Zwischen Geschichte und Gedächtnis 19 Im Zwischenraum zwischen Geschichte und Gedächtnis: Bemerkungen zu Pierre Noras «Lieux de memoire» Aleida ASSMANN (Universität Konstanz) 1. Zwei Gedächtniskonzepte. - Im Zentrum von Pierre Noras großangelegtem Kollektiv-Projekt, das gemeinsame Gedächtnis der Franzosen zu inventarisieren, steht der Begriff der Erinnerungsorte. In seiner eigenen, eigenwilligen Etymologie leitet er den Begriff «lieu» von «milieu» ab: die «lieux de memoire» stellen eine Schwundstufe der «milieux de memoire» dar, sie sind die Relikte zerbrochener Gedächtniskontexte. Gleichzeitig macht Nora deutlich, daß sein Begriff der Erinnerungsorte weit mehr umfaßt als lokalisierte, begehbare Ortlichkeiten, sondern allgemein zu beziehen ist auf spezifische Einträge im kollektiven Gedächtnis. In dieser Verwendung besitzt der Begriff «lieu de memoire» noch eine andere Genealogie, die ihn mit der antiken Tradition rhetorischer Mnemotechnik verbindet. Die klassisch römischen Mnemotechniken (von Cicero, Ad Herennium oder Quintilian) basieren auf dem Begriffspaar der «loci» und «imagines». Mit diesen Klassikern der Mnemotechnik verbindet Nora das Interesse an einer räumlichen, nicht-narrativen Anordnung von Gedächtnisinhalten. Er zieht ganz im Sinne der mnemotechnischen Tradition räumliche Arrangements einer zeitlichen Ordnungsform vor, sei es als Inventar, Bestandaufnahme oder Topolo-gie. Ein weiterer Zentralbegriff Noras ist der des nationalen Erbes. Dieser Begriff stammt aus einem anderen Zusammenhang; er gehört nicht in 20 Aleida Assmann Zwischen Geschichte und Gedächtnis 21 den Diskurs der Mnemotechnik, die besondere Fertigkeiten erfindet, um die Kapazität des Gedächtnisses für unterschiedlichste Zwecke zu steigern, und also das Gedächtnis zu einem Instrument des Wissens macht, sondern in den Diskurs der Tradition, die Gedächtnis zu einem Instrument der Konstruktion (kollektiver) Identität macht. Der Begriff «nationales Erbe» weist somit nicht auf Gedächtnis als Technik, sondern auf Gedächtnis als Tradition und Sicherung von Identität. Die Funktion dieses Gedächtnisses besteht im Befestigen und Festhalten von identitätsrelevanten Gedächtnisinhalten über Krisen und historischen Wandel hinweg. Es gibt allerdings gewisse Inszenierungsformen des kollektiven Gedächtnisses, die die Verfahren der Mnemotechnik mit dem des nationalen Erbes problemlos verbinden: der Ruhmestempel, das Pantheon, der Bildersaal. Das sind sakralisierte Traditionsbestände bzw. totalisierende Präsentationen dieses Gedächtnisses, wie sie in Festzügen und historischen Museen des 19. Jahrhunderts kulminierten.1 Das räumliche Neben- und Nacheinander sollte dem Betrachter das Abschreiten von Weltgeschichte, die panoramatische Uberschau über die Vielheit der Epochen als Einheit der Geschichte ermöglichen. Im Bildersaal der Geschichte wird die Zeit zum Raum, genauer: zum Gedächtnisraum, in dem in einer totalisierenden Perspektive Gedächtnis konstruiert, repräsentiert und eingeübt wird. Diese Vision von einem Ganzen gibt es bei Nora nicht mehr. Er setzt mit seiner Gedächtnisarbeit an dem Punkt ein, wo diese Einheit unwiederbringlich verloren ist. Auf Noras Projekt kann man den Satz eines spanischen Mnemotechnikers anwenden, welcher gesagt hat: «Alle Teile der Rede zerspringen wie Kristalle, wenn die Memoria ihr nicht Festigkeit verleiht.» Diese Festigkeit, dieses einigende Band, das die Teile zusammenhält und zu einem Ganzen vereinigt, gibt es bei Nora nicht. Sein Projekt ist somit Gedächtnisarbeit nicht im Zeichen des Ganzen sondern des Fragments, der Lücke, der Beziehungslosigkeit. Er wendet sich den zersprungenen und zerstreuten Splittern des Kristalls zu und privilegiert deshalb das Verfahren der Collage, der surrealistischen Konstellation. Seine Bestandsaufnahme des kollektiven Gedächtnisses kann grundsätzlich nur Spuren und Fragmente registrieren, jeder totalisierende