tefakt gegeben, für das ein oder mehrere Urheber verantwortliche zeichnen. Ihm eignet entsprechend kein Werk-, sondern ein Er-1 eignischarakter. Atmosphären Der performative Raum ist immer zugleich eia atmosphärischer« Raum. Der Bunker, das Straßenbahndepot, das ehemalige Grand-: hotel- jedem dieser Räume ist eine ganz besondere Atmosphäre^ eigen. Räumlichkeit entsteht nicht nur durch die spezifische Ver- '■: wendung, welche Akteure und Zuschauer vom Raum machen, sondern auch durch die besondere Atmosphäre, die er auszu- -'-strahlen scheint. Im Falle der Gruppe Cornerstone Theater war^ beides auf imrikate Weise miteinander verknüpft. Es war die Möglichkeit, sich durch die Shopping Mall wie ein Flaneur zu bewegen und auf der Galerie stehenzubleiben, um das Geschehen zu betrachten - den hektischen Freitagabendbetrieb in einer" Shopping Mall ebenso wie die Schauspieler, die unter Verwendung von Texten Becketts und Pirandellos Situationen schufen, die in dieser Umgebung ständig zwischen Wirklichkeit und Fik-tion oszillierten, oder auch die unterschiedlichen Reaktionen der ■ Passanten -, was die besondere Atmosphäre der Shopping Mall auf ganz eigentümliche Weise hervortreten ließ, so daß sie den sie erspürenden Zuschauer affektiv ergriff. Auch bei einer konventionellen Raumaufteilung, die eine klare Trennung von Bühne und Zuschauerraum vorsieht und die Bühne für die Schauspieler reserviert, trägt die Atmosphäre dazu bei, eine ganz spezifische Räumlichkeit zu erzeugen. Als die Zu-. schauerin am Abend einer Aufführung von Marthalers Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin 1993, Bühne Anna Viebrock) den Zuschauerraum der Volksbühne betrat, umfing sie eine ganz eigentümliche Atmosphäre; sie läßt sich als Atmosphäre in einem Wartesaal beschreiben, als ungemütlich, aber auch als unheimlich, gespenstisch, unwirklich. Die Zuschauerin sah auf der Bühne einen Raum, der bis unter die Decke mit Kunststoffur-nier getäfelt war und die warme. Holztäfelung des Zuschauerraums auf scheußliche Weise fortsetzte; in der Mitte eine Schiebetür wie zu einem Flur, rechts und links Toilettentüren; über der t i ■ . fl Schiebetür eine Art Bahnhofsuhr, die stehengeblieben war; neben ::ihr die Worte »damit die Zeit nicht stehen bleibt«; an der rechten '. Wand rostige Heizkörper und zwei riesige Kohleöfen, Unks . vorne ein Klavier und in der Mitte des Raumes zwei schnurgerade : Reihen quadratischer Plastiktische mit Plastikstühlen, auf denen unbeweglich elf ganz verschiedene Figuren saßen. Es war nicht 'ein einzelnes dieser Elemente, auf das sich die besondere Atmosphäre zurückführen ließ - auch wenn einzelne Objekte wie die Uhr und die Kohleöfen in besonderer Weise ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen -, es war vielmehr der Gesamteindruck, der sie hervorrief. Sie war das erste, was auf die Zuschauerin einwirkte und ihre weitere Wahrnehmung beeinflußte. Atmosphären sind, wie Gernot Böhme ausführt, zwar ortlos, aber dennoch räumlich ergossen. Sie gehören weder allein den Objekten bzw. den Menschen an, die sie auszustrahlen scheinen, noch denen, die den Raum betreten und sie leiblich erspüren. Sie sind im Theaterraum gewöhnlich das erste, was die Zuschauer erfaßt und »tingiert« und ihnen so eine ganz spezifische Erfahrung von Räumlichkeit ermöglicht. Diese läßt sich nicht unter Rekurs auf einzelne