schäftigte. Aber Doktor Emperger sprach nur von gleichgültigen und unwichtigen Dingen. War das am Ende ein wohlüberlegter Plan? Ein Versuch, das Übereinkommen von Tscher-nawjensk zu bagatellisieren? Darüber mußte volle Klarheit geschaffen werden. «Gibt es etwas Neues in der bewußten Sache?» fragte Vitto-rin geradeheraus. «Hast du vielleicht mit dem Kohout darüber gesprochen?» «Worüber?» «Worüber?» wiederholte Vittorin gereizt. «Wegen des Stabskapitäns natürlich.» «Wegen des Stabskapitäns? Was soll es denn da Neues geben? Jetzt, vorläufig, ist ja nichts zu machen. Aufrichtig gestanden, ich hab' an den Stabskapitän überhaupt nicht gedacht, auch nicht an Tschernawjensk, wie wenn ich nie dort gewesen war'. Es wird dir auch nicht anders gehen, wenn du erst einmal wieder in Wien bist. Nur am ersten Tag, weißt, wie ich zu Haus in meinem Bett aufwach' - ich schau' auf die Uhr: Dreiviertel sechs. Herrgott, denk' ich mir, dreiviertel sechs, jetzt heißt's rasch aufstehen, gleich wird Morgenröte geblasen. Und dann bin ich natürlich liegen geblieben, kannst dir denken, mit einem Wohlbehagen, das läßt sich nicht schildern, und wie ich so lieg', hab' ich mich an die Lagerordnung erinnert. Paragraph 2: Nach gegebenem Signal Morgenröte alle Kriegsgefangenen stehen auf, ordnen sich ihre Betten, machen Toilette, bringen ihr Logement in Reinigkeit. Weiteres bis acht Uhr morgens Tee ist erlaubt zu trinken. — Na, alles geht vorüber, denk' ich mir, und jetzt Tee ist erlaubt zu trinken, wann's mir paßt.» Vittorin sah auf die Uhr, rief den Kellner und zahlte. In fünf Minuten mußte der Wiener Schnellzug dasein. Doktor Emperger ließ es sich nicht nehmen, den Freund und Zimmergenossen aus dem Lager Tschernawjensk auf den Perron hinaus zu begleiten. In alier Eile gab er ihm noch einige nützliche Winke für Wien: «Du kannst, wenn du Lust hast, ruhig in Zivil gehen, kein Mensch kümmert sich drum. Wenn du dir mal was zu essen kaufen willst, geh' zum Nordwestbahnhof. Dort in der Näh' bekommst du alles, Fleisch, Butter, Eier, Nullermehl, weißt, von den Urlaubern aus Galizien. Natürlich, Preise verlangen die! In den Kaffeehäusern - das Zeug, das sie dort Mokka nennen, das rühr' nicht an. Wenn du mal einen richtigen Mokka trinken willst, dann geh' ins Cafe Pucher und sprich mit dem Ober, beruf dich auf mich. Dort gibt's noch einen echten Türkischen, aber eben nur für besondere Gäste.» «Ich denke, wir werden so gegen Weihnachten unsere erste Besprechung halten», sagte Vittorin. «Wir müssen es nur mit dem Urlaub so einrichten, daß wir alle zugleich in Wien sind.» «Ich glaub', wir werden bald überhaupt alle auf Urlaub gehen», sagte Doktor Emperger. «Es liegt so was in der Luft. Ser-vus, Vittorin, auf Wiedersehen, laß dir's gut gehen.» Der Zug war überfüllt, Vittorin kauerte in einem Winkel des schlecht erleuchteten Ganges neben seiner Plaidrolle. Er wollte schlafen. Aber immer wieder riß ihn eine Stimme, die er haßte, aus seinem Halbschlummer. «Ssdrawstwujte», sagte die Stimme in singendem Tonfall. «Seid gegrüßt», sagte sie, und Vittorin fuhr auf und sah einen Augenblick das fremdartig geschnittene Profil, die hochgewölbte, ein wenig vorspringende Stirn, den leicht geöffneten Mund mit dem hochmütigen Zug um die Lippen, die schmale, gebräunte Hand, die die Zigarette hielt. Hatte er jemals Michael Michajlowitsch Seljukow ohne Zigarette gesehen? Einmal doch, j a, ganz richtig - dem Przemysler Generals tabshaup t-mann hatte ein betrunkener Kosak einen Hieb mit der Nagaika versetzt, und der Stabskapitän Seljukow war selbst in den Fünferpavillon gekommen, um dem Generalstäbler sein Bedauern auszusprechen. In großer Uniform, mit dem Wladimirorden und dem Georgskreuz - «Der Mann wird zur Rechenschaft gezogen mit größter Strengigkeit, Sie wissen, welche Strafe nach '4 l5 russischem Gesetz — ein Kosak, ein Bauer — glauben mir, Herr Kamerad, daß ich bin bestürzt -» Dann hatte er dem Herrn Kameraden mit einer leichten Verbeugung die Hand gereicht— o ja, Michael Michajlowitsch Seljukow wußte sich zu benehmen, er war kein Bauer, kein Kosak, er konnte charmant sein, wenn er wollte. Um so schlimmer. Der Zug stand. Vittorin trat ans Fenster und blickte hinaus. Hier in dieser Gegend hatte er einmal seine Ferien verbracht, zwölf, nein, vierzehn Jahre war es her. Damals hatte der Onkel noch die Mühle gehabt, jetzt fahrt er in die Dörfer und verkauft Dreschmaschinen. Wie rasch die Zeit vergeht. Vierzehn jahre. Und diese Nacht will kein Ende nehmen, kein Ende will sie nehmen. Dreiviertel eins erst. Morgen bin ich in Wien. Ob sie mein Telegramm bekommen haben? Wer wird am Bahnhof sein? Der Vater, die Schwestern, vielleicht die Franzi. Schlafen, wenn ich nur schlafen könnte. Er schloß die Augen. Aber statt des Schlafes kam ein Bild aus der Vergangenheit, eine Erinnerung, die ihn unerbittlich verfolgte. Wieder war er in Tschernawjensk, er stand vorder Tür der Kanzlei. Er hatte eine Bitte vorzubringen. - Seljukow kann auch charmant sein. «Tragen Sie Ihr Anliegen vor, Herr Leutnant», wird er sagen, «ich höre, ce qui est dans rnon pouvoir de faire pour les prisonniers de guerre —» Vittorins Finger sind steif vor Kälte. Der Starschi, der russische Unteroffizier, der ihn begleitet, streift sich den Schnee vom Mantel, stampft mit den Füßen, rückt seine Mütze zurecht und klopft an. Der Stabskapitän Seljukow sitzt an seinem Schreibtisch. Er blickt nicht auf, er blättert in einem Buch, er raucht und schreibt. Er hat eine lässig-elegante Art, während des Schreibens die Zigarette zu halten. Mit der Spitze des kleinen Fingers der linken Hand drückt er sie an den Ringfinger. Auf dem Schreibtisch liegen militärische Bücher, Drucksorten und französische Romane. Der Diener Grischa blickt zur Tür herein, er sieht seinen Herrn beschäftigt und verschwindet. Im Zimmer ist ein leiser, feiner Geruch, das ist das Aroma der Zigarette, chinesischer Tabak. Und noch etwas ist da, ein fremdartiges Parfüm - natürlich, manchmal bekommt er auch Damenbesuch. Wenn sie im Zimmer ist, die Frau mit dem schmalen Gesicht und den unruhig blickenden Augen, deren Namen niemand im Lager kennt, wenn sie im Zimmer ist, so kann sie sich nur hinter dem Wandschirm versteckt haben. Vittorin horcht, ob ihre Atemzüge zu vernehmen sind. Fünf Minuten. Noch immer blickt Seljukow nicht auf. Manchmal kommt, während er schreibt, zwischen seinen Zähnen die Zunge zum Vorschein, sie streicht über seine Oberlippe und verschwindet, und Vittorin sieht dieses lautlose Spiel mit einem sonderbaren Wohlbehagen, für das er keine Erklärung finden kann. Acht Minuten. Das weiße Emailkreuz am gelben Band, das ist das Georgskreuz. Seljukow hat auch den Wladimirorden und den Georgssäbel, aber die trägt er nur bei besonderem Anlaß. Jetzt hat er seine Arbeit beendet. Der russische Unteroffizier steht mit den Händen an der Hosennaht und sagt ein paar Worte in russischer Sprache. Michael Michajlowitsch Seljukow stützt die Stirn in die Hand und sieht mit halbgeschlossenen Augen an Vittorin vorbei. «Sie haben Ihr Anliegen zu melden dem Unteroffizier du jour», sagte er langsam und in gleichgültigem Ton, als spräche er zu dem Mantel, der dort an der Wand hängt. «Meine Arbeit ist nicht, zu hören Beschwerde von Kriegsgefangene. Sie kennen russische Gesetz. Sie stellen sich mit Opposition gegen Lagerordnung. Sie kommen zum drittenmal, mich belästigen mit Bitte und Beschwerde.» Vittorin wird blutrot und starrt auf den Wandschirm. «Das ist nicht Benehmen von Offizier», fährt Seljukow fort. «In Frankreich nennt man das Bochisme. Sie haben zehn Tage f Zimmerarrest, damit Sie sich merken russische Gesetz. Sie können gehen.» Vittorin geht nicht. Er will sprechen, sich rechtfertigen, er legt es sich auf französisch zurecht, was er zu sagen hat, Seljukow soll sehen, daß er es mit einem Menschen von Bildung und Erziehung zu tun hat, dem die französische Sprache geläufig ist. — Mon Capitain, c'est cruel, c'est inhumain, vous compre-nez, d'interrompre l'expedition des lettres pendant trois semai-hes, parceque deux lampes etaient encore allumees ä onze heu-res de la nuit. Mes camarades - Er bringt kein Wort heraus, er ist dem Augenblick nicht gewachsen. Der Stabskapitän streift die Asche seiner Zigarette ab. Dann winkt er dem Unteroffizier. «Pascholl.» Er sagt das ganz ruhig, es klingt, als hieße es nicht «Hinaus», sondern etwa: Warten Sie einen Augenblick. Oder: Gedulden Sie sich ein wenig. Pascholl! Der Unteroffizier macht kehrt, faßt den Leutnant