Herausgeber: Michael Fleischer, Peter Grzybek Mitarbeiter: T. Stej>ieii (Katowice), RR. Wilson (New Haven) Herausgeberbeirat: J. Andrew, Keele; V. Biti, Zagreb; B.D. Djankov, Sofia; K. Eimermacher, Bochum; W. Eismann, Graz; V.V. Ivanov, Moskva; W.A. Koch, Bochum; Ju:M. Lotman, Tartu; J. Pele, Warszawa; N. Petkovic, Beograd; M. Procházka, Praha; K. Städtke, Bremen; V.N. Toporov, Moskva; T. & I. Winner, Cambridge * * * Znak0log An International Yearbook of Slavic Semiotics i Eigentümer und Verleger: Initiative zur Förderung interkultureller und slavischer Semiotik e.V. (IFISS) Redaktionsadresse: Redaktion Znak0log Universität Bochum, GB 8/152 Postfach 102148, D-4630 Bochum '} Germany (West) ■ © Initiativ« asuj^Fi^^iöJ 3 Bochum 1991 IFISS I. DEWEY |&erlin) Pathos und Ironie' -. /I -, : . . t"\ V. BITI (Zagreb) • ^* The Institution of Seraiotks in Yugoslaviaa Academie Life . 35 A.A. BRUDřWJ (řhlttře) : *' <' "* Drei Fetíer detVeiste&ěns...............53 p. DEUTSC8MANN (Graz) ' J Die Götter und die Zeíeljiefl. FUi^jftiolik nach Peirce und Éjzeuštejn, 'v f< . A?.-, • 59 S. HÄNSGEN (Bochum} Die Retrospektive als Ojesitatkunstwerk > Ein Interview 'mit Maja l&rovsfeaja ......J01 R. IBLER (Regensburg) ,£:',;... } Zum Stand der tscbe^^ett'1^iffie%- ^dTneater- semiotik (II). Ivo Osolöobe; Vönder Spradae des Theaters «um Theater der Spra^wt...............109 i Volum Zum Stand der tschechischen Dramen und Theatersemiotik (II) Ivo Osolsobě — Von der Sprache des Theaters zum Theater der Sprache Reinhard Ibler (Regensburg) Vergleicht man die theoretischen Konzeptionen der beiden zur Zeit Wold führenden Vertreter auf dem Gebiet der tschechischen Dramen und Theatersemiotik. Miroslav Procházka (geb. 19-12)' und Ivo Osolsobě (i;e]>. 1!)2*). so tritt eine grundlegende Gemeinsamkeit zutage. Beide lial>en sich intensiv mit den Arbeiten Otakar Zichs.- des "Vaters' der tschechischen Dramentheorie, auseinandergesetzt. Dennoch endet hier die Gemeinsamkeit im wesentlichen. Wahrend námlich Procházka im weiteren der Traditionslinie folgt, welche die Rezeption Zichs im tschechischen Strukturalismus und seinem Umfeld (J. Mukarovsky. .1. Veit ruský. .1. Honzl u.a.) eröffnet hat. geht Osolsobě man muß heinahe sagen: erstaunlicherweise darauf kaum ein. Statt dessen zeigt er ein starkes Interesse für kominunikationstheoretische Modelle, wie sie unter anderem die amerikanische Semiotik (C'h.S. Peirce. Ch.W Morris). Sozialpsychologie und psychiatrie (E.L. und R.E. Hartley. G. liateson. K. Gotfman u.a.) und Kybernetik (X. Wiener) entwickelt haben. Als wichtiges Charakteristikum, das auch sein seiniotisches Denken in entscheidendem Maße beeinflußt hat. erscheint die Tatsache, daß Osolsobě aus der 'Praxis' kommt. Er war beim Brünner Staats theater als Lektor. Dramaturg und Regisseur tätig und hat daneben eine Reihe von Operetten und Musical Libretti sowie Gesangstexteu \ til. lni I 'l!<-', F.,rMlni!.R-,üli.Tl.!i."k., si-lir i fini), s. i i'.tf. ll.T i «»!mí 1 10!» Znak0log - Vol. 3 (1991) veröffentlicht.3 Dem leichten Musiktheater hat von Anfang an auch seine wissenschaftliche Aufmerksamkeit gegolten. Er promovierte mit einer Arbeit Zu grundsätzlichen Fragen der Geschichte und Theorie des Operettengenres' (Osolsobe 1952) und hat seitdem viele Beiträge zu dieser Problematik vorgelegt.4 Im folgenden möchte ich mich zunächst auf diejenigen Ergebnisse seiner Arbeiten konzentrieren, die für die Dramen und Theatersemiotik im allgemeinen von Relevanz sind.5 Für Osolsobe geht die Vorbildwirkung des Komponisten, Musik-ästhetikers und Dramentheoretikers Otakar Zieh (1879-1934) von dessen Zielstrebigkeit und Konsequenz im wissenschaftlichen Denken aus, was unter anderem Ausdruck in der Konzentration auf die Gattung Drama und in einer auf jegliche historische Abschweifungen verzichtenden theoretischen Stringenz gefunden hat.6 Zieh ist für Osolsobe •SemiotikerV ein Anspruch, den er selbst nie erhoben hat und der sich auf den ersten Blick aus der Methodik und Terminologie seiner Arbeiten auch nicht ableiten läßt. Dennoch macht Osolsobe vier Gründe für seine Einschätzung geltend, und zwar 1. einen objektiven: die Analyse der dramatischen Struktur; 2. einen subjektiven: die Berücksichtigung des Standpunkts der Rezi-pienten, d.h. der Zuschauer; 3. einen gegenständlichen: die Zugrundelegung handlungstheoretischer Konzepte; 4. einen philosophischen: der Versuch einer erkenntnistheoretischen Durchdringung des Phänomens Theater. "Semiotisch' in diesem Sinne .sei auch Zichs 'klassische' Definition des Dramas: "'Das dramatische Werk ist ein künstlerisches Werk, welches das wechselseitige Handeln von Personen im Spiel der Schauspieler auf der Bühne vorführt."" In der ersten seiner größeren drameuse- Kurze Anfallen zur Person siehe Kudelka 1985, S. 2-51. '1 Vgl. u.a. Osolsobe 1967, 1908, 1971, 1972, 1973, 1974. '' Osolsobe hat sich darüber hinaus auch mit generellen Fragen der Modelllor scliung, der 0-.tensioii, Ikonizität, Modalität, Parodie usw. auseinandergesetzt. ,; Vgl. Osolsobe 19SC, S. .