in: Estratto da Sensibilita e Razionalitd nel Settecento, Florenz 15 S.459. 55 E.T.A. Hoffmann, Prinzessin BrambUla, 5. Kapitel. .gf 56 Friedrich Schlegel, Fragment 668; in: ders., KA XVIK, S. 85. 57 »In immer weiter potenzierter. Reflexion« ist eine Anspielung Friedrich Schlegel, Athenäum-Fragment 116; in: ders., KA II, S. 182.1 58 Peter Szondi, Friedrich Schlegel und die romantische Ironie; in: ders.; Satz und Gegensatz, Frankfurt 1976, S. I7f.; Hervorheb. von mir. i $9 Friedrich Schlegel, Athenäum-Fragment 116; in: ders., KA II, S. 1821.J 60 Friedrich Schlegel, Über die Unverständlichkeit; in: ders., KA iy S.369f. 61 Charles Baudelaire, Vom Wesen des Lachens, I.e., S. 293. 61 Ibd., S. 301. 63 Georges Poulet, Mesure de l'instant, Paris 1968, S. 250. 64 Stephen Gilman, The Tower as Emblem; in: Analecta RomanicaA Bd. 22, Frankfurt 1967. Autobiographie als Maskenspiel Die Theorie der Autobiographie wird immer wieder von Fragestellungen und Betrachtungsweisen heimgesucht, deren Problem nicht einfach darin liegt, daß sie in die Irre führen oder an den Haaren herbeigezogen sind, ihr Manko ist vielmehr, daß sie den Blick von vornherein einengen, da sie von unhinterfragten Annahmen über den autobiographischen Diskurs ausgehen, die in Wirklichkeit äußerst problematisch sind. Das hat zur Folge, daß eine solche Theorie stets eine Reihe von hausgemachten Problemen mitschleppt, an denen sie, wie vorherzusehen, scheitern muß. Eines dieser Probleme ist der Versuch, die Autobiographie so zu definieren und zu behandeln, als ob sie eine unter vielen literarischen Gattungen wäre. Da der Begriff der Gattung ebenso eine ästhetische wie eine historische Funktion bezeichnet, steht dabei nicht nur die Distanz auf dem Spiel, die den Verfasser der Autobiographie vor seinen Erfahrungen schützt, sondern auch die mögliche Konvergenz von Ästhetik und Geschichte. Eine solche Konvergenz erhält beträchtliche Bedeutung, besonders wenn es um die Autobiographie geht. Begreift man die Autobiographie als eine Gattung, dann erhebt man sie über den literarischen Status einer bloßen Reportage, einer Chronik oder von Memoiren und weist ihr einen, wenn auch bescheidenen, Platz in der kanonischen Rangordnung der wesentlichen literarischen Gattungen zu. Dies geht nicht ohne Schwierigkeiten, denn die Autobiographie wirkt im Vergleich zur Tragödie oder zur epischen oder lyrischen Dichtung stets ein wenig zweitklassig und dünnblütig, was ein Symptom für ihre Unvereinbarkeit mit der monumentalen Würde ästhetischer Werte sein könnte. Zudem scheint sich die Autobiographie gegen ihre Statuserhöhung zu sträuben. Alle Versuche, sie als literarische Gattung zu definieren, scheinen sich hoffnungslos in Fragen zu verstricken, die ins Leere führen und auf die es keine Antwort gibt. Kann es vor dem 18. Jahrhundert schon eine Autobiographie gegeben haben, oder ist sie ein spezifisches Phänomen der Vorromantik und der Romantik, wie die Vertreter einer Gattungsgeschichte zu glauben geneigt sind? Dann stellt sich aber sofort die Frage nach dem autobiographischen Element in den Bekenntnissen des Augustinus, die trotz der in letzter Zeit unternom- 131 menen heroischen Anstrengungen bei weitem nicht geklärt ist.'l Kann eine Autobiographie in Versform geschrieben sein? Sogar<1 einige der modernsten Theoretiker der Autobiographie verneinen J das kategorisch, wenn sie auch keinen Grund angeben können, j warum das nicht möglich sein sollte. Dann kommt Wordsworths The Prelude als Autobiographie nicht mehr in Betracht, was jedem mit der englischen Tradition befaßten Literaturwissenschaftler kaum einleuchten dürfte. Empirisch wie theoretisch erweist sich die Autobiographie als ungeeignetes Objekt für eine gattungstheoretische Definition; jeder Einzelfall scheint eine Ausnahme von der Regel zu sein; jeder in Frage kommende Text scheint sich dem Zugriff zu entziehen und in benachbarte oder sogar in ganz fremde Gattungen abzugleiten; am entlarvendsten ist vielleicht aber die Tatsache, daß gattungstheoretische Diskussionen, die im Falle der Tragödie oder des Romans eine wichtige heuristische Funktion besitzen, von so lähmender Unfruchtbarkeit sind, wenn es um die Autobiographie geht. Ein anderer, immer wieder eingeschlagener Weg, sich der Autobiographie zu nähern, beruft sich auf den Unterschied zwischen Autobiographie und Fiktion. Dieser Weg ist zwar nicht ganz so unfruchtbar wie der Versuch, sie als Gattung zu klassifizieren, aber zu einem klaren Ergebnis führt auch er nicht. Die Autobiographie scheint auf eine weniger ambivalente Weise als die Fiktion auf tatsächlichen und potentiell verifizierbaren Ereignissen zu beruhen. Sie scheint über eine einfachere Form der Referentialität, der Repräsentation und der Diegese zu verfügen. Sie kann zwar viele Phantasien und Träume enthalten, aber diese Abweichungen von der Wirklichkeit bleiben in einem einzigen Subjekt verwurzelt, dessen Identität durch die unangefochtene Lesbarkeit seines Eigennamens definiert ist: Der Erzähler der Bekenntnisse Rous-seaus scheint durch den Namen und