Vittorin an der Schulter und stößt ihn zur Tür hinaus. Der Tiroler Landsturmgefreite vom Mannschaftslager drüben hat den Militärarzt, der ihn ins Gesicht geschlagen hat, mit den Händen erwürgt, jawohl, und sich tags darauf, ohne mit der Wimper zu zucken, füsilieren lassen. Und ich? Und ich? Gut, Michael Michajlowitsch Seljukow. Es hat Ihnen beliebt, mich ä la canaille zu behandeln. Pascholl. Gut. In Frankreich nennt man das Bochisme. Ganz wie Sie meinen. Für alles kommt der Tag. Wir sprechen noch darüber, Michael Michajlowitsch Seljukow. Sie denken, ich werde vergessen! Sie irren sich, Herr Stabskapitän. Es gibt Dinge, die man nie vergißt. Das ist nicht Benehmen von Offizier, sagten Sie? In Frankreich nennt man das Bochisme? Geduld, nur Geduld, Herr Stabskapitän, die Stunde der Abrechnung wird kommen, ich vergesse nicht. Pascholl. — Ob sie das gehört hat, die Frau hinter dem Wandschirm? Eine Französin, hieß es im Lager, die Frau eines Gutsbesitzers, jung verheiratet, sie fährt vier Stunden im Schlitten, um Seljukow zu sehen. Pascholl. Ob sie das verstanden hat? O ja, das hat sie sicher verstanden, es mag ihr Spaß gemacht haben, vielleicht hat sie gelacht, vielleicht hat sie, hinter dem Wandschirm versteckt, unhörbar, lautlos vor sich hin gelacht. , Vittorin biß sich in die Lippen. Scham und Zorn trieben ihm das Blut ins Gesicht, er preßte die Stirne an die kalte Fensterscheibe. Seinen Kameraden hatte er kein Wort von dem, was in Seljukows Zimmer vorgefallen war, gesagt, aber die Erinnerung an die schmachvolle Stunde brannte wie ätzendes Gift in seiner verstörten Seele. Er stand nicht allein. Auch seine Freunde hatten mit Seljukow abzurechnen. Ein Schwur verpflichtete sie und hielt sie fest, ein Eid, den sie in feierlicher Stunde an dem offenen Grabe eines Kameraden abgelegt hatten. Vittorin richtete sich auf. Eine Welle von Entschlossenheit durchflutete ihn. Gleich nach Friedensschluß, wenn wir alle wieder in Wien sind, wird die Sache in Angriff genommen, flüsterte er. Der Professor führt den Vorsitz bei den Besprechungen, er ist der Älteste von uns. Feuerstein stellt das Geld zur Verfügung, und ich bekomme den Auftrag, nach Rußland zu fahren. Ich, jawohl, denn dieses Recht lasse ich mir von keinem streitig machen. Da bin ich, erkennen Sie mich, Herr Stabskapitän? Leutnant Vittorin aus dem Lager Tschernawjensk, Pavillon Nr. 4. Ganz richtig, in Frankreich nennt man das Bochisme. Warum werden Sie so blaß, Euer Hochwohlgeboren? Sie haben mich nicht erwartet? Sie dachten, ich werde vergessen? O nein, ich habe nicht vergessen. Wie? Pascholl? Nein, Herr Stabskapitän, ich bleibe, ich habe mit Ihnen zu sprechen. Erinnern Sie sich an den Fliegerleutnant, dem Sie die Offiziersbehandlung entzogen haben, weil seine Papiere nicht in Ordnung waren? Denken Sie nur nach, ich lasse Ihnen Zeit. Weil er sich geweigert hat, die 18 19 Arbeit in der Mannschaftsküche zu verrichten, haben Sie ihn in den Kellerraum der C-Baracke gesperrt. Er war krank, Rückfallfieberj schwere Malaria, aber Sie ließen ihn auf seiner Sträflingspritsche in dem schmutzigen Kellerloch, bis er.. .Er simuliert, wie? Der Lagerarzt ist nicht da für Launen von Kriegsgefangene, sagten Sie. II feint, il fait le malade. II se trouve en parfaite sante. - An dem Tag, an dem man ihn begraben hat, haben wir einen Eid geschworen, wir fünf, und nun, sehen Sie, ist der Tag der Abrechnung gekommen. Sie erinnern sich nicht? Aber an mich erinnern Sie sich, wie? Das ist nicht Benehmen von Offizier, in Frankreich nennt man das — da! Das ist für den Bochisme. Und das für die Briefsperre und das für die Leibesvisitationen und das — Haiti Was suchen Sie? Den Revolver? Daraus wird nichts, Herr Stabskapitän. Ah, Grischa ist auch hier. Ssdrawstwujte, Grischa! Sagen Sie Ihrem Diener, Herr Stabskapitän, daß ich ihn niederschieße, wenn er sich rührt. Jawohl, ich habe mich vorgesehen. Sie wollen sich mit mir schlagen? Gut, darüber läßt sich reden. Sie haben die Wahl der Waffen. Meine Vertreter... Der Schaffner, der mit der Laterne in der Hand den Zug abging, sah sich plötzlich einem Infanterieleutnant gegenüber, der totenbleich, mit erhobenem Arm und geballter Faust, mitten im Korridor stand. Er ging weiter, schüttelte den Kopf, wendete sich bei der Tür noch einmal um und verschwand achselzuckend im nächsten Waggon. Mit einem leichten Anflug von Ärger und Beschämung zog sich Vittorin in seinen Winkel zurück. Halb zwei. Ich sollte versuchen einzuschlafen. Was sich der Schaffner, der Idiot, gedacht haben mag. Ich bin todmüde. Starrt mich an. Was hat er mich anzustarren? Unverschämtheit. Grischa, der OfEziersdiener heißt Grischa. Grigorij Ossy-powitsch Kedrin oder Kadrin aus Staromjena im Charkower Gouvernement. Oft genug hat er dem Professor seine Briefe diktiert. Für alle Fälle schreib' ich es dazu. Er zog sein Notizbuch hervor und vermerkte unter dem Namen des Stabskapitäns: W Grischa, Seljukows Ordonnanz, Grigorij Ossypowitsch Ke drin (Kadrin?) aus dem Dorfe Staromjena, Bahnstation Gla wjask, Charkower Gouvernement. 20 «So. Hoffentlich bleiben wir jetzt allein», sagte er. «Lang' genug hab: ich warten müssen.» Der Professor blickte auf. «Langweilen Sie sich, Vittorin?» fragte er. «Warum, ich find' es ganz nett hier. Nur der Ingenieur geht mir auf die Nerven. Ödet mich der Mensch mit seiner Düngermaschine an. Ich habe das denkbar geringste Interesse für abnehmbare Drillkästen. Ich bin doch nicht hergekommen —». «Interessiert es Sie nicht, warum ich hergekommen bin?» unterbrach ihn Vittorin in gereiztem Ton. «Oder glauben Sie wirklich, daß ich nichts Besseres zu tun habe, als mich einen ganzen Abend lang mit gleichgültigen Menschen ——» Er suchte nach einem Wort, das seine ganze Verachtung dieser Art von Geselligkeit ausdrücken sollte, und fand keines. «Sie sind ein bißchen anspruchsvoll, Vittorin», meinte der Professor. «Was für Genüsse haben Sie denn eigentlich erwartet? Indische Fakirkünste oder eine Koloraturarie? Vielleicht eine Bauchtänzerin gefällig? Ich hab' mich glänzend unterhalten. Feuerstein, Ihr Gesicht, wie Sie der Genosse aus Hernais in der Arbeit gehabt hat -— zum Totlachen.» «Ich hab' die Sache nicht so komisch gefunden», sagte Feuerstein gekränkt. «Eine Unverschämtheit. Was ist dem Menschen eigentlich eingefallen? Frechheit, das. Wie kommt dieser Pül-cher aus Maria-Einbruch dazu, mich zu duzen?» «Ihr glattes, rosiges Genießergesicht hat zweifellos etwas Herausforderndes für den Mann aus dem Volk», stellte der Professor fest. «Böse Zeiten für beleibte Leute, lieber Feuerstein.» «Wenn die Herren ihre Unterhaltung noch nicht beendet haben sollten -» sagte Vittorin mit mühsam unterdrückter Wut, «bitte sehr, bitte lassen Sie sich nur nicht stören. Ich habe Ihnen nämlich eine Mitteilung zu machen, deswegen bin ich hergekommen. Aber wie gesagt, ich kann ja warten.» Der Professor sah ihm verwundert ins Gesicht. «Sie werden ja geradezu bitter, Vittorin. Was ist denn los?» «Was los ist?» sagte Vittorin mit gespielter Gleichgültigkeit. 42 «Nichts, als daß ich Nachricht aus Rußland habe. Seljukow ist in Moskau.» Er zündete sich eine Zigarette an, um seine Erregung zu verbergen. Dann wartete er auf die Wirkung des Wortes, das er wie eine Handgranate hingeschleudert hatte. «Wirklich? Interessant», sagte der Professor. «Also Seljukow ist in Moskau. Sehr interessant. Sagen Sie mal, Vittorin, alter Freund — geht Ihnen der Stabskapitän noch immer nicht aus dem Kopf?» Vittorin rauchte in kurzen, heftigen Zügen. «Was heißt das? Was wollen Sie damit sagen, Professor? Ich verstehe Sie nicht.» «Sie verstehen mich nicht. Schön. Denken Sie einmal zurück. Tschernawjensk, das Lager, Nostalgie, seelische Depressionen, das öde Einerlei des Tages, Postsperre, keine Nachricht aus der Heimat, das Bewußtsein, jeder Laune des Kommandanten ausgeliefert zu sein. Wir waren alle aus dem Gleichgewicht gebracht, damals, als der arme Teufel, der Fliegerleutnant, an Malaria starb, elend war uns zumut, psychisch krank waren wir, Vittorin. Wir flüchteten uns in den typischen Traum aller Gefangenen: Einmal wiederkommen und Abrechnung halten! Gewiß, es war ein sehr wohltuender Gedanke, er hat uns über böse Stunden hinweggeholfen. Aber doch ein Krankheitssymptom, wie? Ist Ihnen denn das heute nicht klar?» Vittorin hatte die Zigarette weggeworfen. Er war aufgesprungen und starrte den Professor wortlos an. Aus dem Nebenzimmer, in dem getanzt wurde, kam der Genosse Blaschek. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und zog seinen Wollsweater aus. «Eine Viechshitzen hat's drin», sagte er. «'tschuldigen die Herren, ich geh eh' scho' wieder.» Die Tür blieb offen, der Walzer brach ab, es wurde eine Tanzpause gemacht. Kohout trug, von Blaschek auf einer Mundharmonika begleitet, mit weinseliger Stimme Soldatenlieder vor: 43 «Wer wird denn mit meiner Leich' gehn, Wer wird denn mit meiner Leich' gehn? Die Gläser, das G'schirr, Der Wein und das Bier, Die Wirtin hatscht a mit mir.» «Eine schwere Psychose war es», fuhr der Professor fort. «Kein normaler Zustand, das ist doch klar. Aber endlich einmal muß man doch damit fertig werden! Sie sind wieder zu Hause, alles ist vorüber. Jetzt heißt es arbeiten, wieder von vorn beginnen, den Krieg vergessen. Hol' der Teufel den Kohout mit seinen G'stanzeln, man versteht sein eigenes Wort nicht. Den Krieg vergessen, alles, was wir durchgemacht haben, auslöschen aus der Erinnerung. Sibirien war nur ein böser Traum, Tschernawjensk ein Alpdruck. Was zum Teufel, schert Sie denn heute noch der Stabskapitän? Lassen Sie ihn doch ruhig in Moskau oder sonstwo sein.» «Sind Sie fertig?» fragte Vittorin. Aus dem Nebezimmer hörte man Gläserklirren, Gelächter, das Wimmern der Mundharmonika und die Stimme Kohouts: «Was wird auf mein' Leichenstein stehn, Was wird auf mein' Leichenstein stehn? A Wurst und a Brot, Hier liegt a Soldat, Der alles versoffen hat.» «Wenn Sie fertig sind, Professor», stieß Vittorin, blaß vor Erregung, hervor, «dann will ich Ihnen etwas sagen. Das ist erbärmlich, jawohl, ich sag' es Ihnen ins Gesicht, schäbig ist es und erbärmlich, zuerst mit dabeizusein und sein Ehrenwort geben, und, weiß Gott was, und sich dann drauf auszureden, daß das alles — sich dann auf Psychose auszureden oder wie Sie's nennen. Pfui Teufel, kann ich nur sagen, ich schäme mich für Sie. Feig sind Sie, Furcht haben Sie, das ist das Ganze. Hinter all Ihren Redensarten von Psychose und Krankheitssymptomen . und von vorn beginnen steckt nichts als Angst. Es ist traurig, daß es solche Menschen gibt, wie Sie einer sind. Jetzt kenn' ich Sie, jetzt weiß ich wenigstens---» «Achtung! Genossen!» rief der Soldatenrat. «Jetzt kommt ganz was Neuch's. Kohout, laß d'noblichten Herren 'außa!» «Kommt eh' schon», sagte Kohout. Und er begann, von der Mundharmonika begleitet, zu singen: «Wer wird denn die Straßen jetzt kehren, Wer wird denn die Straßen jetzt kehren? Die noblichten Herrn Mit die silbernen Stern Die werden die Straßen jetzt kehr'n.». «Bravo!» rief der Kommerzialrat in heller Begeisterung - er war während des Krieges zwei Monate lang zu Kanzleidiensten kommandiert gewesen. «Bravo! So gehört sich's auch. Sollen s' nur arbeiten wie unsereiner, sich ihr Brot verdienen.» «Jetzt weiß ich wenigstens, woran ich mit Ihnen bin und was man von Ihrem Ehrenwort zu halten hat», sagte Vittorin, dessen Zorn einer tiefen Niedergeschlagenheit gewichen war. Der Professor versuchte, der Sache eine Wendung ins Scherzhafte zu geben. «Ich bin mir natürlich durchaus im klaren darüber, Vittorin», meinte er, «daß ich jeden Anspruch auf Ihre Achtung verwirkt habe. Was kann ich tun? Ich muß mich damit abfinden, so gut es geht. Mein Trost ist nur, daß Sie in zwei Monaten genauso über die Sache denken werden wie ich. Halten Sie es übrigens wirklich für so einfach, jetzt, in diesen Zeiten, nach Rußland zurückzukehren?» Er begegnete einem feindselig abweisenden und verachtungsvollen Blick. «Ob es einfach ist oder nicht, das lassen Sie meine Sorge sein, darum brauchen Sie sich jetzt nicht mehr zu kümmern», sagte 44 45 Vittorin. «Wenn man will, geht alles. Nur den festen Willen muß man haben, aber das verstehen Leute Ihres Schlages nicht. Ich werde mit Seljukow abrechnen, verlassen Sie sich darauf, und wenn ihr mich auch alle im Stich laßt, und wenn ich mich zu Fuß nach Moskau durchbetteln müßte---» «Sprechen Sie nicht weiter, Vittorin», unterbrach ihn der Professor. «Sie verraten mir die wahre Natur Ihres Hasses. Das klingt ja beinahe wie eine Ballade, was Sie da sagten. Wahrhaftig, eine sonderbare Art von Haß. Vittorin, kennen Sie das alte Lied? - Kein Feuer, kein1 Kohle —» «Hörst, Kohout!» rief der Genosse Blaschek, «Was is3 denn? Werd'n heut' keine Guillotinen g'schmiert?» «Kommt schon. Nur Geduld, Genosse, eins nach dem andern, kommt schon», sagte Kohout. Er trat ans Klavier und spielte mit der iinken Hand die Melodie des Henkerliedes. Mit dröhnender Stimme fiel Blaschek ein: «Schmiert die Guillotinen, Schmiert die Guillotinen, Schmiert die Guillotinen ein mit Fürstenfett! Reißt die——» «Um Gottes willen, Genosse, was soll denn das heißen, hören Sie doch auf!» rief Doktor Emperger verzweifelt. «Das geht doch wirklich nicht. Uber mir wohnt ein Hofrat, der wird sich beschweren, er hat ohnehin schon zweimal geklopft.» «Lassen' s ihn nur kommen, den Hundling, den reaktionären!» schrie Blaschek. «Soll sich trauen! Ich hau' ihm eine übern Schädel, daß er halbe Stund' auf der Erd' umanander-krallt wir a blinde Katz. - Reißt die Konkubinen, reißt die Konkubinen—! Mitsingen, Genossen!» Arm in Arm kamen die drei jungen Mädchen ins Zimmer zurück. Fräulein Hamburger zog die Tür hinter sich zu. «Drin geht's zu—!» sagte sie. «Toll. Der arme Rudi, der wird morgen was auszukochen haben. Na, ich dank' schön.» í Vittorin wand te sich an Feuers tein. «Und du?» fragte er. «Hast du vielleicht auch die Absicht, dich von der Sache zu drücken?» Feuerstein, der einstmals, vor gar nicht langer Zeit, beteuert hatte, auf ihn könne man zählen, zuckte die Achseln und schwieg. «Gut», sagte Vittorin, «mit euch beiden bin ich also fertig. Mit euch beiden hab' ich nichts mehr zu reden.» Fräulein Hoffmann kam neugierig näher. «Haben sich die Herren gestritten?» fragte sie. «Es sieht beinah' so aus. Was hat's denn gegeben?» Der Professor lehnte sich in seinen Klubfauteuil zurück. Er i , lächelte und blies den Rauch seiner Zigarette von sich. «Ah, nichts von Bedeutung», sagte er. «Mein Freund will durchaus nach Moskau, einen russischen Offizier umbringen.» Verraten und verspottet, dem albernen und übermütigen Ge-; ^ lächter der drei jungen Mädchen preisgegeben, verließ Vittorin mit vor Bestürzung, Zorn und Scham verzerrtem Gesicht das Zimmer. In diesem Haus hatte er nichts mehr zu suchen, í Draußen, im Vorzimmer, hatte er, während ihm der Diener [■'■■ in den noch immer regenfeuchten Mantel half, eine kurze Un-; terredung mit Kohout. «Das hätte ich dir im vorhinein sagen können, daß das so I kommen wird, mein Lieber», erklärte Kohout, indem er von f, einem Fuß auf den anderen trat, «die Bourgeoisie hat kein Ehr-Í . gefühl und keinen Charakter. Ist es dir nicht aufgefallen, daß sie |: sich absentiert haben, die beiden, Feuerstein und der Professor, I wie wir die revolutionären Lieder gesungen haben? Bande il. das!» kommen sah, machte er ein paar lange Züge aus seiner Zigarette. Ohne Hast zu zeigen, holte er eine Schleife mit den Farben Rußlands aus der Tasche und befestigte sie sorgfältig an dem Ärmel seines Rockes. Dann griff er nach dem Revolver, der neben ihm im Schnee lag, ließ ihn ein paar Sekunden im Licht der Wintersonne blinken, setzte ihn an die Schläfe und drückte ab. Mit ein paar Sprüngen war der Anführer der Patrouille bei ihm. Er nahm die Hand des Toten und betrachtete sie. «Ichdachtemir's», sagte er. «EinGutsbesitzerssöhnchen. Ein weißgardistischer Offizier. Nun, er hat sich selbst seinen Teil gegeben, gründlich hat er sich's besorgt. — Durchsucht seine Taschen!» Niemand achtete auf Vittorin. Er hätte fliehen können, doch er stand wie betäubt und starrte voll Entsetzen auf den jungen russischen Offizier, der dort bleich und mit geschlossenen Augen im Schnee lag und den Traum der Erde träumte. «Jung ist er, die Milch riecht man noch auf seinen Lippen», sagte einer von den Soldaten. «Hat aber schon eine Liebste gehabt und ihr Bild an der Brust getragen.» Er warf das Bild in den Schnee. «Und was, Genosse, machen wir mit diesem?» fuhr der Soldat fort. «Auchsolch ein Spion. Sollen wir ihnnichtseiner Hochwohl-geboren, diesem Herrn Offizier, als Adjutanten nachschicken?» Der Anführer der Patrouille trat auf Vittorin zu. «Darüber mag der Kommandant entscheiden», sagte er. «Fort mit ihm! Zum Verhör.» In einer Scheune eingeschlossen, die unmittelbar hinter der Frontlinie lag, wartete Vittorin vergeblich darauf, zum Verhör gerufen zu werden. Man schien ihn völlig vergessen zu haben. Auf keine seiner Fragen erhielt er von dem Rotarmisten, der