Li t er at urb ri ef Von Jochen Hieber Jahrhundertromane: Von Musil bis Grass - das Fünfgestirn des deutschsprachigen Erzählens Jeweils 33 Schriftsteller, Kritiker und Germanisten sind jüngst vom Bertelsmann Verlag und vom Literaturhaus München angeregt und aufgefordert worden, eine Rangliste der wichtigsten deutschsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts zu erstellen. Drei Titel durfte jeder Juror nennen. Das Ergebnis der Umfrage kann sich mehr als sehen lassen. 76 Romane kamen insgesamt auf die Liste, nur 27 allerdings erhielten mehr als einen Punkt. Auf dem ersten Platz landete Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften" (35 Stimmen), dahinter folgen Franz Kafkas .Der Prozeß" 02), Thomas Manns .Der Zauberberg" (29), Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz" (18) und Günter Grass' „Die Blechtrommel" (11). Uberzeugend ist die Liste zunächst, weil sie auf den erstenPIät-zeri keine Überraschungen bereithält. Die Juroren haben sich für die wirklich bedeutenden Werke entschieden - also gegen ihre Vorliebe für die Außenseiter des literarischen Lebens. Gewiß, es ließe sich trefflich streiten, ob Kafkas „Das Schloß" nicht doch seinen „Prozeß" überrage (tut es nicht),, ob Thomas Manns Buddenbrooks" nicht doch größer seien als „Der 2aüberberg" (sind sie schon). Aber angesichts der unbestrittenen Sonderstellung dieser beiden Erzähler; die die Jahrhundertliste mit der Aufnahme all ihrer Romane angemessen widerspiegelt, sind solche Debatten müßig. Ohne sich abzustimmen/ haben die Juroren ihre emphatische Erwartung an die Gattung des Romans erkennen lassen. Der Österreicher Musil, 1942 im Alter von 62 Jahren gestorben, hat seinen „Mann ohne Eigenschaften" als eine fast lebenslange .geistige Expedition und Forschungsfahrt" charakterisiert. Und am Sieger hat sich die Jury orientiert. Jene fünf.Werke, die das Rennen machten, zeichnen sich, dadurch aus, daß sie die Ziele ihrer poetischen Expeditionen sehr genau bestimmten - und von ihnen, mit den reichsten Entdeckungen zurückkehrten. So ist „Der Mann ohne Eigenschaften" eine äußerst abenteuerliche Reise in die Seele des modernen Individuums geworden - und, am Beispiel Wiens, zugleich ein genaues Modell der europäischen Gesellschaft kurz vor und während des Ersten Robert Musil Der Mann ohne Eigenschaften Weltkriegsjso ist „Der Prozeß" des Franz Kafka, der erstmals 192 erschien, zum hellsichtigsten Porträt einer Spezies Mensch gerater die das Jahrhundert abermillionenfach erst danach hervorbringe sollte: die Spezies der unschuldigen, lungemordeten Opfer. So ha „Der Zauberberg", an dem Thomas Mann von 1913 bis 1924 arbe tete, das Pandämoniuni einer Krankheit zum Tode skizziert - un< es, überaus prächtig, ausgemalt als Reigentanz zwischen Lebens wüle und Sterbenslust. So hat „Berlin Alexanderplatz", Döblins ge nialer Wurf von 1929, den Rhythmus der Großstadt als Moloch ein zigartig in Sprache zu übersetzen vermocht - und dabei das Gesec formuliert, das hier herrscht: „Verflucht ist der Mensch, der siel auf Menschen verläßt." Und so ist schließlich „Die Blechtrommer Grass'Debütroman aus dem Jahr 1959, zum Triumph des Erzählens selbst gelangt - dank, seiner unvergleichlichen Hauptfigur, des Kindphilosophen und Zwergmannes Oskar Matzerath. Sehr auffällig, daß die beiden erstplazierten Werke zu Lebzeiten ihrer Verfasser nicht oder nur in Teilen veröffentlicht, vor allem aber, daß sie nie zu Ende geschrieben wurden: Das Fragment, das Nicht-Fertige, ist das Zeichen des Jahrhunderts - und die teils schaudernde, teils erstaunte Verbeugung der Literatur vor einer Welt, die im Innersten nichts mehr zusammenhalten