Christa Wolf Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud Suhrkamp Verlag Er war einer der letzten, dem ich »was erzählen« durfte, dann aber am ausführlichsten und am häufigsten. ALSO WEM KONNTE ICH DIE GESCHICHTE ERZÄHLEN die nun erzählt werden mußte, obwohl es ja gar keine Geschichte war? Das Zufallsprinzip sollte entscheiden: Wer würde beim Nachmittagstee in der Lounge sitzen? Francesco. Allein. Als Zufallstreffer gar nicht so übel. Ich legte das gefaxte Zeitungsblatt vor ihn auf den Tisch, den Artikel, in dessen Überschrift mein Name vorkam im Zusammenhang mit den zwei Buchstaben, die seit Monaten in den deutschen Medien den höchsten Grad von Schuld bezeichneten, und redete drauflos, einen Nachmittag lang, niemand störte uns, es wurde spät, die Sonne war untergegangen, von uns unbeachtet, dann war ich erst mal am Ende, und Francesco sagte: Scheiße. Francesco, der an jenem stillen Regensonntag ganz allein hinter seiner Zeitung saß und wieder über den Nachrichten aus Italien verzweifeln wollte. Sie haben das Land ruiniert, sagte er. Unsere politische Klasse hat das Land ruiniert, und wir haben zugesehen. Das geht den Menschen wie den Leuten, sagte ich, und weil er aufmerksam aufblickte, interessiert zu sein schien, konnte ich den Fax-Artikel vor ihn auf den Tisch legen, und weil er seine Zeitung zusammenfaltete und mich auffordernd ansah, konnte ich reden. Francesco, den manche für unsensibel hielten, der zu cholerischen Anfällen neigte, hörte auf die rechte Weise zu, und ich erzählte ihm von jener Woche vor einem Dreivierteljahr, die mir aus der Zeit gefallen war. Von deiner Fahrt, zehn Tage lang, jeden Morgen in jenen Teil von Ostberlin, den du wenig kanntest. Von jener Straße, die gerade berühmt und berüchtigt wurde, weil sie die Adresse war für jene Behörde, die von allem Bösen, das der untergehende Staat verkörperte, das Böseste war, das Teuflische, das jeden, 178 der mit ihm in Berührung gekommen war, infiziert hatte. Ich versuchte Francesco das Gefühl zu beschreiben, mit dem du auf jenen Innenhof einbogst, um den herum fünfstöckige eintönige Bürohäuser im Quadrat standen. Er kenne solche Häuser, sagte Francesco, und wie sollte er, der Architekturhistoriker, sie nicht kennen. Flüchtig der Gedanke, daß nur in solchen Häusern diese Art von Behörde einquartiert sein konnte. Fremdheit, Beklommenheit überkamen dich, während du auf dem riesigen, immer überfüllten Parkplatz eine Lücke suchtest. Auf welchen Eingang du dann zusteuern mußtest, wußtest du schon, hieltest deinen Ausweis bereit. Daß der Wachhabende dich allmählich kannte, machte es dir paradoxerweise leichter, einzutreten. Natürlich mußte er deine Ausweisnummer jedesmal wieder notieren, die früheren Wachhabenden, die hier Dienst hatten, haben das ja auch getan, dachtest du, während du die Treppe hochgingst, und dir war bewußt, um wieviel beklommener dir zumute gewesen wäre, wenn du in der alten, noch ungewendeten Zeit, vor drei, vier Jahren, in dieses Haus bestellt worden wärest. Dabei wußtest du ja nicht einmal, ob man Außenstehende - Verdächtige? - überhaupt in dieses Haus bestellt hatte oder ob nur Angestellte dieser Behörde hier ein-und ausgegangen waren, deren allergeheimste Materialien nun, da sie zur Hinterlassenschaft geworden waren, vor den Augen von fast jedermann ausgebreitet wurden, auch vor meinen Augen, soweit sie mich betrafen, sagte ich zu Francesco. Kannst du verstehen, fragte ich ihn, daß ich mich jeden