Pragmatik: Handeln mit Sprache Max von der Grün (*1926) „Worte können verletzen - oder helfen“ Weil ich selbst einen zehnjährigen Jungen habe, der im Rollstuhl gefahren werden muß, habe ich diese Geschichte von den Krokodilen geschrieben. Auch mein Sohn muß oft warten, bis Nachbarjungen kommen und ihn abholen, zum Fußballplatz mitnehmen oder zum Minigolfplatz. Es ist schwer für einen Jungen, nicht einfach mit den anderen Jungen weglaufen zu können, immer warten zu müssen, bis ihm einer hilft. Und wenn ihr in eurer Nachbarschaft einen Jungen und ein Mädchen seht, die behindert sind, denkt daran, dass es jeden treffen kann, seid freundlich zu ihnen, versucht zu helfen. Oft ist schon viel geholfen, wenn ihr freundliche Worte findet, denn Worte können verletzen – oder helfen. Max von der Grün, Vorstadtkrokodile. Eine Geschichte vom Aufpassen, rororo rotfuchs 171, Hamburg 1978, S. 5. Im letzten Satz ist von Worten die Rede, nicht von Wörtern. Die Pluralform Worte gehört zu der Verwendung von Wort in der Bedeutung ÄUSSERUNG, wie sich leicht in einem Wörterbuch überprüfen lässt. 2. etw., was jmd. als Ausdruck seiner Gedanken, Gefühle o.ÿÄ. zusammenhängend äußert; Äußerung: ein W. des Dankes; Worte des Trostes; aufmunternde, beschwichtigende, freundliche, anerkennende, verletzende, scharfe, harte, überflüssige ihm ist ein unbedachtes W. entschlüpft; uns ist kein böses W. gefallen; das W. an jmdn. richten (jmdn. ansprechen, zu jmdm. sprechen) jmdm. das W. abschneiden (ihn unterbrechen, am Weitersprechen hindern); er hat mir kein [einziges] W. (gar nichts) davon gesagt; die richtigen, passenden -e für etw. finden; usw. Max von der Grün spricht also sprachlichen Äußerungen die Fähigkeit einer Wirkung auf den Menschen zu; z.B. die Fähigkeit zu verletzen (in der Bedeutung KRÄNKEN) oder zu helfen. 2. Handeln durch Sprechen Sprachliche Äußerungen können in vielfältiger Weise in das menschliche Handeln eingebettet sein oder selbst Handlugen sein; man nennt sie unter diesem Aspekt Sprechakte. Zum einen gibt es Handlungen, die überhaupt nur durch sprachliche Äußerungen vollziehbar sind, z,B. das Taufen. Die Handlung des Drohens kann man dagegen außer durch sprachliche Äußerung auch durch Gebärden vollziehen. Mit Sprechakten des Grüßens und Verabschiedens werden soziale Kontakte hergestellt und aufrechterhalten. Mit Sprechakten des Versprechens geht man Verpflichtungen ein. Mit Sprechakten wie Bitte, Aufforderung, Befehl sucht man den Angesprochenen zu bestimmten Handlungen zu veranlassen. Verben, die Sprechakte bezeichnen nennt man performative Verben, also z.B. drohen, warnen, versprechen usw. Mit solchen Verben lässt sich die illokutive Funktion einer Äußerung beschreiben. . Die Äußerung als solche wird Lokution genannt. Sie kann z.B. aus dem Wort Vorsicht bestehen. Wenn man etwa formuliert Sie warnte ihn mit dem Ausruf: „Vorsicht!“, wird der lokutive Alt des Vorsicht-Rufens zugleich in seiner Illokution, also als Sprechakt des Warnens charakterisiert. Der erfolgreiche Vollzug des Sprechakts, hier also das Gelingen der Warnung, wird Perlokution genannt. Wenn performative Verben in bestimmten deiktischen Zusammenhängen verwendet werden, vollziehen sie selbst den durch sie bezeichneten Sprechakt: Ich taufe dich hiermit auf den Namen Bettine. In dieser Verwendung in der 1. Person Singular Indikativ Präsens mit der deiktischen Personalpronomen der 1. und 2. Person und dem ebenso deiktischen Adverb hiermit handelt es sich um eine explizit performative Äußerung: Die Handlung der Taufe wird durch das Äußern des Verbs taufen vollzogen. Demgegenüber hätte eine Äußerung in der 3. Person im Präteritum lediglich eine kommentierende Funktion: Er taufte ihn mit den Worten /…/. Der Sprechakt der Taufe wird zwar