DIE ZEIT Kassandras kontra Wissenschaft Die Klimaforscher verlieren die Geduld. Weil ihre Daten nicht bedrohlich genug erscheinen, verkaufen sie jetzt Meinungsumfragen als wissenschaftliche Ergebnisse. Ein Kommentar Von Björn Schwentker Politik ist, wenn man es trotzdem sagt: Nach dieser Devise prescht derzeit mit ungesicherten Prognosen eine Gruppe ungeduldiger Klimaforscher voran: Die politischen Entscheidungsträger im Blick, veröffentlichten sie eine Studie im angesehenen Wissenschaftsjournal PNAS, in der sie warnen, das Erdklima könne an verschiedenen Punkten wesentlich schneller umkippen als bisher gedacht. Belege dafür sind in der Arbeit Mangelware. Stattdessen präsentieren die Forscher eine Meinungsumfrage unter Kollegen. Damit haben sie sich von einer belastbaren wissenschaftlichen Methodik verabschiedet. Und sie riskieren den (noch) guten Ruf der Klimaforschung. Das Bild, das die Wissenschaftler vom Klimawandel an die Wand malen, ist mal wieder düster: Schon in zehn Jahren könnte die Arktis im Sommer eisfrei sein und schlagartig die Erderwärmung ungeahnt beschleunigen. Bereits in einem Jahr könnte die atmosphärische Zirkulation über Indien so sehr aus dem Ruder laufen, dass der Monsunregen chaotisch wird – und damit unberechenbar pendelnd zwischen extrem starken und schwachen Regenfällen. Das sind nur zwei von neun sogenannte "tipping elements", am besten übersetzt als "Kippschalter des Klimas", die die Forscher im PNAS-Artikel auflisten. Allen ist gemeinsam, dass sich die klimatische Situation schlagartig mit möglicherweise großer Geschwindigkeit zum Negativen entwickeln kann, sobald ein bestimmter Wert - zum Beispiel die Temperatur - eine gewisse Grenze übersteigt. Das Tückische daran: Das kann auch passieren, wenn die Temperatur nur ganz allmählich steigt. Doch ist die Schwelle zur Katastrophe einmal überschritten, gibt es kein Zurück. Wie bei einer Kugel, die gemächlich einen Hügel heraufgeschoben wird. Sie mag noch so langsam über die Kuppe rollen, ist sie einmal darüber, kullert sie unweigerlich bergab. So weit, so logisch. Doch mit den "tipping elements" des Klimas gibt es ein Problem: Klimamodelle können sie nicht prognostizieren. Prozesse, die in kurzer Zeit aus dem Gleichgewicht geraten, sind am Computer noch immer schwer simulierbar. Zwar lassen sich Systeme modellieren, die umkippen können, doch wann das realistischerweise sein wird, lässt sich nicht berechnen. Kein Wunder also, dass die PNAS-Autoren bei einer „kritischen“ Durchsicht bisheriger Fachveröffentlichungen wenig Handfestes zum Thema fanden. Wo die Fakten als Grundlage für ihre Meta-Studie fehlten, griffen sie zu einem anderen Mittel der Wahrheitsfindung: "expert elicitation", auf Deutsch: Expertenumfrage. 193 Forscherkollegen baten sie weltweit um ihre Einschätzung, welchen der Kippschalter sie am gefährlichsten empfänden. 52 ausgefüllte Fragebögen erhielten sie zurück. Aus ihnen erstellten die Autoren eine Rangliste der bedrohlichsten Kippsysteme. Die Bewertungen der Wissenschaftler flossen anonym in die Studie ein, die Qualität der Experten lässt sich nicht kontrollieren. Um wissenschaftliche Standards der Nachprüfbarkeit geht es den Autoren offenbar wenig. Denkt man dies weiter, so heißt das: Ob die Rangliste in der Studie stimmt, ist gar nicht so wichtig. Viel wichtiger ist die öffentliche Wirkung. Das geben die Klimaforscher auch unumwunden zu: "Die Gesellschaft darf nicht durch die nur sachte ansteigenden Projektionen der globalen Veränderung in falscher Sicherheit gewiegt werden", sagt Hauptautor Tim Lenton, Professor der britischen University of East Anglia. Es musste wohl etwas Dramatischeres her als die Voraussagen des Weltklimarates IPCC, um die Gesellschaft wachzurütteln. Und das, obwohl die IPCC-Prognosen eigentlich schon genügen sollten, den Alarmzustand auszurufen. Doch die Klimatologen