die Signatur Rousseaus auf eine umfassendere Weise definiert zu sein, als es, nach Rousseaus eigenem Bekenntnis, für den Erzähler der Julie gilt. Aber sind wir ; -uns wirklich so sicher, daß die Autobiographie von der Referenz lauf dieselbe Weise abhängt wie ein Photograph von seinem Objekt loder ein (realistisches) Gemälde von seinem Modell? Wir nehmen an, das Leben würde die Autobiographie hervorbringen wie eine Handlung ihre Folgen, aber können wir nicht mit gleicher Berechtigung davon ausgehen, das autobiographische Vorhaben würde seinerseits das Leben hervorbringen und bestimmen? Wird nicht alles, was der Autor einer Autobiographie tut, letztlich von den technischen Anforderungen der »Selberlebensbeschreibung« beherrscht und daher in jeder Hinsicht von den Möglichkeiten seines Mediums bestimmt? Und da das hier vorausgesetzte Funktionieren der Mimesis nur eine Art der Figuration unter anderen ist, so fragt sich, ob die Redefigur vom Referenzobjekt bestimmt wird oder ob es sich umgekehrt verhält: Ergibt sich die Illusion der Ren ferenz nicht als Korrelation der Struktur der Figur, so daß das »Referenzobjekt« überhaupt kein klares und einfaches Bezugsobjekt mehr ist, sondern in die Nähe einer Fiktion rückt, die damit ihrerseits "ein gewisses Maß an referentieller Produktivität erlangt? Gerard Genette formuliert diese Frage in einer Anmerkung zu seiner Diskussion der figurativen Rede bei Proust sehr präzise. Am Beispiel des in der Beschreibung der Begegnung zwischen Charlus und Jupien verwendeten Bildes von den Blumen und den Insekten erörtert Genette eine besonders geeignete Verknüpfung zweier unterschiedlicher Figurations-Schemata. Ihre Wirkung resultiert aus einer^onkc^nitanz^, von der man unmöglich sagen kann, ob sie Tatsache oder Fiktion ist. Denn »es reicht aus«, sagt Genette, »sich selbst (als Leser) außerhalb des Textes (vor ihm) zu lokalisieren, um feststellen zu können, daß die Koordinierung manipuliert worden ist, um die Metapher hervorzubringen. Nur eine Situation, die dem Autor von außen durch die Geschichte oder die Tradition aufgezwungen und daher (für ihn) nicht fiktional ist,... läßt im Leser den Eindruck emergenetiscben Kausjjkät entstehen, bei der die Metonymie als Ursache und die Metapjjgujs Wirkung fungiert, nichf&eTfenvm Falle einer hypothetisch reinen Fiktion stets möglichen Eindruck einer teleologischen Kausalität, Äi 3er die Metapher_der Zweck und die"Metonymie das" Mittel zum ZweclristTEs isTkTar, daß bei Proust jedes aus der Suche nach der verlorenen Zeit genommene Beispiel auf dieser Ebene eine endlose Diskussion in Gang zu setzen vermag zwischen einer Lektüre des Romans als Fiktion und einer Lektüre desselben Romans als Autobiographie. Es ist vielleicht am besten, gar nicht zu versuchen, aus dieser Drehtür herauszukommen.*1 Die Unterscheidung zwischen Fiktion und Autobiographie scheint also keine Frage von Entweder-Oder zu sein, sondern un-entscheidbar. Aber ist es wirklich möglich, wie Genette vorschlägt, innerhalb einer unentscheidbaren Situation zu verbleiben? Wie jeder bezeugen kann, der einmal in einer Drehtür festgesessen *33 hat, ist dieserZustand höchst unbehaglich, und das gilt für unseren Fall erst recht, da dieses Karussell in der Lage ist, sich immer schneller zu drehen, und seine Kreise in Wirklichkeit nicht sukzessiv, sondern simultan zieht. Mit einem Unterscheidungssystem, das auf zwei Klassifikationsmöglichkeiten beruht, von denen sowohl keine als auch beide zugleich zutreffen, laßt sich wohl kaum viel anfangen. Autobiographie ist damit keine Gattung oder Textsorte, sondern eine_Lesfc._Qd£r_ Verstehensfigur, die in gewissem Maße injülen ■ lgx££&?auftritt. Das autobiographische Moment ist der Prozeß einer wechselseitigen_AiigJeicJiuxig der beiden am Leseprozeß beteiligten Sübje¥te, bei der sie einander gegenseitig durch gemeinsame reflexive Substitution bestimmen. Die Struktur impliziert sowohl Unterschiedlichkeit als auch Ähnlichkeit, da der die Subjekte konstituierende substitutive Austausch beides verlangt. Wenn ein Autor sich selbst zum Gegenstand seines eigenen Verständnisses macht, wird diese Struktur TrgfojhtJjigxJlEflDPnri ra nntm inneren Textmerkmal, doch dies macht nur den weiter reichenden, mit jeder Autorschaft verbundenen Anspruch explizit, der immer dann vorliegt, wenn von einem Text gesagt wird, er sei von jemand und dieser Umstand sei für sein Verständnis von Bedeutung. Das heißt aber letztlich nichts anderes, als daß jedes Buch mit einem lesbaren Titelblatt in gewisser Hinsicht autobiographisch ist. Wenn wir aber aus diesem Grund behaupten wollen, alle Texte seien autobiographisch, dann müssen wir aufgrund desselben Merkmals auch"-sagen, kein Text sei autobiographisch. Die Schwierigkeiten der gattungstheoretischen Definition, die jede Beschäftigung mit der Autobiographie infiziert, zeigen sich auch hier wieder als eine immanente Instabilität, die das Modell untergräbt, sobald es entworfen ist. Genettes Drehtür-Metapher hilft uns zu verstehen, warum dies der Fall ist: In ihr wird auch auf die