(Vorwort statt eines Nachworts) Meine Arbeit ist beendet. Ich habe die Ereignisse des Herbstes 1909 niedergeschrieben, jene Folge tragischer Begebenheiten, mit der ich auf so sonderbare Art verknüpft gewesen bin. Ich habe die volle Wahrheit geschrieben. Nichts übergangen, nichts unterdrückt — wozu auch? Ich habe keinen Anlaß, irgend etwas zu verheimlichen. — Während des Schreibens machte ich die Entdeckung, daß mein Gedächtnis eine Unzahl Einzelheiten — zum Teil recht unwichtige Dinge: Gespräche, kleine Vorfälle des Tages — lebendig und deutlich bewahrt hat; daß sich jedoch in mir von der Länge des Zeitraums, in dem sich das alles abgespielt hat, eine ganz falsche Vorstellung herausgebildet hat. Noch jetzt habe ich den Eindruck; als wären es mehrere Wochen gewesen. Das ist ein Irrtum. Das Datum des Tages, an dem mich Doktor Gorski zum Quartettspiel in die Villa Bischoff mitnahm, weiß ich genau: Es war der 26. September des Jahres 1909, ein Sonntag. Das ganze Panorama dieses Tages steht mir noch heute vor Augen: Die Morgenpost hatte mir einen Brief aus Norwegen gebracht, ich versuchte den Poststempel zu entziffern und dachte dabei an die Studentin, die auf der Fahrt über den Sta-vanger Fjord meine Nachbarin gewesen war. Sie hatte ja versprochen, mir zu schreiben. Ich öffnete den Brief, aber er enthielt nur den Prospekt eines Wintersporthotels auf dem Hardanger Gletscher. Enttäuschung. — Später ging ich in den Fechtklub, auf dem Wege, in der Florianigasse, überraschte mich ein Platzregen, ich trat in ein Haustor und entdeckte einen alten, verwilderten Garten mit einem steinernen Barockbrunnen, und eine alte Dame sprach mich an und fragte, ob in diesem Haus nicht eine Putzmacherin Neimens Kreutzer wohne. Das weiß ich noch, als wäre es gestern gewesen. Dann hörte der Regen auf, und es kam schönes Wetter. Als einen Tag mit warmem Wind und wolkenlosem Himmel, so hab' ich den 26. September 1909 in Erinnerung. Mittags speiste ich mit zwei Regimentskameraden in einem Gartenrestaurant. Die Mörgenblätter las ich erst nach Tisch. Sie enthielten Aufsätze über die Balkanfrage und über die Politik der Jungtürken — es ist erstaunlich, wie ich das alles noch weiß. Ein leitender Artikel besprach die Reise des Königs von England, und ein anderer befaßte sich mit den Plänen des türkischen Sultans. »Zuwartende Haltung Abdul Hamids« stand fettgedruckt über den ersten Zeilen. Die Tageschroniken brachten Einzelheiten aus Schefket Paschas und Niazi Beys Lebenslauf — wer kennt heute noch diese Namen? Auf dem Nordwestbahnhof hatte es in der Nacht ein Schadenfeuer gegeben — »riesige Holzvorräte vernichtet« hieß es in den Blättern. Eine akademische Vereinigung kündigte eine Aufführung von Büchners »Danton« an, in der Oper wurde die »Götterdämmerung« gegeben, mit einem Gast aus Breslau in der Rolle des Hagen. Ii^ der Kunstschau waren Bilder von Jan Toorop und Lovis Corinth ausgestellt, und die ganze Stadt lief hin, um sie anzustaunen. Irgendwo, in Petersburg glaube ich, gab es Streik und Arbeiterunruhen, in Salzburg einen Kircheneinbruch, und aus Rom wurden Lärmszenen in der Con-sulta gemeldet. Ganz klein gedruckt fand ich noch eine Notiz über den Zusammenbruch des Bankhauses Bergstein. Er überraschte mich keineswegs, ich hatte 8 ihn kommen sehen und rechtzeitig meine Depots zurückgezogen. Aber ich mußte an einen Bekannten, den Schauspieler Eugen Bischoff, denken, der sein Vermögen gleichfalls diesem Bankhause anvertraut hatte. Ich hätte ihn warnen sollen, fuhr es mir durch den Kopf. — Aber hätte er mir denn geglaubt? Er hielt mich immer für falsch informiert. Wozu sich in fremde Angelegenheiten mischen? — Und zugleich fiel mir ein Gespräch ein, das ich einige Tage zuvor mit dem Intendanten der Hoftheater geführt hatte. Die Rede war auf Eugen Bischoff gekommen — »der Mann wird alt, leider, ich kann ihm nicht helfen«, hatte der Intendant gesagt und ein paar Bemerkungen über das Drängen des Nachwuchses hinzugefügt. Wenn mein Eindruck richtig war, dann bestand für Eugen Bischoff wenig Aussicht auf Erneuerung seines Vertrages. Und nun mußte auch noch das Unglück mit Bergstein & Cie dazukommen. An all dies erinnere ich mich. So deutlich steht das Relief des 26. September 1909 in meinem Gedächtnis. Um so unbegreiflicher ist es mir, wie ich den Tag, an dem wir zu dritt das Haus auf der Dominikanerbastei betraten, gegen die Mitte des Monates Oktober verlegenkonnte. Vielleicht hat mich die Erinnerung an verwelktes Kastanienlaub auf den Kieswegen des Gartens, an reife Trauben, die an den Straßenecken feilgeboten wurden, und an ersten herbstlichen Frost—vielleicht hat mich dieser ganze Komplex unbewußter Erinnerungen, die mir irgendwie mit diesem Tag verknüpft sind, irregeführt; das kann wohl sein. In Wirklichkeit war der 30. September der Tag, an dem die Entscheidung fiel, das habe ich mit Hilfe der Notizen, die ich aus jener Zeit besitze, festgestellt. 8 Ich hatte mich gefaßt. Es war mir in dem Augenblick, da Dinas Bruder ins Zimmer getreten war, klargeworden, daß der, dem ich da gegenüberstand, mein Todfeind war. Daß es sinnlos gewesen wäre, vor dieser Unterredung die Flucht zu ergreifen, und daß der Kampf ausgefochten werden mußte. Aber um was es ging, das hätte ich in dieser Sekunde nicht sagen können. Ich wußte nichts, als daß ich bleiben und dem Gegner die Stirne zeigen mußte, was immer auch kommen mochte. Doktor Gorski machte den Versuch, das, was sich vorbereitete, in der letzten Minute noch zu verhindern. »Felix!