kann. Daß vier der fünf besten Romane aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts stammen, scheint für die relative Armut der Gegenwartsliteratur zu sprechen. Vielleicht benötigen wir zu den jüngeren Erzählbüchern etwa von Thomas Bernhard, Peter Hahdke, Martin Walser oder Robert Menasse auch noch jenen größeren zeitlichen Abstand, der ihren Rang besser erkennen läßt Daß nur zwei Romane von Frauen mehr als eine Stimme erhielten - Ingeborg Bachmanns „Malina" und Anna Seghers' „Das siebte Kreuz* -, ist literarisch ebenso gerecht wie wahrscheinlich vorübergehend: Das 21. Jahrhundert könnte eines des weibfichen Erzählens werden. Die deutschen Großromane dieses Jahrhunderts aber können auch international bestehen. Musil, Kafka, Thomas Mann, Döblin und Grass: Das Fünfgestirn des deutschsprachigen Erzählens gehört zum Kernbestand der Weltkultur in unserer Zeit. Franz Kafka Der Prozeß Thomas Mann Der Zauberberg Alfred Döblin Berlin Alexanderplatz Günter Grass Die Blechtrommel Traditionelles und modernes Erzählkonzept in der epischen Gattung 1. Die Erzähluna cribt ein Bild der Wirklichkeit. 2. Es gibt eine konsequent entwik-kelte Handluna. 3. Die Fiquren werden als Charaktere mit ieweils eicrener Biographie eingeführt. 4. Äußere Geschehnisse bestimmen den Gang der Dinge, die Figuren setzen sich im Dialog auseinander . 5. Es gibt eine Einheit der Räume und Zeiten des Geschehens und . eine Kontinuität zwischen ihnen. 6. Die erzählten Ausschnitte re-Dräsentieren das Ganze der Wirklichkeit, deren Geordnet-heit vorausgesetzt wird. 7. Die erzählten Figuren und ihre In der Erzählung werden Strukturen der Wirklichkeit gezeigt. Handlungen werden der Reflexion untergeordnet. Die Einheit der Person wird in Rollen aufgelöst und erscheint in verschiedenen Perspektiven proble-matisiert. Seelische Vorgänge stehen im Vordergrund, werden im inneren Monolog gezeigt, zwischen den Figuren gibt es Verständigungsprobleme. Raum und Zeit erscheinen als Be-wußtseinsinhalte, in denen disoa-rate Wirklichkeitselemente zusammen auftreten. Die erzählten Ausschnitte stehen für sich» werden in unterschiedliche Perspektive gerückt, ihr Zusammenhang bleibt fraglich. Durch die Montage disparater As- Handlungen werden psvchologisch Dekte der Figuren und ihrer Hand- erklärt und verständlich gemacht, die erzählte Welt dem Leser als seine eigene gezeigt. lungen erfährt die erzählte Welt eine Verfremdung, ihre Erklärung bleibt dem Leser überlassen. Traditionelles und modernes poetisches Muster in der Lyrik 1. Das lyrische Ich erlebt die Übereinstimmung von Ich und Natur/Welt. 2. Im Gedicht kommt der Glaube an einen Sinn der Welt zum Aus- Das lyrische Ich erlebt die Entfremdung . d.h. den Widerspruch zwischen Ich und Welt. Im Gedicht kommt der Zweifel an einen Sinn der Welt zum Ausdruck. druck. 3. Der Dichter gebraucht das Besondere. z.B. Gegenstände aus der Natur, als Bild für allgemeine Wahrheiten, die der Leser im Gedicht wiedererkennen kann: Svmbol. 4. Der Dichter teilt die Erfahrung Das Besondere wird vom Dichter mit einer privaten Bedeutung versehen und so zum Bild gemacht, das der Leser mit Hilfe der Textstruktur enträtseln muß: Chiffre/absolute Metapher. Der Dichter entnimmt die Bilder der ihn umgebenden Welt, aus welcher er seine Bilder nimmt, mit dem Leser. 5. Geschlossenes Gedicht: Der Le- der eigenen Phantasie, um den Le- ser persönlich anzusprechen, damit er ihm auf seinem besonderen Wege folge. Offenes Gedicht: Der Leser muß ser hat einen folgerichtig aufgebauten und zu Ende geführten Text vor sich. 6. Der Dichter vertraut auf die Andeutungen nachgehen, disparate Elemente miteinander verknüpfen und über das Gedichtende hinaus weiterdenken. Der Dichter mißtraut den mit der mit der Sorache gegebenen Aus- Sprache gegebenen Ausdrucksmög- drucksmöglichkeiten: Sprachgebrauch . 