drehende Bewegung der Tropen angespielt, und sie bestätigt, daß das Moment der wechselseitigen Reflexion keine sich ursprünglich geschichtlich ereignende Situation ist, sondern die Manifestation einer sprachlichen Struktur auf der Ebene des Referenten. Das je-iÜem Verstehensprozeß eignende Moment der wechselseitigen vSjjiejeJung offenbart die jeder Erkenntnis, auch der Selbsterkenntnis, zugrundeliegende tropologische Struktur. Die Bedeutung der Autobiographie besteht dann nicht darin, daß sie eine verläßliche Selbsterkenntnis liefert (was sie auch gar nicht tut), sondern darin, J34 daß sie auf schlagende Weise die Unmöglichkeit der Abgeschlossenheit und der Totalisierung aller aus tropologischen Substitutionen bestehenden textuellen Systeme demonstriert (und das heißt, daß es solche Systeme nicht geben kann). s Denn je mehr die Autobiographien durch ihr thematisches InsH stieren auf dem Subjekt, dem Eigennamen, der Erinnerung, deri Geburt, der Liebe, dem Tod und der Wechselseitigkeit der Spiege-! lung ihre kognitive und tropologische Konstitution offenlegen, desto mehr sind sie auch darauf aus, den Beschränkungen dieses Systems zu entkommen. Die Autoren von Autobiographien wie auch die Autoren, welche über Autobiographien schreiben, sind von dem Drang besessen, nicht bei der Erkenntnis stehenzubleiben, sondern Entscheidungen zu treffen und zu handeln und so statt spekulativer auch politische und rechliche Autorität zu gewinnen. Philippe Lejeune zum Beispiel, dessen Arbeiten alle Ansätze zur theoretischen Bewältigung der Autobiographie mit exemplarischer Gründlichkeit behandeln, besteht eigensinnig darauf (und ich sage eigensinnig, weil seine Hartnäckigkeit offenbar weder durch ein Argument noch durch einen Beweis begründet ist), daß die Identität der Autobiographie nicht durch ihre repräsenta-tionale und kognitive Konstitution bestimmt sei, sondern durch Übereinkunft: ihre Identität gründe sich nicht auf Tropen, sondern auf Sprechakte. Der Name auf dem Titelblatt sei nicht der Eigenname eines der Selbsterkenntnis und der Einsicht fähigen Subjekts, sondern die Unterschrift, welche dem Vertrag rechtliche, jedoch keinesfalls Gültigkeit als Erkenntnis verleihe. Daß Lejeune »Eigenname« und »Unterschrift« als austauschbar betrachtet, ist ein Zeichen für die verwirrende Komplexität des Problems. Denn einerseits ist es ihm unmöglich, innerhalb des tropologischen Systems des Namens zu bleiben, so daß er sich genötigt sieht, statt der ontologischen Identität die vertragliche Vereinbarung ins Spiel zu bringen, andererseits aber gerät er, sobald die performative Funktion geltend gemacht wird, sogleich wieder in die Beschränkungen des Kognitiven. Der Leser wird von einer Figur, in der sich der Autor spiegelt, zu einem mit Polizeigewalt versehenen Richter, der die Authentizität der Unterschrift verifiziert und beurteilt, wie es mit der Konsequenz im Verhalten des Unterzeichners bestellt ist, inwiefern er die von ihm unterschriebene vertragliche Ubereinkunft respektiert oder verletzt. Hier muß entschieden werden, wer die transzendentale Autorität be- 135 sitzt, der Autor öder der Leser, beziehungsweise (was auf das gleiche hinausläuft) der Autor von dem Text oder der Autor in dem Text, der seinen Namen trägt. Dieses sich spiegelnde Paar ist durch die Unterschrift eines einzelnen Subjekts ersetzt worden, das nicht mehr im Prozeß eines durch Spiegelungen sich vollziehenden Selbstverständnisses auf sich selbst zurückverwiesen ist. Doch Le-jeunes Art der Lektüre wie auch seine theoretischen Ausführungen zeigen, daß hier die Einstellung des Lesers zu seinem »Vertragspartner« (der in Wirklichkeit gar kein partnerschaftliches »Subjekt« mehr ist) von einer transzendentalen Autorität geprägt ist, die ihm erlaubt, Urteile zu fällen. Die Struktur wechselseitiger Spiegelungen ist nur verdrängt, aber nicht überwunden worden; und in dem Moment, wo wir behaupten, den Tropen entkommen zu sein, befinden wir uns erneut in einem System von Tropen. Jede Beschäftigung mit der Autobiographie sieht sich in dieser Doppelbewegung gefangen: Einerseits besteht die Notwendigkeit, der y Tropologie des Subjekts zu entgehen, andererseits ist diese Notwendigkeit unausweichlich selbst wieder einem Spiegelmodell der Erkenntnis einbeschrieben. Diesen abstrakten Sachverhalt möchte ich nun an der Lektüre eines exemplarischen autobiographischen Texts illustrieren, nämlich an Wordsworths Essays upon Epitaphs.1 Wir betrachten nicht nur den ersten der drei Essays, den Wordsworth auch als Anmerkung zu Buch VII seiner Excursiön beifügte, sondern alle drei in The Friend erschienenen und wahrscheinlich 1810 geschriebenen Essays. Die autobiographischen Komponenten hegen wohl auf der Hand, wenn ein als Essay über Epitaphe angelegter Text selbst zu einem Epitaph wird und sich geradezu zwangsläufig als des Autors eigene Grabinschrift oder Autobiographie darstellt. Die Essays zitieren zahlreiche Epitaphe aus den verschiedensten Quellen, von der Kollektanee John Weevers, Andient Fttnerall Monuments (1631), bis zur Dichtung