzwischen auch die bürgerliche Mittelschicht. Wenn die These von der sozialen Avantgarde stimmt, was verheißen die britischen Zustände dann für unser soziales Zusammenleben? Jugendgewalt gilt hüben wie drüben als besonders sensibler Indikator für gesellschaftlichen Zerfall – wird aber in beiden Ländern sehr unterschiedlich diskutiert. In Deutschland erregte zuletzt die Aktivität »junger krimineller Ausländer« die Gemüter, wobei im Subtext der Debatte stets mitschwang, das Gewaltproblem sei ein importiertes und müsse sich dementsprechend auch wieder exportieren lassen – zur Not durch Ausweisung. Zumindest dieser Illusion geben sich die Briten nicht hin: Sie halten Gewalt nicht für ein »Ausländerproblem«. Einwanderung ist so sehr Teil der englischen Kolonialgeschichte, dass ein »Gastarbeiter«-Mythos wie in der Bundesrepublik nie entstehen konnte. Deswegen spielt die ethnische Zugehörigkeit von jugendlichen Gewalttätern in der britischen Bandenkultur auch eine untergeordnete Rolle. »Ob du Brite bist oder Ausländer, schwarz oder weiß, Hindu oder Jude, ist egal. Bei den Gangs kann jeder mitmachen«, sagt die Pastorin Joyce Daley, wenn sie aus den Schützengräben der Gesellschaft berichtet. Allein im Norden und Osten Londons gibt es mindestens 45 dieser Nachbarschaftsbanden. Joyce Daley weiß nur zu genau, wie sie operieren. Vor einem Jahr hat sie in Hackney das Projekt der Straßenpfarrer eingeführt. Geistliche, Sozialarbeiter und Freiwillige suchen seither in den einschlägigen Vierteln Kontakt zu den Gangs. »Es sind desillusionierte Kinder, die ihre Bestätigung auf der Straße suchen, weil sich zu Hause niemand um sie kümmert«, erklärt die Pastorin. Ähnlich beschreibt die populäre Kriminalautorin Elizabeth George in ihrem neuesten Roman What came before he shot her das Phänomen: Ihren zwölfjährigen Helden Joel reißen zahllose soziale und psychologische Probleme in den Abgrund der Londoner Gangkultur. Dass er schwarz ist, ist dabei höchstens am Rande von Bedeutung. Vielleicht hält sich die Debatte in Großbritannien auch deshalb nicht mit ethnischen Fragen auf, weil die Engländer (die es, historisch betrachtet, gewiss weniger nötig hätten als die Deutschen) sich selbst im Verdacht haben, eine gewalttätige Nation zu sein. Binge drinking etwa, das programmatische Besäufnis, gehört ganz selbstverständlich zum britischen Verhaltensrepertoire. Alkoholismus wird erst langsam als nationales Problem begriffen. »Auf einmal gibt es Leute, die Mitte zwanzig sind und mit einer Leberzirrhose ins Krankenhaus kommen«, sagt Jasper Mordhorst, ein deutscher Arzt am St. Thomas Hospital in London. Natürlich dient die Trinkerei der Enthemmung – und ist der Vollrausch erst erreicht, dann leben die Angehörigen einer immer wieder als verklemmt beschriebenen Nation ihre Gewalt- (und Sex-)Fantasien aus. Wenn Mordhorst am Wochenende von einer Nachtschicht zurückkehrt, hat er junge Männer zusammengeflickt, die im Suff mit Glasscherben aufeinander losgegangen sind, und er hat junge Frauen behandelt, die von der Polizei aufgelesen wurden, als sie bewusstlos auf der Straße lagen und an ihrem Erbrochenen zu ersticken drohten. Auf die neue Brutalität reagiert London mit enormer Härte Auch in Deutschland warnen Ärzte und Jugendschützer vor einer Zunahme des Alkoholmissbrauchs – die Zahl der jungen Patienten, die mit Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert werden, hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Ebenso gibt es erschütternde Beispiele für Gewaltexzesse, die eindeutig