7. Nachdenken über die Produktion von Lvrik erfolgt in theoreti- lichkeiten: Sprachskepsis. Nachdenken über die Produktion von Lyrik kann Inhalt eines Gedichts schen Schriften (Dichtungslehre, Poetik). sein (poetologisches Gedicht). Traditionelles und modernes Paradigma in der dramatischen Gattung 1. Die gespielte Welt wird handelnd dargeboten. 2. Das Spiel ermöglicht dem Zuschauer Gefühle, vermittelt ihm ein Erlebnis. 3. Der Zuschauer wird suggestiv in eine Bühnenaktion hineingezogen. 4. Der Mensch wird als bekanntes Wesen vorausgesetzt und als unveränderlich (als Fixum) gezeigt. 5. Es wird zwischen Tragödie (Scheitern des Helden) und Komödie (versöhnlicher Ausgang) unterschieden. 6. Die Figuren, sprechen auf einer gehobenen Stilebene, auch wenn charakterisierend differenziert wird. 7. Geschlossene Form des Dramas als zwangsläufig sich entwik-kelnde Handlung. Die gespielte Welt wird erzählend dargeboten. Das Spiel erzwingt vom Zuschauer Entscheidungen, vermittelt ihm ein Weltbild. Der Zuschauer wird in argumentierender Weise einer Bühnenaktion gegenübergesetzt. Der Mensch wird zum Gegenstand der Untersuchung gemacht und als veränderlich und sich verändernd (als Prozeß) gezeigt. Tragische Elemente werden mit komischen gemischt, um absurde Verhältnisse zu verdeutlichen. ---- Die Figuren sprechen Umgangs spräche . Mundart, Jargon,- auch wenig artikuliertes und fehlerhaftes Sprechen findet statt. Offene Form des Dramas als Folge selbständiger Szenen in lockerem Zusammenhang mit epischen Elementen. Aus: Eberhard Hermes: Abiturwissen Deutsche Literatur. Epochen - Werke - Autoren. Stuttgart /Dresden: Klett, Verlag für Wissen und Bildung- 1994 1999 (der letzte Text in Günter Grass: Mein Jahrhundert, 1999) GEZWUNGEN HAT ER MICH NICHT, aber überredet, der Bengel. Das könnt er schon immer, bis ich endlich ja gesagt hab. Und nun leb ich angeblich noch, bin über hundert und bei Gesundheit, weil er das so will. Darin war er von Anfang an groß, als Dreikäsehoch schon. Könnt lügen wie gedruckt und wunderschöne Versprechungen machen: „Wenn ich mal groß und reich bin, dann reisen wir, wohin du willst, Mama, sogar nach Neapel." Aber dann kam der Krieg, und dann wurden wir abgeschoben, erst in die Sowjetzone, dann Flucht in den Westen rüber, wo uns diese rheinländischen Bauern in der eiskalten Futterküche einquartiert und gepiesackt haben: „Gellt doch hin, wo ihr • hergekommen seid!" Dabei waren die katholisch wie ich. Aber schon zweiündfünfzig, als mein Mann und ich längst Wohnung hatten, stand fest, daß es Krebs war bei mir. Hab dann noch, während der Junge in Düsseldorf seine brotlose Kunst studiert und weiß nicht-Wovon gelebt hat, zwei Jahre durchgehalten, bis unsere Tochter mit ihrer Bürolehre fertig, aber sonst all ihre Wünschträume hinter sich hatte, die arme Marjell. Nicht mal achtundfunfzig hab ich geschafft. Und nun soll, weil er das unbedingt alles nachholen möcht, was mir, seiner armen Mama, entgangen ist, mein hundertsoundsovielter Geburtstag gefeiert werden. ^ Gefallt mir sogar, was er sich heimlich ausgedacht hat. War schon immer zu nachsichtig, wenn er, wie mein Mann sagte, das Blaue vom Himmel runtergelogen hat. Doch das Seniorenheim mit Seeblick, das „Augustinum" heißt und in dem ich nun, weil er das will, versorgt bin, ist - da kann man nicht meckern - sogar von der besseren Sorte. Eineinhalb Zimmer hab ich, dazu Bad, Kochnische und Balkon. Farbfernseher hat er mir reingestellt und eine Anlage