Grays oder Popes. Aber Wördsworth schließt mit einem Zitat aus seinen eigenen Werken, einer von dem Epitaph und dem Leben eines gewissen Thomas Holme inspirierten Passage aus der Excursiön. Sie erzählt ganz sachlich die Geschichte eines tauben Mannes, der sein Gebrechen kompensiert, indem er die Klänge der Natur durch das Lesen von Büchern ersetzt. Der allgemeine Plot der strategisch als exemplarischer Abschluß !J6 eines exemplarischen Textes erzählten Geschichte ist Lesern von The Prelude sehr vertraut. Sie berichtet von einem Diskurs, der sich über eine Deprivation hinwegsetzt und trotz ihr durchgehalten wird. Die Deprivation kann, wie in diesem Fall, sich schon in frühster Kindheit ereignet haben oder auch als plötzlicher Schock auftreten. Der manchmal katastrophale, manchmal aber auch anscheinend unbedeutende Schock unterbricht einen relativ stabilen Zustand^Man denkt dabei an so berühmte Passagen in The Prelude wie die Hymne auf das neugeborene Kind in Buch II (»Biest the infant babe ...«; II, 232ff.)3, die erzählt, wie sich »der erste poeti-' sehe Geist unsres Menschenlebens« (II, 260 f.) manifestiert. Es wird zuerst ein Zustand des gemeinsamen liebevollen Austauschs und Dialogs etabliert, der abrupt sein Ende findet, wenn es heißt, »die Stützpfeiler meiner Liebe wurden mir genommen«, doch gleich wiederhergestellt wird, wenn es weiter heißt, daß »das Gebäude doch noch stand, als sei's von seinem eignen Geist gestützt« (II, 279 ff.). Oder man denkt an den ertrunkenen Mann in Buch V, der »mitten in der schönen Szenerie von Bäumen, Hügeln, Wasser« plötzlich vom Grunde des Sees »auftaucht, aufrecht, gräßlichen Gesichts, eine Spukgestalt des Schreckens« (V, 448ff.); Wordsworth berichtet anschließend, daß der Junge von neun Jahren, der er damals gewesen sei, in dem Gedanken Trost gefunden habe, solche Szenen bereits aus Büchern zu kennen. Und man denkt vor allem an die nicht weniger berühmte Episode von dem Jungen aus Winander, welche dieser Szene fast unmittelbar voraufgeht. Zahlreiche wörtliche Anklänge verbinden die am Schluß der Essays upon Epitaphs.zitierte Passage aus der Excursiön mit der Geschichte von dem Jungen, der in seinem fröhlichen Nachahmen von einer plötzlichen stillen Ahnung seines Todes und seiner anschließenden Wiedergeburt in der Natur unterbrochen wird. Schon eine frühe Fassung dieser Episode belegt die allgemein akzeptierte Annahme, daß diese in The Prelude immer wieder vorkommenden Sinnbilder der Deprivation, die Krüppel, die Ertrunkenen, die blinden Bettler, die vom Tode gezeichneten Kinder, Sinnbilder für Wordsworths eigenes dichterisches Ich sind. In ihnen offenbart sich die all diesen Texten gemeinsame autobiographische Dimension. Es bleibt aber die Frage offen, wie diese nahezu obsessive Beschäftigung mit Verstümmelung und Verkrüp-pelung, oft in Form des Verlustes eines der Sinne, als Blindheit, Taubheit oder, wie im Schlüsselwort der Episode des Jungen aus 137 Winander, Stummheit, zu verstehen ist und wie tragfähig der sich daraus ergebende Anspruch auf Kompensation und Wiederherstellung überhaupt sein kann. Die Antwort auf diese Frage betrifft auch die Beziehung dieser Geschichten zu anderen Episoden in The Prelude, die ebenfalls Schocks und Unterbrechungen beinhalten, jedoch in einer Stimmung der Erhabenheit gehalten sind, wo der Zustand der Deprivation nicht mehr klar ersichtlich ist. Das weist natürlich über den hier gesteckten Rahmen der Untersuchung hinaus, so daß wir uns damit begnügen müssen, die Bedeutung der Essays upon Epitaphs für das umfassendere Problem des autobiographischen Diskurses als eines Diskurses der Selbstheilung, des Sich-selbst-Wiederherstellens aufzuzeigen. Die von Wbrdsworth in den Essays upon Epitaphs angesichts des Todes erhobene Forderung nach Wiederherstellung gründet in einem konsistenten System aus Gedanken, Metaphern und Sprachstil, das zu Beginn des ersten Essays angekündigt und dann konsequent durchgeführt wird. Es ist ein System der Vermittlungen, das die radikale Distanz eines Entweder-Oder-Gegensatzes in einen Prozeß umwandelt, der gestattet, die Bewegung von einem Extrem zum anderen über eine Reihe von Transformationen zu durchlaufen, welche die Negativität der ursprünglichen Beziehung (beziehungsweise das Fehlen einer Beziehung) unversehrt lassen. , Man bewegt sich, ohne jedes Zugeständnis, von Tod oder Leben zu Leben und Tod. Die schmerzliche existentielle Schärfe des Textes resultiert aus dem vollständigen Wissen um die Macht der Sterblichkeit. Bei Wordsworth wird in keiner Weise bei der alles vereinfachenden Formel von der Negation der Negation Zuflucht gesucht. Der Text konstruiert eine Folge von Vermittlungen zwischen Unvereinbarem: Stadt und Natur, Heide und Christ, Besonderheit und Allgemeinheit, Leib und Grab, die unter dem allgemeinen Prinzip zusammengebracht werden, wonach »Ursprung und Zweck in unauflöslicher wechselseitiger Bedingtheit stehende Begriffe« sind (E I, 51). Nietzsche sagte später in Zur Genealogie der Moral genau das symmetrische Gegenteil - Ursprung und