Tag zwingen mußte, wieder dorthin zu gehen, mich bei der übrigens netten, bescheidenen und unaufdringlichen Frau zu melden, die jenen winzigen Teil der riesigen Materialfülle verwaltete, der euch betraf und den sie in einer großen grünen Holzkiste lagerten, die ihr »Seemannskiste« nanntet, aus der sie dir die täglich zu bearbeitende Ration von Akten herausholte, um sie vor dir auf den Tisch in jenem Besuchszimmer zu legen, in dem an gleichen Tischen andere Besucher vor ihren Aktenstapeln saßen. Es war sehr still in diesem Raum. Deine Bearbeiterin machte 179 dich mit den geltenden Spielregeln bekannt, übrigens gehörte es zu diesen Regeln, daß sie deine Akten Wort für Wort vor dir gelesen hatte, aber, wie sie versicherte, verpflichtet worden sei, nicht über ihren Inhalt zu sprechen. Hör mal, sagte Francesco, du mußt jetzt nicht weiterreden. Doch, ich muß, sagte ich. Es waren viel mehr Akten, als du erwartet hattest. Zweiundvierzig Bände, später kamen noch mehr dazu, darunter Telefonabhörprotokolle. Die Observierung hatte sehr früh angefangen. Dabei waren die Akten der achtziger Jahre bis auf eine Karteikarte, auf der ihr Inhalt verzeichnet war, nicht vorhanden. Vernichtet. Jedenfalls nicht auffindbar. Und? fragte Francesco. Hättet ihr anders gelebt, wenn ihr das gewußt hättet? Darüber habe ich seitdem nachgedacht, sagte ich. Ihr hattet, wie viele eurer Freunde, damit gerechnet, beobachtet zu werden. Aber nicht so früh. Nicht so lückenlos. Am Telefon hattet ihr Witze gemacht. Hattet zwar eure Meinungen ziemlich rückhaltlos zum besten gegeben, es aber vermieden, Namen zu nennen. Soviel Vorsicht mußte sein. Ihr wolltet euch aber auch nicht so wichtig nehmen und euch in eine Paranoia hineintreiben lassen. Das ist schwer zu beschreiben, dieser Zustand von Wissen und Verdrängen, in dem wir lebten, sagte ich zu Francesco. Und ob wir anders gelebt hätten, wenn wir alles gewußt hätten - ich weiß es nicht. An jenem Nachmittag in der Lounge konnte ich nicht wissen, wie viele Abende, wie viele Stunden in den kommenden Jahren mit dem uferlosen Gerede vergehen sollten, das wir »Stasi-Debatte« nennen würden. Berichte über die jeweilige Aktenlage. Ob ein Verdacht sich bestätigte oder zerstreute. Und in der Öffentlichkeit beherrschten die zwei Buchstaben das Feld: IM. »Informeller Mitarbeiter«. Auf wen die zutrafen oder zuzutreffen schienen, der war verurteilt, wie wenig oder wieviel diese Buchstaben wirklich über ihn aussagen mochten. Meine Betreuerin, sagte ich zu Francesco, die ja meine Akten kannte, hat mich übrigens zweimal morgens gewarnt: Ich 180 rürde an diesem Tag wohl eine böse Überraschung erleben. Jnd? fragte Francesco. Kam die böse Überraschung? Sie kam: Ausführliche Berichte eines Freundes über euer ^eben und Treiben. Da du diesen Freund gut kanntest, hattest du zum ersten Mal die Gelegenheit, eine Erklärung dafür zu suchen, warum sie ihn dazu bringen konnten, euch zu bespitzeln. Ohne seine Schuld hatten sie ihn in der Hand. Aber /arum hatte er euch nicht einen Wink gegeben? Während ich liese Berichte las, sagte ich zu Francesco, mußte ich gegen eine Jbelkeit ankämpfen, mußte ich daran denken, wie viele Leute iiese Seiten vor mir gelesen hatten, wie viele sie nach mir lesen irden, ich fragte mich, ob das erlaubt sein dürfte, und ich entwickelte die Zwangsvorstellung, auf dem Innenhof dieses öden läuservierecks würde ein Riesenfeuer entfacht, und ich würde die Akten aus der Seemannskiste holen