Elemente des Raumes erklären. Denn nicht sie sind es, welche die Atmosphäre schaffen, sondern das - bei Inszenierungen in der Regel wohlkalkulierte - Zusammenspiel aller. Böhme, dem das Verdienst zukommt, den Begriff der Atmosphäre, ausgehend von Benjamins Aura-Begriff, diesen jedoch signifikant verändernd, in die Ästhetik eingeführt zu haben, bestimmt Atmosphären als »[...] Räume, insofern sie durch die Anwesenheit von Dingen, von Menschen oder Umgebungskonstellationen, d.h. durch deren Ekstasen, >tingiert< sind. Sie sind . selbst Sphären der Anwesenheit von etwas, ihre Wirklichkeit im Raum«.78 Atmosphären gehören also dem performativen Raum zu, nicht dem geometrischen. Sie sind [...] nicht freischwebend gedacht, sondern gerade umgekehrt als etwas, das von den Dingen, von Menschen oder deren Konstellationen ausgehe und geschaffen wird. Die Atmosphären sind so konzipiert weder als etwas Objektives, nämlich Eigenschaften, die die Dinge haben, und doch sind sie etwas Dinghaftes, zum Ding Gehöriges, insofern nämlich die Dinge durch ihre Eigenschaften - als Ekstasen gedacht - die Sphären ihrer Anwesenheit artikulieren. Noch sind die Atmosphären etwas Subjektives, etwa Bestim- 78 Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, S. 33. mungen eines Seelenzustandes. Und doch sind sie subjekthaft, gehören zu Subjekten, insofern sie in leiblicher Anwesenheit durch Menschen gespurt werden und dieses Spüren zugleich ein leibliches Sich-Befinden der Subjekte im Raum ist.7S An dieser Beschreibung und Bestimmung von Atmosphäre sind in unserem Zusammenhang vor allem zwei Aspekte besonders interessant. Zum einen bestimmt Böhme Atmosphären als »Sphären der Anwesenheit«. Zum anderen lokalisiert er sie weder in den Dingen, die sie auszustrahlen scheinen, noch in den Subjekten, die sie leiblich erspüren, sondern zwischen ihnen und in beiden zugleich. Mit dem Begriff »Sphären der Anwesenheit« ist of-*: fenbar ein spezifischer Modus von Gegenwärtigkeit von Dingen gemeint. Böhme erläutert ihn näher als »Ekstase der Dinge«, als die Art und Weise, auf die ein Ding dem Wahrnehmenden in be- v| sonderer Weise als gegenwärtig erscheint. Dabei sind nicht nur die Farben, Gerüche oder, wie ein Ding tönt, als Ekstasen gedacht; also die sogenannten sekundären Qualitäten eines Dings, sondern auch seine primären Qualitäten wie die Form. »Die Form eines Dinges wirkt [...] auch nach außen. Sie strahlt gewissermaßen in die Umgebung hinein, nimmt dem Raum um das Ding seine Homogenität, erfüllt ihn mit Spannungen und Bewegungssuggestionen«80 und verändert ihn so. Das gleiche gilt für Ausdehnung und M Volumen eines Dinges. Sie sind nicht nur als die Eigenschaft eines Dinges zu denken, einen bestimmten Raum zu besetzen. »Die Ausdehnung eines Dinges und sein Volumen sind [.. J auch nach : außen hin spürbar, geben dem Raum seiner Anwesenheit Ger wicht und Orientierung.«81 Die Ekstase der Dinge führt dazu, daß die so nach außen wirkenden Dinge dem sie Wahrnehmenden in besonderer Weise als gegenwärtig erscheinen, sich seiner Aufmerksamkeit aufdrangen. Der Begriff der Ekstase meint also nicht ganz dasselbe wie der Begriff der Präsenz. Wohl zielt er auf Gegenwärtigkeit nicht nur im Sinne des schwachen, sondern auch im Sinne des starken Konzepts von Präsenz. Während es sich bei Präsenz jedoch um energetische Vorgänge zwischen Menschen handelt, läßt sich den Dingen wohl nur bedingt eine in ihnen bzw. von ihnen erzeugte 79 Ebd., S. 3 3 f. 80 Ebd., S. 33. 