Am nächsten Morgen erwachte er mit dem bestimmten Vorgefühl, daß der Arzt ihm die nächste Nummer aufs Bett legen werde, die Nummer vom 13. Oktober 1916. Diesmal nahm er sich vor, werde er den Lesestoff planvoll auf den ganzen Tag verteilen. Vormittags den politischen Teil, nachmittags den Gerichtssaal, - Der Arzt kam und brachte keine Zeitung. Er klopfte dem Patienten auf die Schulter und trat an das nächste Bett. Georg Pichler las die Zeitung vom 12. Oktober zum drittenmal. Diesmal las er auch die Annoncen, die Marktberichte und die amtlichen Verlautbarungen. 1 I ~y Als er das Blatt eine Woche später zum siebzehntenmal las, ' vi war die ewig wechselnde Physiognomie der Zeit für ihn zu einer ■ unbeweglichen Maske erstarrt. Immer wieder ereignete sich in aller Welt das Gleiche. Abend für Abend wurde in der Oper das Ballett «Harlekin als Elektriker» und in der Burg «Don Carlos» gegeben. Unermüdlich verurteilte der Bezirksrichter Dr. Bendiener den Kaufmann Emanuel Grünberg wegen Preistreiberei zu sechs Wochen Arrest und sechshundert Kronen Geldstrafe. Restlos geriet die sechzigjährige Private Ludmilla Stangl unter die Schutzvorrichtung der Elektrischen und erlitt täglich neue, schmerzhafte Kontusionen in der Gegend des rechten Hüftgelenks. Ein unerbittliches Gesetz trieb den zwanzigjährigen, beschäftigungslosen Markthelfer Karl Fiala allabendlich in den Trödlerladen des Moritz Wassermann, wo er dem Verkäufer Tag für Tag mit einer Eisenklammer einen wuchtigen Schlag auf den Kopf versetzte. Zum siebzehntenmal wurde der unseligen Frau Melitta Neuhäusel, Fabrikantengattin, Rathausstraße 14, eine Brillantbrosche im Werte von vierzigtausend Kronen entwendet. Gespenstisch erschien alle Tage um die dritte Stunde der Trauerzug am Tor des Zentralfriedhofes, der die Leiche des nach kurzem Leiden verschiedenen kaiserlichen Rates Emil Kronfeld unaufhörlich zur ewigen Ruhe geleitete. In jeder Sitzung des Gemeinderates hielt der Stadtrat Dr. Adolf Lichtvoll unverdrossen die gleiche Rede und immer wieder unterbrach ihn sein Kollege, der Gemeinderat Wowerka, mit der Bemerkung: «Aber tun S' Ihna nichts an!» 34 Wenn Georg Pichler die alte, zerlesene Zeitung zur Hand nahm, war er nicht mehr im Kriegsspital in Tiflis, sondern daheim in Wien. Nach der vierzigsten Lektüre des Blattes wußte er den Leitartikel vom ersten bis zum letzten Wort auswendig. Eine «Zuschrift aus Leserkreisen» hatte seine Weltanschauung aufs gründlichste verändert und ihn zu einem begeisterten Vorkämpfer der Feuerbestattung gemacht. Er lechzte danach, endlich einen Versuch mit der Frostsalbe «Agathol» zu machen, war in andauernder Spannung, ob sich nicht endlich ein Lizenznehmer für das österreichische Patent Nr. 96137 «Kugelzapfen für Kupplungsanlagen» finden werde und sann Tag und Nacht darüber nach, wer aus Mutwillen oder Bosheit den Schuß abgefeuert haben mochte, der die große Spiegelscheibe des Cafe Nizza auf dem Althanplatz zertrümmert hatte. Er kannte nunmehr die billigsten Bezugsquellen für alle Lebensnotwendigkeiten. Er wußte, wo man Nutz- und Schlachtziegen, einzelne Briefmarken und ganze Sammlungen, Trikotseidenreformhosen, Limonadensaft, Dachpappe, dünne Bleche jeder Art, Prachtfüchse, Freilaufräder, Viehsalz, Messingluster und Isolierflaschen preiswert erwerben konnte. Wenn er die Augen schloß, sah er lange Züge von Menschen, die alle zu M. Goldammer, Kleine Sperlgasse 8, pilgerten, um dort ihre alten Hosen, Wäsche, Schuhe, Chiffons, Uniformen, Pelzwaren und ganze Verlassenschaften «Zu erstaunlich hohen Preisen» zu verkaufen. Im Frühjahr 1918 wurde Georg Pichler als Austauschinvalider in die Heimat entlassen. Um diese Zeit hatte er das Morgenblatt vom Dienstag, den 12. Oktober 191G, zweihundertsiebzig-mal gelesen. Dieser Tag - der 12.Oktober 1916 - hatte von ihm Besitz \j ergriffen. Dieser Tag hatte ewiges Leben, hatte alle anderen '• Tage verschlungen, es gab nur ihn. Was sich an ihm ereignet CT hatte, war unverwischbar in Georg Pichlers Erinnerungen eingegraben. Die Zeit war stehen geblieben am Dienstag, den 12. Oktober 1916. Als Georg Pichler aus dem Bahnhof auf die Wiener Straße 35