0 in dem Reportage-Magazin „Spezfaľ widmete sich der SPIEGEL 1999 dem Thema „Heimať. Uberiegen Sie, was an diesem Thema wichtig, aktuell, strittig sein könnte. Formulieren Sie das Thema so, dass das Strittige deutlich zum Ausdruck kommt. Diskutieren Sie das Thema. Heimat - nein danke! Henryk M. Broder über die Gnade der Vertreibung aus seinem Geburtsort (...) Die Liebe zur Heimat ist eine Art Phantomschmerz, beide rühren von, etwas her, das es nicht mehr gibt. Ursprunglich war „Heimat" der Ort oder der Hof, von dem man stammte. Das Wort war ein 5 Neutrum: Das Heimat. Erst mit der Mutation zur weiblichen Form, die Heimat, wurde es emotional so aufgeladen wie das Wort „Mutter". Und so wie der Mensch nur eine Mutter hat, so soll er auch nur eine Heimat haben. „Vergiss nie die Heimat, wo deine Wie-io ge stand, du findest in der Fremde kern zweites Vaterland," - ' ■> So gesehen ware es era Idealfall, wenn, ein Kind da geboren würde, wo schon seine Eltern geboren wurden, Wenn es sem ganzes Leben am selben Ort ver-i6 bringen und schließlich auch da sterben wurde, urn in der heimatlichen Erde -begraben zu werden- Doch so ein Idealfall dürfte inzwischen eher die Ausnahme als die Reget sein, außer vielleicht in isolierten Kegionen wie Tibet oder Tirol, wo „Heimat" ein Syno-» nym für „lebenslänglich" bedeutet. In der Wirklichkeit taucht Heimat meist retrospektív auf. „Man muss in die Fremde gehen, um die Heimat,, die man verlassen hat, zu finden", hat Franz Kafka 1924 geschrieben. Franz Werfel fragte im Jahre 1931: „Besit-K zen wir eine Heimat erst dann, werm wir sie verloren haben?" ^ _ . • ■ i Vermutlich ja. Es'gibt in Israel „deutsche Lands-"1' mannschaften" ehemaliger Rheinländer, Frankfurter, ' Bayern und Hessen, die sich regelmäßig treffen um »Etmnerungen,,aVdiě\alte Heimat auszutauschen. Deutsche jädehrdieyOr 60 Jahren, aus Deutschland vertrieben, deren Kinder in Palästina beziehungsweise Israel geboren wurden und deren Enkel kein . Deutsch mehr sprechen, sehnen sich zurück nach 35 deut^ěm^ald/deutschém Bier und deutschen Liedern. Die Empfange, die der deutsche Botschafter in Tel Aviv gibt, sind Heimatersatz; Würstchen mit Kartoffelsalat die schönste Wiedergutmachung für erlittenesi Unrecht. Ein solcher Heimatbegriff ist vor «allem sentímentalundiiarinlos,«š gibt aber auch eine aggressive Variante der Heimathebe, die gefährlich ist. In Kirjat Arba, einer Siedlung bei Hebron im israelisch besetzten Westjordanland, traf ich amen-' kaniscne Juden aus Brooklyn, Philadelphia und Chi-« cago, die mir in gebrochenem Hebräisch zu erklaren versuchten, dass Judáa und Samaria." „unsere Heimat" seien und die Palästinenser, die seit Generationen nebenan lebten, nach Saudi-Arabien auswandern sollten, wo sie eigentlich hingehörten. » Denn „Heimat" ist auch eine Frage der Macht, eine Heimat haben heisst auch bestimmen können, wer dazugehören darf und wer nicht. Was nicht unbedingt Vertreibung bedeuten muss. So haben viele ehemalige Burger der DDR mit dem Untergang ihrer 55 Republik auch ihre Heimat verloren, sind quasi „entheimatet" worden ohne sich vom Fleck bewegt zu haben. Manche haben in der PDS eine „neue Heimat" gefunden, m der sie gemeinsam der alten nachtrauern. Und in den sechziger Jahren war in der Bun- 60 desrepublik oft die Rede v,on der „heimatlosen Linken", deren Wortführer, Je nach Gruppenzugehörigkeit, gern nach Moskau, Peking oder Tirana reisten, um wenigstens in den Ferien ein Gefühl von Zugehörigkeit, also Heimat, zu erleben. es Aber keine Heimat zu haben kann auch ein enormer Vorteil sein. Seit ich auf dem Bahnhofsvorplatz von Katowice gestanden und mich umgeschaut habe, weiß ich, wie gut das Schicksal es mít mir gemeint hatte: Dank einer weisen Entscheidung meiner Eltern to bheb es mir erspart, zwischen einer Karriere alssym- bolischer Dissident oder praktischer Kollaborateur in meiner natürlichen Heimat wählen zu muáseri. f . Und wann immer ich durch eine Gegend fahre, die hässlich, heruntergekommen und deprimierend ist, 75 frage ich mich: -Warum bleiben die Menschen hier, warum gehen sie nicht weg ? Nur weil eine gruselige Heimat immer noch besser ist als gar keine? Doch mit zunehmendem Alter machen sich auch bei mir Heimatgefuhle bemerkbar, ganz leise und dis- so kret, aber Immerhin* Ich bin im Herbst 1990 nach Berlin gekommen, um die „Wiedervereinigung" zu erleben, nachdem ich schon den Fall der Mauer verpasst hatte. Ich wollte drei bis vier Monate bleiben und wieder wegfahren. Die drei bis vier Monate u dauern immer noch an, und wann immer ich aus Berlin wegfahre, nach Augsburg, Jerusalem oder New York, freue ich mich schon darauf, nach Berlin zurückzukommen. Ich furchte, eines Tages konnte 1 Berlin meine Heimat werden. Für einen, der in Kato- M wice geboren wurde, wäre das keine Katastrophe. (1999) Henryk M. Broder, 52. ist Spiegel-Redakteur und lebt in Berlin und Jerusalem. €*" Welche Auffassung vertritt der Journalist Henryk M. Broder in seinem Beitrag? Wie kommt das Strittige des Themas In seinem Artikel zum Ausdruck? Setzen Sie sich mit Broders Position und Argumentation auseinander. öwaS • "F^ccV^^