Anspruch wäre auf diesem Felde unweigerlich totalitär. Zu den wichtigsten Vorzügen einer räumlichen vor der zeitlichen Ordnung, die sich nicht schon wieder einer holistischen Vision verschreibt, gehört gerade diese Chance überraschender, innovativer Konstellationen. Sie erlaubt die Integration unterschiedlichsten Materials in eine gesamtkultur-wissenschaftliche Perspektive und begünstigt eine «gleichschwebende Aufmerksamkeit», sowie Verfahren, die «empirisch, experimentell und spielerisch» sind.2 Es spricht für die topologische Methode, daß sie der Struktur des Gedächtnisses näher kommt, in dem vieles unverbunden nebeneinander steht. 2. Zwischen Gedächtnis und Geschichte. - Einer verbreiteten Auffassung zufolge beginnt die Kompetenz der Geschichtswissenschaft dort, wo die lebendige Erinnerung zu existieren aufhört. Die Vorstellung, daß das Terrain der Geschichtswissenschaft die Schädelstätte des sozialen Gedächtnisses ist, hat Maurice Halbwachs betont, der sie eben dort beginnen ließ, wo «die Tradition aufhört - in einem Augenblick, in dem das soziale Gedächtnis erlischt und sich zersetzt.»3 Eine ähnliche Abfolge von lebendiger Erinnerung und historischer Verarbeitung hat Reinhard Koselleck im Auge, wenn er über die gegenwärtige Situation der deutschen Erinnerung an den Nationalsozialismus schreibt: «Mit dem Generationswechsel ändert sich auch der Gegenstand der Betrachtung. Aus der erfahrungsgesättigten, gegenwärtigen Vergangenheit der Uberlebenden wird eine reine Vergangenheit. (...) Mit der aussterbenden Erinnerung wird die Distanz nicht nur größer, sondern verändert sie ihre Qualität. (...) Die Forschungskriterien werden nüchterner, sie sind aber auch - vielleicht - farbloser, weniger empiriegesättigt, auch wenn sie mehr zu erkennen oder zu objektivieren versprechen. Die moralische Betroffenheit, die verkappten Schutzfunktionen, die Anklagen und die Schuldverteilungen der Geschichtsschreibung - all diese Vergangenheits-bewältigungstechniken verlieren ihren politisch-existentiellen Bezug, sie verblassen zugunsten von wissenschaftlicher Einzelforschung und hypothesengesteuerten Analysen, auch wenn deren politische Erziehungsabsichten unverkennbar bleiben.»4 Die Geschichtswissenschaft bearbeitet danach dasjenige Terrain der Vergangenheit, das, wie Klaus Gro-ße-Kracht es treffend formuliert, im kollektiven Gedächtnis «als Brachland des Vergessens zurückgeblieben ist.»5 Die entscheidende Wende von Halbwachs zu Nora scheint mir nun darin zu bestehen, daß letzterer in diesem «Brachland des Vergessens" nicht nur jede Menge lebendiger Erinnerungsimpulse entdeckt, sondern diese Erinnerungsimpulse auch noch selbst zu einem Gegenstand der Geschichtsschreibung macht. Mit Noras Historisierung des Gedächtnisses 22 Aleida Assmann Zwischen Geschichte und Gedächtnis 23 W_-- isťdas Verhältnis von Gedächtnis und Geschichte aus seiner leidigen Polarisierung (der Nora teilweise selbst in der Nachfolge von Halbwachs noch verpflichtet ist) befreit und als ein innovatives Terrain, um nicht zu sagen: als eine terra incognita freigegeben. Noras Projekt, das in seiner exuberanten Gestalt von über viereinhalbtausend Seiten nicht Monumentalität sondern labyrinthische Unbeendbarkeit suggeriert, wendet sich Erinnerungsorten unterschiedlicher Art zu: Museen, Archiven, Friedhöfen, Sammlungen, Festen, Jahrestagen, Verträgen, Protokollen, Denkmälern, Wallfahrtstätten, Vereinen. Wo immer er Spuren lebendiger Erinnerungspraxis entdecken kann, nimmt er diese in seine Bestandsaufnahme auf mit der Intention nicht nur der historischen Archivierung, sondern auch der aktiven Bewahrung und Erneuerung. Die Geschichte der Modernisierung hat zwar zur Zersplitterung des kollektiv gelebten Gedächtnisses, das wir Tradition nennen, geführt, doch muß die Geschichtsschreibung diesen Splittern nicht notwendig den Garaus machen. Nora entwickelt einen Diskurs im Zwischenraum zwischen