in die Kategorie Kampftrunkenheit fallen, wie etwa den Fall des arbeitslosen Baumaschinisten Gunnar S., der 2004 in Frankfurt (Oder) von besoffenen Schlägern stundenlang gefoltert wurde und nur knapp überlebte (ZEIT Nr. 26/05). Doch von solchen spektakulären Einzelfällen abgesehen wird das Problem des Alkoholismus bei uns nur selten als Teilphänomen einer sich ausbreitenden Gewaltkultur thematisiert – und bisher vorwiegend unter Medizinern verhandelt. Der britische Historiker Vic Gatrell schreibt die Gewaltneigung seiner Landsleute dem »nationalen Charakter« zu, von dem man in Großbritannien unbefangener spricht als in Deutschland. Schon im 17. Jahrhundert sei London als besonders brutales Pflaster bekannt gewesen, meint Gatrell und führt das auf den urbritischen Instinkt zurück, »sich gegen jede Form höherer Gewalt aufzulehnen«. Richtig ist sicher, dass die Vorstellung vom höflichen Briten, der sich noch entschuldigt, wenn man ihm versehentlich auf den Fuß tritt, eher zu den Überresten eines viktorianischen Moralkonzepts gehört, das rowdyhafte Tendenzen nur vorübergehend einzuhegen vermochte. Auf die anarchistischen Neigungen des britischen Individuums antwortete der Staat mit einer in Deutschland kaum mehrheitsfähigen Härte. Seit 1998 gibt es die sogenannten ASBOs (Anti-Social Behaviour Orders), eine Art Strafzettel für unerwünschtes Verhalten, die von den Amtsgerichten an randalierende Jugendliche, Graffitisprayer oder rücksichtslose Nachbarn verteilt werden. Der Erfolg ist freilich zweifelhaft. »Viele Jugendliche tragen ihre ASBOs wie einen Orden«, erzählt Pastorin Daley. Sogar massenhafte Armut nehmen die Briten mit Gleichmut hin Nach der Verwarnung kommt sehr bald der Freiheitsentzug. 6300 britische Jugendliche sind eingebuchtet, 3000 von ihnen jünger als 16 Jahre. Während die Verbrechensstatistik insgesamt rückläufig ist, steigt die Zahl der Gewaltverbrechen mit Messern und Schusswaffen seit einigen Jahren kontinuierlich an; die auffälligste Tätergruppe sind Jugendliche. Auch in Deutschland gibt es bei allgemein zurückgehender Kriminalität einen Anstieg speziell der Jugendgewalt. Freilich gehören explizite Waffenverbote für bestimmte Innenstadtbereiche – wie neuerdings für die Hamburger Reeperbahn – bei uns einstweilen zu den Ausnahmemaßnahmen, ebenso wie Metalldetektoren an Berliner Schulen. Aber wie lange noch? In ihrer Sozialsatire Queen Camilla beschreibt die Kolumnistin Sue Townsend, wohin die Reise jedenfalls für die britische Gesellschaft gehen könnte, wenn sich keine Abhilfe gegen die Verwahrlosungstendenzen schaffen lässt: In ihrer düsteren Zukunftsvision hat eine autoritäre Regierung exclusion zones, Ausgrenzungsbereiche, eingerichtet, in denen Gewalttäter, aber auch Analphabeten, Arbeitslose und Alleinerziehende eingesperrt, bewacht und von Monopolisten zu Höchstpreisen mit dem vermeintlich Nötigsten – vom Hamburger übers Starkbier bis zum Computerspiel – versorgt werden. Die Unbefangenheit, mit der die linke Intellektuelle die Unterschicht charakterisiert, mag für deutsche Leser überraschend sein, aber genau dieses Bild ist in Großbritannien unstrittig. Die Idee von der Klassengesellschaft ist bis heute einer der wichtigsten Pfeiler des britischen Gesellschaftsbildes. Dazu gehört das selbstbewusste Proletariat, die working class – aber eben auch die völlig Deklassierten, das Lumpenproletariat, das in den Tagen von Charles Dickens ebenso existierte wie heute und dem Verbrechen, Gewalt, Kindesmissbrauch, Prostitution und alle anderen