und sie nach und lach ins Feuer werfen. Ungelesen. Was für eine Erleichterung :h dabei empfinden würde. Kann ich gut verstehen, sagte Francesco. Ich aber, sagte ich, ich mußte statt dessen diejenigen Deck-lamen aus den Akten heraussuchen, die ich kopieren lassen rollte, ein Köfferchen voll. Ich mußte die Formulare ausfüllen, iit denen ich diese Kopien beantragte, und andere Formulare, auf denen ich die Klarnamen derjenigen zu wissen verlangte, iie uns bespitzelt hatten. Die ich ein paar Tage später schwarz auf weiß vor mir hatte, sie aber, weil es mir peinlich war, meist nur überflog, öfter einen Verdacht bestätigt fand, manchmal loch schmerzlich überrascht war, und die ich dann merkwürdigerweise schnell vergaß. Mittags gingst du - um aus diesem Raum mit den schweifend lesenden Leuten herauszukommen, die jeder in seinen eigenen Kummer versunken und anscheinend unfähig waren, iit einem anderen darüber zu sprechen, eine besondere Art von Scham hinderte euch daran, mehr als einen knappen Gruß «einander auszutauschen - mittags gingst du über den Hof in eines der anderen Gebäude, dort aßest du in einer Art Kantine, I8l die offenbar für die Mitarbeiter dieser Behörde eingerichtet worden war, eine lieblos zubereitete Mahlzeit, mustertest dabei die anderen Essenden und fragtest dich, wie viele von ihnen vor drei, vier Jahren schon hier gearbeitet haben mochten und ob sie, um diese Stelle zu bekommen, ihr früheres Denken und ihre frühere Tätigkeit hatten verleugnen müssen. Oder ob sie ihr wirkliches Denken früher verleugnet hatten und sich jetzt befreit fühlten. Doch wie Befreite sahen sie nicht aus, sagte ich zu Francesco. Aber was bewies das schon. Ich schilderte ihm, wie du von Tag zu Tag bedrückter wurdest, den Augenblick herbeisehntest, in dem du endlich die Akten zurückgeben und Feierabend machen konntest. Und wenn du durch die bekannten fremden Straßen nach Hause fuhrst, hattest du das Gefühl, zu beiden Seiten der Straße habe ein Prozeß des Verwelkens begonnen, der schnelle Fortschritte machte. Die Fassaden der Häuser schienen in wenigen Tagen um Jahre zu altern, die Menschen auf den Bürgersteigen schienen zu schrumpfen, obwohl sie in den Plastiktüten mit den neuen bunten Aufdrucken die neuen Waren nach Hause schleppten, nach denen es sie so sehr verlangt hatte, und selbst die neuen Automarken, die immer häufiger zwischen den alten Fahrzeugen auftauchten, verbreiteten nicht jene Fröhlichkeit, die man sich von ihnen erhofft hatte, als sie noch Sehnsuchtsobjekte auf den Bildschirmen waren. Mein Blick mochte getrübt sein, sagte ich zu Francesco, vielleicht erlebte ich wieder einmal einen jener historischen Augenblicke, in denen ich nicht jubeln konnte, wenn die meisten Menschen jubelten, ich mußte mir eingestehen, daß meine Wünsche und die der meisten Menschen nicht in die gleiche Richtung gingen. Und daß viele meiner Irrtümer eben daraus erwuchsen. Und manchmal mußtest du bei der Rückfahrt anhalten, in irgendeines der neuen Geschäfte gehen und dir eine Bluse oder ein anderes Kleidungsstück kaufen, das du dann nie trugst. Und zu Hause mußtest du sofort duschen und dich vollständig umziehen. Der Blick in diese Akten, weißt du, hat die Vergangenheit zersetzt und die Gegenwart gleich mit vergiftet. Das verstehe er nicht ganz, sagte Francesco. Ein plötzlicher Einbruch von Fakten könne eben auch zerstörerisch wirken, sagte ich, da wurde Francesco wütend und herrschte mich an: Ob ich etwa dächte, was