Geschichte und Gedächtnis, welcher Geschichtsforschung zu einem Magazin und Schutzraum lebendiger Erinnerungen macht, vielleicht sogar zu einem «Zwischenspeicher», wenn man bedenkt, daß die «lieux de memoire» wiederum im Unterricht eingesetzt werden können und ihnen damit pädagogisch zu ihrer Verlängerung verholfen wird. 3. Die «lieux de memoire» als Topoi. - Nora bestimmt die Erinnerungsorte nicht in der Erfahrungs-Dimension von Raum und Zeit, sondern entsprechend der rhetorischen Tradition von der Raum-Struktur des Gedächtnisses her. Was in der memorialen Topologie einen Platz beansprucht ist ein Erinnerungsort, unbeschadet der Tatsache, ob es sich um dabei um Orte, Zeiten, Gebäude, Bilder, Menschen, Taten, Lieder, Denkformen, Gewohnheiten, Gesten, Geschichten handelt. Diese moderne «ars memorativa» unterscheidet sich von den älteren darin, daß es sich hier um eine nationale Mnemonik handelt. Die ältere Gedächtniskunst wurde eingesetzt, um eine Rede, die Bibel, ein philosophisches System oder die Grammatik der Welt zu memorieren, die neue Mnemotechnik dient der Bewahrung und Bestätigung einer nationalkulturellen Identität. Was immer sie sonst noch sind, Noras «lieux de memoire» sind Wiedererkennungs-Male: «in ihnen erkennt sich ein Land, eine Gesellschaft».6 Als Erinnerungsorte haben die «lieux de memoire» eine Doppelstruktur: sie sind sowohl Notate als auch Medien des Gedächtnisses. Am besten läßt sich das anhand eines Begriffes darstellen, der sich ebenfalls als Widergabe für «lieu de memoire» anbietet, nämlich «Topos» (Gemeinplatz). Nora definiert den Erinnerungsort selbst als einen «Doppelort, einen Ort des Überschusses, der sich abschließt, sich auf seine Identität versammelt und auf seinen Namen gründet, aber beständig offen ist für die ganze Weite seiner Bedeutungen.»7 Diese Doppelstuktur dürfen wir auch auf die Anteile von Konkretem und Symbolischem, Individuellem und Kollektivem, Bestimmtem und Unbestimmtem ausdehnen, die den Erinnerungsort gleichzeitig zu einem produktiven Erinnerungsmedium machen. Mit dieser Definition wird auf die Dynamik der Erinnerung hingewiesen, die in der Struktur des Topos selber produktiv wird: ein bewahrter Topos ist immer zugleich ein erneuerter Topos; ein Erinnerungsort ist ein Umschlagplatz von Vergangenheit in Zukunft, er ist Erinnerung als Erneuerung. Vom Topos und Erinnerungsort gilt, was Anfang des letzten Jahrhunderts vom Sprichwort gesagt wurde: «es verjüngt sich in jedem Kopfe». Entsprechend ließe sich vom Topos sagen, daß er nur dann die Chance hat, alt zu werden, wenn er sich beständig verjüngt. Zu dieser Dynamik lebendiger Erinnerung bzw. Tradition rechnet Nora auch noch sein eigenes Projekt, das keineswegs nur festschreibt und fortschreibt, sondern die historische Reflexion ins Innere der Erinnerungdynamik hereinholt. Indem man Gedächtnis mit Ruhm, Verehrung und Verewigung gleichgesetzt hatte, hatte man es auf Verfahren der Stabilisierung festgelegte Geschichte wird in einem solchen Modell dann notwendig zu einem Verfahren der Destabilisierung von Gedächtnissubstanz: was im Ruhm einbalsamiert wurde, löst die Kritik wie eine Säure auf. Gedächtnis und Geschichte müssen sich jedoch nicht notwendig als Antipoden erweisen, wie Halbwachs vermutet hatte, sondern können, wie Nora zeigt, produktiv aufeinander bezogen werden. Ja mehr noch: die historische Perspektive wird zu einer wesentlichen Dimension des nationalen Gedächtnisses. Sie verbindet Erinnerung mit Selbstaufklärung und legt die Erinnerungsorte einen nach dem anderen auf den Prüfstein, wobei ihre mythischen Potentiale ebenso durchleuchtet werden wie ihre chauvinistischen Gehalte. Das Verhältnis von Gedächtnis und Geschichte stellt sich längst nicht mehr dar als ein unverträgliches Verhältnis von Ruhm und Kritik. Im Gegenteil hat sich die Geschichte auf die Erinnerung und die Erinnerung auf die Geschichte zubewegt, wobei die