identifiziert, aber keineswegs vollzogen. DEFINITION: Deixis bezeichnet die sprachliche Zeigefunktion; deiktisch heißen die sprachlichen Elemente, mit denen der Sprecher auf sich selbst und seine Situation und von hier aus auf anderes zeigen kann (z.B. ich, hier, jetzt). Im Hinblick auf die zitierte Vorwort Max von der Grüns lässt sich die Frage stellen, welche Intention der Sprecher mit der Äußerung verfolgt, welcher Sprechakt vorliegt. Der Autor begründet, warum er die Geschichte geschrieben hat: Er hat selbst ein behindertes Kind und er möchte die jungen Leser der Geschichte zu einem bestimmten Verhalten gegenüber behinderten Kindern veranlassen. Es liegt ein sog. direktiver Sprechakt vor. 3. Syntaktische und semantische Beziehungen im Text Die sprachwissenschaftliche Frage lautet nun, mit welchen sprachlichen Mitteln jemand an jemanden appelliert, sich in einem bestimmten Sinne zu verhalten. Eine Analyse des Textes führt zunächst auf eine große Gruppe, die durch ihre Beziehung auf außersprachliche Gegebenheiten die semantische Komponente enthält: zehnjährig, Junge, Rollstuhl, fahren, Geschichte usw. Aus der Bedeutung der einzelnen Wörter baut sich die Bedeutung der einzelnen Sätze auf. An einer kleinen Gruppe von Wörtern wird die syntaktische Komponente fassbar: weil, auch, bis, und, wenn, dass, oder und andere bezeichnen keine außersprachlichen Sachverhalte, sie fungieren innerhalb der Sätze als verknüpfende Elemente. Die syntaktische Komponente wird auch und vor allem in den grammatischen Formen erkennbar, z.B. in den Kasus der Substantive, Adjektive und Artikel: einen Jungen, freundliche Worte. Außerdem drückt die syntaktische Komponente sich auch in der Anordnung der einzelnen Elemente aus und in ihren Abhängigkeits- und Kongruenzbeziehungen, z. B. in dem Komplex einen zehnjährigen Jungen…, der im Rollstuhl gefahren werden muß. Die semantische Beschreibung der Wörter und die syntaktische Analyse der Flexion und der syntaktischen Funktionswörter erschließt aber noch nicht den Sinn des Textes. Es könnte auch mit ganz anderer Intention vom Erzählen einer Geschichte von einem zehnjährigen Jungen im Rollstuhl die Rede sein. 4. Die pragmatische Komponente Die Beziehung auf die Handlungsebene wird zunächst vor allem an Elementen des Textes erkennbar, die mit Semantik und Syntax nicht hinreichend erklärt werden können: Ich selbst, diese, mein, ihr, eurer Diese Wörter erscheinen zwar innerhalb von Satzgliedern und Sätzen und stehen somit selbstverständlich auch in syntaktischen Beziehungen. Anders als bei Wörtern wie und, oder usw. erschöpft sich ihre Funktion aber nicht in diesen syntaktischen Beziehungen. Diese Wörter haben auch Anteil an der Verweisfunktion auf die außersprachlichen Sachverhalte. Der Unterschied dieser Wörter zu den Wörtern vom Typ Junge lässt sich folgendermaßen fassen: Junge verweist auf die außersprachliche Gegebenheit KIND MÄNNLICHEN GESCHLECHTS, ich hingegen verweist nur auf den, der ich sagt. Erst der unter dem Text stehende Eigennahme Max von der Grün stellt den Bezug auf eine außersprachliche Gegebenheit, eben den Autor her. Das sprachliche Element ich hat die Funktion, auf den Sprecher in einer Sprechsituation zu verweisen. Das Wort ihr verweist auf die Angesprochenen in derselben Sprechsituation. Entsprechendes gilt für die Possesivpronomina mein und eurer. Das Demonstrativpronomen diese vor dem Substantiv Geschichte verweist aus der Sprechsituation auf die bestimmte, dem vorliegenden Vorwort folgende Geschichte. Die Beziehung sprachlicher Zeichen auf die jeweilige Sprechsituation (Sprecher, Angesprochener, Ort, Zeit) heißt pragmatisch. Typische pragmatische Elemente sind also z.B. die Personalpronomen der 1. und 2. Person, sowie alle situativ bestimmten