« mahnte er und wies mit einer beschwörenden und vorwurfsvollen Gebärde auf den schottischen Plaid, den man über den Toten gebreitet hatte. »Bedenken Sie doch, wo wir sind! Muß das denn jetzt geschehen untf gerade hier?« »Es ist am besten so, Doktor, wozu die Sache verschieben?« sagte Felix, ohne die Augen von mir zu wenden. »Es trifft sich wirklich gut, daß der Herr Rittmeister noch hier ist.« 7 Er nannte mich — gegen seine sonstige Gepflogen^ heit — bei meiner militärischen Charge. Ich wußte, was das zu bedeuten hatte. Doktor Gqrski stand noch einen Augenblick lang unschlüssig zwischen uns, dann zuckte er die Achseln und ging zur Türe, um uns allein zu lassen. Aber Felix hielt ihn zurück. »Ich bitte Sie, zu bleiben, Doktor«, sagte er. »Es kann einer der Fälle eintreten, in denen sich die Anwesenheit eines Dritten als nützlich zu erweisen pflegt.« Doktor Gorski schien den Sinn dieser Bemerkung nicht gleich zu verstehen. Er sah mich mit einem verlegenen Blick an, der um Entschuldigung zu bitten schien, daß er sich zum Zeugen dieser Unterredung machte. Schließlich ließ er sich auf der äußersten Kante des Schreibtisches nieder, in einer Haltung, die zum Ausdruck brachte, daß er bereit sei, jederzeit, falls es etwa gewünscht werden sollte, das Zimmer zu verlassen. Das war für den Ingenieur, den niemand zum Bleiben aufgefordert hatte, das Zeichen, gleichfalls Platz zu nehmen. Er nahm den einzigen Stuhl, der sich im Zimmer befand, für sich in Beschlag, steckte auf umständliche Art, indem er nur zwei Finger der linken Hand dazu benützte, seine Zigarette in Brand und tat, als wäre sein Verbleiben im Zimmer eine Sache, deren Berechtigung von keiner Seite in Zweifel gezogen werden konnte. Ich sah und beobachtete das alles mit einem rein sachlichen Interesse, ich war jetzt vollkommen ruhig und Herr meiner Nerven und wartete gelassen auf das, was kommen sollte. Aber eine Minute lang geschah nichts. Felix stand über Eugen Bischoffs Leiche gebeugt, ich sah sein Gesicht nicht, aber es schien mir, als hätte er mit Ergriffenheit zu kämpfen, als wäre er außerstande, die Maske unnatürlicher Ruhe noch länger zu tragen. Einen Augenblick lang glaubte ich, daß er sich von seiner Bewegung überwältigt über den Toten werfen und daß die Szene mit diesem Gefühlsausbruch ihr Ende nehmen werde. Aber nichts dergleichen geschah. Er richtete sich auf, und das Gesicht, das er mir zuwandte, trug den Ausdruck vollkommener Beherrschung. Er hatte, das sah ich nun, nur die Decke, die zu Boden geglitten war, von neuem über den Kopf des Toten gebreitet.— »Viel Zeit wird uns leider nicht bleiben«, begann er 62 65 nun, und aus seiner Stimme war weder Erschütterung noch Erregung zu hören. »In einer halben Stünde etwa wird die polizeiliche Rommission hier sein, und ich ' möchte bis dahin unsere Angelegenheit in Ordnung gebracht haben.« »Darjn begegnen sich unsere Wünsche«, sagte ich mit einem Blick auf den Ingenieur. »Ich glaube, daß die Zahl der Zeugen vollkommen ausreicht, da^wie ich sehe, beide Herren die Güte hatten, sich für diese Unterredung zu unserer Verfügung zu, halten.« > Doktor Gorski rückte unruhig auf seiner Schreib-N tischkante hin und her, aber der Ingenieur hatte die Unverfrorenheit, zu meinen Worten zustimmend mit dem K.opf zu nicken. »Solgrtib und Doktor Gorski sind meine Freunde«, '', bemerkte Felix. »Ich lege Wert, darauf, daß sie ein, möglichst klares Bild der Sachlage erhalten, und werdejhnen keinen der Umstände, die in dieses Bild gehören, verschweigen. Auch nicht die Tatsache, Herr Rittmeister, daß Dina vor vier Jahren Ihre Geliebte gewesen ist.« Ich fuhr zusammen. Daraufwar ich nicht vorbereitet gewesen. Aber meine Bestürzung währte nur ganz kurze Zeit, und ein paar Sekunden später hatte ich jedes Wort meiner Antwort überdacht. »Ich war, als ich Ihnen diese Unterredung ermöglichte, auf Attacken gefaßt, aber nicht darauf, daß sie sich gegen eine Frau richten würden, die mir hochsteht«, sagte ich. »Ich habe nicht die Absicht, das zuzulassen. Ich muß Sie bitten, den Ausdruck, den Sie gewählt haben —« »Zurückzunehmen? Wozu das, Herr Rittmeister? Es entspricht, wie ich Ihnen versichern kann, vollkommen Dinas Auffassung.« 64 »Habe ich das so zu verstehen, daß Ihre Schwester Sie ermächtigt hat?« »Gewiß, Herr Rittmeister.« »Dann bitte ich Sie fortzufahren.« Über seine Lippen glitt ein knabenhaft selbstbewußtes Lächeln der Genugtuung, weil dieser erste Gang so völlig zu seinem Vorteil abgelaufen war. Aber dieses Lächeln verschwand sogleich wieder aus seinem Gesicht, und der Ton, in dem er weitersprach, blieb unverändert korrekt und beinahe verbindliche »Diese Beziehung, über deren Charakter wir uns also nunmehr geeinigt haben, währte nicht ganz ein halbes Jahr. Sie nahm ein Ende, als Sie die Lust ankam, eine Reise nach Japan zu unternehmen. Ich sage: >Sie nahm ein Ende<, obgleich dieses Ende von Ihrer Seite wohl nur als ein vorläufiges gedacht war —« i »Meine Reise ging nicht nach Japan, sondern nach Tongking und nach Kambodscha«, unterbrach ich ihn. »Ich unternahm sie auch nicht zu meinen Vergnügen, sondern im Auftrage des Ackerbauministeriums«, setzte ich hinzu, und hinter dieser Richtigstellung völlig gleichgültiger Behauptungen verbarg ich mein grenzenloses Erstaunen darüber, daß er so leicht, so gleichmütig an der Tatsache, daß seine Schwester meine Geliebte gewesen war, vorüberglitt. — Wohin will er hinaus? — fragte ich mich. — Wenn er Genugtuung erzwingen will — hier stehe ich, ich bin bereit, — warum packt er nicht zu? Was führt er denn noch im Schild? — Und ein leises Angstgefühl be-schlich mich, die Ahnung einer kommenden und mir unbekannten Gefahr, und diese Angst ließ mich nicht mehr los. »Nach Tongking und Kambodscha also«, fuhr Felix fort, und seine weißbandagierte Hand vollführte eine leichte Geste der Entschuldigung. »Es tut nichts zur 65 Sache, wohki die Reise ging. Aber als Sie, nach einem Jahr ungefähr, heimkamen, erwartete Sie eine Veränderung, auf dleSie nicht gefaßt waren: Sie fanden Dina als die Frau eines anderen, Sie mußten erfahren, daß Sie ihr ein Fremder geworden waren.