81 Ebd. Energie zusprechen. Gleichwphl geht etwas von ihnen aus, das nicht mit dem gleichzusetzen ist, was der Wahrnehmende sehen oder hören mag, das er gleichwohl beim Sehen und Hören des Dings leiblich erspürt, etwas, das sich zwischen dem Ding und dem es wahrnehmenden Subjekt Im performativen Raum ergießt - eine spezifische Atmosphäre. Etwas Ahnliches gilt für den Raum. Wenn der geometrische Raum zum performativen wird, vermögen auch seine sogenannten primären Qualitäten - also Ausdehnung und Volumen *- nach außen spürbar zu werden, auf den Wahrnehmenden einzuwirken. Der Atmosphäre kommt für die Hervorbringung von Räumlichkeit in einer Aufführung eine vergleichbare Bedeutung zu wie ■der Präsenz für die Erzeugung von Körperlichkeit. In der Atmosphäre, die der Raum und die Dinge auszustrahlen scheinen, werden diese dem Subjekt, das ihn betritt, in emphatischem Sinne gegenwärtig. Nicht nur, daß sie sich ihm in ihren sogenannten : primären und sekundären Qualitäten zeigen und in ihrem So-Sein ..in Erscheinung treten, sie rücken dem wahrnehmenden Subjekt in der Atmosphäre auch in bestimmter Weise auf den Leib, ja dringen in ihn ein. Denn es findet sich nicht der Atmosphäre gegenüber, nicht in Distanz zu ihr, sondern wird von ihr umfangen und umgeben, taucht in sie ein. Dies wird besonders an den Gerüchen deutlich, welche die je-1. weilige Atmosphäre miterzeugen. Theaterräume sind immer von Gerüchen durchzogen - ganz gleich, ob diese Gerüche als ungewolltes, aber nicht abzustellendes Begleitphänomen entstehen . oder als Ergebnis eines Inszenierungsprozesses. Um so erstaunlicher ist es, wie wenig Aufmerksamkeit bisher Gerüchen im Theater zuteil geworden ist. Während es im Freilichttheater die Düfte ''■ der umgebenden Natur oder die Gerüche der Stadt sind, welche 'die Atmosphäre mit hervorbringen, waren es seit dem Einzug der Theater in Innenräume bis zur Erfindung der Gasbeleuchtung in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Gerüche, die von ^qualmenden Kerzen und blakenden Öllampen ausgingen, ebenso wie die Gerüche von Schminke, Puder, Parfüm und Schweiß, der ■ von den Akteuren wie von den Zuschauern ausging. ; Seit dem Naturalismus wurden Gerüche bewußt eingesetzt, %, um bestimmte Atmosphären zu schaffen. Der stinkende Misthaufen auf der Bühne und der bereits nach kurzer Zeit sprichwörtlich gewordene Kohlgeruch trugen wesentlich dazu bei, die Zu- 203 i Irl schauer auch atmosphärisch in das Bauern- oder Arme-Leute-Milieu hineinzuziehen, sie leiblich mit ihm in Berührung zu bringen. Max Reinhardt setzte Gerüche ein, um unterschiedliche At- , mosphären zu scharfen. Sein Wald im Sommernachtstraum ; (Neues Theater Berlin 1904) machte nicht nur Sensation, weil er sich drehte - es handelte sich um die erste Anwendung der 1898 ; nach dem Modell des Kabuki-Theaters erfundenen Drehbühne sondern auch weil das Moos, mit dem Reinhardt den Bühnenboden hatte auslegen lassen, einen betörenden Duft verströmte, der die Zuschauer den Wald ganz intensiv als gegenwärtig empfinden ließ. Die Symbolisten wiederum setzten im Theater Gerüche ein, um im Zuschauer bestimmte synästhetische Erlebnisse auszu- . lösen. Bei der bewußten und intendierten Verwendung von Gerüchen wurde von der