ich da in diesen Akten gefunden hätte, sei die Wahrheit über Fakten gewesen? Die Öffentlichkeit wird dazu gebracht, das zu denken, sagte ich. Eben, sagte Francesco. Frag dich mal, warum. Darüber dächte ich nach, sagte ich. Oft, wenn ich von jenem Ort kam, der Beschädigung dokumentierte und Beschädigung verbreitete und vertiefte, fragte ich mich, ob diese Art Wissen zur Heilung von Wunden führte. Ja doch, sagte ich, wir hatten gewußt, daß wir observiert wurden. Die Autos, die wochenlang vor der Tür standen. Der zerschlagene Spiegel im Bad. Die Fußspuren im Flur. Die deutlich geöffneten und wieder zugeklebten Postsachen. Die oft gestörten und ewig knackenden Telefone. Gewiß. Das war die normale Arbeit der zuständigen Organe. Hatte sie euch nicht angst gemacht, wollte Francesco wissen. Doch. Die normale Angst vor einem Gegner, der über wirksamere Mittel verfügt als du. Und es war eine Wohltat, daß du ihn rückhaltlos »Gegner« nennen konntest: Klare Verhältnisse. Dazu habe ich einige Zeit gebraucht. - Kenn ich, sagte Francesco, kenn ich alles. Und die Kategorien, in die man euch eingegliedert hatte, hast du auch den Akten entnommen: »feindlich-negativ«: Na bitteschön, das hattest du dir denken können. Sie gehören ja zu den PUTS und PIDS - Politische Untergrundtätigkeit, Politisch-ideologische Diversion -, sagte dir eure Bearbeiterin. Aber was war das schleichende Gift, das du aus diesen Akten einatmetest und das dich so lähmte? Damals konntest du es nicht benennen. Jetzt weiß ich: Es war die brutale Banalisierung eures Lebens auf diesen hunderten von Seiten. Die Gewöhnlichkeit, mit der diese Leute euer Le- 182 183 ben ihrer Sichtweise anpaßten. Selbst wenn die Tatsachen gestimmt hätten, über die die Observanten berichteten und die die Führungsoffiziere von Zeit zu Zeit zusammenfaßten - was keineswegs immer der Fall war; sie mußten ja den Interessen und Erwartungen der Auftraggeber angepaßt werden -, selbst dann stimmte nach meinem Empfinden nichts. Wenn ich irgend etwas gelernt habe bei der Lektüre dieser Berichte, dann, was Sprache mit der Wirklichkeit anstellen kann. Es war die Sprache der Geheimdienste, der sich das wirkliche Leben entzog. Ein Insektensammler, der seine Objekte aufspießen will, muß sie vorher töten. Der Tunnelblick des Spitzels manipuliert sein Objekt unvermeidlicherweise, und mit seiner erbärmlichen Sprache besudelt er es. Ja, sagte ich zu Francesco, das war es, was ich damals empfand: Ich fühlte mich besudelt. Wieder bot Francesco mir an, eine Pause zu machen, wir holten uns Tee, es wurde dunkel, wir traten an das große Fenster und sahen den letzten Lichtschein auf der See. Ob das jemand verstehen kann? fragte ich Francesco. Nicht die Masse des Materials, nicht die Menge der auf uns angesetzten Informellen Mitarbeiter, nicht einmal deren Entschlüsselung durch ihre Klarnamen - das alles ist es nicht gewesen, was die Depression in mir auslöste und mir das Gefühl gab, ich dürfe mich nicht tiefer in diese Akten einlassen, um nicht angesteckt zu werden von dem Ungeist, der ihnen entströmte. Nein, nicht angesteckt: Befallen. Ich dürfe nicht zulassen, daß die nachträglich über uns triumphierten, was ja nun in der Öffentlichkeit doch geschieht. So wäre es dir lieber gewesen, sagte Francesco, ihr hättet intelligente, womöglich feinfühlige Informanten auf eurer Spur gehabt? »Lieb« und »lieber« seien Worte, die in diesen Zusammenhang wahrlich nicht gehörten, sagte ich. Die natürlich in