« Ja. So war es gewesen. Und jetzt, während er sprach, stieg der alte Schmerz voll Ungestüm in mir auf, der brennende Zorn der Enttäuschung, und mit ihm zugleich ein neues Gefühl, ein mir bisher fremdes, das des Hasses gegen diesen jungen Buben, der vor mir stand und mit seinen Händen an Dinge rührte, die ich tief in mir verborgen gehalten hatte. War ich denn da, um ihm Rede zu stehen? Mußte ich zusehen, daß er neugierigen Blicken fremder Menschen preisgab, was Jahre hindurch mein Geheimnis gewesen war? . Genug, schrie es in mir, und ich wollte auf ihn zu, um dieser Szene ein Ende zu machen. Aber da war die Angst, die Angst war wieder da, die Furcht vor etwas Unbestimmtem, dessen drohende Nähe ich fühlte, und diese Angst lähmte mich und machte mich hilflos und lag auf mir, schwer wie ein Alp. Dinas Bruder sprach mit völlig leidenschaftsloser Stimme weiter, und ich mußte ihn anhören. »Daß eine Frau, die Sie unlösbar an sich gekettet zu haben glaubten, sich von Ihnen losgemacht hatte und nun einem anderen gehören sollte — diesen Gedanken vermochten Sie, scheint es, nicht zu ertragen. Sie hatten Ihre erste Niederlage erlitten und fühlten sich herausgefordert. Dina zurückzugewinnen, wurde zur Aufgabe Ihres Lebens. Alles, was Sie seither unternommen haben, auch das Geringste, das scheinbar Bedeutungsloseste, hat ausschließlich diesem einen Ziel, gegolten.« 66 Er machte eine Pause, vielleicht um mir Zeit zu einer Äußerung, zu einer Entgegnung zu lassen. Aber ich sagte nichts, und so fuhr er fort: »Ich habe Sie lange Zeit hindurch beobachtet, Jahre hindurch habe ich Ihnen zugesehen mit einer gespannten Anteilnahme, als wäre das Ganze nur sportliche Arbeit oder eine aufregende Partie auf dem Schachbrett, als ginge es um einen Rennpokal und nicht um das Glück meiner Schwester. Ich sah sie auf sonderbaren Wegen langsam näher kommen, sah Sie Hindernisse nehmen oder umgehen, sah Sie Kreise um dieses Haus ziehen, und Ihre Kreise wurden enger und enger. Sie wußten es zu erzwingen, däß man Sie rief, und eines Tages waren Sie da und standen zwischen Dina und ihrem Gatten.« Jetzt mußte es kommen; der Augenblick war nahe. Ich fühlte, wie meine Hände in nervöser Erwartung zitterten, ich konnte nicht atmen, so sehr drückte mich die Stille, die im Zimmer herrschte. Wie eine Erleichterung empfand ich es, als endlich Felix von neuem zu sprechen begann: »Heute kann ich es Ihnen ja sagen, Herr Rittmeister, daß mir der Ausgang dieses Kampfes niemals zweifelhaft erschienen ist. Sie waren der Stärkere, denn Sie hatten nur ein einziges Ziel im Auge, und alles andere, das es in Ihrem Leben gab, verschwand neben diesem einen — das machte Sie unüberwindlich. Für mich stand es fest, daß diese Ehe in Trümmer gehen werde, weil Sie es so wollten.« Wieder machte er eine Pause, und meine Angst wuchs ins Unerträgliche. Eine halbe Minute etwa verging, mein Blick glitt zu Doktor Gorski hinüber — er stand in einer Haltung voll nervöser Spannung an den Schreibtisch gelehnt, der Ausdruck seines Gesichtes, war der einer vollkommenen Ratlosigkeit; von ihm, ', 67 ' '„ das sah ich, war keine Hilfe zu erwarten. — Der Ingenieur saß in eine Woke von Zigarettenrauch gehüllt in seinem Lehnstuhl und betrachtete gelangweilt seine Fingerspitzen, als wäre er mit seinen Gedanken bei anderen Dingen. »Das alles ist vorüber«, unterbrach jetzt Felix das quälende Schweigen. »Sie haben Ihr'Spiel verloren,. Baron. Der entscheidende Fehler — verstehen Sie, wie ich das meine? Niemals wird Dina auch nur einen Augenblick lang den Mann in ihrer Nähe dulden, der den Tod ihres Gatten auf dem Gewissen hat.« Das also war es. Dieses Gesicht hatte die Drohung, vor der ich gezittert hatte. Und jetzt, da das Wort ausgesprochen war, erschien es mir plötzlich lächerlich absurd. Das Gefühl der Sicherheit war wieder in mir, meine Angst war verflogen, ich stand einem Gegner gegenüber, der seinen Schuß abgefeuert und gefehlt hatte. Nun kam die Reihe an mich, alles weitere lag in meiner Hand. Ich fühlte mich diesem jungen Buben, der es gewagt hatte, mit mir anzubinden, grenzenlos überlegen. Jetzt war ich der Stärkere, und ich wußten wie ich zu handeln hatte. Ich trat ganz nahe an ihn heran und blickte ihm ins Auge: »Ich hoffe«, sagte ich, »Sie lassen es sich nicht im Ernst einfallen, mir oder irgendwem eine Schuld an diesem traurigen Ereignis beizumessen.« Meine Worte hatten die erwartete Wirkung. Er hielt meinem Blick nicht stand, geriet in Verwirrung und trat einen Schritt zurück. »Sie sehen mich überrascht, Herr Rittmeister«, gab er zur Antwort. »Alles andere hätte ich eher erwartet, als daß Sie versuchen würden, Ihr Vorgehen in Abrede zu stellen. Um ganz aufrichtig zu sprechen: Ich verstehe das nicht. Fürchten Sie denn nicht, daß dieser 68 Versuch falsch ausgelegt werden könnte? Mangel an Mut habe ich bis jetzt an Ihnen niemals wahrgenommen.« ; »Die Frage nach meinem persönlichen Mut wollen wir bis auf weiteres unerörtert lassen«, sagte ich in einem Tone, der keine Unklarheit über meine ferneren Absichten zulassen konnte. »Haben Sie die Güte, mir zunächst mitzuteilen, welche Rolle ich Ihrer Meinung nach in dieser Angelegenheit gespielt habe.