zwischenmenschlichen Scheußlichkeiten zugeschrieben wurden – nicht immer zu Unrecht. Armut als Massenphänomen wird in Großbritannien traditionell mit einer Gleichmut hingenommen, die in Deutschland keine Entsprechung hat. In dieser Frage stehen sich die angelsächsische Freiheit, gefälligst individuell nach Glück zu streben, und der deutsche Glaube an kollektive Verantwortung für die Schwachen nahezu unversöhnlich gegenüber. Empirisch ist es ziemlich eindeutig, dass der britische Weg, was den Zusammenhalt der Gesellschaft angeht, keineswegs erfolgreicher ist als der deutsche – trotz aller Anstrengungen der Labour-Regierung in den vergangenen zehn Jahren. Tatsächlich gibt es auf den Britischen Inseln (bei 60 Millionen Einwohnern) 12 Millionen Menschen, die definitionsgemäß arm sind, also weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens beziehen. Das ist jeder fünfte Brite. In Deutschland mit seinen 80 Millionen Einwohnern erfüllen zehn Millionen das statistische Armutskriterium. Nur mehr jeder Achte gehört damit – rein materiell gesehen – zur Unterschicht. Nun sind, hier wie dort, die Armen in ihrer Mehrheit keineswegs kriminell. Weil aber die deutsche Gesellschaft überhaupt nicht gern wahrhaben will, dass es soziale Schichten und schichtenspezifische Belastungen gibt, ist es bei uns nach wie vor kaum möglich, Verwahrlosung und Jugendkriminalität explizit mit sozialer Klassenzugehörigkeit in Verbindung zu bringen. Der brandenburgische Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) handelte sich selten mehr Ärger ein als mit einer Äußerung aus dem Jahr 2005: Damals hatte er – angesichts von neun Babyleichen, die eine geistig gestörte Mutter in Brieskow-Finkenheerd in Blumentöpfen versteckt hatte – von einer »Proletarisierung« des Ostens gesprochen. Auch Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer rührte indirekt an das Schichtentabu, als er jüngst die gehäufte Zahl von Kindstötungen in Ostdeutschland mit dem liberalen Abtreibungsrecht der DDR zu begründen suchte. In beiden Fällen waren, Wortwahl hin oder her, eigentlich eine historisch und demografisch bedingte Entbürgerlichung und der damit einhergehende Verlust eines tragfähigen Wertegerüsts gemeint. Doch derartige Phänomene auch nur tastend zu benennen rührt in Deutschland an letzte Tabus – und ein kollektiver Aufschrei, in diesem Fall im Namen der angeblich pauschal beleidigten Ostdeutschen, war der zu erwartende Mindestreflex. Dabei geht es in dieser Diskussion nur ganz vordergründig um Ost und West, in Wahrheit aber um Oben und Unten. Wollten Wahlkämpfer heute mutig sein, sie müssten über schichtspezifische Lebensstile, über selbstzerstörerische Verhaltensweisen, über ruinierte Familienstrukturen sprechen: über Dinge also, die (Neo-)Liberale für einen Ausdruck des freien Willens halten. Natürlich wohnt dem deutschen Widerwillen gegen eine Schichtendebatte auch etwas Sympathisches inne. Aber die größere Kühle der Briten in dieser Frage verschärft ja dort nicht nur die soziale Spaltung, sondern ermöglicht auf der anderen Seite auch ein entschlosseneres Vorgehen gegen die Desintegrationsprozesse. Es gab eine Zeit zu Beginn der Ära Blair, da dominierte die Diskussion über soziale Ungerechtigkeit den politischen Raum. Doch inzwischen ist Labours sozialreformerischer Schwung erlahmt. Die Zahl der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, steigt – nach kurzfristigem Rückgang – wieder an. Nie zeigte die britische Gesellschaft eine geringere soziale Mobilität als heute. Und