für diese neuen silbrigen Schallplatten, solche mit Opernarien und Operetten drauf, die ich schon immer gern gehört hab, vorhin noch aus dem „Zarewitsch" die Arie „Es steht ein Soldat am Wolgastrand..." Auch kleine und große Reisen macht er mit mir, neulich nach Kopenhagen, und nächstes Jahr wird es, wenn ich gesund bleib, endlich in den Süden bis nach Neapel gehen... Nun aber soll ich erzählen^ wie es früher und noch früher gewesen ist. Sag ich ja, Krieg war, immerzu Krieg mit Pausen dazwischen. Mein Vater, der als Schlosser in der Gewehrfabrik gearbeitet hat, ist gleich anfangs bei Tannenberg gefallen. Und dann zwei Brüder in Frankreich. Der eine hat gemalt, vom anderen sind sogar Gedichte in die Zeitung gekommen. Bestimmt hat mein Sohn das alles von den beiden mitgekriegt, denn mein dritter Bruder war Kellner nur, ist zwar weit rumgekommen, aber dann hat es ihn doch irgendwo erwischt. Muß sich angesteckt haben. Soll eine von diesen Geschlechtskrankheiten gewesen sein, mag gar nicht sagen, welche. Da ist meine Mutter ihren Jungs, noch bevor Frieden war, aus reinem Kummer nachgestorben, so daß ich mit meiner kleinen Schwester Betty, dem verwöhnten Ding, nun allein in der Welt stand. War ja gut, daß ich bei Kaiser's Kaffee Verkäuferin und bißchen Buchführung gelernt hatte. So konnten wir dann, nachdem ich mit Willy verheiratet war und gleich nach der Inflation, als wir in Danzig den Gulden bekamen, das Geschäft, Kolonialwaren, aufmachen. Lief auch anfangs ganz gut. Und siebenundzwanzig, da war ich schon über dreißig, kam dann der Junge und drei Jahre später die kleine Marjell... Wir hatten ja außer dem Laden zwei Zimmer bloß, so daß das Jungchen für seine Bücher und seinen Farbkasten und seine Knetmasse nur unterm Fensterbrett eine Ecke gehabt hat. Aber das war ihm genug. Da hat er sich alles ausgedacht. Und nun zwingt er mich, wieder lebendig zu sein, verwöhnt mich - „Mamachen hier und Mamachen da" - und kommt im Seniorenheim mit seinen Enkelkindern an, die unbedingt meine Urenkel sein sollen. Sind auch ganz niedlich, aber bißchen dreibastig manchmal, so daß ich froh bin und aufatme, wenn die Blagen, darunter Zwillinge - helle Bürschchen, doch vorlaut - unten auf der Parkallee mit ihren Dingern, die wie Schlittschuhe ohne Eis sind und die geschrieben so ähnlich wie Skat heißen, aber von den Jungs Skäter genannt werden, rauf und runter flitzen. Kann ich vom Balkon aus sehen, wie der eine immer schneller sein will als der andere... Skat! Hab ich mein Lebtag lang gern gespielt. Meistens mit meinem Mann und mit Franz, meinem kaschubischen Cousin, der bei der Polnischen Post war und deshalb gleich anfangs, als wieder Krieg kam, erschossen wurde. War schlimm. Nicht nur für mich. Aber das brachte die Zeit so mit sich. Auch daß Willy in die Partei ging und ich bei der Frauenschaft war, weil man da umsonst Leibesübungen machen konnte, und auch der Junge beim Jungvolk in schicker Uniform... Später gab beim Skat meistens mein Schwiegervater den dritten Mann ab. War aber immer zu aufgeregt, der Herr Tischlermeister. Vergaß oft, den Skat zu drücken, worauf ich prompt Kontra gegeben hab. Spiel ich noch immer gern, sogar jetzt, wo ich wieder leben muß, und zwar mit meinem Sohn, wenn er seine Tochter Helene, die ja wie ich heißt, auf Besuch mitbringt. Spielt ziemlich gerissen, das Mädel, besser als ihr Vater, dem ich zwar das Skatspielen beigebracht habe, als er zehn oder elf war, der aber immer noch wie ein Anfänger reizt. Spielt seinen geliebten Herz Hand selbst dann, wenn er mit ner blanken Zehn dasitzt... Und während wir spielen und spielen und mein Sohn sich dauernd überreizt, sausen