« Seine Verwirrung war echt gewesen, aber er hatte inzwischen die Fassung wiedergefunden. »Ich hatte gehofft, daß Sie mir das erlassen würden«, sagte er. »Sie bestehen darauf — nun gut. Um es kurz zu machen: Sie hatten, ich weiß nicht auf welchem Weg, in Erfahrung gebracht, daß mein Schwager seine Ersparnisse und auch das kleine Vermögen meiner Schwester dem Bankhaus Bergstein anvertraut hatte, über dessen Zusammenbruch die Blätter heute berichtet haben. Sie wußten ferner, oder Sie ahnten es, daß Dina entschlossen war, ihrem Gatten die Katastrophe so lange als möglich zu verheimlichen. Die Kenntnis dieser beiden Tatsachen wurde in Ihren Händen zu einer Waffe. Im Laufe des Nachmittags haben Sie wiederholt den Versuch gemacht, die Sache in irgendeiner Form zur Sprache zu bringen. Sie legten mehrmals auf Eugen an und ließen die Waffe immer wieder sinken, als Sie sich von Dina und von mir beobachtet sahen. Die Gelegenheit war für Sie nicht günstig, und Sie suchten eine bessere. — Muß ich noch weiter sprechen? Als Eugen das Zimmer verließ, folgten Sie ihm hierher. Nun waren Sie endlich allein mit ihm, niemand war da, um ihm zu helfen. Sie sagten ihm schonungslos, was wir vor ihm geheimgehalten hatten. Dann ließen Sie ihn allein, und zwei Minuten später fiel, wie Sie es erwartet hatten, der 69 Schuß. Sie haben leichtes Spiel gehabt, Sie wußten, daß er den Glauben an sich und seine Zukunft längst verloren hatte.« »Zwei Schüsse fielen«, sagte plötzlich der Ingenieur, aber keiner von uns hörte auf ihn. Mir schien es an der Zeit, dieser ganzen Erörterung ' ' ein Ende zu machen. »Ist das alles?« fragte ich. Felix gab keine Antwort. »Sie haben von Ihren Mutmaßungen auch Frau Dina Mitteilung gemacht?« • »Ich habe mit meiner Schwester darüber gesprochen.« »Sie werden vor allem Frau Dina darüber aufklären, und zwar, wenn ich bitten darf,,heute noch, daß Ihre Annahme irrig war. Ich stehe der ganzen Sache vollkommen fern. Ich habe mit Eugen Bischoff nicht gesprochene Ich habe dieses Zimmer nicht betreten.« »Sie haben dieses Zimmer — nein, Dina ist nicht mehr hier. Wir haben sie vor einer halben Stunde zu meinen Eltern gebracht Sie sagen, daß Sie dieses Zimmer nicht betreten haben?« - »Ich stehe dafür mit meinem Worte ein.« »Mit Ihrem Worte als Offizier?« »Mit meinem Ehrenwort.« »Mit Ihrem Ehrenwort«, wiederholte Felix langsam. Er stand, ein wenig vornübergeneigt, vor mir und nickte zwei- oder dreimal mit dem Kopf. Dann verän- . derte sich seine Haltung. Er richtete sich auf, er dehnte und reckte sich wie ein Mann, der eine schwere und mühselige Arbeit glücklich beendet hat. Über seine festgeschlossenen Lippen glitt ein Lächeln, eine Sekunde lang nur, und dann verschwand es wieder. »Ihr Ehrenwort«, sagte er nochmals. »Das schafft natürlich eine andere Situation. Das vereinfacht die 70 j ' Sache erheblich — solch ein Ehrenwort. Wenn Sie mir « noch einen Augenblick lang Aufmerksamkeit schen- ,, ken wollen — der unbekannte Besucher hat nämlich I ' einen Gegenstand im Zimmer vergessen — nichts von \ besonderem Wert, vielleicht hat er ihn bis jetzt noch i gar nicht vermißt. Sehen Sie — dies hier.« j' In der weißbandagierten Hand hielt er etwas rot- ! braun Glänzendes, ich kam näher, ich erkannte es nicht sogleich, und dann fuhr ich entsetzt in meine Rocktasche und tastete nach meiner kleinen engli- • ' sehen Shagpfeife, die ich immer bei mir trug — die ! Tasche war leer. »Sie lag auf dem Tische«, fuhr Felix fort. »Sie lag da, I ' als wir hereinkamen, Doktor Gorski und ich. Geben Sie acht, Doktor — !«* Alles rings um mich her geriet ins Schwanken. In mir wurde es dunkel. Wie eine längst vergessene Erinnerung tauchte es in mir auf, als wären Jahre darüber, vergangen — ich sah mich durch den Garten gehen, I ' über den Kiesweg, an den Fuchsienbeeten vorbei — i wohin ging der Weg? Was suchte ich im Pavillon? Die • - 1 Türe knarrte beim Öffnen. Wie Eugen Bischoffbleich I wurde bei meinen ersten geflüsterten Worten, wie er ] ' verstört auf das Zeitungsblatt starrte, wie er aufsprang ! und wieder zurücksank! Und der scheue Blick, der mir folgte, als ich den Pavillon verließ und die knarrende Türe behutsam hinter mir zuzog. — Auf der Ter-i rasse ist Licht. — Das ist Dina — hinauf zu ihr — und jetzt — ein Schrei — ein Schuß! Dort unten steht der j Tod, und ich, ja ich — ich habe ihn gerufen. — »Geben Sie acht, Doktor, er fällt«, klang es mir im Ohr. Nein. Ich fiel nicht. Ich schlug die Augen auf und saß im Lehnstuhl. Vor mir stand Felix. r '< 71 »Die Pfeife ist Ihr Eigentum^ nicht wahr?« Ich nickte. Die weißverhüllte Hand sank langsam hinunter. — Ich stand auf. . . »Sie wollen gehen, Baron!« sagte Felix. »Nun ja, die, Sache ist in Ordnung, und ich muß Ihre Zeit nicht weiter in Anspruch nehmen. Ein Ehrenwort, das Ehrenwort eines Offiziers, gehört wohl nicht zu den Dingen, über die wir verschiedener Ansicht sind. Und da wir einander kaum noch1 begegnen werden, möchte ich Ihnen nur noch sagen, daß ich im Grunde niemals Feindseligkeit gegen Sie empfunden habe — auch heute nicht. Ich habe immer viel für Sie übrig gehabt, Baron. Ich habe mich auf sonderbare Art von Ihnen angezogen gefühlt. Sympathie, nein — das wäre nicht das richtige Wort. Es war wohl mehr — ich bin meiner Schwester echter Bruder. —. Sie haben ein Recht, zu fragen, warum ich Sie trotz solcher Gefühle in diese Situation gebracht habe, aus der es für Sie, wie die Sache nun einmal stellt, nur einen einzigen Ausweg gibt. — Nun, man kann fasziniert auf eine Wildkatze oder einen Edelmarder starren, man kann von der Haltung und den Bewegungen dieses Geschöpfs, von der Kühnheit seines Sprunges etwa, bezaubert sein und es dennoch kaltblütig niederknallen — weil es eben Raubzeug ist. — Bleibt mir nur noch, Ihnen zir versichern, daß Sie in der Ausführung der Entschlüsse, die Sie zweifellos schon gefaßt haben, durchaus nicht an die nächsten vierundzwanzig Stunden gebunden sind. Ich werde — falls sich solch ein Schritt überhaupt noch als notwendig erweisen sollte — das Ehrengericht Ihres Regiments keinesfalls vor Ablauf dieser Woche mit Ihrer Angelegenheit bemühen. Das ist es, was ich Ihnen noch sagen wollte.