den Berichten auch nicht vorkämen. Wie müßten diese Informanten sich ins Fäustchen lachen, wenn sie mitkriegten, wie ernst man ihre oftmals schludrigen Aufzeichnungen jetzt nehme, wie 184 sie nach Belastungsmaterial durchforstet würden, wie sie noch einmal Beweiskraft bekämen und zu Schicksalsentscheidungen über Menschen gebraucht werden könnten. Wie man sie dazu benutzte, einander um Lohn und Brot zu bringen und von begehrten Posten fernzuhalten. Die Büchse der Pandora öffnet man nicht ungestraft, sagte ich. Ihm werde schlecht, sagte Francesco, wenn er sich vorstelle, was passieren würde, wenn in Italien auf einmal alle Geheimdienstakten geöffnet würden. Nicht alle, sagte ich. Nur die von einem Teil eures Landes: Nord oder Süd zum Beispiel. Unmöglich! sagte Francesco. Ich lachte. Es war Abend geworden, ich merkte, Francesco üatte genug, er wollte gehen, aber ich mußte ihn festhalten. Jetzt käme ich erst zu dem Eigentlichen, was ich ihm erzählen müßte, wozu ich aber diese lange Vorgeschichte gebraucht hätte. Der letzte Tag in der Behörde, endlich. Du habest die zweiundvierzig Aktenbände mehr oder weniger gründlich durchgesehen, habest die Klarnamen der Spitzel erfahren und wieder vergessen, du dachtest, du hättest es hinter dir, da druckste deine Betreuerin, zu der du ein beinahe freundschaftliches Verhältnis entwickelt hattest und die deine Akten besser kannte als du selbst, herum: Es sei da noch etwas. Sofort überkam dich ein Gefühl von drohendem Unheil, ohne daß du ahntest, was da noch sein könne, aber du wolltest es wissen, gleich. Sie zögerte. Sie dürfe dir deine »Täterakte« - zum ersten Mal dieses Wort! - nicht zeigen, dazu habe sie sich verpflichtet. Du hast insistiert. Schließlich hat sie dir das Versprechen abgenommen, niemandem zu sagen, daß sie gegen diese Anweisung verstoßen habe. Dann hat sie kurz den Raum verlassen, in dem ihr allein gesessen habt, weil es nach Feierabend war, und ist mit einem dünnen grünen Aktendeckel zurückgekommen, den sie vor dich hingelegt hat, den sie, als du immer noch nicht begriffen hast, hinter dir stehend aufblätterte, wenige Minuten lang, während deren sie sich andauernd umgesehen hat, ob auch niemand 1*5 sie bei dieser verbotenen Handlung ertappte. Das ist doch Ihre Schrift, habe sie dich leise, wie bekümmert, gefragt, und es war meine Schrift, sagte ich zu Francesco, und seitdem weiß ich: Es ist keine leere Redensart, daß einem die Haare zu Berge stehen, das gibt es wirklich. Aber Sie haben ja nichts unterschrieben, keine Verpflichtung, nichts, sagte die Kollegin, das sieht dann nämlich ganz anders aus. Du hattest keine Zeit, du konntest nichts gründlich lesen, konntest die paar Seiten nur überfliegen: Deine Schrift in einem offenbar harmlosen Bericht über einen Kollegen, Berichte zweier Kontaktleute über drei oder vier »Treffs« mit dir und die Tatsache, daß sie dich unter einem Decknamen geführt hatten, machten diesen Faszikel zur »Täterakte« und schleuderten dich unvorbereitet in eine andere Kategorie von Men-schen. Deine Betreuerin, die den Hefter hastig wieder an sich zog, sagte: Dies alles sei ja mehr als dreißig Jahre her, geschehen sei fast nichts, und danach kämen meterweise »Opferakten«, da müsse doch jeder einsehen, wie unerheblich dieser alte Vorgang sei, doch sie habe mich nicht ungewarnt in die Falle laufen lassen wollen, die sich bald auftun werde. Schließlich lese sie ja auch die Zeitungen. Jeder Journalist, der sie anfordere, komme