Herders Shakespeare II. Shakespeare Wenn bei einem Manne mir jenes ungeheure Bild einfällt: »hoch auf einem Felsengipfel sitzend! zu sei- nen Füßen, Sturm, Ungewitter und Brausen des Meers; aber sein Haupt in den Strahlen des Him- mels!« so ist's bei Shakespeare! - Nur freilich auch mit dem Zusatz, wie unten am tiefsten Fuße seines Felsenthrones Haufen murmeln, die ihn - erklären, retten, verdammen, entschuldigen, anbeten, verleum- den, übersetzen und lästern! - und die Er alle nicht höret! Welche Bibliothek ist schon über, für und wider ihn geschrieben! - die ich nun auf keine Weise zu vermehren Lust habe. Ich möchte es vielmehr gern, daß in dem kleinen Kreise, wo dies gelesen wird, es niemand mehr in den Sinn komme, über, für und wider ihn zu schreiben: ihn weder zu entschuldigen, noch zu verleumden; aber zu erklären, zu fühlen wie er ist, zu nützen, und - wo möglich! - uns Deutschen herzustellen. Trüge dies Blatt dazu etwas bei! Die kühnsten Feinde Shakespeares haben ihn - unter wie vielfachen Gestalten! beschuldigt und ver- spottet, daß er, wenn auch ein großer Dichter, doch kein guter Schauspieldichter, und wenn auch dies, doch wahrlich kein so klassischer Trauerspieler sei, als Sophokles, Euripides, Corneille und Voltaire, die alles Höchste und Ganze dieser Kunst erschöpft. - Und die kühnsten Freunde Shakespeares haben sich meistens nur begnüget, ihn hierüber zu entschuldi- gen, zu retten: seine Schönheiten nur immer mit An- stoß gegen die Regeln zu wägen, zu kompensieren; ihm als Angeklagten das absolvo zu erreden, und denn sein Großes desto mehr zu vergöttern, je mehr sie über Fehler die Achsel ziehen mußten. So stehet die Sache noch bei den neuesten Herausgebern und Kommentatoren über ihn - ich hoffe, diese Blätter sollen den Gesichtspunkt verändern, daß sein Bild in ein volleres Licht kommt. Aber ist die Hoffnung nicht zu kühn? gegen so viele, große Leute, die ihn schon behandelt, zu anma- ßend? ich glaube nicht. Wenn ich zeige, daß man von beiden Seiten bloß auf ein Vorurteil, auf Wahn ge- bauet, der nichts ist, wenn ich also nur eine Wolke von den Augen zu nehmen, oder höchstens das Bild besser zu stellen habe, ohne im mindesten etwas im Auge oder im Bilde zu ändern: so kann vielleicht meine Zeit, oder ein Zufall gar schuld sein, daß ich auf den Punkt getroffen, darauf ich den Leser nun festhalte, »Hier stehe! oder du siehest nichts als Kari- katur!« Wenn wir den großen Knaul der Gelehrsam- keit denn nur immer auf- und abwinden sollten, ohne je mit ihm weiterzukommen - welches traurige Schicksal um dies höllische Weben! Es ist von Griechenland aus, daß man die Wörter Drama, Tragödie, Komödie geerbet, und so wie die Letternkultur des menschlichen Geschlechts auf einem schmalen Striche des Erdbodens den Weg nur durch die Tradition genommen, so ist in dem Schoße und mit der Sprache dieser, natürlich auch ein gewisser Regelnvorrat überall mitgekommen, der von der Lehre unzertrennlich schien. Da die Bildung eines Kindes doch unmöglich durch Vernunft geschehen kann und geschieht; sondern durch Ansehen, Ein- druck, Göttlichkeit des Beispiels und der Gewohn- heit: so sind ganze Nationen in allem, was sie lernen, noch weit mehr Kinder. Der Kern würde ohne Schlau- be nicht wachsen, und sie werden auch nie den Kern ohne Schlaube bekommen, selbst wenn sie von dieser ganz keinen Gebrauch machen könnten. Es ist der Fall mit dem griechischen und nordischen Drama. In Griechenland entstand das Drama, wie es in Norden nicht entstehen