Zweck seien »zwei Probleme, die auseinanderfallen oder -fallen sollten«4 -, und es bereitete den Historikern der Romantik und der Nachromantik kaum Schwierigkeiten, das System dieser Symmetrie zu verwenden, um diesen Ursprung (Wordsworth) mit diesem Zweck (Nietzsche) in einer einzigen geschichtlichen Reise zu vereinigen. Der gleiche Reiseweg, das gleiche Bild des Weges, er- 138 scheint im Text, wenn Wordsworth von den »lebendigen und anrührenden Analogien« spricht, die möglich seien, wenn man »das Leben als Reise« betrachte, die vom Tod unterbrochen, aber nicht beendet werde (E I, 54). Die alles umspannende Metapher für dieses System ist die Metapher von der sich bewegenden Sonne. »Wenn wir auf einer Reise in die Regionen, wo die Sonne untergeht, um den Erdball segeln, so führt uns diese Reise nach und nach in die Gegend, wo wir gewohnt sind, sie aufgehen zu sehen; und wenn wir nach Osten reisen, wo unsere Einbildungskraft die Geburtsstätte des Morgens sieht, so führt uns diese Reise schließlich in die Gegend, wo die Sonne stets unseren Blicken entschwindet. Ganz ebenso ergeht es der nachdenklichen Seele, die auf ihrer Reise in der durch die Sterblichkeit angegebenen Richtung ins Land des immerwährenden Lebens gelangt und die dann, wenn sie ihre Erkundung dieses fröhlichen Landstrichs fortsetzt, schließlich zu ihrem Vorteil und zu ihrem Segen sich wieder ins Land der vergänglichen Dinge, der Tränen und des Leids, zurückversetzt sieht« (E I, 53). In diesem System von Metaphern ist die Sonne mehr als nur ein Naturgegenstand, wenn sie auch als solcher hinreichend ist, einer Kette von Bildern zu gebieten, in der das Leben eines Menschen als ein Baum mit Stamm und Ästen erscheint und die Sprache als etwas »wie die Macht der Gravitation oder die Luft, die wir atmen« (E III, 85), mit der Parusie des Lichts. Von der Trope des Lichts unterstützt, wird die Sonne zu einem Bild sowohl der Natur als auch der Erkenntnis, zum Emblem dessen, was der dritte Essay den »mit absoluter Souveränität über sich selbst ausgestatteten Geist« nennt (E III, 81). Erkenntnis und Geist implizieren Sprache und begründen die zwischen der Sonne und dem Text des Epitaphs aufgestellte Beziehung: Das Epitaph, sagt Wordsworth, »ist dem Tag ausgesetzt; die Sonne blickt auf den Stein hinunter, und der vom Himmel fallende Regen schlägt gegen ihn« (E I, 59). Die Sonne wird zum Auge, das den Text des Epitaphs liest. Und der Essay erzählt uns, woraus dieser Text besteht, indem er ein sich auf Shakespeare beziehendes Gedicht Miltons zitiert: »Was brauchst du solchen schwachen Zeugen deines Namens* (E I, 62)? Bei solchen Dichtern wie Shakespeare, Milton oder Wordsworth selbst braucht das Epitaph nur aus dem »nackten Namen« (E I, 61) zu bestehen, der dem Auge der Sonne bekannt ist. Hier kann von der »Sprache des gefühllosen Steins« gesagt werden, ihr würde eine »Stimme« verliehen (E I, 54), der sprechende Stein bil- 139 1 det das Gegenstück zur sehenden Sonne. Das System geht von der Sonne zum Auge über und von dort zur Sprache als Name und als Stimme. Wir können die Redefigur identifizieren, die hier die zentrale Metapher der Sonne und damit das von der Sonne hervorgerufene tropologische Spektrum vervollständigt: Es ist die Figur der Prosopopöie, die Fiktion der Apostrophierung einer abwesenden, verstorbenen oder stimmlosen Entität, wodurch die Möglichkeit einer Antwort gesetzt und der Entität die Macht der Rede zugesprochen wird. Eine Stimme setzt einen Mund voraus, ein Auge und letztlich ein Gesicht, eine Kette, die sich in der Etymologie des Namens der Trope manifestiert: prosopon poien, eine Maske oder ein Gesicht (prosopon) geben. Die Prosopopöie ist die Trope der Autobiographie, durch die jemandes Name, wie in dem Gedicht Miltons, so verstehbar und erinnerbar wird wie ein Gesicht. Bei unserem Thema, der Autobiographie, geht es um das Geben und Nehmen von Gesichtern, um Maskierung und Demaskierung, Figur, Figuration und Defiguration. .Aus rhetorischer Sicht gesehen sind die Essays upon Epitaphs eine (Abhandlung über die Überlegenheit der Prosopopöie (verbunden imit den Namen Miltons und Shakespeares) über die Antithese (verbunden mit dem Namen Popes). Was Fragen des Stils und der Erzählweise angeht, so zeigt sich hier die Prosopopöie auch als Kurjsr Hes.unmer4dJchejiJÜl^§anges^(ein Kunststück, das in eineP Autobiographie leichter zu bewerkstelligen ist als in einer epischen Erzählung). Die schrittweisen Transformationen geschehen derart, daß die »Gefühle ..., obwohl sie einander entgegengesetzt scheinen, in einer anderen und feineren Beziehung zueinander stehen als der des Kontrastes« (E I, 53). Der Stil des Epitaphs ist von den »nichtssagenden Antithesen« der Satire weit entfernt (E III, 80) , ihn kennzeichnen vielmehr »sanfte Abstufungen oder sachte Ubergänge zu verwandten Eigenschaften« (E III, 81), gleitende Verschiebungen, die sich allein »innerhalb des Umkreises von ruhig nebeneinander bestehenden Eigenschaften bewegen« (E III, 81) . Metapher und Prosopopöie verbinden ein thematisches