Ulrich Beck: Mann und Frau Mit fortschreitender Modernisierung vermehren sich in allen gesellschaftlichen Handlungsfeldern die Entscheidungen und Entschei-dungszwänge. Mit leichter Übertreibung kann f man sagen: „anything goes". Wer wann den Abwasch macht, die Schreihälse wickelt, den Einkauf besorgt und den Staubsauger herumschiebt, wird ebenso unklar, wie wer die Brötchen verdient, die Mobilität bestimmt, und 40 warum eigentlich die schönen Nachtseiten des Bettes immer mit dem qua Standesamt hierfür vorgesehenen, angetrauten Alltagsgegenüber genossen werden sollen dürfen. Ehe läßt sich von Sexualität trennen und die noch einmal Aľvon Elternschaft, die Elternschaft läßt sich durch Scheidung multiplizieren und das Ganze durch das Zusammen- oder Getrenntleben dividieren und mit mehreren Wohnsitzmöglichkeiten und der immer vorhandenen Revi- JJ> dierbarkeit potenzieren. Aus dieser Rechenoperation erhält man rechts vom Gleichheitszeichen eine ziemlich umfängliche, selbst noch im Fluß befindliche Ziffer, die einen leichten Eindruck über die Vielfalt von direkten und IS mehrfach verschachtelten Schattenexistenzen vermittelt, die sich heute hinter den gleichgebliebenen und so treuen Wörtchen Ehe und Familie immer häufiger verbergen. In allen Dimensv.. ;n der Biographie brechen 30 VíaSúmôglichkeiten und Vfahizwänge auf. Die dafür nötigen Planungen und Absprachen sind prinzipiell aufkündbar und in den ungleichen Belastungen, die in ihnen enthalten sind, legitimationsabhängig. In darauf bezogenen Aus- 35 und Absprachen, Fehlern und Konflikten schälen sich immer deutlicher die unterschiedlichen -Risiken und Folgen für Männer und Frauen heraus. Das Verwandeln von Vorgegebenheiten in Entscheidungen heißt ? systems 40 tisch gedacht - zweierlei: Die Möglichkeit der Niehtentscheidung wird der Tendenz nach unmöglich. Die Entscheidungsmöglichkeit entfaltet ein Muß, hinter das nicht ohne weiteres zurückgegangen werden kann. Es muß nun 45 durch die MühleD der Beziehung, Bedenken und damit: Abwägungen der unterschiedlichen Konsequenzen hindurch. Dies heißt aber zweitens, daß die zu durchdenkenden Entscheidungen zum Bewußtmacher der in ihnen 50 aufbrechenden Ungleichheiten und sich daran entzündender Konflikte und Lösungsbemühungen werden. Das fängt schon bei der im Grunde genommen noch konventionellen beruflichen Mobilitätsentscheidung an. 55 Einerseits erfordert der Arbeitsmarkt Mobilität unter Absehung voo děn persönlichen Umständen. Ehe und Familie erfordern das Gegenteil. In dem zu Ende gedachten Marktmodell der Moderne wird die familien- und 60 ehe/oje Gesellschaft unterstellt. Jeder muß selbständig, frei für die Erfordernisse des Marktes sein, um seine ökonomische Existenz zu sichern. Das Marktsubjekt ist in letzter Konsequenz das alleinstehende, nicht partner- 65 schafts-, ehe- oder familien „behinderte" Individuum. Entsprechend ist die durchgesetzte Marktgesellschaft auch eine kinderlose Gesellschaft - es sei denn, die Kinder wachsen bei mobilen, alleinerziehenden Vätern und Müt- 70 tern auf. Dieser Widerspruch zwischen den Erfordernissen der Partnerschaft und den Erfordernissen des Arbeitsmarktes konnte so lange verborgen bleiben, wie feststand, daß Ehe für die 75 Frau Berufsverzicht, Familienzuständigkeit und „Mitmobilität" unter den berufliehen Sternen des Ehemannes bedeutet. Er bricht dort auf, wo beide Ehepartner frei für