an diese Akte - laut Gesetz! -, und wie sie meine Lage einschätze, sei es doch nur eine Frage der Zeit, bis jemand einen Tip erhalte und meine Spur aufnehme. Ich aber, sagte ich zu Francesco, hörte mich zum ersten Mal sagen: Ich hatte das vollkommen vergessen, und merkte selbst, wie unglaubwürdig das klang. Meine Betreuerin seufzte: Das hören wir hier öfter! und trug die Akte eilig hinaus. Francesco sagte: Scheiße. Und nach einer Weile: Was willst du tun. Ich sagte: Ich werde das alles veröffentlichen. Uberleg dir das genau, sagte Francesco. Ich lese ja auch eure Zeitungen. Du mußt dich fragen, ob du das aushalten kannst, was dann losgeht. Ich kann es mir nicht aussuchen, sagte ich. Übrigens durfte ich ja öffentlich nicht über diese Akte sprechen, um die Mitarbeiterin, die sie mir verbotswidrig gezeigt hat, nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Nun habe ich erfahren, daß sie inzwischen, sehr jung, an Krebs gestorben ist. Also kann ich darüber reden. Kafka, sagte Francesco. Der hätte so was erfinden können. Ja, sagte ich. Auch, weil bei ihm kein Unschuldiger vorkommt. Wie im wirklichen Leben. Ich bog von der Second Street in den spanischen Vorgarten ab, sah die Masken der drei Racoons aus dem Gebüsch starren, betrat die Halle, winkte Herrn Enrico zu, der gerade seinen Tisch abräumte und sein Tagewerk beendete, kam in mein fremdes Apartment, als käme ich nach Hause, goß mir ein Glas Wasser ein, trank, als sei ich am Verdursten, und setzte mich zu meinem Maschinchen an den Tisch. Ich schrieb: WIE SOLL ICH MICH DAVOR HÜTEN, IN EINEN RECHTFERTIGUNGSZWANG ZU GERATEN, WELCHES DIE DÜMMSTE VON ALLEN MÖGLICHEN VERHALTENSWEISEN WÄRE. ABER GIBT ES DENN FÜR DIESEN FALL EINE MÖGLICHE, EINE RICHTIGE, EINE ANGEMESSENE VERHALTENSWEISE. ODER VERFALLE ICH WIEDER IN DEN FEHLER, NACH DEN ANSPRÜCHEN ANDERER ZU FRAGEN. Ich legte mich auf mein breites Bett, es war dunkel draußen, aber noch nicht Schlafenszeit, ich sagte zu der Nonne Perma, deren Buch auf meinem Nachttisch lag: Die Tiger sind da, aber wo ist die Himbeere, ich versank in einen Halbschlaf, in dem Gedichtzeilen vorbeitrieben, die ich kannte, Nimm dein Verhängnis an, heiliger Fleming, was habt ihr von Verhängnis wissen können. Ich dämmerte hinüber in einen flüchtigen Traum, ein Gesicht erschien mir, das Gesicht meiner Freundin Emma, die auch tot war und die ich jetzt gebraucht hätte, aber was sie von mir gefordert hätte, glaubte ich zu wissen: Keine Wirkung zeigen! Das hätte sie gesagt. 186 187 verstehe ich, daß dieses Beharren nicht so weit entfernt war von dem alten Denken, das mich, wie Peter Gutman später sagte, »in den Schlamassel« gebracht hatte. Ich blätterte in Büchern, auf der Suche nach Erleichterung. Ich fand Brechts Verse über die Stadt, in der jetzt ich lebte. Nachdenkend, wie ich höre, über die Hölle Fand mein Bruder Shelley, sie sei ein Ort Gleichend ungefähr der Stadt London. Ich Der ich nicht in London lebe, sondern in Los Angeles Finde, nachdenkend über die Hölle, sie muß Noch mehr Los Angeles gleichen. Stadt der Engel, dachte ich belustigt. Ich holte meinen feuerroten GEO aus der Garage, jedesmal eine Mut- und Geschicklichkeitsprobe, bei der mir möglichst niemand zusehen durfte, und fuhr wieder mal zur 26th Street. Brechts würfelförmiges Haus, in dem er mit Adorno und Eisler und Laughton diskutierte und über die unlösbaren ethischen Probleme des »Galilei« nachdachte, wurde von einem Mann bewohnt, den ich manchmal in