{7711. ' Näheres hierzu in Osolsobe 1981. * Zieh I9:il I9S<;. S. .VI (Ubers, a.d. Tsrhech. hier und im folgenden R.I.) 110 Ii R. Ibler; Zum Stand der tschechischen Dramen- und Theatersemiotik (II) miotischen Arbeiten über das 'Das dramatische Werk als Kommunikation durch Kommunikation über Kommunikation' (Osolsobe 1970) begründet dies Osolsobe damit, daß die Komponenten künstlerisches Werk, Spiel und wechselseitiges Handeln allesamt mit dem Bereich menschlicher Kommunikation zu tun haben. Kommunikation tritt im Hinblick auf das Drama in dreierlei Funktion auf: I. als allgemeines Wesen der Kunst und folglich auch der dramatischen Kunst; II. als Gegenstand des dramatischen Werks; III. als spezifisches Material des dramatischen Werks.9 Der erste der genannten Punkte betrifft den Dialog zwischen Theater, d.h. Bühne, und Publikum.10 Daß es sich dabei tatsächlich um einen Dialog handelt, begründet Osolsobe mit der Tatsache, daß der Informationsfluß hier durchaus nicht so einseitig verläuft, wie es bei oberflächlicher Betrachtung erscheint. Bei ständigem optischen imd akustischen Kontakt 'antwortet' das Publikum in mehr oder minder großen Abständen auf die von der Bühne kommenden Mitteilungen mit konventionalisierten Reaktionen (Klatschen, Pfeifen) und emotionalen Äußerungen (Lachen, Weinen). Allerdings ist dies natürlich kein symmetrischer, d.h. im großen und ganzen ausgeglichener und gleichberechtigter Dialog, vielmehr sollte man von einem Verhältnis der Komplementarität sprechen: der Zuschauer ist dem Schauspieler gewissermaßen 'ausgeliefert', ihm hierarchisch untergeordnet. Jedoch und das ist sehr wichtig — funktioniert dieses Verhältnis nur im Rahmen einer gegebenen reziproken Komplementarität, die Osolsobe als Metakomplementarität bezeichnet: erst die Zuschauer erlauben es durch ihre Präsenz den Schauspielern, ihrerseits den Dialog in Gang '' Osolsobe 1970, S. 15. " Diese Beschränkung macht bereits hier die schwerpunktmäßige Ausrichtung Osol-sobes auf die Theaterkomponente (im Gegensatz zum Dramentext) deutlich. Genau genommen kommt, in der Dramenkunst jedoch ein äußerst vielfältiges um 1 komplexes Geflecht kommunikativer Beziehungen zur Geltung, das (auch in reziproker Richtung) Instanzen wie Autor Leser - Regisseur Schauspieler Publikum umfaßt, um nur die wichtigsten zu nennen. Vgl. z.B. das Modell bei Klain 1980. S. :{fl, sowie Ibler 1991. 111 Znak0log - Vol. 3 (1991) zu setzen.11 Neben dieser pragmatischen Komponente geht Osolsobe auch auf Syntax und Semantik12 der dramatischen Mitteilung ein und bringt im Zusammenhang damit zwei Begriffe ins Spiel, die für sein ganzes Theoriegebäude von größter Wichtigkeit sind und deshalb in vielen seiner Arbeiten auftauchen: 1. trotz seiner Komplexität im semiotischen Sinne verfügt das Theater über einen relativ einfachen Ausgangsimpuls: es vermittelt Informationen durch Präsentation, durch Zeigen; dies ist das semiotische Prinzip der Ostmsion;13 2. wir haben es hier aber nicht mit einem reinen ostensiven Charakter zu tun, denn das szenisch Präsentierte stellt nicht in erster Linie sich selbst dar, sondern beinhaltet die "Mitteilung von etwas anderem, von einer anderen Realität, die durch die gegenwärtige theatralische Realität, nur vertreten, vergegenwärtigt, repräsentiert, modelliert wird."14 Das Theater hat also auch Afodei/charakter;15 in der Modellierung von Kommunikation durch Kommunikation besteht eine der wesentlichen Funktionen der Dramenkunst. Was die Behandlung menschlicher Kommunikation als (partiellen) Gegenstand des dramatischen Werks angeht, so beruft sich Osolsobe vorwiegend auf Ergebnisse der behavioristischen Interaktions- und Kmnmunikationsforschung amerikanischer Sozialpsychologen, Psychiater und Anthropologen. Ähnlich wie die behavioristische Psychologie geht auch das Theater an seinen Gegenstand, den Menschen, wie an einen 'geschlossenen Behälter' heran, der nur der Beobachtung von außen, der Kxtrospektion. zugänglich ist. Gleichzeitig jedoch existiert in der dramatischen Kunst das ständige Bemühen, für diese ihre Beschränkung einen Ausgleich zu schaffen und die nicht erreich- 11 I l \ ul. Osolsobe 1070, S. 15f. Vgl. ebd. S. Hif. VrI. ebd. S. 17. Kiwi. OmiIsoIh- vorstellt sein Motlellkonzept als kritische Auseinandersetzung insbesondere mit dem zentralen Terminus der 'traditionellen' Semiotik, dem Zeichen. Vgl. ()s..lM>bi- 11)7.», S. !), 22ff. 112 R. Ibler: Zum Stand der tschechischen Dramen- und Theatersemiotik (II) bare Introspektion irgendwie zu kompensieren.16 Als Ersatz für diese Beschränkung fungieren unter anderem Verfahren wie das Beiseitesprechen, der (lyris.che) Monolog, die Anwendung psychologischer Darstellungsmittel.17 Der Dialog auf der Bühne ist — im Gegensatz zum komplementären Dialog zwischen Bühne und Zuschauern — ein 'echter', also tendenziell symmetrischer Dialog, bei dem es in der Regel zu einem uneingeschränkten Rollentausch zwischen Sprechern und Hörern und beidseitigem Informationsfluß kommt. Aber die sprachlich-semantische Seite des Dialogs ist nicht die einzige Komponente szenischer Kommunikation; daneben gehören auch pragmatische Relationen18 wie z.B. Replikenlänge, Präsenz bzw. Nicht-Präsenz der Figuren auf der Bühne usw. zum Bereich kommunikativer Darstellung, d.h. zur 'ostensiven Kommunikation': Aufgabe des dramatischen Werks (der Inszenierung) im Bereich der Kommunikation ist es also, die Kommunikation der dramatischen Personen untereinander in der ganzen Breite des kommunikativen Spektrums zu rekonstruieren, angefangen bei der wechselseitigen sprachlichen Kommunikation (die zwischen den Personen als Replikenwechsel, als Dialog rhythmisch pulsiert) bis hin zur ostensiven Kommunikation, die nicht pulsiert, aber in der Breite des ganzen Spektrums als dessen Grundlage auf beiden Seiten andauert: ich spreche nur manchmal, aber zeige mich ständig, sowohl dann, wenn ich spreche, als auch dann, wenn ich nichts sage.19 In diesem Zusammenhang deutet Osolsobe bereits einen Gedanken an. den er in einem späteren Aufsatz, auf den hier noch näher einzugehen sein wird, ausführlich dargelegt hat: nicht nur die szenische Präsentation, sondern jede Form des Sich Zeigens hat etwas 'Theatralisches' kí Osolsobe 1970, S. 22. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 22C Ebd. S. 23. V 113 Znak0log - Vol. 3 (1991) an sich.20 Dabei gibt es aber — im Leben wie im Theater — auch Bestrebungen, durch Zeigen etwas vorzuspiegeln, die Kommunikati-onspartner etwa mit Potemkinschen Dörfern zu täuschen, ihnen eine 'Komödie" vorzuspielen. Diese Erscheinung wird als Pseudo-Ostension bezeichnet.21 In bezug auf die dritte der genannten kommunikativen Relationen auf dein Gebiet des Theaters, nämlich Kommunikation als Material der Drameukunst, geht Osolsobe vom Modellbegriff aus. Modellierung als eine der zentralen semiotischen Aktivitäten des Menschen vollzieht sich in einer breiten Skala möglicher Beziehungen zwischen Original und Modell, die vom Verhältnis maximaler Unähnlichkeit (symbolische Modolle) bis hin zu maximaler Ähnlichkeit (naturalistische Modelle) reicht. Das Theater arbeitet in starkem Maße mit metaphorisch metonymischen Modellen, bei denen in einem relativ naturgetreuen Ab-bildiiugsverhältnis Modell und Original zur selben homologen Reihe gehören:22 ein Mensch wird — in der Regel — von einem echten Menschen, ein Stuhl von einem echten Stuhl modelliert usw. Entscheidend aber ist, daß das dramatische Werk selbst kein metaphorisch -metonymisches Modell ist, denn ein solches Modell "[...] der menschlichen Kommunikation als Kommunikation [...] kann mir eine an.ilcrc. natürliche, reale menschliche Kommunikation sein. Das, was jedoch die Schauspieler auf der Bühne machen, ist keine Kommunikation, sondern Pseudo -Kommunikation."23 Bei einem praktisch naturgetreuen Abbildungsverhältnis von 1 : 1 handelt es sich bei der szenischen Repräsentation also nur um eine künstliche Kommunikation. Bei aller Vorspiegelung verfügt das Theater aber über deutliche Indikato- 21 Vgl. hierzu auch den von Osolsobe erwähnten Versuch des amerikanischen Sozial Psychologen F.rving Goffmaii. menschliches Verhalten im Alltag als 'Ihcalralischc Präsentation' zn untersuchen (GofTman 19.19). Vgl. Osolsobe 1970, S. 21. In den gleichen Problemkreis gehört die DilFeren zierung zwischen 'kooperativer', d.h. aufrichtiger, konstruktiver, und 'konkurrierender' (konfliktträchtiger, destruktiver) Kommunikation, die Osolsobe (S. 25t ebenso wie die Dichotomie 'Sprache der Wissenschaft' vs. 'Sprache der Advoka tur' von Norbert Wiener übernommen hat. Zu den verschiedenen Modclltypen vgl. Osolsobe 1970, S. 30f. 23 Kbd. S. M. R. Ibler: Zum Stand der tschechischen Dramen- und Theatersemiotik (II) ren, daß eben diese Vorspiegelung im Sinne eines Spiels gewollt ist. Das Spiel definiert Osolsobe als eine Art Bewegungsmodell,24 um schließlich auch Sprache unter dieser Prämisse zu charakterisieren: Sprachliche Bewegungen sind besondere Bewegungen. Nicht nur, daß sie sich schön und bequem kombinieren lassen [...] und daß es sich mit ihnen hervorragend spielen läßt; es sind dies auch ungewöhnlich wirkungsvolle Bewegungen, sie lassen sich in die Ferne übertragen (mittels in Schwingungen versetzter Luft), sie lassen sich also leicht übermitteln, und — was besonders wichtig ist — sie sind vollkommen nutzlos, sie taugen zu nichts, nichts auf der Welt sind sie ähnlich, sie können also existentielles Modell von allem Möglichen sein. Und dem ist auch so. Während die 'bedeutungsvolle', aber 'unechte' Bewegung beim Spiel der Tiere [...] nur dieselbe, aber 'gleichsam tatsächliche' Bewegung modellieren konnte, kann die sprachliche Bewegung in Kombination mit anderen sprachlichen Bewegungen alles Mögliche modellieren, beschreiben und bezeichnen, jede mögliche Form von Nicht-Bewegung und Bewegung, einschließlich Bewegungen modellierende Bewegungen und sogar einschließlich jener Bewegungen, die alles Mögliche modellieren, d.h. einschließlich der 'Bewegungen der Sprache'.25 Auch das szenische Werk ist die komplexe Form eines Bewegungsmodells. Als Spiel modelliert es vor allem menschliche Bewegungen, und zwar eben nicht nur Bewegungen im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern auch kommunikative Bewegungen, in ganz besonderem Maße sprachliche Bewegungen. Und diese sprachlichen Bewegungen ihrerseits modellieren oft wieder kommunikative und sprachliche Bewegungen, was einerseits zur Komplexität innerhalb der Werkstruktur, aber andererseits auch zu einer gewissen Intensivierung der Sinnbildung führt.26 24 "Jede [. . .] Bewegung ist Modell für eine andere Bewegung, eine 'tattächlichr' Bewegung, eine Bewegung in einer 'tatsächlichen' momentan nicht existenten Situation." (ebd. S. 33). 25 Ebd. S. 34. 26 "Und weil der Mensch, namentlich der sich in Konflikt, in Interaktion befindliche 114 115 I Znak0log - Vol. 3 (1991) Wie Osolsobe des weiteren hervorhebt, sollte der von ihm beschriebene Sachverhalt in erster Linie zur "Demonstration des gemeinsamen Wesens aller Arten des Kommunizierens und Modellierens dienen".27 Das Gesagte bezieht sich deshalb auf sämtliche in einem dramatischen Werk auftretenden kommunikativen Formen. Aus diesem Grunde wendet er sich gegen alle Versuche, die Grundschichten der dramatischen Struktur, die in der aristotelischen Trias MIMOS (Spiel), LOGOS (Sprache) und E1DOS (Form) ihren Ausdruck gefunden haben, konfrontativ gegeneinander auszuspielen und in ihrem Verhältnis zueinander Do-luiuanzrelatiouen zu errichten: schließlich liegt ihnen allen im Prinzip das gleiche kommunikative Urphänomen zugrunde. Dabei nimmt er auch Zieh nicht von der Kritik aus, da dieser seiner Meinung nach das Formprinzip überbetont habe: "nicht der EIDOS, die bildende Kunst, die Szene, formt den MIMOS, sondern umgekehrt der MIMOS, wo immer er auch Eingang finden mag und