unten im Park vom „Augustinum" meine Urenkel auf ihren Skätern, daß man Angst kriegen möcht. Haben aber überall Polster drauf An den Knien, Ellbogen und an den Händen auch, sogar richtige Helme tragen sie, damit ja nichts passiert. Lauter teures Zeug! Wenn ich da an meine Brüder denk, die im ersten Krieg schon gefallen oder sonstwie krepiert sind, die haben sich, als sie klein waren das war noch zu Kaisers Zeiten - aus der Langführer Aktienbrauerei ein ausgedientes Bierfaß besorgt, die Faßdauben auseinandergenommen, die Dinger mit Schmierseife eingerieben, sich dann die Dauben unter die Schnürschuhe gebunden und sind als richtige Skiläufer in den Jäschkentaler Wald,, wo sie immerzu den Erbsberg rauf und runter. Hat nuscht gekostet, ging aber trotzdem... Denn wenn ich nur daran denk, was die Anschaffung von richtigen Schlittschuhen, solchen mit Schlüssel zum Anschrauben, für mich als kleine Geschäftsfrau bedeutet hat, und zwar für zwei Kinder... Denn in den dreißiger Jahren ging der Laden nur mäßig... Zuviel Pumpkundschaft und Konkurrenz... Und dann kam auch noch die Guldenabwertung... Zwar haben die Leute geträllert, ,Alles neu macht der Mai, macht aus einem Gulden zwei...", aber knapp wurde es doch. Wir hatten in Danzig ja Guldenwährung, weil wir Freistaat waren, bis uns dann, als der nächste Krieg losging, der Führer mit seinem Gauleiter, Förster hieß der, „heim ins Reich" geholt hat. Ab dann ging alles über den Ladentisch gegen Reichsmark nur. Gab aber immer weniger. Mußte nach Ladenschluß Lebensmittelmarken sortieren und auf alte Zeitungen kleben. Manchmal half der Junge, bis sie auch ihn in Uniform steckten. Und erst nachdem der Russe über uns gekommen war, dann sich die Polen das letzte genommen haben, wonach wir Vertriebene wurden und all das Elend weiterging, bekam ich ihn wieder gesund zurück. War neunzehn inzwischen und kam sich erwachsen vor. Dann hab ich auch noch die Währungsreform erlebt. Vierzig Mark kriegte jeder vom neuen Geld. Das war ein harter Anfang für uns Flüchtlinge äussern Osten... Wir hatten ja nuscht sonst... Das Fotoalbum... Und grad noch sein Briefmarkenalbum hab ich retten gekonnt... Und als ich dann starb... Aber nun soll ich, weil mein Sohn das so will, auch noch den Euro miterleben, wenn er denn ausgezahlt wird. Doch vorher will er unbedingt meinen Geburtstag feiern, den hundertdritten genau. Na, soll er von mir aus. Der Bengel ist inzwischen über siebzig schon und hat sich längst einen Namen gemacht. Kann aber nicht aufhören mit seinen Geschichten. Manche gefallen mir sogar. Aus anderen hält ich bestimmte Stellen glatt weggestrichen. Aber Familienfeste, so richtig mit Krach, und Versöhnung, hab ich schon immer gemocht, denn wenn wir Kasehuben gefeiert haben, wurde geweint dabei und gelacht. Anfangs wollte meine Tochter, die nun- auch schon auf die siebzig zugeht, nicht mitfeiern, weil sie die Idee von ihrem Bruder, mich für seine Geschichten wieder lebendig zu machen, t für zu makaber hält. „Laß man, Daddau", hab ich zu ihr gesagt, „sonst fallt ihm noch was Schlimmeres ein." So ist er nun. mal. Denkt sich die unmöglichsten Sachen aus. Muß immer übertreiben. Mag man gar nicht glauben, wenn man das liest... Nun kommt meine Tochter doch Ende Februar. Und ich freu mich schon auf all die Urenkel, wenn sie dann wieder unten im Park rumflitzen auf ihren Skätern, während ich vom Balkon runterguck. Und auf 2000 freu ich mich auch. Mal sehen, was kommt... Wenn nur nicht Krieg ist wieder... Erst da unten und dann überall... Todesfuge Schwarze Milch der Frühe vir trinken sie abends vir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts wir trinken