ihn bewachte, Antwort. Am Nachmittag wurde der Posten abgelöst. Eine Stunde später brachte man Vittorin nach Berdiczew in das Grigorowsche Gefängnis. IEin beklemmendes Schweigen lag über den Gassen der Stadt. Es begann zu dunkeln, doch in keinem Fenster zeigte sich ein Lichtschein. Auf dem Trödelmarkt standen Leute, die das, was ihnen von ihrer Habe entbehrlich schien, verkäu-s fen wollten. Ein junges Mädchen bot mit ängstlichem Gesichts-L ausdruck einem Händler Küchengeräte und einen gelbseidenen Fenstervorhang an. Ein gebückt gehender alter Mann trug f eine chinesische Vase in der einen und ein Paar geflickte Segel-I leinenschuhe in der anderen Hand. Als sich die Rotarmisten, die Vittorin eskortierten, dem Platze näherten, stoben Käufer > und Verkäufer in wilder Flucht auseinander, nur der alte Mann mit der chinesischen Vase blieb stehen und suchte sich hinter t einer Bretterbude zu verbergen. Die hölzernen Gehsteige waren abgebrochen, man hatte sie schon im Herbst als Heizmaterial verwendet. Auf den Stufen der Kirche saß eine Frau in einem zerschlissenen schwarzen Seidenkleid, sie streckte, ohne den Kopf zu heben, stehend die Hände aus, als sie die Schritte der Vorübergehenden hörte. Aus einer dunklen Nische trat plötzlich ein Posten und leuchtete mit einer Taschenlaterne Vittorin und seinen Begleitern ins Gesicht. In einem Hof ordneten sich Bürger, die man ausgehoben hatte, um sie an der Front zu Erdarbeiten zu verwenden, schweigend und mit gesenkten Köpfen zu einem Zug. An den Haustüren, an den Mauern, an den Lattenzäunen hingen Dekrete des örtlichen Sowjets. Sie forderten von jedem Einwohner die Ablieferung dreier Garnituren Wäsche für den Bedarf der Roten Armee. Im Grigorowschen Gefängnis wurde Vittorins Name in das Register eingetragen. Er entnahm den Reden seiner Begleiter, daß er der Spionage zugunsten der Konterrevolution verdächtig war, doch er vermochte keine Vorstellung mit diesen Worten zu verbinden. Erst als sich die Tür der Zelle hinter ihm schloß , wich der Druck von ihm, der den ganzen Tag auf ihm gelastet hatte. Bei dem matten Schimmer einer Öllampe, die von der Decke her- abhing, gewahrte er Menschen, es waren ihrer mehr als ein Dutzend, einige lagen auf Holzpritschen oder auf dem Fußboden, andere kauerten auf Strohbündeln, einer saß auf einer zerbrochenen Kiste - und dieser Anblick brachte Vittorin eine Art Beruhigung; er war nicht mehr allein, sondern einer von vielen, er hatte Schicksalsgenossen. Er verspürte Müdigkeit, er hatte das Bedürfnis, zu sitzen und seine Lage in Ruhe zu überdenken, sich klar darüber zu werden, wie das alles gekommen war. Und während er sich langsam, mit den Händen tastend, zu Boden gleiten ließ, hörte er dicht neben sich einen wilden, kreischenden Schrei, der in das Fauchen einer gereizten Katze.überging, einen Schrei, aus dem Zorn, Angst und Verzweiflung klangen: «Rühren Sie mich nicht an! Hüten Sie sich, mich anzurühren! Sehen Sie nicht, daß ich tot bin?» Vittorin fuhr in die Höhe und blickte erschrocken auf eine Gestalt, die mit dem Gesicht zur Wand, in einer unnatürlichen Verkrümmung, steif und unbeweglich auf der Erde lag. Von der Holzpritsche her kam ein leises Jammern. «Es ist nicht möglich. Es ist nicht möglich. Heiliger und allmächtiger Gott, sie lassen mich nicht schlafen.» Von seinem Platz beim Fenster erhob sich ein alter Mann. Vorsichtig über die am Boden Liegenden hinwegschreitend, kam er auf Vittorin zu. «Achten Sie nicht auf jenen dort, er ist krank», sagte er. «Die dort oben haben ihm den Verstand aus dem Kopf getrieben. Man sollte ihn in ein Lazarett bringen, aber hier in diesem Hause gewährt Krankheit kein Anrecht auf bessere Behandlung. Kommen Sie! Ich bin der Zellenälteste, ich werde Ihnen einen Platz anweisen.» In der Nähe des Fensters gab es mehr Raum. Die Gefangenen hatten sich in der Mitte des Kerkers zusammengedrängt, um sich vor dem Schneewind zu schützen, der durch die zerbrochenen Scheiben fuhr. Der Zellenälteste ließ sich neben Vittorin nieder. 120 «Sie sind ein Fremder, nicht aus dieser Stadt?» sagte er. «Wessen beschuldigt man sie? Ich, sehen Sie, bin ein Spekulant, Wir hatten noch ein wenig Mehl und Zucker, meine Frau buk Kuchen, und ich verkaufte sie in den Teestuben und an den Straßenecken. Das ist mein Vergehen, deswegen bin ich hier. Damals, als sie nach Artemjew zu suchen begannen, haben sie mich verhaftet. Artemjew — Sie kennen nicht diesen Namen? Artemjew. Ein alter Sozialrevolutionär, ein Terrorist, ein Unterirdischer aus der Zeit des Zarentums — er soll auf dem Weg nach Moskau sein, um im Auftrag des Pariser Exekutivkomitees der Menschewiki mit Sinowjew, mit Lenin, mit Kamenew, seinen alten Freunden, abzurechnen. Diesen Artemjew, sehen Sie, fürchten die Machthaber von heute mehr als alle weißgardistischen Generale, denn er kennt die Kampfmethoden, er arbeitet nicht mit Proklamationen, sondern mit Dynamit, mit Höllenmaschinen-» Vittorin preßte die Zähne zusammen und unterdrückte ein Stöhnen des Zorns und der Verzweiflung. Auch er hatte abzurechnen, doch ein sinnloser Zufall hielt ihn fest, das Schicksal hatte sich schmählich auf die Seite seines Feindes gestellt. «Ich bin noch nicht verhört», flüsterte er leise und ingrimmig. «Wann werde ich zum Verhör gerufen werden?» «Wenn Sie Glück haben, so kann das noch lange dauern», meinte der Zellenälteste. «Vielleicht vergißt man Sie.» «Aber ich will verhört werden, verstehen Sie denn nicht?» rief Vittorin. «Ich verlange mein Recht, nichts anderes. Mein Menschenrecht.» Der alte Mann hob seine Hand zu einer müden, hoffnungslosen Bewegung. «Was sind das für Worte!» sagte er. «Menschenrecht! Wer in diesem Hause ist, hat sein Menschenrecht verloren. Das Verhör? Es ist besser, Sie erwarten nicht zuviel von diesem Verhör. Es dauert zwei Minuten, man hört Sie nicht an, wenn dem Untersuchungsrichter Ihr Gesicht nicht gefallt, kann er Sie sogleich erschießen lassen. Das ist das Verhör.» 121 1 IM Ii I Vittorin schwieg und starrte auf das vergitterte Fenster. «Menschenrecht!» fuhr der alte Mann fort. «Sehen Sie jenen dort, Bobronikow, den , der Sie mit seinem Geschrei erschreckt hat. Vor der Revolution betrieb er einen Juwelenhandel. Man brachte ihn hierher, vielleicht hat er irgendwelche verbotenen Geschäftchen gemacht. Er ließ den Kopf nicht hängen. , sagte er, , sagte der Kommandant. - Er ließ ihn niederknien, trat mit dem Revolver hinter ihn und schoß zweimal an seinem Kopf vorbei. , sagte er dann. Solche Scherze haben sie sich ausgedacht. Bobronikow aber lag auf der Erde und stöhnte nur und rührte sich nicht, man mußte ihn in die Zelle zurücktragen. Und seit jener Stunde ist er mit seinem Kopf in der anderen Welt, er denkt nicht mehr an seine Menschenrechte, er schreit nach dem Popen und nach den Chorsängern und will begraben sein.» Eine Weile war Stille in der Kerkerzelle. Dann sagte der alte Mann: «Jetzt schläft er, träumt vielleicht, daß er in der Ewigkeit ist und dort vor Gottes Antlitz Körbchen und Bastschuhe verfertigt. Und auch für uns ist es Zeit geworden. Dort im Winkel steht ein Wasserkrug, Brot werden Sie heute schon nicht mehr bekommen.» Er blies das Lampenlicht aus und tastete sich auf seinen 122 Platz zurück. Und während er sich zum Schlafen ausstreckte, deutete er auf die Decke der Zelle. «Hören Sie ihn?» flüsterte er. «Das ist der Kommandant. Die ganze Nacht hindurch geht er in seinem Zimmer auf und nieder. Er kann nicht schlafen. Die Toten lassen ihm keine Ruhe.» Gegen sieben Uhr morgens wurde die Türe aufgerissen. Der Gefängniswärter trat in die Zelle, leuchtete mit seiner Azetylenlampe dem ihm zunächst Liegenden ins Gesicht und rief: «Bürger Bobronikow, machen Sie sich fertig! Mit Gepäck zum Bahnhof.» Bobronikow, der , sprang auf, stieß einen durchdringenden Schrei aus und flüchtete in einen Winkel. Dort warf er sich zu Boden und schlug mit Händen und Füßen um sich. Den Zellenältesten, der ihn beruhigen wollte, biß er in den Finger. Aus der Nachbarzelle, in der man die weiblichen Häftlinge zusammengepfercht hatte, kamen hysterische Angst- und Hilferufe. Zwei Rotarmisten, die auf den Lärm hin herbeigeeilt waren, machten der. Szene ein Ende. Sie warfen sich auf den Tobenden und zerrten und schleiften ihn zur Tür hinaus. An Schlaf dachte niemand mehr. Ein öder, trostloser Tag brach heran. Vittorin fand in seiner Tasche ein wenig Brot und Käse und zwei Zigaretten, Als er zu essen begann, trat ein hochgewachsener Mann auf ihn zu, nannte, höflich sich