u DAS WAGNIS i »Willst, du es wirklich tun?«, fragte Katja, als Adam die Augen öffnete. Wie sie so dalag und ihn ansah, eine Hand unter der Wange, wirkte sie wie ein Kind. Er drehte sich zur Seite, um seine Erektion zu verbergen. Fast neun Stunden hatte er geschlafen. Die Schildkröte knabberte an Brotkrumen. »Geht's dir besser?«, fragte er. »Glaub schon.« »Warum darfst du nicht nach Ungarn?« »Ich hab's gar nicht beantragt. Niemand, den ich kenne, hat so ein Visum gekriegt, bis auf eine. Und bei der haben sie es am nächsten Tag wieder abgeholt. Sind nach Hause, haben geklingelt, und weg war's, ohne Begründung.« »Gibt's denn hier keine grüne Grenze?« »Die Donau.« »Ich meine die Landgrenze, die ist doch viel länger?« »Dort ist es schwierig, das bewachen sie besser, überall Zäune, dort kennt sich niemand aus. Was glaubst du, warum die alle hier sind. Die haben nur Schiss vor der Donau.« »Und wenn sie uns hopsnehmen?« »Werden sie nicht.« Katja stützte sich wie Adam auf den Ellbogen. »Die Ungarn sind kein Problem, die winken dich durch. Und die Tschechoslowaken kontrollieren nur die Ausweise. Die durchwühlen keine Autos mehr.« 77 » 1 »Woher weißt du das?« »Das sagt dir jeder. Wenn sie hier was wissen, dann das.« Adam stand auf und Öffnete die Tür. Der Himmel war bedeckt. Aus einem Zelt hörte er Kinderstimmen. Ein Mann in Gummistiefeln trug einen vollen Wasserkanister zu seinem Wohnwagen. «Bin ich der Erste, den du fragst?« »Ja.« Adam ging zum Waschraum. Auf dem Rückweg kaufte er zwei Milchflaschen, sechs Hörnchen und ein Glas Erdbeerkonfitüre. Katja nahm ihm das Glas ab. Die Schildkröte schob sich durch das dünne Gras. »Geh dich waschen, ich mach den Rest.« »Wir müssen uns nicht beeilen, so früh ist nicht gut.« »Ich denk, die kontrollieren immer nur die Ausweise?« »So gegen zehn gibt's meistens ne Schlange, dann nehmen die es nicht so genau. Das haben die hier ausspioniert, mit Fernglas.« Adam setzte sich neben sie auf die Holzbank vor der Hütte. »Prost«, sagte er. Sie stießen mit den Milchflaschen an. »Ich danke dir.« »Reden wir nicht davon, am besten, wir vergessen das.« »Vergessen?!« Katja starrte ihn an. »Leise«, zischte Adam. »Das mein ich nicht. Ich hab schon gar nicht mehr dran gedacht. Das ist das Beste. Die merken doch, wenn man an so was denkt.« »Wir können ja bis morgen warten.« »Wegen der Wäsche? Die ist fast trocken.« »Um uns vorzubereiten.« »Aber nicht hier, nicht bei diesen Affen, das ist mir zu gefährlich.« »Idioten gibt's überall.« ) Adam fuhr mit dem Hörnchen ins Glas. Die Konfitüre fiel wieder von der Spitze. Er versuchte es ein zweites Mal, beugte sich tief hinunter und biss schnell ab. Katja klappte die große Klinge eines Schweizer Taschenmessers auf und nahm ihm sein Hörnchen ab. »Oh, die Dame hat Westkontakte?« »Von meinem Freund.« »Ein Schweizer?« »Nee, Japaner.« »Ein Japaner? Sind die nicht ein bisschen klein für dich?« »Wieso?« »Muss schon ein wenig zusammenpassen. Und wenn du einen Kopf größer bist, für Männer ist so was immer ...« »Quatsch. Meiner ist so wie du, sogar ein Stückchen länger.« Katja hatte das Hörnchen aufgeschnitten, bestrich es mit Konfitüre und reichte ihm eine Hälfte. »Willst du nach Japan?« »Mal sehen.« »Kann der dich nicht heiraten? Wäre einfacher.« »Der ist schon verheiratet.« »Na, gratuliere. Und seinetwegen willst du weg?« »Du etwa nicht?« »Ich nicht. Ich mach da Urlaub.« Katja lachte. »Eins a in Konspiration.« Sie streckte ein Bein aus, so dass ihre Zehenspitzen direkt vor der Schildkröte erschienen. »Renn nicht weg«, sagte Katja. »Ich will wirklich nicht abhauen«, sagte Adam. »Geht doch auch gar nicht. Denkst du, die Ungarn machen die Grenze auf?