und trinken ■wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden hierbei er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends wir trinken und trinken Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingt* seine Augen sind blau stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf Chanson einer Dame im Schatten Wenn die Schweigsame kommt und die Tulpen köpft: Wer gewinnt? Wer verliert? Wer tritt an das Fenster? Wer nennt ihren Namen zuerst? Es ist einer, der trägt mein Haar. Er trägts wie man Tote trägt auf den Händen. Er trägts wie. der Himmel mein Haar trug im Jahr, da ich liebte. Er trägt es aus Eitelkeit so. Der gewinnt. Der verliert nicht. Der tritt nicht ans Fenster. Der nennt ihren Namen nicht. Es ist einer, der hat meine Augen. Er hat sie, seit Tore sich schließen. Er trägt sie am Finger wie Ringe. Er trägt sie wie Scherben von Lust und Saphir: er war schon mein Bruder im Herbst; er zählt schon die Tage und Nächte. I 4 Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich aber wir trinken und trinken ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschla er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch r in die Li dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht en Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschla« wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinke: der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Lui er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschlant dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith Es ist einer, der hat, was ich sagte. Er trägts unterm Arm wie ein Bündel. Er trägts wie die Uhr ihre schlechteste Stunde. Er trägt es von Schwelle zu Schwelle, er wirft e* nicht fort. Der gewinnt nicht. Der verliert. Der tritt an das Fenster. Der nennt ihren Namen zuerst. Der wird mit den Tulpen geköpft. Der gewinnt. Der verliert nicht. Der tritt nicht ans Fenster. Der nennt ihren Namen zuletzt. Nikolaus Förster Die Wiederkehr des Erzählens Deutschsprachige Prosa der 80er und 90er Jahre Postmoderne Es handelt sich bei dieser Arbeit um den Versuch, über den bloßen Befund eines „Stils der Stillosigkeit"23 - als Reflex der Zeitdiagnosen einer Neuen Unübersichtlichkeit im Sinne Jürgen Habermas' oder eines Lyotarďšchen „Verfalls der großen Meta-Erzählungen"24- hinauszukommen und zumindest eine literarische Tendenz genauer zu beschreiben, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewonnen hat.23 Allerdings scheint mir diese Wiederkehr des Erzählens weniger das Indiz einer epochalen Wende zu sein, etwa eines Übergangs zur sogenannten Postmoderae - eines Begriffs, der seit dem Beginn der 80er Jahre die intellektuelle Debatte in Deutschland beherrscht hat, nachdem er in den 60er Jahren in den Vereinigten Staaten und anschließend vor allem in Frankreich diskutiert worden war. An der Fragwürdigkeit des Begriffs hat diese Debatte wenig geändert. Zu unterschiedlich sind die zahlreichen Positionen, die sich postmodern nennen oder so eingestuft worden sind.26 Allein die Frage, ob es sich um einen Epochenbegriff oder eine Geisteshaltung, um eine Ablösung oder eine Radikalisierung der Moderne handelt, ist umstritten. Die Schwierigkeit besteht zum einen in der verworrenen Begriffsgeschichte des Terminus, zum anderen in den jeweils vorausgesetzten und nur selten explizierten Moderae-Begriffen, die nicht nur innerhalb einzelner Bereiche - sei es in Literatur, Architektur, Kunst, Philosophie oder Soziologie - voneinander abweichen, sondern auch innerhalb einzelner Kulturräume unterschiedlich rezipiert wurden.27 Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, daß die Postmoderne