sein Spiel beginnt J...] formt um sich herum, woraus auch immer, was er in sein Spiel einschließt, seinen Kinos."28 Dies wiederum beweist, daß Zichs Theorie nicht global anwendbar ist, da er eben nur einen bestimmt Theatertypus im Auge hatte, und zwar jenen, der sich auf die im französischen Klassizismus geschaffene Tradition beruft. Neben diesem Typus, den Osolsobe "dramatisches Theater" bzw. sogar "Zichsches Theater" nennt, in dem also letztlich das Form- über das Spielprinzip dominiert, gibt es das "epische Theater"29 (das er allerdings nicht auf den Brechtschen Typus verkürzt sehen will, da es ähnliche Tendenzen im Verlauf der ganzen Dramengeschichte gegeben hat), das von einer Verbindung LOGOS/MIMOS ausgeht. Der dramatische Typus läßt eine solche Verbindung nicht zu: er geht von den Gesetzen einer stofflichen Kongruenz von Original und Modell ans: im rein dramatischen Typus —■■ in dem eine Be- . Mensch und sii ciiicii Menschen stellt das dramatische Werk ehen dar — häufig iilier die Kommunikation anderer kommuniziert, besonders über diejenige, die ihn in irgendeiner Weise betroffen hat, wird das dramatische Werk dadurch um ein weiteres semantisches Souterrain vertieft" (ebd. S. 35). Kbd. -H l/,d. s. :!<;. Vgl. Osol.sobe ebd., S. :$<>f. 1 LG R. Ibler: Zum Stand der tschechischen Dramen- und Theatersemiotik (II) wegung immer nur dieselbe Bewegung und eine Sache immer nur dieselbe Sache modelliert — darf das Prinzip LOGOS nur innerhalb des Modells auftreten, nur als Kommunikationsmittel der dramatischen Figuren untereinander, nicht jedoch als kommunikatives Instrument zwischen Bühne und Zuschauerraum. [...] Der epische Typus darf also mit seinem Zuschauer sprechen, er darf ihm auch eine Aufschrift lesen lassen. [...] der dramatische Schauspieler konnte mit einer Bewegung höchstens dieselbe Bewegung und mit sich selbst höchstens einen anderen Menschen modellieren [...]; der epische Schauspieler kann durch seine Bewegung jedwede andere Bewegung und durch sich selbst alles Mögliche modellieren [...] Der epische Schauspieler ist einfach ein universaler Erzähler [...], der zum Modelheren, zum Modellieren für den Zuschauer, alles, was ihm zur Verfügung steht, benutzt und folglich mit allen physischen Modellen modelliert.30 Neben epischen Tendenzen im Theater sieht Osolsobe auch, umgekehrt, dramatische Tendenzen in der Epik. Dort, wo das Wort des Erzählers nicht mehr nur — modellhaft — für einen erzählten Sachverhalt steht, sondern wo es beginnt, die Kommunikation selbst zu seinem Thema zu machen, wo das Wort also zu einem Modell für ein anderes Wort wird (z.B. im Zitat, in der direkten Figurenrede) haben wir es im se-miotischen Sinne mit ähnlichen Gegebenheiten wie im Theater zu tun. Doch diesen Gedanken kann Osolsobe im vorliegenden, hier aufgrund seines programmatischen Charakters etwas ausführlicher besprochenen Artikel nur anschneiden. Eingehend befaßt er sich damit in einem neueren Aufsatz, der den beziehungsreichen Titel 'Das Wort als Exponat, als Held und als Schauspielergestalt. Enklaven des Theaters in Sprache und Literatur' trägt (Osolsobe 1987). Darin wird die in den früheren Arbeiten thesenartig anklingende Idee vom Theater außerhalb der szenischen Dimension weiter ausgeführt und an einigen exemplarischen Fällen in ihren — oftmals sehr originellen und überraschenden — Konsequenzen aufgezeigt. Dieser Beitrag geht von der alten Frage nach Standort und Stellenwert des (schriftlichen) Dramentextes aus: verfügt dieser über eine eigene ästhetische Qualität und gehört in den Bereich der Literatur. Ebd. S. 37. 117 Znak0log - Vol. 3 (1991) oder ist er lediglich 'Textsubstrat'31 des szenischen Gesamttextes und fällt somit in die Sphäre des Theaters? Wenn die Wissenschaft bislang eher der zweiten Annahme zuneigte, dann beruht das Osolsobě zufolge auf zwei irrigen Prämissen, nämlich a) einerseits eines 'reinen', d.h. rein spräej^fchen Charakters der Literatur und andererseits 1>) eines 'unreinen', vermischten, synthetischen Charakters des Theaters. Er zeigt gleich zu Beginn des genannten Artikels — und hier knüpft er an seinen früheren Einsichten an —, daß die These vom homogenen Charakter der Sprache in den Bereich des Mythos zu verweisen ist: dort, wo Sprache nämlich nicht mehr eine außersprachliche Wirklichkeit, sondern eine andere sprachliche Wirklichkeit modelliert, ändert sie auch die Art und Weise der Repräsentation: diese ist nicht mehr arbiträr, sondern wird ikonisch. Das macht sich besonders auffällig natürlich im oben erwähnten Fall des narrativen Texts bemerkbar, der zwar das nach außen hin homogene, d.h. im Bewußtsein des Rezipi-enten so erscheinende, System der Sprache verwendet, seine Eigenart aber letztlich doch aus dem oft vielschichtigen Wechsel der Repräsentationstypen von der symbolischen Deskription bis hin zur ikonischen Zitierung und direkten Rede bezieht.32 Stellt sich also die Sprache als überaus heterogenes semiotisches Gefüge heraus, so zeigt sich, daß andererseits das Theater — ebenfalls in deutlichem Gegensatz zur ursprünglichen Annahme ein recht homogenes System repräsentiert. Eines der zentralen Merkmale des Theaters von Anbeginn seiner Entwickhing an ist die ikonische Dar- 31 So z.B. Pfister 1982, S. 25. 