seinem Garten sah und der bestimmt nicht wußte, wer vor ihm hier gelebt hatte. Wie oft mag Brecht dieses Haus verlassen haben, um nach Downtown zu fahren? Oder zu den Feuchtwangers in die Villa Aurora, wohin auch mein GEO mich brachte, hoch über den Klippen des Pazifik am Paseo Miramar? Wo einmal, vor Jahren, an einem unvergeßlichen Nachmittag, Marta Feuchtwanger euch die Bibliothek ihres Mannes vorgeführt hatte und wo jetzt in dem ausgeräumten Haus die Handwerker in Wolken von Steinstaub zugange waren. Wo Brecht mit dem »kleinen Meister«, der in eiserner Disziplin alle seine Tage seinem Werk widmete, politische und literarische Probleme besprechen konnte, in denen sie sich einig waren. Während er ja den anderen Meister, Thomas Mann, möglichst mied. Hat es das je gegeben, in der europäischen Neuzeit, daß die geistige Elite eines Landes fast ausnahmslos 206 dieses Land verlassen mußte? Weimar unter Palmen. Wo habe ich das gehört? Oh, sagte ein alter Schauspieler zu mir, im grünen Hof hin-r dem Schönberg-Haus in der North Rockingham Avenue, wo wir uns gegenüberstanden, jeder ein Glas Margarita in der Hand, I am Norman, sagte er, und er stellte mir seine Frau Peggy vor, die in eine Tschechow-Inszenierung gepaßt hätte, das weiße Haar zu einer Frisur der Jahrhundertwende hochgesteckt, lange altertümliche Ketten um den Hals geschlungen, stark gepudert, tieflila Lippenstift, Bluse und Rock auch aus dem Kostümfundus jener Zeit. Er, Norman, war korrekt gekleidet, Anzug, Krawatte auch an diesem sehr heißen Tag im Winter, blaue Amphibienaugen, weißes, akkurat gescheiteltes Haar, ein ziemlich kleines, immer noch straffes Gesicht. Man hätte ihn nicht für einen Schauspieler gehalten. Das änderte sich sofort, als er anfing zu sprechen. Seine Stimme trug immer noch, seine Anekdoten untermalte er mit gut dosierten Gesten, er mußte mir dringlich erzählen: Er habe mit Brecht gearbeitet. Er war einer der Betreiber des Theaters in Beverly Hills, in dem die zweite Fassung des »Galilei« uraufgeführt wurde. Er wußte Geschichten aus den Proben mit Laughton, nicht ganz stubenrein, mit Begeisterung präsentierte er sie mir: Wie Laughton als Galilei bei der Generalprobe, die Hände in den tiefen Taschen seines weiten Gewandes, »was playing with his genitals«. Wie daraufhin Brecht ihm, Norman, telefonisch die Weisung erteilte, Laughton davon abzubringen, was er, Norman, verweigerte, auch als Helene Weigel sich Brechts Aufforderung anschloß. Das könne er nicht machen. Am nächsten Tag aber, vor der Vorstellung, sah man einen wütenden Laughton die Garderobiere verfolgen, die beteuerte, nicht schuld zu sein: Die Taschen waren von Galileis Kittel entfernt. Und wissen Sie, fragte Norman, wer für die Kostüme verantwortlich war? Helene Weigel! O madam, sagte er, wie dankbar wir euch sind, daß ihr uns diese ganze deutsche Kultur hierhergeschickt habt! Was für 207 Männer und Frauen! Brecht. Feuchtwanger. Thomas Mann. Heinrich Mann. Hanns Eisler. Arnold Schönberg. Bruno Frank. Leonhard Frank. Franz Werfel. Adorno. Berthold Viertel. Und-soweiter undsoweiter. O madam, what a seed! Und das beste an ihnen: Ihr Sinn für Humor. Wie hat man mit denen lachen können! Eisler zum Beispiel, Normans Nachbar an der Küste von Malibu, erlitt einmal einen Kreislaufkollaps, sie wurden von der bestürzten Lou Eisler herbeigerufen, Eisler lag auf der Erde, ich fragte ihn, sagte Norman: Hi, what is it. How are you feeling!, darauf er: Als ob tausend Kröten