lohnarbeitsabhängige Existenzsicherung sein müssen 80 oder wollen. Für diesen Widerspruch zwischen Familie und ArbeitsmfuV *ären sehr wohl institutionelle Lösungen oder Milderungen denkbar {etwa ein Mindesteinkommen für alle Bürger oder eine soziale Sicherung, die nicht an ff Berufsarbeit gekoppelt ist; Abbau aller Hindernisse, die Doppelbeschäftigung von Eheleuten erschweren; entsprechende „Zumut-. barkeitskriterien" usw.). Diese sind aber weder vorhanden noch überhaupt vorgesehen. $0 Entsprechend müssen die Ehepaare nach privaten Lösungen suchen, die aber unter den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten auf eine interne Verteilung von Risiken hinauslaufen, Die Frage lautet: "Wer verzichtet auf tSökonomische Selbständigkeit und Sicherheit, also auf das, was in unserer Gesellschaft die selbstverständliche Voraussetzung der Lebensführung ist. Denn wer mitzieht, muß (meist) erhebliche berufliche Nachteile in 4ÄKauf nehmen, wenn sie nicht überhaupt aus ihrer beruflichen Bahn herausgeworfen wird. Entsprechend steigt der Konfliktpegel. Ehe, Familie, Partnerschaft werden zum Ort, wo die ins Persönliche gewendeten Widersprüche >W einer durchmodernisierten Marktgesellschaft auch nicht mehr kompensiert werden können. Zur Gretchenfrage der beruflichen Mobilität gesellen sich andere Gretchenfragen: Zeitpunkt, Zahl und Versorgung der Kinder; der WDauerbrenner.der nie gleichzuverteUenden Alltagsarbeiten; die „Einseitigkeit" der Verhütungsmethoden; die Alptraumfragen des Schwangerschaftsabbruchs; Unterschiede in Art und Häufigkeit der Sexualität; nicht zu 41fvergessen die Nervigkeit einer Optik, die '-. selbst noch in der Margarine-Reklame einen Sexismus wittert. An allen diesen konfliktzündenden Schlüsselthemen des Zusammenlebens zwischen Männern und Frauen wird die 410 Dissoziation der Lagen bewußt: Der Zeitpunkt der Elternschaft trifft im männlichen und weiblichen Lebenszusammenhang auf ganz andere Voraussetzungen und Hindernisse usw. 41T Wenn dann schließlich die Ehe schon „auf Abruf geführt wird - sozusagen „scheidungsgerecht" (wie die den Markt überflutenden Eheberatungsbücher durch vertragliche Regelungen aller Details vom Eigentumssplitting bis ■tfozur außerehelichen Sexualität fordern) -, dann wird die Spaltung, die abgewendet werden soll, vorweggenommen, und aus allen Ent- scheidungen und Regelungen treten die ungleichen Konsequenzen immer offener hervor. 135 Was hier Über die Familie an Enttabuisierung und neuen technischen Möglichkeiten hereinbricht - man denke auch an die durch Psychologie und Pädagogik vorgespielten Gestal-tungsmöglichkeiten des Kindes, die Eingriffs- 140 möglichkeiten in den Mutterleib, die die Chirurgie eröffnet, von der sáence-fiction-Realität der Humangenetik ganz zu schweigen -, dividiert die in ihr ehemals zusammengefaßten Lagen Stück für Stück auseinander: Frau gegen 145 Mann, Mutter gegen Kind, Kind gegen Vater. Die traditionale Einheit der Familie bricht in die Entscheidungen, die ihr abverlangt werden, auseinander. • 1 Was halten Sie von der Art und Weise, wie der Autor das behandelte Thema angeht? 2 Der Autor verwendet eine Reihe von Bildern, z- T. sogar umfangreiche Bildkomplexe. Weisen Sie ihre Funktion an den jeweiligen Textstellen nach. 3 Wo haben Sie den Eindruck, daß.der Autor sehr zugespitzt formuliert, um seinen Text interessant zu Machen und zu provozieren? L\s\