Voraussetzung ausgegangen, daß sie sich im gesamten Raum ausbreiten und starke körperliche Wirkungen tm Zuschauer hervorrufen. Dies liegt vor allem daran, daß Räume, Objekte oder Menschen mit dem Geruch, der von ihnen ausgeht, geradezu in den Leib des diesen Geruch witternden Subjektes eindringen. Auf diese Eigenart des Geruchs hebt Georg Simmel ab, wenn er schreibt: Indem wir etwas riechen, ziehen wir diesen Eindruck oder dieses ausstrahlende Objekt so tief in uns ein, in unser Zentrum, assimilieren es sozusagen durch den vitalen Prozeß des Atmens so eng mit uns, wie es durch keinen andern Sinn einem Objekt gegenüber möglich ist - es sei denn, daß wir es essen. Daß wir die Atmosphäre jemandes riechen, ist die intimste Wahrnehmung seiner, er dringt sozusagen in luftformiger Gestalt in unser Sinnlich-Innerstes ein.82 In Theater und Performance-Kunst seit den sechziger Jahren wurden immer wieder Gerüche eingesetzt. In Nitschs Orgien-Mysterien-Theater war es gerade der Geruch, der dem Lammkadaver, seinem Blut und seinen Eingeweiden entströmte, der die Zuschauer in eine ganz spezifische Atmosphäre eintauchen ließ und in ihnen starke Ekel- oder zum Teil auch Lustgefühle hervorrief. Grotowski drängte Darsteller und Zuschauer auf so engem Raum zusammen, daß die Zuschauer den Schweiß der Schauspieler riechen konnten; deren Leiblichkeit wurde ihnen so in beson- 82 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen Uber die Form der Vergesell- -schaftung, 2. Aufl. München/Leipzig 1922, S. 490. 204 derer Weise gegenwärtig, und zugleich empfanden sie intensiv die ■ von ihnen ausstrahlende und den Raum beherrschende Atmosphäre. Außer den Gerüchen der notorischen Nebelmaschinen sind es ■vor allem Essensgerüche, die sich immer wieder im Raum verbreiten. In Johann Kresniks Produktion über Aitaud, Antonin Nalpas (Prater, Premiere 16. Mai 1997), wurden Teile eines großen Fisches gegrillt. Während der Geruch zumindest für hungrige Zuschauer zunächst durchaus angenehme Empfindungen auslöste, rief er, je weiter die Prozedur fortschritt und je stärker die Fisch-: teile verkohlten, Abscheu und Ekel hervor. Ganz ähnlich erging ■ es den Zuschauern in Castorfs Inszenierung von Endstation Amerika (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz 2000). Hier machte sich Kathrin Angerer daran, Eier zu braten, die jedoch zu- . nehmend verbrutzelten und den typischen Geruch von verkohltem Eiweiß verströmten. In der Produktion De Metsiers der Gruppe Hollandia (Gastspiel an der Berliner Schaubühne 2003) ergriff eine der Schauspielerinnen eine große Bierflasche, Öffnete sie und bespritzte einen ihrer Kollegen von oben bis unten mit der herauszischenden Flüssigkeit. Auf dem Bühnenboden bildeten sich Bierlachen. Vom Schauspieler ebenso wie vom Bühnenboden ging ein widerlicher, penetranter Biergeruch aus, der sich schnell im ganzen Raum verbreitete. In der Pause wurden zwar die Bier- * lachen vom Boden gewischt, der Geruch blieb jedoch bis zum Ende der Aufführung im Raum hängen und prägte auch weiter- .:; hm die Atmosphäre mit. ' > Wie Simmel konstatiert hat, ist es lediglich das Essen, bei dem wir uns Objekte noch stärker assimilieren als beim Riechen. Ge-■. ruche, die von Speisen und Getränken ausgehen, wirken, indem ..: sie durch den Atem eindringen, auch gleichzeitig auf die Speichel-, ■/■ bildung in der Mundhöhle und