« Ich hörte das alles, aber ich war mit meinen Gedanken hei der durikeln Mündung des Revolvers, der auf dem .Tische lag. Ich sah sie mit zwei großen, runden Augen in die meinen starren, sie kam näher und näher, sie wurde größer und größer, sie verschlang den Raum, ich sah nichts als sie allein. »Du tust dem Herrn Baron unrecht, Felix«, horte ich plötzlich die Stimme des Ingenieurs. »Er hat mit dem Morde so wenig zu tun wie du und ich.« 72 73 karten«, stellte Felix fest. »Dominio Florentino. Ducato di Ferrära. Romagna olim Flaminia. Nichts als Landkarten. Wir haben uns geirrt, Doktor.« »Blättern Sie weiter, Felix! Patrimonio di San'Pietro et Sabina. Regno di Napoli. Legionis Regnum et Astu-riarumprincipatus. Jetzt kommen die spanischen Provinzen. — Halt! Sehen Sie nicht? Die Rückseite ist beschrieben.« »Wahrhaftig, Doktor, es ist Italienisch.« »Altes Italienisch, jawohl. Nel nome di Domineddio vivo, giusto e sempiterno ed al di Lui honore!Relazione di Pompeo di Bene, organista e cittadino della cittä di Firenze--Felix, das ist es! Wir haben es! — Herr Albachary, wollen Sie mir das Buch überlassen?« »Nehmen Sie es! Schaffen Sie es fort von hier, ich will es nicht mehr sehen.« »Ja, aber wie, um des Himmels willen?« rief Doktor Görski. »Wie bringe ich es fort von hier? Ich kann es kaumheben!« »Zwei fräftige Leute aus meinem Laboratorium«, sagte Felix. »Um drei Uhr nachmittags ist es bei mir.« 20 1 . I, - ■ ■ ■ '■■ , " --— Im Namen des lebendigen, ewigen und gerechten Gottes und zu seinem Preis: — Bericht des Pompeo ■, di Bene, Orgelspielers und Bürgers der Stadt Florenz, über die Geschehnisse, die sich vor seinen Augen zugetragen haben in der Nacht auf Simon und Juda des Jahres MDXXXII nach der Fleischwerdung Christi. — Geschrieben von seiner eigenen Hand. < Da ich morgen mein fünfzigstes Jahr vollenden werde und die Dinge ein solches Aussehen haben, daß einer in dieser Stadt, leichter als er glaubt, sein Leben vor der Zeit verlieren kann, so will ich, nachdem ich mich viele Jahre hindurch des Schreibens enthalten habe, mit heutigem Tage die Wahrheit bekennen und zur Erinnerung niederschreiben, was in jener Nacht dem Giovansimone Chigi, genannt. Catti-vanza, widerfahren ist, dem hochberühmten Baumeister und Maler, den sie heute den »Meister des Jüngsten Tages« nennen. Möge Gott ihm seine Sünden vergeben, wie ich will, daß er mir vergebe und aller Kreatur. Als ich ein Knabe von sechzehn Jahren war, hatte ich die Malerei zu meiner Kunst gewählt und gedachte, von ihr zu leben. Und mein Vater, der ein Seidenwirker in der Stadt Pisa war, hatte mich zu Tommaso Gambarelli in die Werkstatt gegeben, und ich arbeitete mit ihm an vielen großen und schönen Werken. Aber am 24. Mai, zu den Vigilien des heiligen Pfingstfestes, an eben jenem Tage, an dem die Feinde den Monte Sansovino nahmen, starb genannter Tommaso Gambarelli im Hospital della Scala an der Pest. Also suchte ich mir im Namen Gottes einen 176 177 anderen Meister und ging zu Giovansimone Chigi, der seine Werkstatt auf dem alten Markt neben den Trö-delbuden hatte. Dieser Giovansimone Chigi war ein kleiner und mürrischer Mann; er trug, Sommer und Winter, ein Räppchen aus blauem Tuch mit Ohrklappen, und wer ihn zum erstenmal sah, der mochte ihn eher für den Kapitän eines maurischen Kaperschiffes halten als fiir einen Christen und Bürger der Stadt Florenz. Und so geizig war er, daß er mir nicht ein halbes Brot in der Woche gab. Ich war noch nicht sieben Wochen bei ihm, da hatte ich schon fünf Goldflorenen von dem Meinigen ausgegeben. Eines Abends, als ich aus der Rechenschule nach Hause, kam, traf ich in der Werkstatt meinen Meister im Gespräch mit dem Messer Donato Salimbeni aus Siena, einem Arzt, der im Dienste des Kardinallegaten Pandolfo de'Nerli stand. Messer Salimbeni war ein Mann von erhabenem Geist und ehrwürdigem Aussehen, weit gereist und sehr erfahren in der Laborantenkunst. Ich kannte ihn von meinem früheren Meister her, und seine trefflichen Heilmittel hatten mir große Erleichterung verschafft, damals, als ich mir .bei einem Ritt nach Pisa von der feuchten Luft das Fieber geholt hatte. Als ich eintrat, stand Messer Salimbeni in Betrachtung eines Bildes, das eine von Engeln umgebene Muttergottes darstellte, während der Meister vor dem Feuer auf und ab ging, denn es war kalt. Und wie Messer Salimbeni mich erblickte, winkte er mir, heranzukommen, und fragte: »Und dieser da?« »Ich habe nur den einen«, sagte der Meister und verzog den Mund. »Er malt Blumen und kleine Tiere auf eine Art, die man loben kann, und diese Arbeiten 178 gelingen ihm am besten. Und wenn ich auf meinen Bildern Eulen, Katzen, Singvögel oder Skorpione anzubringen hätte, so könnte er mir wohl behilflich sein.