32 "Ein Schriftsteller, der mit direkter Rede arbeitet (wie auch mit Pseudo- oder Quasizitaten) und und damit seine Erzählung durchwirkt, und ähnlich auch jeder Sprachbenutzer, der in seinen sprachlichen Äußerungen, sei es in. gesprochenen oder geschriebenen, Zitate oder Quasizitate benutzt, arbeitet also mit einer Mi schung aus zwei semiotisch vollkommen heterogenen Mitteln: der Sprache und token: token-models. Da die ready made tokens, die er benutzt, aus reinem Zufall ebenfalls sprachliche tokens und daher von den anderen tokens seiner eigenen Aussage nicht zu unterscheiden sind, bleibt diese lleterogenität allerdmK> verborgen" (Osolsobe 1987, S. 131). R. Ibler: Zum Stand der tschechischen Dramen- und Theatersemiotik (II) Stellung von 'Dingen' durch Exemplare (tokens) aus der jeweils selben Klasse von Dingen (types). Wie bereits im Zusammenhang mit der Besprechung des ostensiven und modellierenden Charakters des Theaters festgestellt, wird hier in einem naturgetreuen Abbildungsverhältnis normalerweise (genauer gesagt: im 'dramatischen' Typus im Unterschied zum 'epischen' Typus) ein Stuhl durch einen Stuhl, ein Mensch durch einen Menschen und eben auch Sprache wiederum durch Sprache repräsentiert. Und diese sprachliche Komponente läßt sich aus dem szenischen Gesamtkunstwerk 'herauslösen', wodurch wir das Textsubstrat, d.h. den dramatischen Text erhalten. In Umkehrung der herkömmlichen Prämissen geht Osolsobě also davon aus, daß Sprache ein 'heterogenes Multimedium' und Theater hingegen ein überaus 'einheitliches Medium' darstellt.33 Sprache kann man als das Gebiet der minimalen Rone mit folgenden Merkmalen bezeichnen: - spezifisches, eingeschränktes (Ausdrucks-)Repertoire (Laute, Schriftzeichen), - spezifisches (Darstellungs-)Universum (die ganze Welt umfassend), - spezifische Korrespondenz zwischen Repertoire und Universum im 'Maßstab' 1 : oo. Demgegenüber zeigt das Theater als Gebiet der maximaler) Ikone folgende, entgegengesetzte Charakteristika: t - reicheres Repertoire (nicht nur. verbal), - engeres Universum (in erster Linie der Bereich menschlicher Interaktion), - Korrespondenz im 'Maßstab' 1:1. Die Wirkungssphäre des Theaters erstreckt sich nach Osolsobě aber nicht lediglich auf den konventionellen szenischen Bereich. Theater "Das Theater.formt auf vollkommen homogene Weise ein vollkommen homogenes Bild (d.h. semiotisch homogenes Bild) der heterogenen Wirklichkeit, die sie abbildet; es ist dies allerdings das Bild eines sehr kleinen Teils der Wirklichkeit, dazu ein überaus lückenhaftes und in gewissem Sinne oberflächliches, d.h. nur die Oberfläche dieses Abschnitts erfassendes Bild. [. . .] Demgegenüber arbeitet die Sprache [. . .], namentlich in ihrer gesprochenen Form, auf eine im Prinzip unreine heterogene Weise, und ist bereit, ohne irgendwelche Vorurteile, Hemmungen und Skrupel alles zu ergreifen und sich mit allem zu verbinden" (ebd. S. l.'iS). 118 119 Znak0log - Vol. 3 (1991) ist für ihn weniger Institution und Kunstform, als vielmehr eben ein semiotisches Prinzip, das auch auf anderen Gebieten, hier namentlich in literarischen Texten zur Geltung kommt. Diese Erkenntnis führt ihn zu folgender Einschätzung: Die Grenze zwischen Literatur und Theater verläuft nicht auf dein traditionell anerkannten Gebiet des Theaters, sondern auf dem Gebiet der Literatur. Das Theater ist kerne Mischform, keine Synthese aus Wort, Bild usw. — im Gegensatz dazu ist die Literatur, da sie Enklaven des Theaters enthält, notwendigerweise eine Mischform. Das Theater ist kein 'sekundär modellierendes System', d.h. ein von einem einzigen 'primären System' abgeleitetes System wie die Sprache. Im Gegenteil, das Theater in seinen primitivsten Formen (Spiel von Tieren) ist ein weitaus ursprünglicheres und primäreres System als die Sprache, so daß auch die Sprache, wo immer sie zum Bestandteil von Spiel oder Theater wird, primär als Spiel und erst sekundär als Sprache fungiert. Nicht nur die direkte Rede, sondern auch jeder ihrer Bestandteile, jedes zitierte Wort, jedes Zitat arbeitet mit der Methode der token:token-icons, der Methode des Theaters: zuerst wirkt es als 'Schauspielergestalt', in der Rolle 'eines anderen Wortes desselben types' und erst dann, nach dieser theatrali-' sehen Leistung, als Wort selbst, als Sprache, d.h. sozusagen als 'Träger von Bedeutung'.34 Auf die "Enklaven' des Theaters in anderen Bereichen geht Osolsobe im weiteren Verlauf seines Aufsatzes näher ein. Er erörtert insbesondere die Implikationen und Konsequenzen seiner These für Gebiete wie die 'reine Theorie' (S. 135ff.) sowie die literarische Gattungspoetik (S. 137ff.). Darüber hinaus demonstriert er vor allem die diesbezügliche Rolle des 'Zitats' (S. 141ff.) im künstlerischen Werk und leitet, daraus Schlußfolgerungen für literarische Schlüsselbegriffe wie Scherz, Parodie. Ironie. Humor, Mystifikation, Fiktion, Illokution, Illusion (S. 148ff.) ab. Doch dies geht bereits über unser eigentliches Thema hinaus. Aus dem bisher Gesagten ergeben sich für eine Beurteilung von Osolsobes Beitrag zur Dramen- und Theatersemiotik folgende wesent- Kbd. S. 134. R. Ibler: Zum Stand der tschechischen Dramen- und Theatersemiotik (II) liehe Charakteristika. Drei Begriffe erweisen sich im Hinblick auf die Gesamtkonzeption als zentral: Kommunikation, Ostension, Modellierung. Theater als Kunst ist Kommunikation, in der eine andere Kommunikation sich nicht nur zeigend (ostensiv) darstellt, sondern dabei noch eine weitere Kommunikation repräsentiert, d.h. modelliert. Diese ostensive Modellierung, das 'In-sich-zeigender-Weise-Repräsentieren' birgt die Grundzüge eines allgemeinen semiotischen Prinzips in sich, das in anderen Bereichen menschlicher Interaktion und Kommunikation in gleicher Weise wirkt, von diesen quasi 'okkupiert' wurde. Bevor wir zu einer kurzen Einschätzung dieses Prinzips gelangen, möchte ich noch einige grundlegende Einsichten anführen, zu denen Osolsobe bei seinen Untersuchungen zum leichten Musiktheater gelangt ist (wobei hier natürlich auf die mitunter sehr interessanten Details verzichtet werden muß). Die unter semiotischem Aspekt wichtigsten Aussagen zu dieser Problematik finden sich in der Monographie über "Das Theater, das spricht, singt und tanzt'' (Osolsobe 1974) sowie in dem deutschsprachigen Artikel "Der Vierte Strom des Theaters als Gegenstand der Wissenschaft. Prospekt einer strukturalen Operettenwissenschaft" (Osolsobe 1971). Das leichte Musiktheater oder — wie Osolsobe es nennt das singende tanzende-und-sprechende Theater (STST),35 zu dem die Genres der opera comique, der Operette und des Musicals gezählt werden,36 ist im Unterschied zum reinen Sprechtheater dadurch gekennzeichnet, daß die dargestellte Kommunikation sich nicht immer in der Form 'normaler', realer, sprechender Kommunikation vollzieht, sondern eben auch unter Einsatz von Gesang und Tanz. Insbesondere die Gesangsnummer hat Osolsobe als eines der Kernprobleme des STST charakterisiert.37 Die Gesangsnummer hat in der Regel die Form des Lieds, und das Lied ist die Vereinigung von Text ("Poesie") und Musik.38 Im Lied gibt die Musik ihren Charakter als rein ostensive Kunst auf, denn sie kann "im Verein mit Wort, mit einer Osolsobe l!)7l, S. 13. 1 ' Vgl. ebd. 17 Vgl. ebd. S. 33. Vgl. ebd. S. 33f. 120 121 R. Ibler: Zum Stand der tschechischen Dramen- und Theatersemiotik (II) Znak0log - Vol. 3 (1991) Situation oder mit anderen Künsten — in einem konkreten Kontext als Modell dienen."39 Berücksichtigen wir noch den Interpreten des Lieds, so wird dieses zum 'interpretierten Lied', und ein solches stellt für Osolsobě bereits eine Grenzform zum Theater hin dar.40 Und das interpretierte Lied im Rahmen einer Theatervorstellung wird zur 'gesungenen dramatischen Situation'. Das leichte Musiktheater verfügt also gegenüber dem reinen Sprechtheater über Mittel zur kommunikativen Differenzierung. Da reale Sprache hier eben nicht nur durch gesprochene, sondern auch durch gesungene Sprache modelliert wird, bildet sich zwischen diesen beiden Modellierungsformen eine Art Kontrastrelation heraus: Das STST [...] mit seiner funktionellen Gegenüberstellung des gesprochenen Dialogs und der gesungenen Musiknummer — einer Opposition, die der funktionellen Differenz zwischeu Arie und Rezitativ in der Vorwagnerschen Oper entspricht — kann besonders bemerkenswerte Situationen unterscheiden und sie durch die verschiedensten Musik- und Liederformen modellie- 4 1 reu. Gerade auf diese Weise wird ein zusätzliches Verfahren eingeführt, den komplexen Bereich menschlicher Kommunikation, ihre symmetrischen, komplementären und metakoniplementären Relationen darzustellen, zu repräsentieren und zu differenzieren. Von der 'Theorie der Nummer' spannt Osolsobě den Bogen zur 'Theorie des Ganzen'. "Sämtliche Musiknummern formen im Verein mit allen gesprochenen Szenen [...] ein revueartiges Ganzes, den Revue Plan des Werkes."42 Dieser Revue Plan ist rein ostensiver Natur, die einzelne Nummer wird ausschließlich in ihrer künstlerischen Funktion als 'Auftritt' gesehen. Hinzu treten die Ebenen der Be- Ehd. S. M. ''Der Interpret wandelt sich zum Darsteller, das Lied zum gesungenen Monolog oder Auftritt, wir sind Augenzeugen der Geburt der Komödie aus dem Körj« r der Musik" (ebd. S. 35). Ebd. S. 3ti. Ebd. S. 37 (besser sollte man hier wohl von einer Revue-Ebene oder -Schicht sprechen). deutungsbildung (der 'dramatische' oder 'semantische Plan') sowie der Komposition (der 'tektonische' oder 'symphonische Plan'). Während letztere die Architektonik des ganzen Werks bezeichnet,43 spielt innerhalb der Bedeutungsebene die dramatische Handlung die zentrale Rolle. Relevant sind hier die für das leichte Musiktheater charakteristischen 'Handlungstypen' oder 'Sujet-Typen'. Dabei stellt Osolsobě zwei Merkmale heraus, die tendenziell in allen Genres dieser besonderen Theaterform zu beobachten sind: 1. es handelt sich 'inhaltlich' um Lustspiele; 2. meist herrscht eine starke Neigung zur Melodramatik vor. Im Anschluß an Leonard Bernsteins Auffassung von 'vernacular' (Dialekt) des Musicals weist er schließlich auf die Notwendigkeit einer stärkeren Berücksichtigung des allgemeinen kulturellen Kontextes hin, innerhalb dessen sich die historisch oft relativ kurzlebigen Genres des STST manifestieren. Dies impliziert eine Erforschung des künstlerischen Seins und des Bewußtseins des STST, anders ausgedrückt: seiner langue und seiner parole. In dieser Hinsicht lassen sich drei besonders evidente Kernbereiche herausfiltern: 1. das Parodistische: daß die Parodie gerade innerhalb dieses Theatertypus besonders stark repräsentiert ist, hängt zumindest partiell damit zusammen, daß Parodieren als spezifische Form des Modellierens44 etwas 'Theatralisches' an sich hat. Osolsobě meint gar, "die konsequentesten Parodien finden sich auf der Szene."45 2. die Spezifik des Akteurs; der Schauspieler, ein Mensch, der im Rollenspiel zum Modell für einen anderen Menschen wird, hat diese Funktion nur im konkreten Kontext der szenischen Präsentation inne, d.h. er fungiert als ostensiv sich zeigender Modell-Mensch nur in der Relation zum Publikum. Diesem gegenüber übernimmt er eine 'dienende' Funktion, natürlich nicht im Hinblick auf Informationen über Osolsobě spricht hier sogar von "der Manifestation der inneren, nicht nur musikalischen Musikalität des Werkes" (ebd. S. 38). "Die Parodie ist ein Modell, ihr Objekt (ihr 'Original') ist aber wieder ein Modell, die Parodie ist also ein Modell eines Modells. Ihr Objekt wird von der Parodie ii11s dem Material und durch die Mittel des Originals modt liiert: jede Parodie der Musik muß wieder Musik sein, jede literarische Parodie ist wiederum Litera tur: die Modellierungsart der Parodie ist also Modellieren 'in Lebensgröße', im Maßstab 1:1, die Methode des Theaters' (ebd. S. 3!)f.). Ebd. S. 40. 