verbeugend seinen Namen - Leonid Wassilitsch Awdochin - und seinen Beruf. Er war Rechtsanwalt. Die Intrigen und Denunziationen seines Hausgesindes hatten ihn in das Gefängnis gebracht. Mit leiser und angenehm klingender Stimme machte er Vittorin die Mitteilung, daß der Hausordnung gemäß immer der Letztangekommene den Boden der Zelle aufzuwaschen habe. Mit einem begehrlichen Blick auf Vittorins Zigaretten erbot er sich, ihm diese Arbeit abzunehmen. Seit sieben Tagen, sagte er, habe er nicht geraucht. Als er die Zigaretten erhalten hatte, bestand er höflich, aber 123 ;:.....u Revolutionär stand abseits von den anderen beim Fenster, er hatte sich den Bart abnehmen lassen und sah nun, obwohl er noch immer seinen zerrissenen Bauernrock trug, völlig westeuropäisch aus. Er achtete nicht auf Vittorin, seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Schullehrer, der in gebückter Haltung und mit ängstlichem Gesichtsausdruck vor ihm stand und auf eine sonderbare Weise die Arme ausgestreckt hielt. «Genosse Poschar, nehmen Sie zu Protokoll!» rief Artemjew einem der drei Männer, die am Tische saßen, zu. «In seinen Taschen haben sich gefunden: Zwölftausend Romanowrubel, achtzigtausend Dumarubel, ein Leinwandsäckchen mit Pikrinsäure und ein kleinkalibriger Revolver, System Colt. In allen ■ diesen Dingen erkenne ich mein Eigentum wieder. Es ist also schon kein Zweifel, daß er mich im Gefängnis bestohlen hat.» «Das ist ein Irrtum, ich schwöre Ihnen, ich bin unschuldig», schrie der Schullehrer mit kläglicher Stimme. «Ich weiß nicht, wie diese Sachen in meine Tasche gekommen sind. Es ist mir ein Rätsel.» «Ach, schweigen Sie, Semjon Andrejewitseh, wie soll ich Ihnen glauben!» sagte Artemjew, und sein Gesicht drückte Entrüstung und Betrübnis aus. «Sie haben gestohlen aus Habgier, aus Bosheit oder aus alter Gewohnheit. Offnen Sie Ihr Bündel, lassen Sie sehen! — Nun also, da haben wir es. Sowjetrubel, viel sind sie nicht wert, aber auch diese haben Sie nicht verschmäht. Nun, sagen Sie selbst, was soll ich mit Ihnen beginnen?» Der Schullehrer wischte sich die Schweißtropfen von der Stirne. «Ich begreife nicht, im Schlafe muß ich das getan haben», stöhnte er. «Um Christi willen, haben Sie Mitleid, lassen Sie mich gehen. Mein ganzes Leben hindurch bin ich ein ehrlicher Mann gewesen, und jetzt erst in diesen verfluchten Tagen -» Artemjew hob die Hand und ließ sie wieder fallen. «Nun, meinetwegen, gehen Sie und hole Sie der Teufel», sagte er voll Verachtung. «Halt! Nicht so rasch, vergessen Sie , Ihr Bündel nicht. Und keine weiteren Experimente dieser Art, sonst wird man Sie doch noch einmal an die Wand stellen. Folgen Sie mir und lassen Sie von Ihren Gewohnheiten -» Vittorins Begleiter warf plötzlich seine Mütze auf die Erde und stieß ein lautes, lärmendes Lachen aus, in das die drei Männer, die am Tische saßen, einfielen. Das Mädchen an der Schreibmaschine prustete in das Taschentuch. Der Schullehrer blieb an der Türe stehen, warf der Gymnasiastin einen wütenden Blick zu, spie aus und war in der nächsten Sekunde verschwunden. «Endlich hat er begriffen», sagte, noch immer lachend, die Gymnasiastin. Artemjew schüttelte den Kopf. «Nichts hat er begriffen. Ein Meer von Dummheit ist in seiner Seele.» Er wandte sich an Vittorin. «Da sind Sie ja, Genosse. Wollen Sie, bitte, nachsehen, ob Ihnen nicht das gleiche widerfahren ist?» Vittorin schnürte seinen Rucksack auf. Noch immer lag das rote Heft mit den russischen Vokabeln zuoberst, doch darunter gewahrte er zu seiner Verwunderung zwischen den Wäschestücken ein braunes Ledersäckchen, das nicht sein Eigentum war. «Nun, ja, geben Sie es nur her», sagte Artemjew. «Es sind nicht Rubel, aber was tut es, ich nehme auch das. Eine jede Gabe kommt von Gott.» Eine Blutwelle stieg in Vittorins Gesicht. «Wollen Sie behaupten, daß ich Sie bestohlen habe?» rief er empört. Artemjew hob abwehrend beide Hände. «AGh nein, was denken Sie denn, warum sollte ich mir mit Ihnen einen Scherz erlauben. Ich will Ihnen für einen kleinen Dienst danken und mein Eigentum an mich nehmen, sonst nichts. Vergegenwärtigen Sie sich doch die Lage, in der ich mich befand, und Sie werden verstehen. - Lydia! Lydotschka! 134 !35 V. Genossin! Lassen Sie die Arbeit, man kann nicht sprechen und nicht hören.» Das Geklapper der Schreibmaschine brach ab. Artemjew nahm das Ledersäckchen aus Vittorins Händen und legte es auf den Tisch. «Sehen Sie», fuhr er fort, «ich trug allerlei Sachen bei mir, ich war im Begriff, die Stadt zu verlassen, als man mich verhaftete. Man durchsuchte nicht meine Kleider. Wie hätten die beiden Milizsoldaten auch auf den Gedanken kommen können, daß in den Taschen eines Landstreichers Explosivpräparate und Zündröhrchen zu finden seien. Ich saß also in der Zelle. Für einen solchen, wie ich es war, ist das Gefängnis ein sicherer Ort, in der Stadt suchten sie Artemjew; im Gefängnis aber kümmerte sich niemand um mich. Nun hören Sie weiter: Ich erfuhr den Namen des Gefängniskommandanten. Vor sechzehn Jahren, als ich in Charkow in der Artilleriekaserne agitierte, war dieser Mensch bei der Geheimpolizei. Später kam er zu uns, wurde Revolutionär, in den Moskauer Kämpfen hat er neben mir auf der Barrikade gestanden. Seitdem ist er seinen Weg gegangen, und ich ging den meinen, er ist heute Bolschewik, ich aber bin wiederum ein Unterirdischer, ein Namenloser, Wenn er in die Zelle gekommen wäre - erkannt hätte er mich sicherlich nicht, aber dennoch, Sie verstehen, ein solcher Mensch hat Erfahrung: - - In dieser Lage befand ich mich. Was hätte ich tun sollen? Ich verteilte also meine Sachen, deponierte sie in fremden Taschen.» Vittorin wurde bleich. «Dieses Ledersäckchen enthält ein Explosivpräparat?» fragte er, «Knallquecksilber», gab Artemjew zur Antwort. «Aber Sie müssen nicht erschrecken. Es ist feucht geworden, die Explosionsgefahr war nicht groß.» «Und wenn man das Knallquecksilber bei mir gefunden, wenn man mich erschossen hätte?» rief Vittorin voll Erbitte- i36 ft rung. «Hätten Sie dann noch ein Recht gehabt, weiterzule- i ben?» I «Ich stehe dem Staat mit seinem ganzen Machtapparat ge- I genüber», sagte Artemjew. «Schlecht verstehen Sie die Revolu- I tion. Als Stromfeld im Jahre 1902 den Versuch machte, das I Moskauer Gouvernementsgebäude in die Luft zu sprengen, I verloren vierzig unbeteiligte Menschen ihr Leben.» I «Stromfelds Attentat war falsch berechnet und ungenügend fc vorbereitet. Es mußte mißglücken», bemerkte einer der drei I Männer, die am Tisch saßen. I «Ach, davon ist jetzt nicht die Rede», meinte Artemjew. |: «Nun, Genosse, wenn ich Sie bitten darf- suchen Sie weiter in k Ihren Sachen. Ein weißes Pappschächtelchen — hier ist es I schon. Und nun in Ihrer linken Tasche: ein Päckchen mit Aus-Ii weiskarten und das Dienstsiegel des Militärkommissariats. Sie St finden es nicht? Teufel, ich erinnere mich, nicht Sie haben es; I sondern dieser Mensch, der Ingenieur, der von Lenins Petro-I leumkännchen sprach. Vorwärts, Aljoschka! — Nein, bleib, es l: hat nicht Eile, er ist hier in der Maschinenfabrik, ich werde ihn I finden, - Das ist alles, Genosse. Vielleicht wünschen Sie zu rau? J chen? Sie sind aus Deutschland? Kriegsgefangener? Wohin ge-I denken Sie zu gehen?» I «Nach Moskau», sagte Vittorin. I Artemjew pfiff eine Melodie vor sich hin. Zum erstenmal ver- I nahm Vittorin das Lied, das ganz Rußland sang, das Lied vom äf Apfelchen. i:. «Wohin rollst du, Apfelchen, wirst ins Wasser fallen — Nach I; Moskau? Den Wölfen sind Sie entlaufen und wollen zurück in I den Wald?» sj'.