in gewisser Weise auch auf die Eingeweide ein, lösen intensive Lust- oder Ekelgefühle aus. Indem der Zuschauer sie in sich aufnimmt, wird er sich in besonde-: rer Weise seiner innerleiblichen Vorgänge bewußt, empfindet er :: sich als einen lebendigen Organismus. Der Geruch stellt zweifellos eine der stärksten Wirkkompo-" nenten von Atmosphären dar. Das hängt auch damit zusammen, daß Gerüche, haben sie sich einmal im Raum verbreitet, nicht ^ wieder »zurückgeholt« werden können; sie erweisen sich vielmehr als äußerst widerständig. Nachdem die Nebelschwaden sich v ■■ 20 J schon längst verzogen haben, lastet ihr Geruch immer noch auf den Zuschauern; nachdem die verkohlten Eier längst von der Bühne verschwenden sind, hängt ihr Geruch immer noch im Raum. Und auch nachdem die Bierlachen auf dem Bühnenboden aufgewischt waren, behielten die Zuschauer - zumindest in den vorderen Reihen - den Biergeruch bis zum Ende der Aufführung . in der Nase. Der Geruch ähnelt dem berühmten Geist aus der Flasche, der, einmal in die Welt gesetzt, kaum wieder einzufangen und zu kontrollieren ist. Er entzieht sich der Verfügungsgewalt der Akteure und Zuschauer und widersetzt sich hartnäckig Versuchen zu einer grundlegenden Veränderung der Atmosphäre. Nicht zuletzt deshalb wird in Theater und Performance-Kunst seit den sechziger Jahren so häufig mit Gerüchen gearbeitet. Darüber hinaus ist allerdings eine bemerkenswerte Verstärkung auch aller anderen Komponenten festzustellen, die an der Schaffung von Atmosphären beteiligt sind. Dies ermöglicht eine besondere Intensität der Ekstasen der Dinge, und zwar im Hinblick sowohl auf ihre »primären« als auch auf ihre »sekundären« Qualitäten. Die Räume werden so verwendet, daß selbst ihre Ausdehnung, ihr Volumen und ihre Materialbeschaffenheit eindringlich hervorzutreten vermögen, wie es beim Bunker in Celtic +---, beim Bockenheimer Straßenbahndepot in allen Inszenierungen Einar Schleefs oder auch bei der Betonapsis im Mendelssohnbau der Berliner Schaubühne bei Grübers Hamlet (1981) oder in Sasha Waltz' Körper (2000) der Fall war. Daneben wurden im Einzelfall Gegenstände eingesetzt, die gerade aufgrund ihrer besonderen Ausdehnung, ihres Volumens, ihrer Materialbeschaffenheit den Raum und die Atmosphäre zu dominieren vermögen wie der riesige Trichter, aus dem Sand rieselte, in Heiner Goebbels Inszenierung Die glücklose Landung (1993, TAT/Frankfurt am Main; 1994, Hebbel-Theater/Berlin) oder der Metallcontainer in Zadeks jüngster iYam/ef-Inszenierung (Premiere Wiener Volkstheater, Mai 1999, dann Schaubühne am Lehniner Platz/Berlin, ab September 1999), der das Zentrum der Bühne besetzte. Vor allem sind es Licht und Laute, die zur Schaffung von Atmosphären beitragen und diese in Sekundenbruchteilen zu verändern vermögen. Robert Wilson arbeitet in seinen Inszenierungen mit Lichtcomputern, die es ermöglichen, innerhalb von 120 Minuten mehr als dreihundert verschiedene Lichteinstellungen zu realisieren und so permanent das Licht und die Farben zu verändern. Da- i- mit verändert sich zugleich die Atmosphäre - dies geschieht jedoch angesichts der Geschwindigkeit des Lichtwechsels häufig unterhalb der Schwelle der bewußten Wahrnehmung. Nun nimmt der Mensch^Licht nicht nur mit dem Auge auf, sondern auch mit der Haut. Es dringt sozusagen durch die Haut in den Leib des Wahrnehmenden. Der