nationalen Erinnerungssorte nicht pauschal verabschiedet, wohl aber vom historischen Bewußtsein erleuchtet und kon- 24 Aleida Assmann Zwischen Geschichte und Gedächtnis 25 trolliert werden. Damit hat Nora zugleich vorgeführt, unter welchen Bedingungen in der Gegenwart eine nationalkulturelle Mnemotechnik noch möglich - und nötig ist. 4. Noras konstruktivistischer Ansatz. - Die Geschichtswissenschaft beruht seit ihrer methodischen Disziplinierung in der Renaissance und verstärkt seit ihrer Institutionalisierung im 19. Jahrhundert auf zwei wesentlichen Grundsätzen. Der erste ist die Trennung von Vergangenheit und Gegenwart; um ihr Ideal einer vorbehaltlos kritischen Wissenschaft zu etablieren, mußte die Geschichtswissenschaft aus den legitimatorischen Zwängen der Macht und den obligatorischen Bindungen der Tradition heraustreten. Der zweite Grundsatz ist die Trennung von Fakten und Fiktionen. Um immer größere Zuverlässigkeit in der Rekonstruktion des Gewesenen zu gewinnen, mußten Kriterien entwickelt werden, die mit großer Trennschärfe zwischen wahr und falsch zu unterscheiden erlaubten. Nora schafft mit seinem Projekt einer Interaktion von Geschichte und Gedächtnis diese beiden Grundsätze der Geschichtswissenschaft, die wohl als irreversible Errungenschaften des westlichen Geistes gelten dürfen, keineswegs ab, doch suspendiert er sie auf eine methodisch kontrollierte Weise. Deshalb kann er sein Augenmerk auf eben solche Befunde richten, die bis dahin methodisch aus der Geschichtswissenschaft ausgeschlossen waren. Um mit dem zweiten Punkt zu beginnen: Nora wählt einen konstruktivistischen Ansatz, der zwischen Fakten und Fiktionen nicht unterscheidet, weil er von der Kraft des Symbolischen und der Geschichtsmacht der Repräsentationssysteme ausgeht. Nora konstatiert in der Gegenwart eine Entfiktionalisierung der Literatur und eine Fiktionalisierung der Geschichte. «Die Geschichte ist unser Ersatz-Imaginäres. Die Renaissance des historischen Romans, die Welle persönlicher Aufzeichnungen, die literarische Wiederbelebung des historischen Dramas, der Erfolg der Oral History - wie soll man all das erklären, wenn nicht als Ersatz für den Ausfall der Fiktion? (...) Die Geschichte ist (...) der wahrhaftige Roman einer Epoche, ohne wahrhaften Roman.»9 Wozu die Geschichtswissenschaft aufgrund ihrer methodischen Selbstbeschränkung nur schwer Zugang fand (weshalb sie diese Bereiche der kulturellen Zeichenpraxis daher auch gern an andere Diszipline wie Kunst- und Literaturwissenschaft delegierte), das rückt durch Noras veränderte Perspektive ins Zentrum des geschichtswissenschaftlichen Interesses. Wenn Kulturwissenschaft die integrierte Wissenschaft kultureller Zeichenpraxis ist, dann weist Noras Ansatz hier einen innovativen Weg für inter- und co-disziplinäre Forschungen. Die «Erinnerungsorte» oder Topoi des nationalen Gedächtnisses umfassen Gegenstände, Artefakte und Praktiken im Symbolsystem einer Kultur. Noras Projekt lauft somit auf eine umfassende Ethnographie der eigenen Kultur hinaus, auf eine Auto-Ethnographie. Dabei vermeidet er die für die wissenschaftliche Beschreibung konstitutive Spaltung von fremder und teilnehmender Perspektive. Man steht hier und dort, ist sich fremd und ist mit sich identisch. Am deutlichsten wird dies an seinem Zugang zu Mythen. Als Roland Barthes in den 60er Jahren Mythen des Alltags beschrieb, tat er dies in der gewohnten kritischen Haltung, die man Mythen gegenüber einzunehmen pflegte. Sie zu beschreiben hieß damals, sie in der überlegenen Perspektive dessen, der weder der Macht des Unbewußten noch der Gewohnheit unterworfen ist, bloßzustellen. Noras Zugang zu Mythen ist ein anderer; er interessiert sich für das, was in ihnen wirkt, warum es wirkt und wie es wirkt. In den 90er Jahren werden Mythen nicht mehr ausschließlich als irrationale Residuen der Kultur identifiziert, die von der Aufklärung überwunden werden