Wörter, wie insbesondere hier, jetzt usw. Derartige Elemente heißen deiktisch, weil sie der sprachlichen Deixis dienen, der Zeigefunktion. Sprechakttheorie als Bedeutungstheorie Die Sprechakttheorie ist – gemäß einigen Theoretikern, nicht aber Austin! – nicht nur eine Theorie des sprachlichen Handelns, sondern auch eine Theorie der Satzbedeutung. Die Sprechakttheorie fordert damit eine Erweiterung des Begriffs der Bedeutung: die Explikation von „Bedeutung“ kann nicht wie in der einseitig an der Logik orientierten Sprachphilosophie ausschließlich unter Rekurs auf Wahrheitsbedingungen geschehen. Sprachlichen Äußerungen bedürfen über die Beurteilung ihres Wahrheitswerts hinaus einer Bewertung unter weiteren Aspekten wie Erfolg oder Missglücken. Sprechakte sind komplexe Handlungen, deren Komponenten hierarchisch übereinander geschichtet sind. Diese Schichtung analysiert die Sprechakttheorie und zeigt dabei, wie man etwas bewirkt, indem man etwas tut, indem man etwas sagt, indem man etwas äußert. Zur Satzbedeutung einer Äußerung wie (1) gehört die Bedeutungskomponente, dass (1) eine Frage ist, zur Bedeutung von (2), dass es sich um ein Verbot handelt. 1. Wo ist denn hier der Bahnhof? 2. Sie dürfen hier nicht rauchen! In diesem Fall spricht man davon, dass die Äußerung eine bestimmte ‚illokutionäre Rolle‘ oder „Illokution“ hat. Sprecher vollziehen illokutionäre Akte, Äußerungen haben „illokutionäre Rollen“ oder „Illokutionen“. Die illokutionäre Rolle einer Äußerung erkennt man an den sog. Illokutionsindikatoren. Zu den Illokutionsindikatoren gehören: * Satzstellung: Peter raucht. vs. Raucht Peter? * Modalpartikeln: Kannst du schweigen? vs. Kannst du mal schweigen? * Sog. performative Verben: Ich bitte dich, mir zu helfen., Ich rate dir, den Job anzunehmen. * Intonation: Du kommst aus Braunschweig? (Satzstellung eines „Aussagesatzes“ mit ansteigender Intonation. Illokution: Frage.) Klassifikation von Sprechakten (Searle) Zur Klassifikation der Illokutionen verwendet Searle zwölf Kriterien, drei davon sind: 1. Illokutionärer Witz Mit dem illokutionären Witz bezeichnet er den Zweck eines Sprechaktes. 2. Ausrichtung Damit ist angesprochen, wie sich reale Welt und Worte zueinander verhalten. Richten sich die Worte nach der realen Welt (wie bei einer Beschreibung) oder soll sich die Welt nach den Worten richten (wie z. B. bei einem Befehl oder einem Versprechen)? 3. Zum Ausdruck gebrachter psychischer Zustand Auf welchem inneren Zustand basiert die Äußerung? Bei einer Beschreibung basiert sie z. B. darauf, dass der Sprecher glaubt, was er sagt. Nach diesen drei Kriterien unterteilt Searle die Illokutionen weiter in fünf Klassen: Repräsentativa/Assertiva Direktiva Kommissiva Expressiva Deklarativa Zweck sagen, wie es sich verhält jemanden zu einer Handlung/Unterlassung bewegen sich selbst auf eine Handlung/Unterlassung festlegen Ausdruck der eigenen Gefühlslage mit dem Sagen die Welt entsprechend dem Gesagten verändern Ausrichtung Wort auf Welt Welt auf Wort Welt auf Wort keine beide psych. Zustand Glaube Wunsch Absicht Zustand Verantwortung jemandens zu einer Tat Beispiele behaupten, mitteilen, berichten bitten, befehlen, raten versprechen, vereinbaren, anbieten, drohen danken, grüßen, beglückwünschen, klagen ernennen, entlassen, taufen Repräsentativa (auch Assertiva^[2], Assertive^[3] genannt) sind Sprechakte wie: feststellen, behaupten, berichten, aussagen, schließen usw. Gemeinsam ist diesen, dass der Sprecher durch sie „auf die Wahrheit oder Falschheit der in der Äußerung zum Ausdruck gebrachten Proposition festgelegt wird“.