auf meiner Zunge kopulieren würden. Der kann nicht lebensgefährlich krank sein, sagten wir uns. Norman bewunderte immer noch Brechts Auftritt vor dem McCarthy-Ausschuß und die Aussage Eislers, der die Denunziation anderer abgelehnt hatte mit der Bemerkung: They are my colleagues. Die Gäste waren versammelt, man rief uns zu Tisch. Das Haus, in dem Arnold Schönberg, den sein Schüler Eisler sehr verehrte, fünf zehn Jahre gelebt hat, wird jetzt von seinem Sohn Ronald und dessen Frau Barbara bewohnt. Man tritt in einen Wiener Salon ein: Hier hat sich nichts verändert! rief Norman aus. Man bekommt Rindssuppe mit Grießnockerln serviert, Tafelspitz mit Karotten und verschiedenen Saucen und endlich einmal gekochte Kartoffeln, und zum Nachtisch natürlich Sa-chertorte mit Schlagobers und Erdbeeren. Man wird vor eine Vitrine geführt, in der Frau Barbara die wenigen Andenken an ihren Vater, den aus Österreich emigrierten Komponisten Eric Zeisl, aufbewahrt, mit Wehmut spricht die Tochter im Haus des berühmten Schwiegervaters davon, daß ihr Vater vergessen sei. Ich erinnere mich, daß ich es gegen Ende des Dinners wagte, die Rede auf den Streit zwischen Thomas Mann und Schönberg zu bringen, wegen der von Schönberg scharf kritisierten Verwendung von Elementen der Schönbergschen Zwölftonmusik im 22. Kapitel des »Doktor Faustus«. Ob dieser Streit am Ende wirklich beigelegt gewesen sei. Nun ja, sagten die Söhne Schönbergs, die beiden hätten ja diese Briefe gewechselt, sich also sozusagen verständigt. Ob sie sich danach getroffen hätten. Kopfschütteln. Frau Barbara, die versöhnliche: Schönberg sei ja schon 1951, also kurz danach, gestorben. Noch einmal wurden die Gründe aufgezählt, warum Schönberg vom »Doktor Faustus« so erzürnt gewesen war, die Söhne berichteten, auch der Nachspruch in den späteren Auflagen des Buches habe den Vater verletzt. Beide Fassungen, die deutsche und die englische, wurden herbeigebracht und von Barbara vorgelesen. Übrigens habe Schönberg sogar gesagt, wenn Thomas Mann mit ihm gesprochen hätte, so hätte er extra für ihn und für dieses Buch ein Stück komponiert. Unvermutet mußte ich mich an diesem Abend noch streiten mit einem Germanistikprofessor, der den »Doktor Faustus« als »Allegorie auf den NS-Staat« bezeichnete. Ich mußte darauf bestehen, daß es sich um eine viel tiefergehende Deutung deutschen Wesens aus der Geschichte und der Verstrickung deutscher Intellektueller und Künstler in das Unheil handelte, in das diese Geschichte mündete. Der Professor verstand mich nicht, er wollte mir mit Zitaten aus dem Buch beweisen, daß er recht habe, ich war erstaunt, wie flach seine Interpretation war, und mußte die Höflichkeit wahren, aber doch auf meinem Standpunkt bestehen. Das wiederholte sich, als der Professor sich für die Todesstrafe aussprach, nachdem Norman einen Fall geschildert hatte, bei dem Teenager in bestialischer Weise drei Kinder getötet hatten: Wozu sollten diese Teenager am Leben bleiben? Auch andere am Tisch waren dafür, sie mit dem Tode zu bestrafen. Ich gab meine Neutralität auf: Um unseretwillen, sagte ich, müßten die leben. Isoliert werden, sicher, daß sie keinen Schaden mehr anrichten könnten. Aber nicht getötet. Ob ich auch so reden würde, wenn es mein Kind beträfe. Da sagte einer am Tisch, so dürfe man nicht fragen. - Wo war wirklich die Grenze? Die Hinrichtung der Nazi-Massenmörder wurde ja auch yon mir sanktioniert. Ich sagte noch: Man könne sich doch eine 208 209