inzwischen zu einem polemischen Begriff geworden ist, der nur noch in zweiter Linie auf ästhe- tische Phänomene zielt, in erster Linie jedoch ideologische Fragestellungen impliziert. In der Literaturkritik hingegen sind viele Texte, die in dieser Arbeit zur Wiederkehr des Erzählens gerechnet werden, als postmodern bezeichnet worden. Doch man muß sich nur die vorgelegten Listen postmoderner Autoren und Merkmale vor Augen führen, um sich über die Fragwürdigkeit dieses Begriffs im Bereich der Literatur klar zu werden. Umberto Eco hat zu Recht darauf hingewiesen, daß Postmoderne inzwischen zu einem ,.PassepartoutbegrifF' geworden sei, der sich für alles verwenden lasse.28 Trotz dieser Problematik läßt sich bei der Beschreibung und Analyse der Wiederkehr des Erzählens an einige Theoreme anknüpfen, die im Zuge dieser Debatte formuliert worden sind, etwa an die Zurückweisung einer künstlerischen Fortschrittsideologie, die Forderung nach einer Überbrückung der Kluft zwischen sogenannter ernster und unterhaltender Literatur, wie sie 1969 Leslie Fiedler gefordert hatte, und einer „Doppelkodierung" im Sinne des Architekturtheoretikers Charles Jencks.2 Hält man aus diesem Grund - mit allen Vorbehalten - an diesem Terminus fest, so soll er nicht als Epoche, sondern als „kulturelle Dominante"30 im Sinne Fredric Jamesons verstanden werden: Danach antwortet die Postmoderne, ohne zwangsläufig als historische Phase bestimmt werden zu müssen, darauf, daß sich die Paradigmen der Moderne nicht mehr in einen traditionellen Verstehenszusammenhang einbinden lassen. Dennoch spitzt die Postmoderne dabei nur Probleme zu, die in der Moderae schon angelegt waren. Über die Postmoderne zu sprechen, heißt deshalb, neue Wahrnehmungsweisen und einen Diskurs zu beschreiben, durch den schon vorher aufgeworfene Fragen anders geordnet, weitergeführt und unter einem bestimmten Blickwinkel verdichtet werden. men Statisten zugewiesen. Wie unterschiedlich solche Inszenierungen auch ausfallen mögen, um Inszenierungen handelt es sich allemal, so auch in die- j ser Arbeit, die sich der Wiederkehr des Erzählens widmet, einer Schreibweise, die sich in der deutschsprachigen Literatur seit Beginn der 80er Jahre, in Ansätzen schon in den 70ern beobachten läßt.3 In den Mittelpunkt gestellt werden Prosatexte von Autoren, die zumeist in den 80er und 90er Jahren debütiert haben, unter anderem - um die bekanntesten zu nennen - Sten Nadolnys Die Entdeckung der Langsamkeit (1983), Patrick Süskinds Das Parfüm (1985), Christoph Rans- | mayrs Die letzte Welt (1988) und Robert Schneiders Schlafes Bruder (1992).4 Es handelt sich um Texte, die scheinbar naiv Geschichten erzäh- | len, indem sie Hauptfiguren einführen, mit durchgängigen Handlungen aufwarten, phantastische Elemente integrieren sowie Spannung und Unterhaltung bieten. Statt den Erzählfluß ständig zu unterbrechen und die Selbstreflexivität der Texte auf diese Weise zu forcieren, treten geradezu verpönte ästhetische Merkmale wieder in den Vordergrund: Linearität, Kohärenz und ästhetische Geschlossenheit. Blickt man in andere, insbesondere in angelsächsische, romanische und lateinamerikanische Länder, so fällt auf, daß solche Merkmale dort keineswegs als Hinweis auf einen heruntergeschraubten literarischen Anspruch gedeutet werden. Im Gegenteil: Gerade außerhalb Deutschlands, Österreichs und der Schweiz läßt sich eine Vielzahl an Autoren nennen, die nicht erst seit den 80er Jahren Geschichten erzählen, ohne mit dem weiterhin diskreditierenden Etikett einfacher Unterhaltung versehen zu werden. Daß Autoren wie Umberto Eco oder Milan Kundera, Gabriel Garcia ' Märquez oder