« »Haben sie schon gemacht, sind alle rübergerannt.« »Wer ist rübergerannt?« »Na unsere. Weißt du das nicht? Die haben die Grenze auf- r gemacht, und ein paar hundert Leute sind gerannt und gerannt und weg waren sie.« »Wann soll das gewesen sein?« »Am Sonnabend, vor drei Tagen.« »Die Grenze ist doch nicht offen!« »Jedenfalls war sie mal offen. Was ist denn? Ärgert dich das? Die aus der Botschaft sind auch schon alle raus.« Adam schüttelte den Kopf und trank die Milchflasche bis auf einen kleinen Rest leer. »Was willst du denn im Westen — oder in Japan?« »Das ist ne Frage! Besser leben, überhaupt leben!« »Und bisher, hast du nicht gelebt?« »Ich will das nicht mehr, eingesargt bis zur Rente, nichts kannst du machen, nichts.« »Findest du?« Katja sah zu Boden. »Ich muss dir was sagen.« »Das geht ja gut los.« »Ich war allein in der Donau.« »Du meinst, die anderen - da ist gar niemand verschwunden?« Katja nickte. »Ich dachte nur ...« »Was?« »Eigentlich hab ich gar nichts gedacht - ich weiß auch nicht, warum ich das gesagt habe.« »Hast du jemanden, der dir drüben hilft?« »Unsere ganze Verwandtschaft ist drüben. Ich will studieren. Und irgend ne Arbeit nebenbei findet sich schon. - Was ist denn daran so komisch?« »Na ja, wenn man sich jemanden in den Kofferraum lädt -da will man schon wissen, ob das nur so ne Schnapsidee ist.« »Und du, hast du ein Quartier in Ungarn?« »Ja, in Badacsony, am Balaton, Freunde von Evi.« ) »Deine Frau?« »Kann man so sagen.« »Und wo ist sie jetzt?« Katja hielt ihm die andere Hälfte des Hörnchens hin. »Die wartet dort.« »Ihr macht tatsächlich Urlaub?« »Ja, klar. Evi muss im September wieder arbeiten. Und ich hatte noch zu tun. Da ist sie mit ner Freundin schon los.« »Verstehe.« Nach einer Weile, in der sie schweigend aßen, fragte Adam: »Wieso vertraust du mir eigentlich?« »Ich hab nicht groß nachgedacht. Ich hatte ja keine Wahl.« »Hattest du schon.« »Ich hab dich gesehen. Alle haben rausgeschaut, wegen des Wartburgs. Mit so ner ollen Pritsche fährt kein Spitzel.« »Na gerade! Noch nie was von Tarnung gehört, Mimikry des Gegners?« »Ach, komm, ganz blöd bin ich nicht. Und dann noch Elfi, das ist ganz schön schräg, musst du schon zugeben.« »Ich sag ja, Mimikry.« »Und wieso glaubst du mir? Vielleicht bin ich ja der Spitzel. Junge Frau hängt sich an allein reisenden Mann und liefert ihn als Schleuser ans Messer. Siehste, da machst du große Augen.« »Ist doch Quatsch.« »Wieso? Wer hat denn wen angesprochen?« »Du meinst, der Trick mit dem schutzbedürftigen Mädchen ...« Katja zuckte mit den Schultern. »Warum nicht?« Adam schraubte das Glas zu, trank die Milch aus, wischte sich über den Mund und sah Katja an. »Ich weiß jetzt, wie es in Wirklichkeit ist. Wir sind beide von ŕ der Staatssicherheit und kontrollieren die Glaubwürdigkeit des anderen Mitarbeiters.« »Das ändert auch nichts«, sagte sie. »Und ob. Uns passiert so oder so nichts. Ich bringe dich rüber, weil ich auskundschaften will, wie es dort weitergeht, wen du triffst, wo du über die Grenze willst, und du ...« »Ach, hör auf jetzt.« Katja lief der Schildkröte nach und setzte sie wieder in den Karton. »Dann denk doch einfach an den Balaton oder den Kilimandscharo.« » Kilimandscharo ?« »Wie heißt denn der Berg, der mit dem Schnee drauf?« »Du meinst den Fuji?« »Ja, denk an den Fuji.« »Kümmerst du dich um das Zelt? Ich hol die Wäsche. Sie müssen dir dein Geld wiedergeben, die Hälfte zumindest.