1.1.2 Kurzer Abriss sorbischer Geschichte bis 1949 1.1.2.1 Die Vor- und Frühgeschichte Als Sorben (surbi, sorabi[1]) wurden im Früh- und Hochmittelalter zunächst alle westslavischen Stämme zwischen Saale und Mulde bezeichnet, die im 8. Und 9. Jahrhundert im Zuge der Völkerwanderung und politischer Verschiebungen in die Nachbarschaft der Elbslaven und der Franken gerieten. Der Begriff "Wenden" geht auf die römischen Geschichtsschreiber Plinius den Älteren und Tacitus sowie den griechischen Geographen Ptolemaios zurück, die alle slavischen Stämme, die im ersten Jahrhundert n. Chr. zwischen den Karpaten und der Ostseeküste auftauchten, als Venedi bezeichneten. Während die Sorben (Wenden) in der Oberlausitz in der Mehrheit diesem Begriff heute einen pejorativen (abwertenden) Charakter beimessen und ihn deshalb zur Selbstbezeichnung nicht gebrauchen, verwenden die Niedersorben zu ihrer deutschsprachigen Selbstbezeichnung die Begriffe "Sorben" und "Wenden" nebeneinander. Dabei muss betont werden, dass in der sorbischen (wendischen) Eigenbezeichnung diese Unterschiede keine Rolle spielen, da sie hier nur Serb (Substantiv maskulin) bzw. Serbowka (Substantiv feminin) und serbski (Adjektiv maskulin) lautet. Die Ergebnisse der archäologischen Forschung und der Sprachwissenschaft zeigen, dass sich die Elbslaven zwischen Saale und Neiße kulturell sehr nahe gestanden haben; das Gleiche gilt auch für die Beziehungen nach Schlesien und Böhmen. Nach Süden bildeten vor allem die Täler von Elbe und Neiße eine kulturelle Brücke. In der sogenannten Fredegar-Chronik werden für 631/32 erstmals Wenden erwähnt, die „zu wiederholten Malen in Thüringen und anderen Gauen (pagi) des Frankenreiches einfielen, um sie auszuplündern; ja sogar Dervanus, der Dux des Volkes der Sorben (Dervanus dux gente Surbiorum), die von slavischer Herkunft waren und schon von jeher zum Reiche der Franken gehört hatten, unterstellte sich mit seinem Volk dem mährischen Reich Samos. Nach weiteren Überfällen wurde der Dux Radulf, der Sohn Chamars, durch Dagobert als Dux in Thüringen eingesetzt, um die Wenden zu bekämpfen, doch verbündete sich Radulf bald darauf mit den Slaven.“ Während es in Böhmen und Mähren seit dem späten 7. Jahrhundert zu ersten Reichsbildungen und seit dem 9. Jahrhundert zur Entstehung stabilerer frühfeudaler Staatsgebilde kam, gab es bei den Slaven zwischen Saale und Neiße bis zur Eroberung durch die Deutschen keine überregionalen politischen Strukturen. Die Slaven lebten vornehmlich als Bauern in kleinen Stammesverbänden, die jeweils nur einige Dutzend recht kleiner dörflicher Siedlungen umfassten. Die Gesellschaft der WestSlaven war aber schon deutlich in die Masse abhängiger Bauern und eine schmale adlige Herrschaftsschicht gegliedert. Aus der letzteren rekrutierten sich auch die Stammes- oder Gaufürsten, die in den fränkischen Quellen meist dux (= Herzog, Fürst) genannt werden. 1.1.2.2 Die Sorben im Hochmittelalter Nachdem Heinrich I. 926 einen zehnjährigen Waffenstillstand mit den Ungarn geschlossen hatte, nahm er die Ausdehnung seiner Macht an der Ostgrenze des Reiches in Angriff. 927 bis 929 führte er einen groß angelegten erfolgreichen Feldzug zur Unterwerfung der slavische n Stämme östlich der Elbe. Seinen Vormarsch sicherte der König durch die Anlage zahlreicher Burgen. Die wichtigste dieser Gründungen war 928/929 Meißen. Zum Reich gehörte nun das gesamte sorbische Siedlungsgebiet inklusive der von den Lusici und Milzenern bewohnten Länder, der späteren Nieder- bzw. Oberlausitz. Seit dieser Zeit leben die Sorben in engem Kontakt und in Gemeinschaft mit ihren deutschen Nachbarn. Davon wurde die sorbische Geschichte entscheidend geprägt. Zu Beginn der frühen Neuzeit wurde der Volksname Sorben allmählich auf die siedelnden Lusici (= Niedersorben/Wenden) und Milzener (Obersorben) übertragen, die in den früh- und hochmittelalterlichen