Isabel Allende auch in Deutschland zuweilen die Bestseller- f listen anführen, mag als Indiz dafür gelten, wie stark „erzählende" Literatur auch im deutschsprachigen Raum - noch immer oder schon wieder -rezipiert wird. Auch der ungebrochene Boom an Unterhaltungsliteratur oder Spielfilmen, die eine Geschichte erzählen, spricht eine eigene Sprache. Und doch genießen solche Werke gerade im deutschsprachigen Kulturraum einen zweifelhaften Ruhm, sei es, weil sie die Realität, was auch immer darunter verstanden wird, „verfremden" oder „vereinfachen", sei es, weil sie sich an den Bedürfhissen und Wünschen eines Publikums orientieren. In solchen Argumentationen, deren Fragwürdigkeit an späterer Stelle diskutiert wird, zeigt sich zumindest, wie starr die Unterscheidung zwischen sogenannter ernster, anspruchsvoller Literatur auf der einen und unterhaltender, einen größeren Leserkreis ansprechenden Literatur auf der anderen Seite im deutschsprachigen Raum noch immer ist. Uwe Wittstock hat vor diesem Hintergrund für eine Literatur plädiert, die Vernunft und Sinnlichkeit der Leser auf gleiche Weise anspricht: „Wenn ein Buch unterhaltend ist, muß das keineswegs zerstreuend sein, also den Menschen von sich selbst und allen wesentlichen Gedanken ablenken. Unterhaltsam zu sein kann auch heißen [...], mit literarischen Mitteln beim Publikum Interesse für ein Thema, Anteilnahme an einer Figur, Neugier auf ein Geschehen oder auch Lust an einem ungewöhnlichen Sprachspiel zu wecken und wachzuhalten.' Was sich in der deutschsprachigen Literatur erst gegen Ende der 70er und zu Beginn der 80er Jahre erkennen ließ - Bruno Hillebrand spricht von einer neuen „Lust am Erzählen"6 -, hatte sich in der italienischen Literatur als Wiederkehr der Handlung bereits in der zweiten Hälfte der 60er Jahre vollzogen.7 Eine ähnliche Entwicklung läßt sich auch in der französischen Literatur beobachten. Brigitta Coenen-Mennemeier zumindest hat mit einem Blick auf Texte von Patrick Modiano und Michel Tournier, insbesondere Le rois des aulnes (1970), von einer „Rückkehr zum Erzählen" seit den späten 60er Jahren gesprochen, ebenso Manfred Flügge, der diese Tendenz mit einer „Wiederkehr der Spieler" in Verbindung gebracht hat.8 Auch in der amerikanischen Literatur läßt sich eine „Renaissance des Erzählens"9 erkennen: Martin Klepper hat einen „Akzentwechsel [...] vom extremen Experiment mit Sprache und metafiktionalen Techniken hin zu [...] einer neuen Lust am Erzählen"10 beobachtet, und Joseph C. Schopp kommt zu folgendem Fazit über den amerikanischen Roman der 80er Jahre: „Mit zeitgenössischem narrativen Rüstzeug ausgestattet, epistemolo-gisch gleichsam auf der Höhe der Zeit, werden nun neue Möglichkeiten des Erzählens praktisch erprobt."11 Geschichtenerzählen in der Krise Solch ein Geschichtenerzählen paßt freilich nicht in das Bild einer avantgardistischen Literatur, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Konventionen zu durchbrechen, mit neuen Formen zu experimentieren und sich nicht zuletzt auf diese Weise von Unterhaltungs- und Trivialliteratur abzugrenzen. Ließen HononS de Balzac, Leo N. Tolstoj oder Charles Dickens in ihren Romanen noch allwissende Erzähler auftreten, die das Geschehen ordneten, Sinn stifteten und Kommentare abgaben, so wurden solche Erzählstrategien spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts suspekt. Einer Auflösung des harmonischen Systems in der Musik und einer allmählichen Hinwendung zur Abstraktion in der Bildenden Kunst entsprach in der Literatur eine zunehmende Skepsis gegenüber dem traditionellen Geschichtenerzählen und dem bürgerlichen Roman. Es waren insbesonde-