« Er seufzte und bückte sich zur Erde, um zwei Scheite Eichenholz ins Feuer zu werfen. Dann fuhr er fort: »Da ich jung war, gelangen mir viele herrliche Werke, und ich habe mit meiner Kunst den Ruhm dieser Stadt vermehrt. Ich bin es, der den schönen'heiligen Petrus aus Erz gemacht hat, den Ihr noch heute vor dem Altare der Kirche Santa Maria del Fiore sehen könnt. Damals heftete man mir mehr als zwanzig Sonette an meine Türe, die alle mein Werk und meinen Namen priesen. Und man erwies mir noch andere und größere Ehren. Heute aber bin ich ein alter Mann, und es will mir nichts Rechtes mehr gelingen.« Und er wies auf einen im Tempel lehrenden Christus und auf eine von Engeln zum Himmel emporgetragene Maria Magdalena und sagte: »Das ist nichts, was Ihr da seht. Ich weiß es wohl, und Ihr müßt es mir nicht sagen, denn nichts ist drückender als Tadel. In meiner Jugend hatte ichdie Kraft der Gesichte, und ich sah Gottvater und die Patriarchen, ich sah den Erlöser, die Heiligen und die Jungfrau und die Engel. Ich sah sie auf wunderbare Weise, wohin immer ich auch blickte, oben in den Wolken und hier unten in meiner Werkstatt, so klar und lebendig, wie der Verstand sie niemals zu ersinnen vermag. Und wie ich sie sah, so malte ich sie, und es gab nicht viele in meiner Kunst, die es mir gleichtaten. Heute aber sind meine Augen trübe, und in mir ist die Glut der Gesichte erloschen.« Messer Salimbeni stand an die Wand gelehnt in der Dunkelheit, und ich sah ihn nicht, ich hörte nur seine Stimme. 179 »Giovansimone!« sagte er. »Alle menschliche Weisheit ist nur Stückwerk und weniger als Stückwerk, ist nur Rauch und Schatten vor dem Antlitz des Herrn. Dennoch ist es mir beschieden gewesen, indem ich meine Gedanken zu Gott erhob, einige von den Geheimnissen zu ergründen, von denen diese vergängliche Welt erfüllt ist. Und das, was du die Kraft der Gesichte nennst, kann ich dir wiedergeben, und ich kann sie sogar in solchen erwecken, die sie nie zuvor besessen haben. Und das ist mir ein leichtes.« Der Meister horchte auf. Eine kurze Weile stand er und überlegte, dann schüttelte er den Kopf und stieß ein Gelächter aus. »Messer Salimbeni!« sagte er, »man weiß es in der ganzen Stadt, daß Ihr Euch vielerlei geheimer Künste und Fertigkeiten rühmt, aber wenn Ihr sie anwenden sollt, so habt Ihr immer Ausflüchte zur Hand. Sicherlich war das, was Ihr eben sagtet, auch nur eine von Euern Großsprechereien. Oder habt Ihr am Ende diese Kunst am Hofe des Moguls oder des Türken erlernt?« ' ' »Diese Kunst«, sprach der gelehrte Arzt, »ist keine von den heidnischen Künsten, und ich verdanke sie der Güte Gottes allein, der mir den Weg des Erkennens gewiesen hat.« »Dann«, sagte der Meister, »habe ich keinen anderen Wunsch, als bald etwas von dieser Kunst zu sehen. Aber das eine sag' ich Euch, wenn Ihr mich zum besten halten wollt, so werdet Ihr übel bei mir ankommen.« »Für heute«, sagte Messer Salimbeni, »ist nicht viel mehr zu tun, als daß wir uns über den Tag einig werden, an dem das Werk vonstatten gehen soll. Doch zuvor geh mit dir zu Rat, Giovansimone! Denn ich sage dir, daß es ein stürmisches Meer ist, in das du dich wagst, und vielleicht wäre es besser für dich, du bliebest im Hafen.« »Recht habt Ihr, Messer Salimbeni!« rief der Meister. »Man muß Vorsicht üben. Jedermann weiß, daß ich einen schlimmen Feind in Euch habe, wenngleich Ihr mir mit Worten die Ehren, die mir gebühren, widerfahren laßt. Ich darf Euch nicht trauen.« »Es ist wahr, Giovansimone, und wozu es verschweigen!« sagte der Arzt des Kardinallegaten. »Es steht eine Sache zwischen uns beiden. Du hattest einen Streit mit Cino Salimbeni, dem Sohn meines Bruders, und er gab dir harte Worte, und du sagtest so laut, daß es alle, die anwesend waren, hören konnten: >Nur Geduld, auch dafür wird der Tag kommen.* Und einige Tage darauffand man ihn tot auf dem Weg, der durch die Wiesen zum Kloster der Servibrüder führt, dort lag er, und das Dolchmesser stak ihm zwischen Hals und Nacken.« »Er hatte viele Feinde, und ich hab' ihm sein Unglück vorausgesagt«, murmelte der Meister. »Es war ein spanischer Misericordia-Dolch, und in die Klinge hatte der spanische Waffenschmied seinen Namen eingetrieben«, fuhr Messer Salimbeni fort. »Dieser Dolch gehörte einem Mann, der aus Toledo hierher geflohen war, und sie ergriffen ihn und brachten ihn vor die Achte. Aber er schrie und beteuerte, daß er das Messer in der Nacht zuvor bei den Trödelbuden auf dem alten Markt verloren habe. — Sie glaubten ihm nicht, und er bestieg den Karren.« »Ehre gebührt dem Spruch der Achte«, sagte der Meister. »Und geschehene Dinge haben ein Ende.« »Wisse«, rief Messer Salimbeni, »daß geschehene Dinge niemals ein Ende haben, und der, der es getan hat, möge der Gerechtigkeit Gottes gewärtig sein.« »Ich sage Euch das eine«, gab der Meister zur Ant- 180 181 wort. »Ich war in meinem Hause und malte eine heilige Agnes mit den Buch und dem Lamm, so wie es mir aufgetragen war, da kam dieser Messer Cino und bot mir Versöhnung an, und wir tranken zusammen und schieden in Freundschaft voneinander. Und am Tag darauf, als die Übeltat geschah, da lag ich krank in meinem Bette, dafür habe ich Zeugen. Und so wahr mir Gott gnädig sein möge am Tag des Gerichtes, so und nicht anders ist es gewesen.« »Giovansimonef«.sagte der Arzt. »Nicht ohne Grund nennen sie dich: die Schlechtigkeit.« Als der Meister diesen Spottnamen, den die Leute ihm gegeben hatten, hörte, geriet er in Zorn, denn das ertrug er niemals. Und sein Zorn nahm ihm den Verstand. Er griff nach der Radschloßbüchse, die er immer schußbereit in seiner Werkstatt hatte, und schwang sie wie ein Rasender und schrie: »Hinaus mit dir, du Strauchdieb, du Pfaffenbastard! Mach, daßdufortliommst,undkommmirnichtwieder!