^[4] Assertiva „verpflichten den Sprecher zur Wahrheit der ausgedrückten Proposition“^[5]. Direktiva oder auch Direktive Sprechakte sind Sprechakte, in denen ein Sprecher seinen Hörer auf die Ausführung einer Handlung verpflichtet. Direktive Sprechakte werden durch direktive Verben festgelegt: auffordern, bitten, befehlen, alle Verben im Imperativ. Kommissiva oder auch Kommissive Sprechakte sind Sprechakte, in denen sich ein Sprecher zur Ausführung einer zukünftigen Handlung verpflichtet. Kommissive Sprechakte werden durch kommissive Verben festgelegt: versprechen, geloben, schwören, drohen, etc. Expressiva oder auch Expressive Sprechakte sind Sprechakte, in denen ein Sprecher seinen psychischen Zustand zum Ausdruck bringt und sich dabei gesellschaftlicher „Aufrichtigkeitsregeln“ bedient. Expressive Sprechakte werden durch direktive Verben festgelegt: danken, gratulieren, entschuldigen, kondolieren, etc. Deklarativa oder auch Deklarative Sprechakte sind Sprechakte, bei denen, auf der Grundlage einer bestimmten sozialen Institution (z. B. Schule, Kirche, Ämter etc.) ein bestimmter Zustand hergestellt wird. Deklarative Sprechakte werden durch deklarative Verben festgelegt: taufen, ernennen, zurücktreten, etc. Beispiele typischer deklarativer Äußerungen sind: * „Hiermit erkläre ich meinen Rücktritt…“ * „Im Namen von …“ * „In meiner Funktion als … erkläre ich …“ Explizite und indirekte Sprechakte Explizite Sprechakte sind z. B. „Ich verspreche hiermit, X zu tun“ oder „Hiermit taufe ich dieses Schiff auf den Namen Y“. Man spricht von explizit performativen direkten Sprechakten. Explizit performativ deshalb, weil ein so genanntes performatives Verb verwendet wird, im ersten Beispiel also „versprechen”, im zweiten „taufen”. Man spricht von direkten Sprechakten, weil die Proposition („X zu tun”) genau dem illokutionären Witz, dem Ziel der Äußerung, entspricht. Dagegen gibt es auch implizite (primäre), direkte Sprechakte. Diese sind wesentlich häufiger. Zum explizit performativen, direkten Sprechakt „Ich verspreche, X zu tun” lautet der implizit performative „Ich werde X tun”, das performative Verb wird also einfach weggelassen. Zudem gibt es – zumindest gemäß Searle – auch noch indirekte Sprechakte. Hier ist das illokutionäre Ziel nicht aus der Proposition erkennbar. Indirekte Sprechakte beziehen sich auf Bedingungen, die für einen Sprechakt(-typ) vorliegen. Man kann z. B. sagen „Gib mir das Salz!“, aber genauso gut kann man sich dabei auch auf eine Einleitungsbedingung für diesen Sprechakt beziehen: „Der Hörer muss in der Lage sein, das Salz zu reichen“; dementsprechend kann man fragen „Kannst du mir mal das Salz reichen?“. Dies ist (wörtlich genommen) eine Frage nach dem Vermögen des Hörers, das Salz zu reichen. Der illokutionäre Akt, den der Sprecher damit vollziehen will, ist aber eine Bitte. Bei indirekten Sprechakten unterscheidet man primäre und sekundäre Illokution. Die sekundäre Illokution ist die wörtliche, also in unserem Beispiel die Frage nach dem Vermögen des Hörers, das Salz reichen zu können. Die primäre Illokution, das eigentliche Ziel der Äußerung, ist hier aber eine Bitte, die man auch durch die Äußerung „Gib mir bitte das Salz!“ vorbringen könnte. Man vollzieht dabei den primären Sprechakt, indem man den sekundären vollzieht. Nach Searles Konzeption der indirekten Sprechakte muss die primäre Illokution (Bitte) über eine komplizierte Abfolge von Schlussfolgerungen aus der sekundären erschlossen werden. Erst nach diesen Schlussfolgerungen erkennt der Hörer nach Searle, dass es sich nicht um eine Frage nach der Handlungsfähigkeit, sondern um eine Bitte handelt. Diese Position ist in der Forschung jedoch nicht unumstritten. Gegner dieser Auffassung führen aus, dass die Äußerung „Kannst du mir das Salz reichen?“ im Deutschen konventionellerweise „Gib mir bitte das Salz!“ bedeutet. Die Hörer müssen das nicht erst mühsam erschließen.