« »Werde ich ausrichten«, sagte Adam und sah ihr nach, wie sie in seinem Pullover und seinen Hosen und den Wanderschuhen zum Waschraum ging. Nach wenigen Kilometern, kurz hinter dem Dorf Nová Stráž hielten sie an einem Feldweg, den hohes Gras und Büsche säumten. Adam fuhr rückwärts hinein, bis er eine leichte Biegung erreicht hatte. Dort öffnete er den Kofferraum, nahm die beiden Kanister und verstaute sie, auf die Längsseite gelegt, hinter den Sitzen. Koffer, Luftmatratzen, Schlafsäcke und Beutel drapierte er so, dass die Kanister nicht zu erkennen waren. Katja schlug die Decke einmal zusammen und breitete sie zwischen dem Halbrund der Radkästen aus. Die Plastetüten mit ihrer Wäsche legte sie sich wie Kissen zurecht oder stopfte sie an die Seiten, als wollte sie den Kofferraum abdichten. ; »Also, denk an den Fuji.« Er hielt ihr eine Hand hin, um ihr beim Einsteigen zu helfen. »Ich muss noch mal«, sagte sie und ging ein Stück den Weg weiter. »Du musst dich umdrehen!« Adam stellte sich in das hohe Gras, pinkelte ebenfalls und beobachtete die wenigen Wagen, die vorüberfuhren. Als er zurückkam, lag Katja bereits mit angezogenen Knien im Kofferraum. Sie drehte sich auf den Rücken und dann auf die andere Seite. »Größer, als ich dachte«, sagte sie. »Wird eng«, sagte er und reichte ihr die blaue Kraxe. Katja stieß sich am Kinn, als sie versuchte, die Kraxe an sich zu drücken. »Das wird nichts, lass mal«, sagte er. Adam stellte die Kraxe neben den Wagen, bedeckte Katja mit der Wäsche aus einer der Tüten und legte zum Schluss eine Regenjacke auf ihre Schuhe. »Hier entdeckt dich niemand«, sagte er. »Adam, ich sag's dir lieber schon jetzt: Danke!« »Nicht singen oder grölen oder rumschaukeln, verstanden? Keine Angst, jetzt wird's dunkel.« Er warf die Klappe zu. Das Heck war auf die Hinterachse gesunken. »Du musst nach vorn rutschen«, sagte er, nachdem er den Kofferraum wieder geöffnet hatte, »so weit es geht, hier ran.« »So?«, fragte Katja und drückte sich mit Rücken und Schultern in den Kofferraum hinein. »Kann ich dir noch Elfi geben?« Katja zog das T-Shirt vom Kopf und nickte. »Ja, gib sie her, das ist schön.« Adam stellte den offenen Karton mit der Schildkröte hinein, Katja drückte ihn an sich. »Adam?« Sie blinzelte ein wenig. »Wenn es schiefgeht, dann sag die Wahrheit. Die Wahrheit ist das Beste.« r »Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.« »Genau.« »Bis gleich«, sagte Adam. Er setzte sich ans Steuer und startete den Wagen. »Hörst du mich?« »Was?« »Kannst du mich verstehen?« »Mach schnell«, rief Katja. Adam nickte und fuhr an. 84 ) 15 MIT LEEREH HÄNDEN Vor der Grenzkontrolle in Komárno waren die beiden Autoschlangen gleich lang. Adam wechselte im letzten Moment auf die rechte Spur, weil er dort zwei Wohnwagen ausgemacht hatte. Seine Uhr war stehen geblieben. Er kurbelte die Scheibe nach unten und fragte die Frau auf dem Beifahrersitz im benachbarten Wagen nach der Zeit. Der Mann am Steuer hob seinen linken Arm, die Frau ergriff ihn, drehte ihn ein Stück und rief: »Acht Minuten nach zehn! Gleich neun nach.« Adam bedankte sich, stellte die Uhr auf zehn nach zehn und zog sie auf. Die meisten Wagen hatten ein DDR-Kennzeichen. Die beiden alten Leute in dem ungarischen Trabant vor ihm saßen so reglos da wie Puppen, links der kantige Schädel mit den abstehenden Ohren, die Frau mit Kopftuch. Das Paar erschien ihm als der Inbegriff von Rechtschaffenheit und Harmlosigkeit. Vielleicht würde etwas von diesem Eindruck auf ihn übergehen, oder würde ihm gerade der Kontrast zum Verhängnis werden? Auch die Familie im Škoda hinter ihm starrte bewegungslos nach vorn. Wahrscheinlich wirkte er selbst nicht viel anders. Hätte er einen Wunsch frei gehabt, dann den: vor dem roten Passat in der Reihe zu stehen und Evelyn als Zeugin zu haben. Er wurde keine Miene verziehen, wenn sie von ihm verlangten, die Kofferraumklappe zu öffnen. Selbst wenn sie