Pathos mit einem fein differenzierten Stil. Dieser Stil erreicht bei Wordsworth seinen Höhepunkt in einer autobiographischen Erzählung, die sich auf eine echte Dialektik gründet, welche auch das denkbar umfassendste System von Tropen ist. Doch trotz der vollkommenen Abgeschlossenheit des Systems enthält der Text Elemente, die nicht nur sein Gleichgewicht zer- 140 stören, sondern auch sein Produktionsprinzip. Wir haben gesehen, daß der Name, sei es der Eigenname des Autors oder eines Ortes, ein wesentliches Glied in der Kette ist. Aber in der eindrucksvollen Passage, welche die Einheit des Ursprungs und der Bestimmung, von Woher und Wohin durch die Metapher des fließenden Stroms illustriert, beharrt Wordsworth darauf, daß der wörtliche Sinn des toten Buchstabens zwar in der Tat, wie in Miltons Gedicht über Shakespeare, ein Name sein kann, »ein aus einer Landkarte oder von dem wirklichen Naturgegenstand her gewonnenes Bild«, daß aber der »Geist« der Metapher, so unvermeidlich wie die Frage nach dem Woher die Frage nach dem Wohin mit sich bringt, unvermeidlich auf »einen grenzenlosen Behälter jenseits aller Abmessungen« verweist, auf »nichts weniger als die Unendlichkeit« (E I, 51). Die Entgegensetzung von wörtlichem und figu-ralem Sinn funktioniert hier mittels einer Analogisierung mit dem Gegensatz zwischen dem Namen und dem Namenlosen, obwohl das ganze Argument gerade diesen Gegensatz überwinden soll. Das Miltonzitat ist auch noch in anderer Hinsicht bemerkenswert. Es läßt sechs Zeilen des Originals weg, was sicher legitim ist, was aber im Hinblick auf eine andere, verwirrendere Abweichung im Text aufschlußreich ist. Die dominierende rhetorische Figur des epitaphischen oder autobiographischen Diskurses ist, wie wir gesehen Haben, die Prosopopöie, die Fiktion der Stimme-von-jen-" seits-des-Grabes; ein unbeschriebener Stein würde die Existenz der Sonne in der Schwebe lassen. Doch in seinen drei Essays warnt Wordsworth des öfteren nachhaltig vor dem Gebrauch der Prosopopöie, vor der Konvention, dem auf der Straße des Lebens Reisenden von der Stimme des Verstorbenen ein »Sta viator« zurufen zu lassen. Solche chiasmischen Figuren, welche die Zustände des Lebens und des Todes mit den Attributen des Sprechens und des Schweigens überkreuzen, sind, sagt Wordsworth, »von zu konkreter Bitterkeit und zu flüchtig« (E III, 83) - eine merkwürdig formulierte Kritik, da der Trost sich eigentlich aus der Flüchtigkeit speist und die Essays sich gerade um die Konkretheit des trauernden »schweigenden Marmors« bemühen, wie es in Grays Epitaph über Mrs. Clark heißt (E III, 86). Wann immer Wordsworth die Prosopopöie erörtert, und das ist wenigstens dreimal der Fall, zeigt seine Argumentation eine ganz eigentümliche Inkonsequenz. Daß Epitaphe oft so tun, als ob der Verstorbene »von seinem eigenen Grabstein aus spreche«, nennt Wordsworth eine »liebevolle 141 Fiktion«, eine »unwirkliche Vermittlung«, welche »die beiden Welten der Lebenden und der Toten harmonisch vereint« (EI, 60), der also all das gelingt, worauf Thematik und Stilistik des Autobiographischen letztlich ausgehen. Doch im nächsten Absatz heißt es: »Die andere Art jedoch, daß nämlich die Überlebenden in eigener Person sprechen, scheint mir, alles in allem gesehen, bei weitem wünschenswerter zu sein ..., weil sie durch den Ausschluß jener Fiktion auf einer solideren Basis steht« (E I, 60 f.). Gray und Mil-ton werden für Sprachfiguren getadelt, die eigentlich aus der Pro-sopopöie abgeleitet sind. Der Text argumentiert gegen die Verwendung seiner eigenen hauptsächlichen rhetorischen Figur. Wenn das geschieht, dann ist dies ein Zeichen dafür, daß hier eine tiefer liegende logische Verwirrung droht. Die ausgelassenen Zeilen des Miltonschen Gedichts bieten eine Möglichkeit, dieser tiefer liegenden Bedrohung nachzuspüren. In den betroffenen sechs Zeilen spricht Milton von der Belastung, die Shakespeares »mühelose Verse« für jene darstellen, die, wie wir alle, nur eine »schwerfällig sich mühende Kunst« zustande bringen (siehe Kommentar zu Essay I, S. ioj). Er fährt fort: So machst du unsre Phantasie sich ihrer selbst berauben Und läßt versteinern uns vor allzuvielem Sinnen. . (Then thou Our fancy of itself bereaving Dost make us marble with too much conceiving.) Isabel MacCaffrey hat den Inhalt der beiden Zeilen so gedeutet, daß unsere hingerissene Einbildungskraft entrückt wird, aus uns heraus gerückt wird, und unsere seelenlosen Körper wie Statuen zurückläßt. Die Rede von der Versteinerung hätte in den Essays upon Epitaphs unweigerlich die der Prosopopöie innewohnende latente Bedrohung heraufbeschworen, daß man nämlich, wenn man den Tod sprechen läßt, durch die symmetrische Struktur der Trope zugleich auch impliziert, daß die Lebenden mit Stummheit geschlagen und in die Gefühllosigkeit ihres eigenen Todes eingefroren sind. Die liebevolle Fiktion des »Wanderer, halte ein!