- «Ich habe mit einem von den Wölfen ein Wort zu reden», gab I Vittorin zur Antwort. I Artemjew sah ihm aufmerksam ins Gesicht. Dann sagte er 'i mit kaum bemerkbarem Kopfnicken: f: «Ich dachte es mir. Ich habe mich also nicht getäuscht. Als I man Sie in die Zelle brachte, sagte ich mir: Dieser da hat die Augen eines Fanatikers. Aber trotzdem - ich bin mir noch nicht völlig im klaren über Sie: Welcher Partei gehören Sie an?» Im Zimmer war es still geworden. Vittorin wurde sich dessen bewußt, daß alle gespannt auf seine Antwort warteten, daß diese Minute eine Entscheidung in sich barg. «Ich gehöre keiner Partei an», erklärte er, entschlossen, bei der Wahrheit zu bleiben, denn es war ihm klar, daß er einen Menschen wie Artemjew nicht betrügen konnte. «Ich stehe allein und habe meine eigenen Ziele.» Und nach einer Pause setzte er hinzu: «Für mich besteht nur die eine Frage, ob es möglich ist, nach Moskau zu kommen,» «Nun, aufrecht gehend wahrscheinlich nicht, eher schon auf allen vieren», sagte Artemjew mit einem leisen Lachen. «Gut, Mag das Apfelchen rollen. Genosse Dolguschin verläßt noch heute die Stadt. Er wird Sie bis zur Eisenbahnstation Pe-Ascherka-Slava mitnehmen^ und von dort-» Im Hintergrund des Zimmers schnellte ein dunkelbärtiger Mann wie eine Feder von seinem Stuhl. «Erlauben Sie, Genosse Artemjew, was soll das heißen? Wir kennen diesen Deutschen nicht -» Artemjew unterbrach ihn mit einer Handbewegung. «Er mißtraut den Intellektuellen», sagte er zu Vittorin. «In diesem Punkt ist er schon ein halber Bolschewik. - Genosse Dolguschin! Als im Jahre 1911 der Leutnant Gromow zu uns kam, da waren Sie es, der sagte: ! «Ich habe Befehl, in Ihrer Wohnung ein Zimmer zu requiriere ren», sagte Vittorin einigermaßen verwirrt. «Hier ist meine k Ordre.» f. Der Mann nahm das Papier, behielt es, ohne einen Blick dar-; auf zu werfen, in der Hand und sagte mit einem höflichen Lä- cheln in seinem verfallenen Gesicht: * «Das Zimmer steht zu Ihrer Verfügung. Haben Sie die Güte, [„ einzutreten.» I «Sie heißen Seljukow?» fragte Vittorin. [ «Ich bin Seljukow, jawohl. Michael Michajlowitsch Selju- l kow.» j. «Aus wieviel Zimmern besteht Ihre Wohnung?» fragte einer j der beiden Rotarmisten im strengen Ton. |i «Drei Zimmer sind da. Zwei größere und ein kleines, eigent-f,: lieh eher ein Ankleideraum.» i «Leisten Sie irgendeine Arbeit, die Ihnen das Recht auf eine solche Wohnung mit Ankleideraum gibt?» fuhr der Rotarmist 1 fort. s «Nein, ich leiste keine Arbeit, ich lebe in den Tag hinein», sagte der Mann im Schlafrock. Und nach einer Pause fügte er f hinzu: «Wir waren hier zu drittletzt aber bin ich allein.» \... «Wanjka! Gib das Licht!» rief plötzlich der andere Rotar-\y mist, der bis dahin schweigend auf der obersten Stufe der Treppe gestanden hatte. V: Er nahm die Taschenlampe aus der Hand seines Kameraden >■: und ließ den Lichtkegel in das Gesicht des Besitzers der Woh-, nung fallen. Dann sagte er mit einem heiser klingenden, häßlichen Lachen: 148 149 «Wo, Genosse, liegt die Schwierigkeit?» «Ich glaube nicht, daß die Bezirkskommission auf persönliche Wünsche Rücksicht nimmt.» «Merkwürdige Anschauungen haben Sie», sagte der Mann mit der Brille. «Wozu brauchen Sie die Bezirkskommission? Wir haben die Stempel aller Regimenter, die Stempel der Kanzleien, der Regimentskomitees, der Divisionsstäbe, der Militär schulen und des Kriegskommissariats, wir haben Blanko-formulare jeder Art, Passierscheine, Ernennungsdekrete, sogar der Vollzugsrat des Moskauer Sowjets hat uns sein Dienstsiegel überlassen müssen. Wir werden Ihnen schon ein Papierchen mitgeben. — Einen zweiten Ausgang hat die Wohnung nicht? Das ist schade.» Zwei Stunden später erhielt Artemjew, der diese Nacht in einem Massenquartier des Presnjaviertels verbrachte, den folgenden, auf den Rand eines Zeitungsblattes gekritzelten Bericht: . «Was das Lokal betrifft, so würde sich die Wohnung des Deutschen, mit dessen Beobachtung ich betraut war, vorzüglich dazu eignen, um in ihr Bomben herzustellen und zu verstecken. Auch kann man von ihren Fenstern den Taganskyplatz überblicken, wo sich das Zentralamt für den Handel mit Wolle und die Auszahlungsstelle für Krankenunterstützung befindet. Dies erscheint mir wichtig, mit Rücksicht auf die materielle Lage unserer Organisation, da uns dieser Umstand gestattet, Beobachtungen anzustellen und den günstigen Zeitpunkt für eine Expropriation wahrzunehmen. Der Vorstand des Hauskomitees ist mir bekannt. Er nimmt Geld, von seiner Seite sind Schwierigkeiten nicht zu erwarten. Mit dem Deutschen hatte ich eine Unterredung. Obwohl er es vermied, darüber eine Erklärung abzugeben, konnte ich feststellen, daß es sich um eine rechtsgerichtete Gruppe handelt, die die Bildung einer bürgerlichen Regierung anstrebt. Bezeichnend hierfür ist, daß sich in 160 1: einem der Zimmer Bilder des ehemaligen Ministers Goremy- I: kin, des Generals Efimowitsch und anderer Repräsentanten des I kaiserlichen Regimes befinden. Die Frage des operativen Zu- \ sammenwirkens mit dieser Gruppe ist zu verneinen. Sie ist in {■■ voller Auflösung begriffen, ihre besten Leute sitzen im Gefäng-nis. Der Deutsche ist entschlossen, seine konspirative Tätigkeit [. aufzugeben und Moskau zu verlassen. Im übrigen wäre er |l meiner Meinung nach höchstens für den Beobachtungsdienst i zu verwenden gewesen.» k In einer Speisewirtschaft, die im Keller des gegenüber dem Spaßkitor gelegenen, einstmals Fürst Kudaschewschen Hauses eingerichtet worden war, traf Vittorin mit Artemjew zusammen. Man bekam hier Fischsuppe, gekochte Rüben und an i manchen Tagen auch einen dünnen, ungezuckerten Kaffee, der den Gästen' in irdenen Töpchen vorgesetzt wurde. In den Nachmittagsstunden war dieses Lokal fast immer voll von Men-; sehen, die aus den Amtsstuben der Umgebung kamen und eilig ?; ihre Mahlzeit verzehrten, um dann anderen, die wartend auf i der gewundenen Holztreppe standen, Platz zu machen. Jetzt f aber, um zwölf Uhr mittags, waren Artemjew und Vittorin die I' einzigen Gäste, ■ Der alte Revolutionär saß, die Mütze im Nacken, die Ziga-jj:: rette im Mundwinkel, rittlings auf der Bank und betrachtete i Vittorin, ohne dabei den Kellereingang aus den Augen zu las-I sen. Er schien hier bekannt zu sein, denn auf seinen Wink ver-j': schwand der blatternarbige Kellner in den Verschlag, der als t Küche diente. |i «Moskau ist groß, aber dennoch habe ich Sie ausfindig ge-|: macht», begann Artemjew die Unterhaltung. «Ich freue mich [ des lebendigen Wiedersehens. Sie haben gearbeitet, sich nicht . geschont, sorgfältig alle Nachrichten über die roten Truppen und Stäbe gesammelt. Das ist, Genosse, eine nützliche Tätig-: keit. Aber hatten Sie nicht, als ich in Berdiczew mit Ihnen i 161 1 sprach, den Plan eines aktiven Vorgehens gegen irgendeinen von diesen Sowjetmachthabern?» Vittorin starrte auf die Tischplatte. «Diesen Plan habe ich noch immer», sagte er. «Ich habe ihn niemals aufgegeben.» «Dolguschin», fuhr Artemjew fort, «Sie erinnern sich, der Mann, der Sie zur Bahnstation gebracht hat-Dolguschin sagte mir, als er zurückkam: Genosse, ich weiß, was Terror ist. Dieser Deutsche wird weder Lenin noch Rakowski töten. Er wird nach Moskau gehen und allerlei unternehmen, und es wird zu nichts führen. Er hat nicht diese Kraft in sich. - Dolguschin ist, sehen. Sie, Eisendreher, seit dreißig Jahren in der Kampforganisation, Spezialist im Sprengen von Eisenbahnbrücken. Er liebt die Intellektuellen nicht, hat kein Vertrauen zu ihnen. Damals, als er das sagte, lag im Schnee begraben die russische Erde, heute aber wird das Gras geschnitten—» ' «Ich habe viel Zeit verloren», sagte Vittorin in tiefer Niedergeschlagenheit. «Und meine Arbeit hier war vollkommen zwecklos.» «Und was sind, Genosse, Ihre weiteren Absichten?» Vittorin starrte auf die Tischplatte und zuckte die Achseln. Sein Gesicht bekam einen müden und stumpfen Ausdruck. «Ich kenne die Stunde der Bitternis», sagte Artemjew. «Auch ich habe solche Tage, an denen mir ist, als wäre ich mit Grabtüchern an Händen und Füßen gebunden. — Nichts will gelingen - sage ich mir-, das Glück ist bei den anderen. Ich werde fallen, und keiner ist da, um an meine Stelle zu treten. Und wenn sie mich im Sand verscharren, was bleibt von mir? Wird das große russische Volk, das Volk der Steppendörfer und der Fabriken, wird dieses Volk, das ich liebe, mein Leben und meinen Kampf verstehen? - Todesleere ist in mir in solchen Stunden, Dann aber kommt ein neuer Tag, bringt frischen Mut. — Noch lebe ich — sage ich zu mir —, noch verteilt der Pope nicht die Kerzen, noch ist mir die Stirn nicht mit Ol begossen und noch die Brust nicht mit Erde bestreut.» 