konnte. In Griechenland war's, was es in Norden nicht sein kann. In Norden ist's also nicht und darf nicht sein, was es in Griechenland ge- wesen. Also Sophokles' Drama und Shakespeares Drama sind zwei Dinge, die in gewissem Betracht kaum den Namen gemein haben. Ich glaube diese Sätze aus Griechenland selbst beweisen zu können, und eben dadurch die Natur des nordischen Drama, und des größten Dramatisten in Norden, Shakespeares sehr zu entziffern. Man wird Genese einer Sache durch die andre, aber zugleich Verwandlung sehen, daß sie gar nicht mehr dieselbe bleibt. [Herder: Von deutscher Art und Kunst, S. 81. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 41884 (vgl. SuD-Nicolai Bd. 1, S. 302)] Die griechische Tragödie entstand gleichsam aus einem Auftritt, aus dem Impromptus des Dithyram- ben, des mimischen Tanzes, des Chors. Dieser bekam Zuwachs, Umschmelzung: Äschylus brachte statt einer handelnden Person zween auf die Bühne, erfand den Begriff der Hauptperson, und verminderte das Chormäßige. Sophokles fügte die dritte Person hinzu, erfand Bühne - aus solchem Ursprunge, aber spät, hob sich das griechische Trauerspiel zu seiner Größe empor, ward Meisterstück des menschlichen Geistes, Gipfel der Dichtkunst, den Aristoteles so hoch ehret, und wir freilich nicht tief gnug in Sophokles und Eu- ripides bewundern können. Man siehet aber zugleich, daß aus diesem Ursprun- ge gewisse Dinge erklärlich werden, die man sonst, als tote Regeln angestaunet, erschrecklich verkennen müssen. Jene Simplizität der griechischen Fabel, jene Nüchternheit griechischer Sitten, jenes fort aus- gehaltne Kothurnmäßige des Ausdrucks, Musik, Bühne, Einheit des Orts und der Zeit - das alles lag ohne Kunst und Zauberei so natürlich und wesentlich Einheit der Fabel - war Einheit der Handlung, die vor ihnen lag; die nach ihren Zeit-, Vaterlands-, Religions-, Sitten- umständen, nicht anders als solch ein Eins sein konn- te. Einheit des Orts - war Einheit des Orts; denn die eine, kurze feierliche Handlung ging nur an einem Ort, im Tempel, Palast, gleichsam auf einem Markt des Vaterlandes vor: so wurde sie im Anfange, nur mimisch und erzählend nachgemacht und zwischenge- schoben: so kamen endlich die Auftritte, die Szenen hinzu - aber alles natürlich noch eine Szene, wo der Chor alles band, wo der Natur der Sache wegen Bühne nie leer bleiben konnte usw. Und daß Einheit der Zeit nun hieraus folgte und natürlich mitging - welchem Kinde brauchte das bewiesen zu werden? Alle diese Dinge lagen damals in der Natur, daß der Dichter mit alle seiner Kunst ohne sie nichts konnte! Offenbar siehet man also auch: die Kunst der grie- chischen Dichter nahm ganz den entgegengesetzten Weg, den man uns heutzutage aus ihnen zuschreiet. Jene simplifizierten nicht, denke ich, sondern sie ver- vielfältigten : Äschylus den Chor, Sophokles den Äschylus, und man darf nur die künstlichsten Stücke des letztern, und sein großes Meisterstück, den »Ödi- pus in Thebe« gegen den »Prometheus«, oder gegen die Nachrichten vom alten Dithyramb halten: so wird man die erstaunliche Kunst sehen, die ihm dahinein [Herder: Von deutscher Art und Kunst, S. 83. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 41886 (vgl. SuD-Nicolai Bd. 1, S. 303-304)] Alle das zeigt, daß der große Mann auch im großen Sinn seiner Zeit philosophierte, und nichts we- niger, als an den verengernden kindischen Läppereien schuld ist, die man aus ihm später zum Papiergerüste der Bühne machen wollen. Er hat offenbar, in seinem vortrefflichen Kapitel vom Wesen der Fabel »keine andre Regeln gewußt und anerkannt, als den Blick des Zuschauers, Seele, Illusion!