menschliche Organismus reagiert ganz besonders sensibel auf Licht. Beim Zuschauer, der ständig wechselnden Lichtverhältnissen ausgesetzt ist, kann sich daher seine Befindlichkeit oft und abrupt ändern, ohne daß er dies bewußt zu registrieren, geschweige denn zu kontrollieren vermöchte. Seine Neigung, sich während einer Wilson-Aufführung in die Atmosphäre hineinziehen zu lassen, die gerade aufgrund der pronon-cierten und bewußt wahrgenommenen Langsamkeit der Bewegungen der Akteure eine große Suggestivkraft entfaltet, wird so weiter verstärkt. Der performative Raum erscheint hier vor allem als ein atmosphärischer Raum. Ein starkes atmosphärisches Wirkpotential vermögen auch Laute, Geräusche, Klänge, Musik zu entfalten. Wilson, den die Kritik immer wieder für seine Bildlichkeit preist, arbeitet in seinen Inszenierungen mit Komponisten und Musikern wie Philip Glass, David Byrne, Tom Waits und vor allem Hans Peter Kuhn zusammen, die dafür Sorge tragen, daß Geräusche, Laute, Klänge und Musik - vom Geräusch fallender Wassertropfen bis zum Absingen von Liedern - für die Atmosphären und ihre Wirkungen ebenso bestimmend sind wie das Licht. i Laute sind mit Gerüchen insofern vergleichbar, als auch sie das ; wahrnehmende Subjekt umfangen, umhüllen und in seinen Leib .-: eindringen. Der Körper kann zum Resonanzkörper für die gehör-j ten Laute werden, mit ihnen mitschwingen; bestimmte Geräusche ^vermögen sogar lokalisierbare körperliche Schmerzen auszulösen. Gegen Laute vermag sich der Zuschauer/Zuhörer nur zu : schützen, wenn er sich die Ohren zuhält. Erist ihnen-wie den Gerüchen - in der Regel wehrlos ausgesetzt. Zugleich werden die Körpergrenzen aufgehoben. Wenn die Laute/Geräusche/Musik ! den Körper des Zuschauers/Zuhörers zu ihrem Resonanzraum 1 machen, sie in seinem Brustkorb re-sonieren, wenn sie ihm körperliche Schmerzen zufügen, eine Gänsehaut auslösen oder einen i Aufruhr der Eingeweide herbeiführen, dann hört der Zuschauer/ ; Zuhörer sie nicht mehr als etwas, das von außen an sein Ohr dringt, «sondern spürt sie als einen inner-leiblichen Vorgang, was häufig 206 207 ein »ozeanisches« Gefühl auslöst. Mit den Lauten dringt die Atmosphäre in den Leib der Zuschauer ein und öffnet ihn für sie. Besonders prominente Beispiele dafür liefern außer Wilson Heiner Goebbels und Christoph Marthaler. In Murx beispielsweise änderte sich die einleitend geschilderte Atmosphäre von ; Schäbigkeit, grotesk-komischer Trostlosigkeit jedesmal schlagartig, wenn die Akteure sich zum Chor zusammenfanden und ein Lied anstimmten. Ihr Gesang ließ die deprimierende Scheußlichkeit des Wartesaal-ähnlichen Raumes vergessen, die Kleinlichkeit und Gehässigkeit, mit der die Figuren einander traktierten. Ihr Gesang schien sieunddieZuschauerdieserniederdrückenden All- .; tagsweit zu entrücken, eine Atmosphäre zu schaffen, die, geprägt von Fülle, Zusammenklang und Harmonie, die Utopie einer Erlösung von all diesen niederdrückenden Widrigkeiten eines kleinlichen, armseligen Alltags aufscheinen ließ. Nachdem der Gesang verklungen war, auch sein Nachhall nicht mehr durch den Raum wehte, breitete sich erneut die Atmosphäre von Trübseligkeit im Theaterraum aus und affizierte erneut die Zuschauer. Theater und Performance-Kunst seit den sechziger Jahren lassen geradezu emphatisch den performativen Raum als einen zugleich atmosphärischen hervortreten. Im