162 Vittorin hob den Kopf. «Sie haben recht. Ich werde von Moskau fortgehen und die Arbeit von neuem beginnen.» «Sie verlassen also Moskau. Wären Sie vielleicht bereit, aufs Dorf zu gehen, in der grünen Bewegung sich zu betätigen?» Vittorin schüttelte den Kopf. «Ich will an die Front.» «Warum gerade an die Front?» fragte Artemjew. «Glauben Sie, daß man Sie dort mit Honigkuchen erwartet? Die Arbeit auf dem Dorf ist wichtig. Immer lag in den Bauernbrüderschaften unsere Stärke.» «Ich muß an die Front», erklärte Vittorin mit Nachdruck. «Sie müssen! - Auch ich sagte einmal: Ich muß, ich muß. Wenn ich mich aber heute frage, warum ich mußte, finde ich keine Antwort. Sie wollen an die Front. Gut. Ich werde das Bäumchen nicht hindern zu wachsen. Meinetwegen also an die Front. Ich habe Formulare und Siegel bei mir wie ein Kommissärchen. Die Reiseorder. Das Kriegskommissariat bestätigt -! Wie ist Ihr Name und Ihr Vatersname?» «Georg Vittorin. Mein Vater heißt Karl.» «Georg < Karlowitsch Vittorin. - Das Kriegskommissariat bestätigt dem Genossen G. K. Vittorin, geboren -» «1889.» «...geboren 1889, von proletarischer Herkunft, daß er zur Dienstleistung - in welchem Regiment?» «Im Semjenowschen Regiment,» «Dieses Regiment», sagte Artemjew, «heißt heute Rotes Regiment und gehört zur zweiten Moskauer Schützendivision, die die Linie Charkow-Bjelgorad hält. Und in welcher Eigenschaft, Genosse, wollen Sie zum Regiment? Soll ich Sie zur Verfügung des Wagenparkkommandos stellen? Können Sie chauffieren, reiten, mit Pferden umgehen?» «Ich kann weder reiten noch chauffieren», gab Vittorin kleinlaut zur Antwort. «Nun, man kann nicht alles verstehen», meinte Artemjew. «Wenn der Wolf fliegen könnte, hätte Gott nicht den Adler er- 163 schaffen. Also, vielleicht als Spezialist für Handgranatenkurse — wären Sie damit einverstanden?» «Ich habe aber nicht die Fachkenntnisse», meinte Vittorin. «Mit Handgranaten werden Sie doch umzugehen wissen!» rief Artemjew. «Und dann, diese Frontspezialisten! Nehmen Sie, zum Beispiel, das Sanitätswesen: Da hat einer irgendein-mal in einer Apotheke den Boden gefegt, und jetzt nennt er sich schon Arzt. - Hier ist die Reiseorder. Hier der Militärfahrschein. Hier die Bescheinigung des Moskauer Militärbezirks, Auf Grund dieser Bescheinigung erhalten Sie in der Stadtkommandantur eine dreitägige Ration Brot und Zucker für die Reise. - Und noch eines, Genosse: Kehren Sie in Ihre Wohnung nicht mehr zurück.» «Sie ist mir ordnungsgemäß zugewiesen. Ich habe das Recht —» Artemjew warfeinen Blick auf den Kellner, der aus dem Verschlag hervorgekommen war. «Ihre Wohnung steht seit gestern abend unter Beobachtung», sagte er mit gedämpfter Stimme. «Ich habe die Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß auf dem Taganskyplatz. drei Tschekapolizisten postiert sind. Man will Sie verhaften.» v «Warum, Genosse, sollte man mich verhaften?» «Sonderbare Frage! Die Tschekapolizei ist auf Ihre Tätigkeil aufmerksam geworden. Besondere Vorsicht haben Sie nie geübt.» «Aber ich habe meine Kleider, meine Wäsche - alle meine Sachen habe ich oben.» «Und wegen dieser Dinge wollen Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen? Sie bekommen von uns alles, was Sie brauchen. Am besten, Sie reisen noch heute ab. Auf keinen Fall zeigen Sie sich noch irgendeinmal in der Nähe Ihrer Wohnung. Versprechen Sie mir das! Gut. Ich habe Ihr Wort. - Nehmen Sie Ihre Papiere.» Vittorin steckte die Papiere zu sich und war zum Soldaten der Roten Armee geworden. Er hatte alles, was er brauchte, um an die Front zu gehen, die 164 I; Ausrüstung, die Papiere, die Verpflegung für die Reise und in der Tasche den Revolver für die große Stunde der Abrechnung i mit Seljukow. Dennoch schob er den entscheidenden Schritt hinaus als etwas Letztes und Endgültiges, das, voreilig unternommen, sich nicht wieder ungeschehen machen ließ. Zweimal war er auf dem Wege zum Kursker Bahnhof gewesen, zweimal ' war er umgekehrt. Immer die gleichen Erwägungen stellten sich der Ausführung seines Entschlusses entgegen. War es denn sicher, daß Seljukow auch heute noch bei dem Regiment stand, mit dem er einst in den Bürgerkrieg gezogen war? Konnte der i ehemalige Stabskapitän nicht den Dienst quittiert, konnte er t nicht eine Stelle in der Etappe erhalten, einen Kommandoposten bei einem der neuaufgestellten Regimenter oder bei i einem höheren Stab übernommen haben? Darüber wollte sich !■; Vittorin Gewißheit verschaffen, ehe er Moskau für immer verließ. i: Zwei Tage hindurch war er auf der Suche nach Urlaubern, nach Verwundeten und Invaliden, die dem Regiment «Karl s Liebknecht» angehörten. Aber keiner von den Rotarmisten, \: denen er begegnete, trug das Zeichen des Regiments, die Initiale len K. L., auf den Schulterstreifen. In seine Wohnung kehrte L; Vittorin nicht zurück, er übernachtete in einer Kaserne auf der [ Leningrader Chaussee. Am Morgen des dritten Tages schloß er I sich einem Zug vorstädtischer Fabrikarbeiter an, die, revolutio-I näre Lieder singend, zum Kreml marschierten, um an einem \: Meeting teilzunehmen. ; An diesem Tag wurde in den Fabriken gefeiert. Vittorin er-f führ, daß in Mailand die Arbeiter alle Gewalt an sich gerissen hatten und daß es in Elberfeld zu Straßenkämpfen gekommen i7 war. Diese Nachrichten ließen in der Gleichzeitigkeit ihres Ein-Treffens erkennen, daß der Ausbruch der Weltrevolution unmittelbar bevorstand. Dem kämpfenden Proletariat Westeuropas zu Ehren sollte dieser Tag mit Meetings, mit revolutionären j. Kundgebungen, mit Umzügen und öffentlichen Belustigungen s' und mit einer Parade der roten Truppen begangen werden. i l65 Wim Min mMM Vi" 1 li 1 Iři ' i II; Ii Ii t III. «Sie wollen also nicht vorgehen? Sie haben Furcht. Mit Recht hat man Ihnen einen Weibernamen gegeben.» Aber Ssonjetschka hörte ihn nicht. Ein Querschläger hatte ihn in die Hüfte getroffen. Seine Züge wurden schlaff, seine Hände tasteten nach dem Boden, und er sank in sich zusammen. «Zum Bataillonsstab», wiederholte er flüsternd. «Ich bin fertig, Genosse. Ubernehmen Sie die Führung. Mit Munition sparen. Feuer nur erwidern, wenn mit Angriff verbunden. Die gegenwärtige Linie — —» ■ . Er begann zu röcheln und versuchte, mit beiden Händen seinen Mantel aufzureißen. Dann fiel sein Kopf zurück, und er rührte sich nicht mehr. «Sanität!» schrie Vittorin. Aber weder der. Feldscher noch sein Gehilfe waren zu sehen, Der Rotarmist beugte sich über Ssonjetschka und öffnete ihm den Mantel und die Hemdbluse. «Der braucht den Sanitäter nicht, Genosse», sagte er. «Der wird bei keiner Hochzeit mehr tanzen. Sein Tag ist zu Ende.» , ■ Und er machte sich daran, dem Toten, die Stiefel auszuzie-, hen. Die Kugel, die Ssonjetschka getroffen hatte, entschied das Schicksal der ganzen Rotte. Vittorin sprang vor die Front. «Ich übernehme das Kommando», rief er. «Genossen! Wir gehen vorwärts. Wir werden die Verräter drüben vernichten. Das proletarische Vaterland verlangt es, das proletarische Vaterland ist in Gefahr. Genossen! Rettet Rußland!» Keine Stimme antwortete dem Ruf. Die felderfahrenen roten Soldaten sahen das deckungslose Gelände vor sich, auf dem der Feind jede, auch die geringste Bewegung wahrzunehmen vermochte. Dennoch gehorchten sie. Schweigend machten sie sich zum Sprung bereit. «Bajonett auf!» kommandierte Vittorin. Ein leises Klirren lief durch die Schützenlinie. Dann war Stille, nur die Kugeln sangen. Plötzlich aber kam aus der Reihe der Todgeweihten eine Melodie. Ein einzelner summte sie leise i86 vor sich hin, andere fielen ein, sie wurde stärker, stieg empor wie ein Choral, und mit einemmal sangen es alle: «Wohin rollst du, Äpfelchen, kommst nicht mehr zurück. Morgen in die Totenlisten schreibt man hundert Rotarmisten...» «Vorwärts!» schrie Vittorin, und das Lied ging unter im Brausen und Bersten der Sperrfeuergranaten. Nur einem kleinen Teil der Vorwärtsstürmenden gelang es, durch das Vernichtungsfeuer hindurchzukommen. Auf dem halben Weg zum Dorf brach der wahnwitzige Angriff zusammen. Von beiden Seiten umfaßt, verteidigten sich die Rotarmisten eine Zeitlang hinter den Hecken und Bäumen eines kleinen .Obstgartens. Als ihnen die Patronen ausgingen, zogen sie sich in ein zerschossenes Bauernhaus zurück, vor dessen Tür der * Kadaver eines großen struppigen Hundes lag. Hier wiesen sie mit Handgranaten und Gewehrkolben noch einmal den Gegner ab. Einige Minuten später, als der Dachfirst des Hauses zu ' brennen begann, beschlossen sie, sich zu ergeben. Unter den Gefangenen, die halb betäubt vom Qualm des -: glimmenden Schuttes aus dem Hause traten, befand sich Vittorin. g'f Jetzt lag er im Hof der zerstörten Zuckerfabik, deren rauchgeschwärzte Mauern ihm, wenn sie morgens aus dem Nebel H tauchten, als etwas unerreichbar Fernes und Geheimnisvolles '.erschienen waren, als begänne dort, wo sie standen, eine andere 1, Welt. Hier lag er nun, und längs der Mauern kauerten mit münden, mit verzweifelten und mit stumpfen Gesichtern die ande-j ren Gefangenen dieses Kampfes. Zwei Wächter in der Uniform 187 VI Hl Ii'ii 4 I I der Kubankosaken standen, auf ihre Karabiner gestützt, in der Mitte des Hofes, und ein dritter saß auf der Deichsel eines Leiterwagens und spielte Ziehharmonika. Nun kam das Ende seines Abenteuers. Mit