« und sagt ausdrücklich, daß sich sonst die Schranken ihrer Länge, mithin noch weniger Art oder Zeit und Raum des Baues durch keine Regeln bestimmen lassen. O wenn Ari- stoteles wieder auflebte, und den falschen, widersinni- gen Gebrauch seiner Regeln bei Dramas ganz andrer Art sähe. - Doch wir bleiben noch lieber bei der stil- len, ruhigen Untersuchung. [Herder: Von deutscher Art und Kunst, S. 85. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 41888 (vgl. SuD-Nicolai Bd. 1, S. 304)] Puppe, Nachbild, Affe, Statüe, in der nur noch der andächtigste Kopf den Dämon finden konn- te, der die Statüe belebte. Lasset uns gleich (denn die Römer waren zu dumm, oder zu klug, oder zu wild und unmäßig, um ein völlig gräzisierendes Theater zu errichten) zu den neuen Atheniensern Europens über- gehen, und die Sache wird, dünkt mich, offenbar. [Herder: Von deutscher Art und Kunst, S. 86. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 41889 (vgl. SuD-Nicolai Bd. 1, S. 305)] Ich will's gar nicht einmal untersuchen »ob sie auch ihren Aristoteles den Regeln nach so be- obachten, wie sie's vorgeben«, wo Lessing gegen die lautesten Anmaßungen neulich schreckliche Zweifel erregt hat. Das alles aber auch zugegeben, Drama ist nicht dasselbe, warum? weil im Innern nichts von ihm dasselbe mit jenem ist, nicht Handlung, Sitten, Spra- che, Zweck, nichts - und was hülfe also alles äußere so genau erhaltne Einerlei? Glaubt denn wohl jemand, daß ein Held des großen Corneille ein römischer oder französischer Held sei? [Herder: Von deutscher Art und Kunst, S. 87. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 41890 (vgl. SuD-Nicolai Bd. 1, S. 305-306)] Nimm dieser Pflanze ihren Boden, Saft und Kraft, und pflanze sie in die Luft: nimm diesem Menschen Ort, Zeit, individuelle Bestandheit - du hast ihm Otem und Seele genom- men, und ist ein Bild vom Geschöpf. [Herder: Von deutscher Art und Kunst, S. 104. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 41907 (vgl. SuD-Nicolai Bd. 1, S. 315)] Sophokles blieb der Natur treu, da er eine Handlung eines Orts und einer Zeit bearbeitete: Shakespeare konnt ihr allein treu bleiben, wenn er seine Weltbegebenheit und Men- schenschicksal durch alle die Orter und Zeiten wälzte, wo sie - nun, wo sie geschehen: und gnade Gott, dem [Herder: Von deutscher Art und Kunst, S. 104. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 41907 (vgl. SuD-Nicolai Bd. 1, S. 315)] Sollte es denn jemand in der Welt brauchen demon- striert zu werden, daß Raum und Zeit eigentlich an sich nichts, daß sie die relativeste Sache auf Dasein, Handlung, Leidenschaft, Gedankenfolge und Maß der Aufmerksamkeit in oder außerhalb der Seele sind? Hast du denn, gutherziger Uhrsteller des Drama, nie Zeiten in deinem Leben gehabt, wo dir Stunden zu Augenblicken und Tage zu Stunden; gegenteils aber auch Stunden zu Tagen, und Nachtwachen zu Jahren geworden sind? Hast du keine Situationen in deinem Leben gehabt, wo deine Seele einmal ganz außer dir wohnte, hier in diesem romantischen Zimmer deiner Geliebten, dort auf jener starren Leiche, hier in die- sem Drückenden äußerer, beschämender Not - jetzt wieder über Welt und Zeit hinausflog, Räume und Weltgegenden überspringet, alles um sich vergaß, und im Himmel, in der Seele, im Herzen dessen bist, des- sen Exsistenz du nun empfindest? Und wenn das in deinem