« bekommt somit eine finstere Nebenbedeutung, die nicht nur eine Vorahnung der Konsequenzen der eigenen Sterblichkeit beinhaltet, sondern unseren gegenwärtigen Übergang in die gefrorene Welt der Toten meint. Man könnte einwenden, daß Wordsworth sich dieser Bedrohung immerhin so klar bewußt ist, daß er ihr noch innerhalb des den Essays zugrundeliegenden kognitiven, so- laren Systems von der Selbsterkenntnis dienenden Spiegelungen einen Platz zukommen läßt und daß die Warnungen vor dem Gebrauch der Prosopopöie eigentlich nur strategisch und didaktisch gemeint sind. Er weiß, daß das Eintreten für einen »Ausschluß« der fiktionalen Stimme und ihre Ersetzung durch die wirkliche Stimme der Lebenden in Wahrheit die Prosopopöie über die Fiktion der Anrede sogleich wieder einführt. Trotzdem muß einen die Tatsache mißtrauisch machen, daß sich diese Aussage nur durch Auslassungen und Widersprüche hindurch geltend macht. Der entscheidende innere Widerspruch des Textes, der zugleich seine beträchtliche theoretische Bedeutung ausmacht, tritt in einem zwar verwandten, aber doch unterschiedlichen Muster auf den Plan. Die Essays wenden sich heftig gegen die antithetische Sprache der Satire und der Invektive und plädieren beredt für eine klare Sprache des stillen Friedens und der heiteren Gelassenheit. Doch wenn wir die berechtigte Frage stellen, welche der beiden Sprachen denn nun im Text vorherrschend ist, die der Aggressivität oder die der Friedlichkeit, so ist klar, daß große Teile der Essays ganz offen antithetisch und aggressiv gehalten sind. »(S)olange-ich nicht leichtfertig urteile, brauche ich es nicht zu dulden, daß irgend jemand, wie sehr meine Landsleute ihn auch verdientermaßen verehren mögen, mir ein Dorn im Auge ist« (E III, 80): eine solche sich auf Pope beziehende Bemerkung und viele ähnliche, an dieselbe Adresse gerichtete Äußerungen sind nicht gerade behutsam. Diese Diskrepanz macht Wordsworth auch ziemlich zu schaffen - es ist eine Diskrepanz, denn es gibt überhaupt keinen Grund, warum Pope nicht mit derselben dialektischen Generosität behandelt werden sollte, wie er sie dem Tod gegenüber an den Tag legt -, und Wordsworth fühlt sich daher genötigt, sich so reichlich in Selbstrechtfertigungen zu ergehen, daß er dafür noch eines Anhangs bedarf. Am heftigsten äußert er sich jedoch nicht über Alexander Pope, sondern über die Sprache selbst. Ein bestimmter Mißbrauch der Sprache wird in den stärksten Ausdrücken gebrandmarkt: »Wörter sind ein zu scheußliches Instrument, als daß man ihnen erlauben dürfte, mit Gut und Böse ihr Spiel zu treiben. Von allen äußeren Kräften sind vor allem sie es, die eine Herrschaft über die Gedanken ausüben. Wenn Wörter keine ... Verkörperung eines Gedankens sind, sondern nur seine Hülle, dann werden sie sich als unheilvolle Gabe erweisen; als eine Gabe von der Art jener vergifteten Gewänder, von denen die Erzählungen aus den H3 142 Zeiten des Aberglaubens berichten, Gewänder, welche die Macht besaßen, ihren Träger zu zerstören und seines Verstandes zu berauben. Wenn sie nicht erhält und nährt und in Frieden läßt, wie die Macht der Gravitation oder Luft, die wir atmen, dann ist die Sprache ein Widergeist...« (E III, 84 f.). Was ist das charakteristische Merkmal der so streng verurteilten Sprache? Der Unterschied zwischen dem absolut Guten und dem radikal Bösen beruht auf dem Unterschied zwischen der Verkörperung eines Gedankens und einer bloßen »Hülle« für ihn, zwei Begriffe, die in der Tat »in einer anderen und feineren Beziehung zueinander stehen als der des Kontrastes«. De Quincey hat diesen Unterschied aufgegriffen und als Möglichkeit interpretiert, notwendige und willkürliche Redefiguren einarider entgegenzusetzen. Aber eine Verkörperung »im Fleische« und eine kleidende Hülle haben im Gegensatz zu den Gedanken, die sie beide repräsentieren, wenigstens eine Eigenschaft gemeinsam, nämlich ihre Sichtbarkeit: sie sind den Sinnen zugänglich. Kurz vor der zitierten Textstelle charakterisiert Wordsworth ganz entsprechend die richtige Art von Sprache als eine Sprache, die sich zum Gedanken »nicht wie das Gewand zum Körper, sondern wie der Körper zur Seele« verhält (E III, 84). Die Reihe Gewand-Körper-Seele stellt eine vollkommen konsistente metaphorische Kette dar: Das Gewand ist die sichtbare Außenseite des Körpers, wie der Körper die sichtbare Außenseite der Seele ist. Bei der so heftig verurteilten Sprache handelt es sich in Wahrheit um die Sprache der Metapher, der Prosopopöie und der Tropen, um die solare Sprache der Erkenntnis, die das Unbekannte dem Geist und den Sinnen zugänglich macht. Die Sprache der Tropen (welche die in wechselseitigen Spiegelungen sich vollziehende Sprache der Autobiographie ist) ist in der Tat wie das die Seele verschleiernde Gewand des Körpers, ein Schleier wie das Gewand, das der schützende Schleier des Körpers ist. Wie kann dieser harmlose Schleier plötzlich so verletzend und tödlich werden wie das vergiftete Gewand Jasons oder das Nessusgewand, dem Herakles erlegen ist? Wie Sophokles in seiner Tragödie Trachiniai berichtet, gibt Dei-aneira ihrem Gatten Herakles das mit dem Blut des Kentauren Nessos getränkte Gewand in der Hoffnung, sich damit seine