Quellen noch deutlich von den Sorben geschieden wurden. Wichtiger blieb bis ins 19. Jahrhundert hinein aber die deutsche Bezeichnung Wenden, die von Anfang an ein Oberbegriff für die östlich der alten Reichsgrenze lebenden slavische n Völker gewesen war. In der Sprachwissenschaft werden heute die Sprachen der südlichen ElbSlaven bzw. deren überlieferte Reste insgesamt als sorbisch bezeichnet. Gero, der von Kaiser Otto I. 937 eingesetzte Markgraf der Sächsischen Ostmark (sie umfasste das gesamte Gebiet zwischen Elbe, Havel und Saale) führte die gewaltsame Unterwerfung der Sorben fort. 939 lud er 30 slavische Fürsten zu einem Gastmahl ein und ließ sie ermorden. Die Bluttat, die in dem epischen Werk des Niedersorben Mato Kosyk beschrieben wird (vgl. Kosta/Norberg 2003) hatte einen Aufstand der Slaven zur Folge. In mehreren Kriegszügen besiegte Graf Gero bis 965 die Milzener, Lusici und Liutizen und dehnte die deutsche Herrschaft bis an die Oder aus. Während die Slaven im heutigen Brandenburg ihre Selbstständigkeit durch einen großen Aufstand 983 noch einmal für längere Zeit zurückgewinnen konnten, war die Unterwerfung der Sorben endgültig. Die Herrschaft über die Lausitz und den Gau Milska wurde den Deutschen nur noch einmal (1002) durch den Polenherzog Bolesław Chrobry für einige Jahre erfolgreich streitig gemacht. Aber auch Bolesław behandelte die Sorben als unterworfenes Volk. Im 10. Jahrhundert begann die christliche Kirche bei den Slaven im Elbe-Saale-Gebiet und in der Lausitz mit der Missionierung. Die Befestigung der deutschen Herrschaft und die Schaffung kirchlicher Strukturen gingen dabei Hand in Hand. Kaiser Otto II. gründete 968 das Erzbistum Magdeburg mit den Suffragen Zeitz, Merseburg und Bistum Meißen. Sorben, Milzener und Lusici mussten dem Bischof von Meißen den Zehnt entrichten. Parallel erfolgte unter den Markgrafen der sorbisch besiedelten Gebiete – die große Mark Geros war nach seinem Tod in mehrere kleinere Territorien untergliedert worden (Nordmark, Mark Lausitz, Mark Meißen, Mark Zeitz und Mark Merseburg) – die Einrichtung von Burgwarden. Die unterworfenen Gebiete wurden an deutsche Adelige zu Lehen gegeben, die neuen Herren errichteten Burgen und erhielten Abgaben von den zugehörigen slavische n Dörfern. Die einzelnen Herrschaftsbezirke wurden Burgward genannt. Zum Teil trat der deutsche Adel dabei nur die Nachfolge der sorbischen Stammesfürsten an. Die ehemalige slavische Führungsschicht war durch die vorangegangenen Kriege dezimiert, ihre Reste wurden in untergeordnete Stellungen abgedrängt. Noch lange gab es slavische župane. Diese Richter entschieden nach dem alten sorbischen Gewohnheitsrecht über die unterworfene Bevölkerung. Wie auch die in der Oberlausitz noch im 16. Jahrhundert vorhandenen Lehnbauern, so waren die Župane möglicherweise Nachfahren des sorbischen Adels. Anders als etwa in Mecklenburg kam es in der Mark Meißen oder in den Lausitzen kaum vor, dass Slaven in den Ritterstand aufstiegen. Für die Masse der sorbischen bäuerlichen Bevölkerung änderten sich die Lebensumstände zunächst wenig. Wie schon vor der deutschen Eroberung waren sie Leibeigene, hatten kein Besitzrecht an den bewirtschafteten Äckern und mussten hohe Abgaben an den Lehnsherren leisten – mindestens ein Drittel ihrer Erträge. Dazu kam nun aber noch der Zehnte für die Kirche. Umstritten ist in der Forschung, ob weitere Leistungen (Spanndienste, Wachdienst oder Wachkorn für den Burgherren u. a.) erst unter der deutschen Herrschaft eingeführt wurden oder schon davor existiert hatten. Die deutschen Lehnsherren ließen ihre Untertanen weiter unter dem slavische n Gewohnheitsrecht leben, denn dadurch war deren Rechtsstellung bedeutend schlechter als die der deutschen Bauern, die unter sächsischem Recht standen. ________________________________ [1] Zur Etymologie des Ethnonyms vgl. Schuster/Šewc (1985).