Hinblick auf eine Ästhetik des Performativen wird damit vor allem dreierlei geleistet: Zum einen wird unabweisbar deutlich, daß Räumlichkeit in Aufführungen kein Werk-, sondern ein Ereignischarakter zukommt, daß sie flüchtig und transitorisch ist. Zum anderen empfindet der Zuschauer im atmosphärischen Raum seine Leiblichkeit auf ganz . spezifische Weise. Er erlebt sich als einen lebendigen Organismus, der im Austausch mit seiner Umwelt steht. Die Atmosphäre dringt in seinen Leib ein, durchbricht seine Körpergrenzen. Damit wird drittens der performative Raum als ein liminaler Raum ausgewiesen, in dem Verwandlungen durchlaufen werden und Transformationen stattfinden. Böhme hat seine Ästhetik der Atmosphäre als Antithese zu einer semiotischen Ästhetik entwickelt. Während die semiotische Ästhetik von der Voraussetzung ausgehe, daß Kunst als Sprache zu verstehen sei, weswegen sie Prozesse der Bedeutungsgenerierung fokussiere, lenke die Ästhetik der Atmosphäre die Aufmerksamkeit auf die leibliche Erfahrung. Diese Verlagerung des Schwerpunkts von den Bedeutungen zur leiblichen Erfahrung teile ich mit Böhme. Ich frage mich allerdings, ob man aus der leiblichen Erfahrung und speziell aus der Erfahrung von Atmosphären die . Bedeutungsdimension ganz und gar ausklammern kann. Denn die Wirkung von Atmosphären läßt sich nicht im Sinne des Stimulus-Respons-Schemas als ein physiologischer Reflex erklären, der in ] edem sie wahrnehmenden - sie leiblich erspürenden - Subj ekt automatisch ausgelöst würde, so wie jeder automatisch die Augen schließt, wenn ein Fremdkörper diese berührt. Sowohl die Dinge - wie der- Container im Harntet oder die Kohleöfen in Murx — als auch die von ihnen ausgehenden Gerüche und Laute - wie der Geruch von gebratenem Fisch in Antonin Nalpas oder das Geräusch fallender Wassertropfen in Wilsons Lear (Schauspielhaus Frankfurt im Bockenheimer Depot 1990) - sowie bestimmte Lichteinstellungen - wie das blendend gleißende Licht nach Gloucesters Blendung in Wilsons Lear ~ können für Zuschauer bedeutungsvoll sein, j a, vermögen Kontexte und Situationen aufzurufen oder Erinnerungen zu wecken, die für das wahrnehmende Subjekt stark emotional aufgeladen sind. Es ist kaum vorstellbar, daß diese Bedeutungsdimension der Dinge für die Wirkung von Atmosphä-fef" ren völlig ohne Belang ist. Ich gehe vielmehr davon aus, daß derartigen Bedeutungen durchaus ein Anteil an der starken Wirkung von Atmosphären zukommt. Wie in ihnen die Materialität der Dinge, die in deren Ekstasen in Erscheinung tritt, mit den Bedeutungen, die sie für das wahrnehmende Subjekt besitzen mögen, zusammenwirken, wird noch ausführlich zu diskutieren sein.83 3. Lautlichkeit Geradezu paradigmatisch für die Flüchtigkeit von Aufführungen ist ihre Lautlichkeit. Was könnte flüchtiger sein als ein (verklingender Laut? Aus der. Stille des Raumes auftauchend, breitet er sich in ihm aus, füllt ihn, um im nächsten Augenblick zu verhallen, zu verwehen, zu verschwinden. So flüchtig er sein mag, wirkt ; er doch unmittelbar - und häufig nachhaltig - auf den ein, der ihn' vernimmt. Er vermittelt ihm nicht nur ein Raumgefühl (in diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß unser Gleichgewichtssinn im Ohr sitzt); er dringt in seinen Leib ein und vermag häufig, phy- B3 Vgl. hierzu das fünfte Kapitel »Emergenz von Bedeutung*. 208 209