Liebe zu erhalten. Das Gewand, das die verlorene Liebe zurückbringen sollte, bringt aber nur einen noch viel schlimmeren Verlust, den Verlust des Verstandes und des Lebens. Die Passage aus der Excur- \sion, womit die Essays schließen* erzählt eine ähnliche Geschichte, wenn auch nicht bis zum Ende. Die Taubheit des »gentle Dales-[ man«, des Protagonisten der Erzählung, findet durch eine ganz I folgerichtige Überkreuzstellung ihre äußere Entsprechung in der Stummheit einer Natur, von der es selbst im wütendsten Sturm j heißt, sie sei »still wie ein Bild« (E III, 94). In dem Maße, in dem die Sprache eine Figur (oder Metapher oder Prosopopöie) darstellt, ist sie in der Tat nicht der Gegenstand selbst, sondern seine Repräsentation, das Bild des Dinges, und als solche ist sie still und stumm, so stumm, wie Bilder eben sind. Die Sprache ist als Trope in™er_,2riyativ. Wordsworth sagt von der schlechten Sprache, ' worunter letztlich alle Sprache einschließlich seiner eigenen Spra-j che der Wiederherstellung fällt, sie arbeite »lautlos und unabläs-I sig« (E III, 85). Insofern wir beim Schreiben auf diese Sprache j angewiesen sind, sind wir alle, wie der Talbewohner in der Excur-I sion, stumm und taub - nicht schweigend, denn das hieße, wir könnten uns laut äußern, wenn wir wollten, sondern still wie ein Bild, also für alle Zeit der Stimme beraubt und zur Stummheit verdammt. Kein Wunder, daß der Talbewohner so begierig nach Büchern greift und einen solchen Trost in ihnen findet, da für ihn die äußere Welt in Wirklichkeit schon immer ein Buch gewesen ist, eine Folge von stimmlosen Tropen. Sobald wir die rhetorische [Funktion der Prosopopöie als eine setzende begreifen, die mittels I der Sprache Stimme oder Gesicht verleiht, begreifen wir auch, daß wir nicht des Lebens beraubt sind, sondern der Gestalt und der I Empfindung einer Welt, die nur in der privativen Weise des Ver-stehens zugänglich ist. Tod ist ein verdrängter Name für ein sprachliches Dilemma, und die Wiederherstellung der Sterblich-tkeit durch die Autobiographie (die Prosopopöie der Stimme und ides Namens) beraubt und entstellt genau in dem Maße, wie sie I wiederherstellt. Die Autobiographie verschleiert und maskiert feine Entstellung des Geistes, die sie selbst verursacht. 144 Anmerkungen Shelleys Entstellung 1 Gerard Genette, Figures III, Paris 1972, S. 50. 2 Die von uns verwendete kritische Ausgabe dieser Essays findet sich in: W.J.B. Owen und J.W. Smyser (Hg.), The Prose Works of William Wordsworth, Bd. II, Oxford 1974; aus dieser Ausgabe wird im Text unter der Sigle E mit Angabe der Nummer des Essays und der Seitenzahl zitiert. 3 Wordsworths Dichtung wird zitiert nach: T. Hutchinson u. E. de Selin-court, Wordsworth. Poetical Works, Oxford 1969; unter Angabe der dortigen Verszählung. 4 Friedrich Nietzsche, Werke II, hg. von Karl Schlechta, München '1969, S.817. «... während man den Boden für die neuen Fundamente aushob, förderte man die Fragmente einer zerbrochenen Marmorstatue zutage. Man legte sie etlichen Altertumskennern vor, die der Meinung waren, es handele sich bei der Statue, soweit der beschädigte Zustand der Teile einen Schluß zulasse, um einen verstümmelten römischen Satyr oder um eine allegorische Figur des Todes. Nur ein paar alte Dorfbewohner ahnten noch, zu wessen Statue diese Fragmente einmal gehört hatten.« Thomas Hardy, Barbara of the House of Grebe Wie etliche andere Hauptwerke der englischen Romantiker, so ist auch Shelleys letzte Dichtung, The Triumph of Life, bekanntlich ein Fragment, das zutage gefördert, ediert, rekonstruiert und viel diskutiert worden ist. Diese ganze archäologische Arbeit läßt sich als Antwort auf jene Fragen begreifen, in denen eine der wesentlichen Strukturen des Textes zum Ausdruck kommt: »>Und was ist das? / Wessen Gestalt seh' ich in diesem Wagen und warum?<« (Zeilen ijjt.).1 Diese Fragen werden später in einer mehr auf ein anderes Subjekt ausgehenden Form in der zweiten Person wiederholt: »>Woher kamst du? Und wohin gehst du? / Wie hat dein Weg begonnen^ sagte ich, >und warum?<« (Z. 296f.); um schließlich in der ersten Person noch einmal gestellt zu werden: »>Sag, woher kam ich, wo bin ich und warum —<« (Z. 398). Diese Fragen können leicht auf den rätselhaften Text bezogen werden, den sie inter-punktieren, und sie sind für die mit der Romantik verbundene Interpretationsarbeit charakteristisch. Im Zusammenhang mit der Romantik gewinnen sie eine Dringlichkeit, die ihnen für eine frühere Periode häufig abgeht, es sei denn, diese Perioden werden ihrerseits durch die Brille des im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert grassierenden Neohellenismus, Neomediävalismus oder Neobarock gesehen. Das ist nicht weiter überraschend, denn es sind genau jene archäologischen Fragen, die uns dazu treiben, die Gegenwart aus der Identifikation der mehr oder weniger unmittelbar hinter uns liegenden Vergangenheit und dem von ihr zur Gegenwart führenden Prozeß abzuleiten. Eine solche Einstellung deckt sich mit dem Gebrauch der Geschichte als Mittel zum Neu- 147