trägen, schläfrigen Wurm- und Baumleben möglich ist, wo dich ja Wurzeln gnug am toten Boden deiner Stelle festhalten, und jeder Kreis, den du schleppest, dir langsames Moment gnug ist, deinen Wurmgang auszumessen - nun denke dich einen Au- genblick in eine andre, eine Dichterwelt nur in einen Traum? Hast du nie gefühlt, wie im Traum dir Ort und Zeit schwinden? was das also für unwesentliche Dinge, für Schatten gegen das was Handlung, Wür- kung der Seele ist, sein müssen? wie es bloß an dieser Seele liege, sich Raum, Welt und Zeitmaß zu schaf- fen, wie und wo sie will? [Herder: Von deutscher Art und Kunst, S. 107. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 41910 (vgl. SuD-Nicolai Bd. 1, S. 316-317)] Im Gange seiner Begebenheit, im ordine successi- vorum und simultaneorum seiner Welt, da liegt sein Raum und Zeit. Wie, und wo er dich hinreiße? wenn er dich nur dahin reißt, da ist seine Welt. Wie schnell und langsam er die Zeiten folgen lasse; er läßt sie fol- gen; er drückt dir diese Folge ein: das ist sein Zeit- aß - und wie ist hier wieder Shakespeare Meister! [Herder: Von deutscher Art und Kunst, S. 108. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 41911 (vgl. SuD-Nicolai Bd. 1, S. 317)] Tragedy, Comedy, History, Pastoral, Tragical-Historical, und Historical- -Pastoral, und Pastoral-Comical und Comical-Histori- al-Pastoral, und wenn wir die Cals noch hundertmal mischen, was hätten wir endlich? kein Stück wäre doch griechische Tragedy, Comedy und Pastoral, und sollte es nicht sein. Jedes Stück ist History im weit- sten Verstande, die sich nun freilich bald in Tragedy, Comedy, usw. mehr oder weniger nuanciert. - [Herder: Von deutscher Art und Kunst, S. 111. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 41914 (vgl. SuD-Nicolai Bd. 1, S. 319)] Trauriger und wichtiger wird der Gedanke, daß auch dieser große Schöpfer von Geschichte und Welt- seele immer mehr veralte! daß da Worte und Sitten und Gattungen der Zeitalter, wie ein Herbst von Blät- tern welken und absinken, wir schon jetzt aus diesen großen Trümmern der Ritternatur so weit heraus sind, daß selbst Garrick, der Wiedererwecker und Schutz- engel auf seinem Grabe, so viel ändern, auslassen, verstümmeln muß, und bald vielleicht, da sich alles so sehr verwischt und anders wohin neiget, auch sein Drama der lebendigen Vorstellung ganz unfähig wer- den, und eine Trümmer von Kolossus, von Pyramide sein wird, die jeder anstaunet und keiner begreift. Glücklich, daß ich noch im Ablaufe der Zeit lebte, wo ich ihn begreifen konnte, und wo du, mein Freund, der du dich bei diesem Lesen erkennest und fühlst, und den ich vor seinem heiligen Bilde mehr als einmal umarmet, wo du noch den süßen und deiner würdigen Traum haben kannst, sein Denkmal aus unsern Rit- terzeiten in unsrer Sprache, unserm so weit abgearte- ten Vaterlande herzustellen. Ich beneide dir den Traum, und dein edles deutsches Würken laß nicht nach, bis der Kranz dort oben hange. Und solltest du als denn auch später sehen, wie unter deinem Gebäu- de der Boden wankt, und der Pöbel umher stillsteht und gafft, oder höhnt, und die daurende Pyramide nicht alten ägyptischen Geist wiederaufzuwecken ver- mag - dein Werk wird bleiben, und ein treuer Nach- komme dein Grab suchen, und mit andächtiger Hand dir schreiben, was das Leben fast aller Würdigen der Welt gewesen: voluit! quiescit! [Herder: Von deutscher Art und Kunst, S. 113. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 41916 (vgl. SuD-Nicolai Bd. 1, S. 320)]