als ob das nicht Grund genug zur Klage wäre, hat die Regierung offenbar auch jede Lust verloren, das Thema überhaupt zu debattieren. Bridget Prentice beispielsweise, Staatssekretärin im Justizministerium, die von Anfang an eine der leidenschaftlichsten Verfechterinnen von New Labours Vision war, schimpft heute darüber, dass sie in den Medien nur noch Schlechtes über britische Kinder höre. Prentice greift die sensationslüsterne Presse an, die Horrorstorys wie die von Christine Lakinskys Tod gedankenlos verbreite und die Menschen damit erst auf krumme Gedanken bringe. »Die Pressefreiheit ist ja nahezu sakrosankt, aber vielleicht gibt es einen Weg, sie einzuschränken, damit solche Nachrichten nicht veröffentlicht werden«, sagt Prentice bitter. Für einen neuen sozialpolitischen Impuls scheinen überraschenderweise die Tories gut zu sein. Sie haben sich unter der Führung von David Cameron vom Radikalliberalismus der Thatcher-Ära gelöst: Neuerdings wollen die Konservativen Herz zeigen für die Schwachen und Benachteiligten und ihnen »helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen«. In einem aufrüttelnden Bericht nennt der ehemalige konservative Oppositionsführer Ian Duncan Smith fünf Gründe, die die Angehörigen der Unterklasse zuverlässig zu Verlierern machen: der Zusammenbruch von Familien, wirtschaftliche Abhängigkeit von Sozialleistungen, Bildungsferne, Drogen- und Alkoholabhängigkeit sowie Schulden. Die Konservativen sind sich für konkrete, lebenspraktische Vorschläge nicht zu schade: Dem Hang zur ungezügelten Sauferei zum Beispiel könne man entgegentreten, indem man Supermarktketten verbiete, den schlimmsten Fusel mit Verlust zu verkaufen, um die Kunden in ihre Läden zu locken, sagt Duncan Smith. Auch den Kredithaien solle mit neuer Gesetzgebung das Geschäft erschwert werden, um die katastrophale Verschuldung, unter der neun Millionen britische Haushalte leiden, einzudämmen. Wenn das nach traditionell linken Ideen klingt, dann werden sie doch untermauert von einer urkonservativen Idee. Mit seinem Bericht will Duncan Smith jenen Wertekonservativismus wieder in die Diskussion bringen, der in Großbritannien, genau wie in Deutschland, heikel zu formulieren ist. »Wir müssen anerkennen, dass die Familie das Herz der Gesellschaft ist«, fordert Duncan Smith. »Kaputte Familien führen eher zu sozialer Abhängigkeit und Schulden, die sind oft Grund für Alkohol- und Drogenmissbrauch, der führt zu Gewalt, die Kinder versagen in der Schule und haben kaum eine Chance, diesen Kreislauf nicht selbst zu wiederholen.« Sein deutscher Kollege Schönbohm drückt es noch etwas anders aus. »Wir haben in unserer Gesellschaft verlernt, was normal ist, deshalb können wir es auch niemandem mehr beibringen«, sagt er. »Normal« ist in Deutschland auch so ein Tabu. Zum Thema ZEIT online /2008: Gewalt Wie entsteht Gewalt? Was sind ihre Ursachen? Analysen und Hintergründe [http://www.zeit.de/themen/leben/gesellschaft/gewalt/index] ZEIT online /2008: Jugendstrafrecht – Was tun? Wie sollte sich die Gesellschaft vor jugendlichen Straftätern schützen? Und wie kann man verhindern, dass junge Menschen kriminell werden? Hintergründe und Kommentare [http://www.zeit.de/themen/leben/gesellschaft/gewalt/jugendstrafrecht] DIE ZEIT 26/2005: Die Wut der Unterschicht Der Fall Ronny B. oder: Warum verwahrloste Jugendliche in Ostdeutschland unvorstellbare Grausamkeiten verüben. [http://www.zeit.de/2005/26/Nazis] DIE ZEIT, 06.03.2008 Nr. 11 DIE ZEIT 11/2008 S. 3 [http://www.zeit.de/2008/11/Jugendgewalt]