123 Zn.ük0log - Vol. 3 (1991) seihst, sondern auf den 'anderen', den er darstellt, sowie das raumzeitliche Kontinuum, in das dieser "andere' eingebunden ist. Was diese Relationen angeht, besteht natürlich ein gewisser 'qualitativer' Unterschied zwischen dem Schauspieler des Sprechtheaters und demjenigen des s IST. Dies bedürfte aber noch eingehender Erforschung.46 3. die Funktion der Stadt: "Alle drei Hauptformen des STST sind in den Großstädten entstanden, j...] Die Städte bilden komplizierte Netze wechselseitiger Kommunikation und Ostension, die die Atmosphäre und den Charakter der Stadt ausdrücken. Für das STST funktioniert die Stadt als Thema, als Publikum, zugleich aber auch als Autor. Das ganze STST ist nichts anderes als eine neue komplexe Stimme der Stadt, eine höchst komplizierte Form der städtischen Folklore."47 Die Stadt ist im Kontext des leichten Musiktheaters also nicht nur Gegenstand der Darstellung, sondern fungiert gleichsam als allumfassender kultureller Impuls, der auf Produktion und Rezeption dieser Werke einen immensen Einfluß ausübt.48 Diese wenigen Punkte aus Osolsaběs umfangreichen Arbeiten zum leichten Musiktheater mögen genügen, um die allgemeine Denkrich-tuiig aufzuzeigen und zu demonstrieren, daß hier ein überaus origineller Versuch unternommen wurde, einem in der (zumal semiotischen!) Forschung vernachlässigten Gebiet zu seinem Recht zu verhelfen, und daß eine Reihe von Ergebnissen dieser. Arbeiten auch im breiteren dramen und theatertheoretischen Zusammenhang gewichtige Argumente zu liefein vermögen. Versucht mau, den Forschungsbeitrag dieses bedeutenden tschechischen Philologen im Bereich der Dramen- und Theatersemiotik einzuordnen, so kommt man um einen Vergleich mit den einschlägigen Arbeiten der tschechischen Strukturalisten und ihrer Schüler nicht umhin. Während diese vorwiegend an den verschiedenen das Theater konstituierenden semiotischen Systemen (natürliche Sprache, Mimik. Vgl. ebd. S. Hl 17 Kl„l. S. -I0f. rfcöp/f r. Und für die Massenschöpfer fi-höfijeii' (ebd. S. II). R. Ibler: Zum Stand der tschechischen Dramen- und Theatersemiotik (II) Gestik, bildkünstlerische Komponente, Musik usw.) und ihrem Zusammenwirken interessiert waren, d.h. das Gesamtkunstwerk Theater in die einzelnen beteiligten Codes auflösten, geht Osolsobé praktisch den umgekehrten Weg. Für ihn ist weniger die Vielfalt in der Einheit ausschlaggebend, als vielmehr die Einheit in der Vielfalt. Und diese Einheit weist alle Merkmale eines grundlegenden semiotischen Mechanismus auf, auf den alle Komponenten der Vielfalt letztendlich zurückzuführen sind: das Prinzip ostensiver Modellierung. Wie verblüffend weit das Wirkungsfeld dieses Prinzips ist, demonstriert Osolsobé an einer Vielzahl von Beispielen aus theaterexternen Gebieten, zu denen unser alltägliches Verhalten sowie die — künstlerische wie nichtkünstlerische — Verwendung der Sprache gehören. Man kann dieser Konzeption neben ihrer Originalität einen gewissen innovativen Reiz nicht absprechen, zumal wenn man sich viele andere neuere Arbeiten zu dieser Problematik anschaut. Über die wiederholte und variierte Konstatierung der 'Plurimedialitäť gelangen diese selten hinaus. Dennoch gibt es auch allgemeine theoretische Ansätze, die eine gewisse innere Verwandtschaft mit der Denkrichtung Ošolsobés spüren lassen. Die Parallelen zwischen Bachtins primär auf den Roman bezogenen Polyphonie-Begriff und Osolsobes Auflassung von der stark theatralisierten' Struktur des Erzähltextes sind unübersehbar. Und die Feststellung vom ostensiv-modellierenden Charakter im Verhältnis der künstlerischen Texte untereinander, der sich z.B. in verschiedenen Formen der 'Zitierung' oder auch der Parodie äußert, weist viele Gemeinsamkeiten mit verschiedenen Thesen der Intertextualitätstheorie auf (auf die Osolsobé sich meiner Kenntnis zufolge nirgends beruft). Gemeinsam ist der vorliegenden wie den genannten Konzeptionen aber auch ihr Hang zu metaphorischer Sprachverwendung sowie die Radikalität ihres Bruchs mit den auf Formalismus und Strukturalismus zurückgehenden Forschungsrichtungen, was natürlich auch gewisse Gefahren in sich birgt. Dies gilt zum Teil auch für Osolsobes Aussagen, die mitunter einen penetrant apodiktischen Charakter aufweisen, z.B. wenn er in entschiedener Polemik gegen die herkömmlichen Auffassungen Sprache als überaus heterogenes semiotisches Gefüge, das Theater hingegen als unbestreitbar homogenes System ausmacht. Meines Erachtens bringt einen hier die Dogmatik eines 'entweder — oder' nicht entscheidend weiter, das Zugeständnis eines 'sowohl — als auch' dürfte 125 124 Znak0log - Vol. 3 (1991) letztlich gewinnbringender sein: Sprache ist von einem Standpunkt aus ein homogenes, von einem anderen Standpunkt aus ein heterogenes Gefüge, und das gleiche gilt für das Theater. Wenn z.B. die Struktura-listen die verschiedenen theatralischen Codes beschreiben, so haben sie sicher nicht unrecht: sie zeigen, welch verschiedenartige Systeme, mit denen Kommunikation betrieben werden kann, im Theater zu einem einheitlichen Gesamtkunstwerk zusammengefügt werden. Auch Osol-sobe hat nicht unrecht, wenn er behauptet, daß all diesen heterogenen Systemen ein und dieselbe Triebfeder innewohnt, eben der Bereich der menschlichen Kommunikation. Im Prinzip meinen aber beide nichts anderes als unterschiedliche Mechanismen ein und desselben Phänomens. In Zusammenhang damit steht eine