müssen. Kehren wir zum anderen Grundsatz historiographischer Forschung zurück, zur Trennung von Gegenwart und Vergangenheit. Die Vergangenheit von den Ansprüchen und Bedürfnissen der Gegenwart zu entlasten war bekanntlich eine entscheidende Voraussetzung historischer Forschung. Die Geschichtswissenschaft konstruiert für die Vergangenheit einen Freiraum, in dem man sich ihr «unbelastet von politischen Einmischungen, territorialen Ansprüchen und kulturellen und ethnischen Auseinandersetzungen» nähern kann.10 Indem der Zugang zur Vergangenheit auf sogenannte «Quellen» beschränkt wurde, konnte diese als ein freistehender, objektiver Gegenstand wahrgenommen werden. Im Gegenzug zur Objektivierung der Geschichte interessiert sich Nora für die Subjektivierung und Aneignung der Vergangenheit. Geschichtswissenschaft weitet sich zur Rezeptionsgeschichte aus, wenn das Gedächtnis in den Mittelpunkt rückt als das wichtigste Medium der Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart. Da sich dieses kollektive Gedächtnissubjekt in der Geschichte wandelt, wandeln sich mit diesem auch die Erinnerungsorte oder Topoi des Gedächtnisses. Nora unterscheidet 5 Phasen: das Gedächtnis der Monar- 26 Aleida Assmann Zwischen Geschichte und Gedächtnis 27 chie, des Staates, der Nation, des Bürgers und «unser heutiges "Gedächtnis des nationalen Erbes"» (6). Mit dieser letzten Stufe ist das Gedächtnis reflexiv geworden; es konzentriert sich weniger auf einen neuen Entwurf der Vergangenheit als auf sich selbst. Mit Noras «Gedächtnis zweiten Grades» scheint eben diese Phase markiert zu sein, in der sich das kollektive Gedächtnis seiner selbst erinnert. Zweifellos ist eine entscheidende Wende in der Gedächtnisgeschichte damit markiert, daß das Gedächtnis nicht mehr vorrangig Vergangenheit repräsentiert und appräsentiert, sondern dieses Gedächtnis sich in erster Linie daran erinnert, daß und wie es sich erinnert. 1 Zu den totalisierenden Gedächtnisräumen vgl. Günter Hess, «Bildersaal des Mittelalters. Zur Typologie illustrierter Literaturgeschichte im 19. Jahrhundert», in: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte undPer-spektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken, hg. v. Christoph Cormeau, Stuttgart 1979, 501-546; Nikolaus Gussone, «Deutscher Bildersaal. Ein Versuch über Bildprägungen im kulturellen Gedächtnis der Deutschen», in: Poetisierung - Politisierung. Deutschlandbilder in der Literatur his 1848, hg. v. Wilhelm Gössmann u. Klaus-Hinrich Roth, Paderborn 1994,243-269. 2 Pierre Nora, «Das Abenteuer der Lieux de memoire», in Etienne Francois u.a. (Hg.) Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 83-92, hier S.85. 3 Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt 1985, 66. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Polarisierung von Gedächtnis und Geschichte vgl. Aleida Assmann, «Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis. Zwei Modi der Erinnerung», in: Kristin Platt und Mirhan Dabag, Hg., Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten, Opladen 1995, 169-185. 4 Reinhard Koselleck, Nachwort zu: Charlotte Beradt, Das Dritte Reich des Traums, Frankfurt 1994, 117. 5 Klaus Große-Kracht, «Gedächtnis und Geschichte: Maurice Halbwachs - Pierre Nora», erscheint in GWU 46 (1995). Ich verdanke diesem Artikel viele Einsichten. 6 Klaus Wagenbach (Hg.), Deutsche Orte, Berlin 1991, 92. 7 Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, hg. v. Ulrich Raulff, Berlin 1990, S. 32. 8 Vgl. dazu Friedrich Gundolf, Die Anfänge der deutschen Geschichtsschreibung, Frankfurt 1993, mit dem instruktiven Vorwort von Ulrich Raulff. 9 Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, S. 33. 10 Etienne Francois, «Von der wiedererlangten Nation zur "Nation wider Willen". Kann man eine Geschichte der deutschen "Erinnerungsorte" schreiben?», in: Des. u. a. (Hg.), Nation und Emotion, S. 93-107, hier S.103.