wollen noch mehr Aufmerksamkeit. Und wie ginge das besser als durch die Behauptung, das Klima stünde bereits auf der Kippe? Andererseits jedoch erweisen die PNAS-Autoren mit dieser Veröffentlichung nicht nur ihrer Zunft, sondern der gesamten Wissenschaft einen schlechten Dienst. Denn sie können damit das verspielen, was in der Wissensgesellschaft das vielleicht wertvollste Gut ist: das Vertrauen in die Ergebnisse der Forschung, das Vertrauen in die Wissenschaft als verlässlichen Wahrheitsfinder. Wo zweifelhafte Umfragen statt Fakten in hochrangigen wissenschaftlichen Journalen veröffentlicht werden, wo persönliche Forschermeinungen als belastbares Wissen verkauft werden, ist der Ruf der Wissenschaft als Ganzes in Gefahr. Gerade weil der Klimawandel so gefährlich und wichtig ist, brauchen wir verlässliche Forschungsergebnisse darüber. Schließlich gibt es keine andere Kraft außer der Wissenschaft, die die Grundlage für die politische Diskussion liefern kann, wie dem Klimawandel zu begegnen ist. Eine Diskussion, die gar nicht ernst genug genommen werden kann und die vermutlich unser aller Leben verändern wird. Gerade darum ist die Wissenschaft in der Pflicht, Wissen zu generieren, das wirklich als belastbare Basis für eine gesellschaftliche Debatte taugt. Dazu gibt es eindeutige Qualitätsstandards und eine klare wissenschaftliche Methodik. In ihrem Kern sitzt der Zweifel: Sind die eigenen Ergebnisse wirklich sicher? Muss man mit einer noch besseren Methode forschen? Wo sind die Fehler im bisherigen wissenschaftlichen Verständnis? Nur wenn dies die Forschung antreibt, kann sie immer besser werden. Kollektive Mutmaßungen aus einer Auswahl weltweiter Labors haben innerhalb dieser Regeln keinen Platz als Bausteine im großen Gebäude des Wissens. Fast gewinnt man den Eindruck, die Autoren der PNAS-Studie wollten die strengen Qualitätskriterien aufweichen. In ihrer Veröffentlichung sprechen sie vom "Vertrauen der Forschergemeinschaft". Und davon, dass Meinungsumfragen inzwischen durchaus üblich seien, wenn es an harten Fakten mangele, besonders, wenn es um politisch relevante Fragen ginge. Selbstkritisch räumen die Forscher sogar ein, dass so aus naturwissenschaftlicher Perspektive kein neues Wissen geschaffen werde und dass zudem "Expertenmeinungen subjektive Verzerrungen tragen". Dennoch: "Umfragen haben sich als eine sehr wertvolle Quelle zur Information von Öffentlichkeit und Politik erwiesen." Leider erfährt die Öffentlichkeit so nur einen Teil der Wahrheit. Dass die Frage der Kippschalter unter Forschern noch heiß diskutiert wird und keineswegs als befriedigend erforscht gilt, bleibt im Dunkeln. Dass sich noch bei Weitem nicht sagen lässt, wann sich Teile des Klimas wirklich gewandelt haben, falls überhaupt, wird von den PNAS-Forschern sogar eher verklärt. So zählt das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) auf seinen Internetseiten gleich 16 "tipping elements" auf. Und zwar mit einer Zeitschätzung, wann die jeweilige Katastrophe eintreten könnte. Hans Joachim Schellnhuber, Chef des PIK und klimapolitischer Berater der Bundesregierung, ist einer der Initiatoren der PNAS-Studie. Im ZEIT-Interview erklärte er schon vor einiger Zeit, dass er mit Expertenbefragungen kein Problem hat: "Wir arbeiten (...) mit Expertenbefragungen im engeren Sinne, wo man kein verlässliches Simulationsmodell zur Verfügung hat. Eine solche Befragung liefert einem das 'Bauchgefühl' der Wissenschaft. Das sollte aber ausdrücklich als solches deklariert werden." Man kann bezweifeln, ob Schellnhuber und seine Kollegen dem Klimaschutz auf diese Weise dienen. Unseriöse Behauptungen, die sich hinterher als unhaltbar erweisen können, spielen letztlich denen in die Hände, die man besiegen will: der immer noch gewichtigen Macht der Klimawandelskeptiker in Politik, Wirtschaft und Bevölkerung. ZEIT online 06/2008