weitere Schwäche der vorliegenden Konzeption. Osolsobes Fixierung auf Begriffe wie Ostension und Modellierung ist dafür verantwortlich, daß seine Semiotik eine passive, rein repräsentierende Semiotik ist. Das 'Sich-Zeigen' des Schauspielers, des Bühnenrequisits, der Sprache usw., all dies führt zur Auffassung vom Theater als einem reinen Modell für eine andere Wirklichkeit. Und die Sprache selbst wird konsequenterweise zum bloßen Substitut für eine wie auch immer geartete Realität. Hier wird aber übersehen, daß Sprache nicht nur die Funktion des Bezeichnens innehat, sondern sie ist aktiver Bestandteil unseres Denkens, sie ist Realität und erzeugt Realität-.49 Der Schauspieler auf der Bühne präsentiert nicht nur sich selbst und repräsentiert dabei nicht nur eine fiktive Gestalt, ist also nicht nur Modell z.B. eines Chlestakov, sondern läßt diesen erstehen, 'erschafft' ihn, wird selbst gewissermaßen zu einem Chlestakov. Aus diesem Grunde läßt sich der dramatische Text auch nicht — wie Osol-sobe dies tut - als passive Komponente des szenischen Kunstwerks herauslösen, er ist ein eigenständiger Text, der aber am Anfang einer Kette von verschiedenen Akten künstlerischer Welterzeugung (z.B. Rezeption durch einen Regisseur, Transformation zum Regietext, Auseinandersetzung des Schauspielers mit dramatischem Text und Regietext, Auseinandersetzung des Zuschauers mit dramatischem Text und szenischem Text) stellt. Das (aktive) Resultat der textuellen Welterzeugung to Vgl. ähnlich auch che berechtigte Kritik Michael Fleischers am Modellbegriff der sowjetischen Semiotik in Fleischer 1989, S. 62ff. 126 R. Ibler: Zum Stand der tschechischen Dramen- und Theatersemiotik (II) kann dabei dem aktuellen Resultat der szenischen Welterzeugung ähnlich sein, es kann sich von ihm mehr oder weniger deutlich abheben, und es kann ihm auch widersprechen. Osolsobes Verdienst besteht — ungeachtet der genannten Einwände — vor allem darin, auf einen in der Dramen- und Theatersemiotik bisher kaum beachteten Aspekt hingewiesen zu haben, einen Aspekt, der Drama und Theater nicht isoliert, sondern sie in ihren gesamtkulturellen Zusammenhängen, Einfluß- und Wirkungsmöglichkeiten aufscheinen läßt. Alleine aus diesem Grund hätten seine Arbeiten in diesem Forschungszweig viel mehr Beachtung verdient als bisher. Literatur 127 Osolsobě, Ivo, 1952, K základním otázkám historie a teorie operetního žánru [Zu grundsätzlichen Fragen der Geschichte und Theorie des Operettengenres] (unveröffentl. Diss.). Brno. Osolsobě, Ivo, 1967, Muzikál je když [Ein Musical liegt vor, wenn]. Praha. Osolsobě, Ivo, 1968, [Einleitung und Anhang zur tschechischen Ausgabe von] S. Schmidt Joos, Muzikál. Praha. Osolsobě, Ivo, 1970, Dramatické dílo jako komunikace komunikací o komunikaci [Das dramatische Werk als Kommunikation durch Kommunikation über Kommunikation]. In: Otázky divadla a filmu, Thea-tralia et Cinematographica, 1, S. 11-46. Osolsobě, Ivo, 1971, Der Vierte Strom des Theaters als Gegenstand der Wissenschaft oder Prospect einer strukturalen Operettenwissenschaft. In: Otázky divadla a filmu, Theatralica et Cinematographica, 2. S. 11 44. Osolsobě, Ivo, 1972, Forma písně a formy lidské komunikace [Die Form des Lieds und die Formen menschlicher Kommunikation]. In: Lidová píseň a samočinný počítač, 1, Brno, S. 93 96. Osolsobě. Ivo, 1973, Funkce hudby v prožitku myšlení aneb Myslíme hudbou [Die Funktion der Musik im Erlebnis des Denkens oder Wir denken durch die Musik]. In: Opus musicu^, 5, S. 258 264. Iní CD n o' p- P" i 9 9) p co p 3 -h-i OO CO 1 •■d -. g. F p p-i-l Z B OQ (t O i— c OO g. U n' B* m TJ H* ri> tí: '1 b ~ i" s 2 f" b a • — t? p- C5 " H _ CD co 00 - o p co Ö M p b H ET O B p- p »——• f? 33 C p. Ti. t—* 00 h-1 < ?a 2" fí o P* ji < h-* CO 00 •n o ' 1-1 1—1 CO < ff*- o T) O t-i ■ CO p o B* -P Iso OJ N3 Ol B O B Sr o< «1 f>r t. P) b i-i r-* CO o •g tri* Í- B - • O co B* B CO^ p t72 gľ H. f ^ Ü 3 -~ B t> -j - • p B D- p fj a O i - O B H» S. V S. ° *»■ tí* £ľ. gj OQ w í" í O ^ S, -* £t. O to u 2 i_ B h-* 3 a ^ ?!o S s a ^p S • ~~ p *< 3 5 5" 3'g.H.í S". p 5 n 2 CO w?3 2. r— B" p S. p- ! s PT i—i r> -- p b p- o 2 a> i i-i B p 5' B ct E* S S <^ 2. e 3- 2 S 1 S í řr* *0 B ►->> 5^ O C/í ~- p p o 3 <*£.?? o' f» B «* I C/3 2 J c í i ^ J3 M B' OQ CO On CO H B* t 0> co o b O !-*> U) <* ti •-1 «< p- v: s- TI OQ b D- ►i nf! co 2- cr - b cO 2 oo •-> CO H CO p o 2" 'S-b co 2^ 2- ^ ~ n b CO Si" OQ H b (t> O M b- O b E. t-—• p 2! 3 o1 n' S- r co 00 o H co g o' o" co O l-^> H b- (l p p b p- p b r1 o 3 p. O b p b p. !X> b ►C p r-J fft-p - b" — n c a p. s: r; b m p. p p b » i-< . CO 2. b* p CO S-' S' rt- • 0) p OQ t-l iTi p' Ä - p O CO o_ CO O cr «5« p < - M O 3 - ?r p- 5S ■í r1 <" o" £: ° p <-. < %■ p' ° n t> 'S x p B N3 co M B k5 p p- H B- p p » S- Pi* B O p B ío p ^ p O t__ 11 03 ~ >r p o ST a- M 2 !>< rt 0 ^ 1 p- i ř1- "X S o C oo b C7í p " -r. n 3 2 - aj o* 2 •-i C S fsi -TL C P. p. •i tS p CO CO co Oo < P § CO ~ w y -I ~, OO s- x o Tí O B* _ -r — r OT O' b < N- = p CO ^•oo B* i-i^ J-1 p. 2i: co ^ , a ít* b b- c ^' a a b ró 5 < uľ; ^. - a- 2 5" ^ r* O b d_ b ?r . p y: 'X. — s. 1-, ^ — ins c t—» -I O <' n p k— w *-s a. CO o o pu" p •-i p N3 t' p - ^ -u -i p n o' p g í?' CO t Ir- C3 p •-i p s *B pr • c c p 5 n *0 <~ p- p p Znuk0log - Vol. 3 (1991) J van LEEI/WEX-Tl'R.NOVCOVÄ (Berlin) KKl'MM und DREHEN im Kulturparadigma der ORDNrNC IS. NARSKIJ (Moskva) Zur Frage des Verhältnisses zwischen Zeichen und Abbild A. NIEW1ARA (Katowice) Das Stereotyp des Deutschen in der polnischen konspirativen Presse des Zweiten Weltkriegs...... A. 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