« Messer Salimbeni wandte sich und ging die Treppe hinunter, aber der Meister lief mit der Büchse in der Hand hinter ihm her, und ich hörte ihn noch lange Zeit vor dem Hause schelten und toben. Einige Zeit darauf, und es war am Vorabend des Festes Simon und Juda, da kam Messer Donato Salimbeni zum anderen Mal. Und er sprach, indem er tat, als wäre zwischen ihm und dem Meister nichts vorgefallen: »Der Tag ist da, den du erwartest, Giovansimone, und ich bin bereit.« Der Meister sah von seiner Arbeit auf. Als er den Messer Salimbeni erkannte, geriet er von neuem in Zorn und rief: »Was wollt Ihr schon wieder? Habe ich Euch nicht aus meinem Haus gewiesen?« i 182 »Heute werde ich dir willkommen sein«, sagte der Arzt. »Ich bin gekommen, um die Sache, von der wir gesprochen haben, ins Werk zu setzen, und es ist, gerade die richtige Stunde.« »Geht nur, geht!« sagte der Meister verdrossen. »Ihr habt mir schändliche Worte gegeben. Aber ich will es Euch gedenken.« »Dem, der nichts begangen hat, haben meine Worte nicht gegolten«, erwiderte ihm Messer Salimbeni, und dann wandte er sich mir zu und rief: »Auf, Pompeo! Jetzt ist es nicht an der Zeit, die Flöte zu blasen. Geh und hole mir das und das!« Und er nannte mir die Namen der Kräuter und Spe-zereien, deren er zu seinem Räucherwerk bedurfte, und wieviel von jedem. Unter den Kräutern gab es etliche, deren Natur ich nicht kannte, und wieder andere, die an allen Ecken wachseh. Dazu zwei. Nösel gebrannten Wein. Als ich auf dem Apothekerladen zurückkam, waren die beiden in allen Stücken einig geworden. Und Messer Salimbeni nahm die Spezereien und die Kräuter aus meinen Händen und sagte zu dem Meister: Das ist dies und das ist jenes, Sodann machte er das Räucherwerk zurecht. Als er damit zu Ende war, verließen wir die Werkstatt. Und während wir die Treppe hinuntergingen, ließ der Meister den Messer Salimbeni sehen, daß er an der Seite unter seinem Mantel ein Dolchmesser und einen Degen trug. »Messer Salimbeni!« sagte er. »Und wenn Ihr der Teufel selbst wäret, glaubt nur nicht, daß ich Euch fürchte.« Wir gingen durch die Chiaragasse Und über die •Rlfredibrücke und jenseits des Flusses an der Tuchwalkerei vorbei und vorbei an der kleinen Kapelle, in 183 der die alten marmornen Sarkophage stehen. Es war eine helle Nacht, und der Mond stand am Himmel. Und endlich, nachdem wir eine.Stunde lang gewandert waren, kamen wir auf einen Hügel, der gegen eilten Steinbruch hin steil abfiel. Heute steht auf dieser Stelle ein Landhaus, genannt Zum Ölbaum", aber damals weideten tagsüber dort die Ziegen. Hier blieb Messer Salimbeni stehen und befahl mir, Reisig und Disteln zu sammeln und ein Feuer zu machen. Und zu meinem Meister gewendet sprach er: »Giovansimone, hier ist der Ort, und die Stunde ist gekommen; Noch einmal sage ich dir: Geh mit dir zu Rat! Denn starken und sicheren Gemütes muß sein, wer sich eines solchen Beginnens unterfangen will.«. »Gut, gut«, sagte der Meister. »Laßt die vielen Worte und fangt endlich an!« Nun beschrieb Messer Salimbeni mit vielen Zeremonien einen Kreis um das Feuer, und in diesen Kreis führte er den Meister. Sodann warf er etwas von seinem Räucherwerk in die Flammen, und sowie er das getan hatte, verließ er den Zirkel. Eine dicke Wolke Rauchs erhob sich aus dem Feuer und wuchs in die Höhe und umhüllte den Meister, und für eine Weile entschwand er meinen Augen. Aber sowie der Rauch sich verzogen hatte, warf Messer Salimbeni von neuem Räuöherwerk in die Flammen.' Dann fragte er: »Was siehst du nun, Giovansimone?« »Ich sehe«, sprach der Meister, »die Felder und den Fluß und die Türme der Stadt und den nächtlichen Himmel, sonst nichts. Jetzt sehe ich einen Hasen über die Wiesen laufen und, o Wunder, er ist gesattelt und gezäumt.« »Das ist wahrhaftig ein besonderes Gesicht«, sagte 184 Messer Salimbeni. »Aber du wirst, denke ich, heute noch mehr dergleichen sehen.« »Es ist kein Hase, es ist ein Ziegenbock!« rief der Meister. »Es ist kein Ziegenbock, es ist ein morgenländisches Tier, dessen Namen ich nicht kenne, und es macht die tollsten Sprünge. Jetzt ist es verschwunden.« Plötzlich begann der Meister zu grüßen und sich zu verbeugen. »Siehe da!« rief er. »Mein Nachbar, der Goldschmied, der im vorigen Jahr verstorben ist. Er sieht mich nicht. Wehe Euch, Meister Castoldo, Ihr habt das Gesicht voll Schwären und Beulen.« »Giovansimone, was siehst du jetzt« fragte der Arzt. »Ich sehe«, sagte der Meister, »zackige Felsen und Klüfte und Schluchten und steinerne Grotten. Und ich sehe einen Felsen, schwarz von Farbe und frei in der Luft schwebend, und er stürzt nicht nieder, was ein großes Wunder und kaum zu glauben ist.« »Das,ist das Tal Josaphat«, rief Messer, Salimbeni. »Und der schwarze Felsen, der in den Höhen schwebt, ist Gottes ewiger Thron. Und wisse, Giovansimone: Die Erscheinung des Felsens ist mir ein Zeichen, daß es dir bestimmt ist, in dieser Nacht noch so Gewaltiges zu sehen, wie nie ein Mensch vor dir erschaut hat.« »Wir sind nicht allein«, sagte der Meister, und seine Stimme senkte sich zu einem angstvollen Flüstern. »Ich sehe Menschen, die singen und jubilieren, und es sind ihrer viele.« »Nicht viele, nein, nur wenige sind es, denen es gewährt ist, mit den Engeln Gottes das Gloria des Jüngsten Tages zu singen«, sagte Messer Salimbeni mit leiser Stimme. »Und jetzt sehe ich Tauseride und Abertausende, eine unendliche Schar, Ritter und Ratsherren und reichgeschmückte Frauen, die recken die Arme 185 ' empor und weinen, und es ist ein großes Wehklagen unter ihnen.« .'. • »Sie klagen«, rief Messer Salimbeni, »um das, was gewesen ist und nicht mehr sein kann. Sie weinen, weil sie verdammt sind zur Finsternis und auf ewig beraubt des göttlichen Angesichts.« »Ein' ungeheures, Feuerzeichen steht am Himmel«, schrie der Meister. »Und es leuchtet in einer Farbe, die ich nie zuvor gesehen habe. Wehe mir! Das ist keine irdische Farbe, und meine Augen ertragen sie nicht. »Das ist die Farbe Drommetenrot«, rief Messer Salimbeni mit donnernder Stimme. »Das ist die färbe pronimetenrot, in der die Sonne leuchtet am Tag des Gerichts.« »Wessen ist die Stimme, die meinen Namen aus dem Sturmwind ruft?« schrie der Meister, und er begann am ganzen Leibe zu zittern. Und plötzlich stieß er ein Heulen aus, das klang wie das eines Tieres und durchdrang die Stille der Nacht Und wollte kein Ende nehmen. »Wehe mir!« schrie er. »Sie sind da, und sie greifen nach mir, die Dämonen der Hölle, sie kommen von allen Seiten, und die Luft ist erfüllt von ihnen.« Und von Entsetzen gejagt, Versuchte er zu fliehen, aber die unsichtbaren Dämonen ereilten ihn, und er fiel zu Boden und schlug um sich ins Leere. Schreiend und mit grauenvoll verzerrtem Antlitz erhob er sich und lief von neuem und brach wiederum nieder, und das war so jammervoll anzusehen, daß ich vor Angst zu sterben vermeinte. »Helft ihm, Messer Salimbeni!« rief ich in meiner Verzweiflung, aber der Arzt des Kardinallegaten schüttelte den Kopf. »Es ist zu spät«, sagte er. »Er ist verloren, denn die 186 Gesichte der Nacht haben Gewalt über ihn bekommen.« . »Barmherzigkeit, Messer Salimbeni!« schrie ich. »Barmherzigkeit!« • '. Da hatten die Dämonen der Hölle den Meister ergriffen, und sie schleppten ihn mit sich fort, und er wehrte sich und schrie. Und Messer Salimbeni schritt auf ihn zu, dort, wo der Hügel sich gegen děn Steinbruch hin senkte, trat er ihm in den Weg. »Mörder ohne die Furcht des allmächtigen Gottes!« rief er. »Steh und bekenne deine Tat!« r\ »Gnade!« schrie der Meister undfiel auf die Knie und bedeckte sein Antlitz mit den Händen. Da hob Messer Salimbeni die Faust und traf ihn mit- ' ten in die Stirne, daß er wie tot zü Boden stürzte. Heute weiß ich es, daß dies nicht Grausamkeit war, sondern eine Tát des Erbarmens, und daß Messer Salimbeni mit diesem Schlag den Meister aus der Gewalt seiner Gesichte erlöste. Wir brachten den Betäubten in seine Werkstatt, und dort lag er ohne ein Zeichen des Lebens bis zum Abendläuten. Als er erwachte, wußte er nicht, ob es Tag oder Nacht war, er redete irre und sprach immer und immer wieder von den Dämonen der Hölle und von der grauenvollen Farbe Drommetenrot. Später, als die Raserei von ihm zu weichen begann, verlor er sich in sich selbst, er saß in einem Winkel seiner Werkstatt und starrte ins Leere, und mit keinem Menschen sprach er ein Wort. Aber des Nachts hörte ich ihn in seiner Kammer wehklagen und Gebete singen. Und am St. Stephanstag verschwand er aus der Stadt, und niemand wüßte, wohin er gegangen war. . 187 " ■ ' ■ Es geschah, als ich drei Jahre später auf dem Weg nach Rom in das Kloster der Seraphischen Brüder von den sieben Schmerzen kam, in dem das Haarband und der Gürtel der Heiligen Jungfrau aufbewahrt wird, sowie auch ein Knäuel Garn, den sie mit eigenen Händen gesponnen hat. Und ich ging, vom Prior begleitet, in die Kapelle, um die heiligen Reliquien zu betrachten. Da sah ich einen Mönch, der stand auf einem Gerüste, und.es währte eine Weile, ehe ich meinen gewesenen Meister, den Giovansimone, erkannte. »Er ist verstörten Sinnes«, sagte der Prior, »aber wahrhaft groß in seinen Entwürfen. Wir nennen ihn den Meisterndes Jüngsten Tages. Denn er malt nur dieses eine, immer wieder das gleiche. Und wenn ich ihm sage: Meister, hieher eine Heimsuchung und an jene Wand die Heilung des Lahmen oder die Speisung der Zehntausend, so wird er sehr zornig, und rnan muß ihm seinen Willen lassen.« DieSonne war eben im Untergehen, und rosenfar-benes Licht fiel durch die Fenster auf die steinernen Fliesen. Undich erblickte an der Wand den schwebenden Felsen, Gottes und das Tal Josaphat und den Chor der Erlösten und die vielgestaltigen Dämonen der Hölle und den feurigen Pfuhl, und sich selbst hatte der Meister unter die Verdammten gemalt, und das alles war mit solcher Wahrheit dargestellt, daß mich ein Schauer des Entsetzens überlief. »Meister Giovansimone!« rief ich zum Gerüste empor, aber er erkannte mich nicht. Mit zitternden Händen, immerwährend im Gebet, malte er an der Figur eines zornigen Cherubs in solcher Hast, als wären die Dämonen der Hölle noch immer hinter ihm her. Das ist es, was ich über den Meister des Jüngsten Tages zu berichten habe, und viel mehr weiß ich nicht. Denn als ich nach einigen Wochen wiederum in das Kloster kam, fand ich die Kapelle leer, und die Mönche zeigten mir, wo er begraben lag. Möge ihn und uns alle am Tage des Gerichts Christus, der, helle Morgenstern, der unsere Hoffnung ist, in die Schar der Erlöstengeleiten. ' ,. , Den anderen aber, den Messer Salimbeni, den ich den wahren Meister des Jüngsten Tages nenne, habe ich seit jener Nacht nicht wiedergesehen; und es mag sein, daß er in die fernen Königreiche des Ostens zurückgekehrt ist, in denen er so viele Jahre seines Lebens verbracht hat. Aber das Geheimnis seiner Kunst habe ich im Gedächtnis bewahrt, und ich setzte es hierher für solche, die glauben, daß sie starken und sicheren Gemütes sind: Nimm, fürwitziger Mensch, Tormentill, in Branntwein ausgezogen, und von diesem drei Teile. Gib sodann — — — 188 189