erhobener Stirn, als freier Mensch, hatte er Seljukow entgegentreten wollen. -Das gilt nicht! hätte das Schicksal gesagt und ihn zurück in das Lager von Tschernawjensk geschleudert. Da lag er nun und war im Kreis gegangen, wieder war er nur ein Gefangener, und wieder war Seljukow der Herr. Das muß so sein, es war vorbestimmt. Krank, gefangen, niedergeworfen, wehrlos - so wollte ihn das Schicksal in der Stunde der Abrechnung. Nein. Er war nicht wehrlos. Damals, ja, in Tschernawjensk, damals hatte er an die Heimat und an das Vaterhaus gedacht und an das Wiedersehen - das lag nun hinter ihm und war nichts gewesen. Durch das Grauen der Zeit war er gegangen, und sein Leben galt ihm nichts mehr. Wenn jetzt Seljukow kam, war er bereit. Er sah sich Seljukow gegenüber. — Er ist es, an seiner Brust der Wladimirorden und das Georgskreuz - Michael Michajlo-witsch! Erkennen Sie mich? Ja! Seljukow erkannte ihn, er wußte, was ihn erwartete, und wurde bleich. Ein Schlag in dieses hochmütige Gesicht, aus dem alle Laster der Welt starrten und alle Schlechtigkeit einer verruchten Zeit. Ein Schlag und noch einer. Seljukow taumelte zurück und zog den Säbel — aber er, Vittorin, war nicht mehr da, das Lager von Tschernawjensk war ja schon lange aufgelöst - wo war er? Er stand in einem Bauernhaus, auf den hölzernen Fensterläden waren Sonnenblumen und weiße Rosen gemalt, und vor der Tür lag ein struppiger Hund, der ließ keinen ein, «ein Toter ist er, und Tote bewacht er», sagte eine Stimme, die klang wie Ziehharmonika. Woher kam nur dieser Schmerz, unaufhörlich bohrte es an seinen Schläfen und in seiner Brust. Die Kugeln pfiffen, Vittorin kniete hinter seinem Holzstoß und schoß, und plötzlich war Beresin neben ihm, Beresin mit verzerrtem Gesicht - «Wer hat diesen Befehl gegeben? Sie? Warum taten Sie das?» - «Warum? Es mußte so sein. Es war vorherbestimmt. Sehen Sie denn nicht? Alle Laster der Welt starren aus diesem Gesicht -» Schwer wie Eisen waren Vittorins Lider, die Augen fielen ihm zu, Träume kamen und rissen ihn mit sich fort. Durch Ströme von Eis rissen sie ihn und durch den glühenden Sand der Wüste, in Wirbelstürme und hinunter in dämmernde Tiefen. Dann wurden sie seiner müde und gaben ihn frei, und er tauchte empor in das Licht des Tages. Von der Mitte des Hofes her kam in singendem Ton ein Kommandoruf: «Auf! Sammelt euch!» Schlaf und Schmerz fielen von Vittorin ab wie Blutegel, die sich sattgetrunken haben. Die Stunde war gekommen. Er richr tete sich auf, stand kerzengerade. Rechts und links von ihm ordneten sich die Gefangenen in einer Reihe. «Kommissäre, rote Offiziere, organisierte Kommunisten v tretet aus!» befahl der Unteroffizier. Mit vier anderen trat Vittorin aus der Front der Gefangenen. Ein fünfter folgte nach einem Augenblick des Zögerns. Hinter ihnen schloß sich die Reihe. «Halt!» Sie blieben stehen. Der Mann neben Vittorin sagte leise: «Uns werden sie erschießen, uns sechs, das ist sicher. Gut. Mögen sie über mir die Erde pflügen. - Da ist er schon, der Pfeifer.» «Wo?» rief Vittorin. «Dort geht er, der Verfluchte. Sehen Sie ihn nicht?» «Euer Hochwohlgeboren, siebenundzwanzig Gefangene», hörte man die Stimme des Unteroffiziers. «Sechs von ihnen sind Organisierte.» Durch einen Schleier von rotem Nebel, der sich vor seinen Augen senkte, sah Vittorin das Gesicht des Dämons, den er verfolgte, er sah Seljukow und stieß'einen Schrei aus und stürzte vor: «Michael Michajlowitsch! Erkennen Sie mich?» 189 i i I II ! Ii KI I 1 Der Offizier wendete den Kopf und erblickte einen Menschen, der taumelnd wie ein Betrunkener auf ihn zukam. Er hob den Revolver und ließ ihn wieder sinken. «Sie sind es? Um des Himmels willen, wie kommen Sie unter diese hier?» rief er bewegt. «Sind Sie denn Bolschewik geworden?» «Bolschewik geworden», wiederholte Vittorin. Er begriff nicht, wohin Seljukow verschwunden war und daß jetzt ein anderer an dieser Stelle stand, einer, den er kannte, jener Rittmeister, der in Nowochlowynsk den Boden gefegt hatte - was wollte er hier und wo war Seljukow? «Sagen Sie mir um Gottes willen die Wahrheit!» rief der Rittmeister. «Hat man Sie gezwungen, an die Front zu gehen? Warum kämpfen Sie gegen Rußland?» «Freiwillig an die Front gegangen», stammelte Vittorin. Er starrte an dem Rittmeister vorbei ins Leere und suchte Seljukow und fand ihn nicht. - Fort. Verschwunden. «Es ist gut», sagte der Rittmeister. «Sie können gehen. Auch solchen, wie Sie einer sind, hält ein russischer Offizier sein Wort. Sie können gehen, ich habe nicht vergessen. Verstehen Sie nicht? Sie sind frei, Sie können gehen.» Vittorin verstand. Er machte einen Schritt, doch die Kraft, die ihn bis zu dieser Sekunde geführt und aufrechterhalten hatte, war in ihm erloschen. Er taumelte und fiel zu Boden, und Nacht und Stille schlugen über ihm zusammen. Der Unteroffizier riß ihm Mantel und Jacke auf. «Ich habe es mir, Euer Hochwohlgeboren, gedacht», meldete er. «Fleckfieber schicken sie uns von drüben. Er hat schon auf der Brust den Ausschlag.» Mit einer Gebärde des Abscheus wandte sich der Rittmeister ab. «Vergiftet von außen und von innen», sagte er. «Fleckfieber und Bolschewismus, das ist schon das gleiche. Schaffen Sie ihn fort!» Doch im nächsten Augenblick kam es ihm wieder ins Be- I wußtsein, daß das Menschenwrack, das vor ihm auf der Erde I lag, in vergangenen Tagen sein Freund gewesen war. «In die Kalkgrube, Euer Hochwohlgeboren?» fragte der Unteroffizier. •■ «Nach Lebjedin, ins Lazarett», sagte der Rittmeister Stakkelberg, mit einem harten und zornigen Klang in seiner Stimme, wie einer, der sich eines Wortes, eines Gedankens oder einer Träne schämt. 190 I Wachskerzen aufbewahrte. Ein Blick auf die Rückseite des Briefumschlages sagte Vittorin alles, was er zu wissen wünschte. Seljukow und sein Diener Grischa befanden sich in Batum und wohnten in der Kutaiskaja, im Hause des Kaufmanns Karabadjian. «Nun sieh einer, wohin der Teufel ihn gebracht hat», meinte kopfschüttelnd der Dorfälteste. «Batum! Von dieser Stadt habe ich noch nie gehört. Sie können aber, Euer Wohlgeboren, den Popen fragen, er hat ein Buch, in dem die Weltgegenden beschrieben sind.» Vittorin erklärte, daß er über Batum Bescheid wisse und daß er hoffe, in drei Tagen dort zu sein. In seiner Vorstellung befand er sich bereits auf der Heimreise. Rußland lag hinter ihm. Batum, das war ein kleiner Umweg, weiter nichts. Das Schicksal hatte es diesmal gut mit ihm gemeint. Die alte Frau holte unter dem Kopfpolster ihres Bettes eine Tombakuhr hervor. «Euer Wohlgeboren, gnädiger Herr», bat sie, «wenn Sie Grischa sehen, geben Sie ihm diese Uhr. Sie gehört ihm. Als er von hier fortging, war er zornig, weil er sie nicht fand. Sie werden sie ihm geben, ich habe, Euer Wohlgeboren, dieses Vertrauen zu Ihnen. Und sagen Sie ihm, daß ich mit dem Heu und mit dem Brot bis zum März komme, dann aber werde ich ein Schaf verkaufen. Dem Schmied ist seine Frau davongegangen. Sagen Sie Grischa, ich sitze hier und weine Tränen um ihn. Ein neues Sieb habe ich gekauft. Und ich habe niemanden, der mir im Garten den Boden umgräbt, sagen Sie ihm das.» Sie ging mit Vittorin bis zur Kirche, wo sein Schlitten wartete. Die Glocke läutete zum Abendsegen, die Weiber standen vor den Türen und bekreuzigten sich. Vittorin stieg ein und hüllte sich in seine Decke. Bis zur Bahnstation hatte er zwölf Werst zu fahren. Der Gemeindeälteste, der ein Geldgeschenk erwartet hatte, schwieg und kratzte sich am Nacken. Und die alte Frau rief dem Schlitten nach: «Sein Taufpate, Gawrila Iwanytsch Schikulin, ist gestorben. Ich habe jetzt niemanden, der mir im Garten die Erde umgräbt, Den Schmied haben sie in die Kreisstadt gebracht, weil er gestohlene Pferde verkauft hat. Sagen Sie Grischa, ich verschleudere nichts---» Es ist Mittag, die Hitze beginnt unerträglich zu werden, das Geschrei der Händler, die den Vorübereilenden Obst, Sorbet, Honigwaffeln und Pistazienkuchen anbieten, läßt ein wenig nach. Vittorin steht auf der Sultan-Walide-Brücke, die Galata mit Stambul verbindet, er hat jetzt endlich den Dampfer gefunden. Dort das Schiff mit der griechischen Flagge - . weißes Kreuz und weiße Streifen auf blauem Grund. Morgen früh um sieben geht die nach Triest, in Brindisi legt sie an, das hat Vittorin in der Schiffsagentur erfahren. Der Platz auf dem Zwischendeck kostet ohne Verpflegung sechzig Lire, auf den griechischen Dampfern haben sich die Zwischendeckpassagiere selbst zu verköstigen. Vittorin hat weder Geld noch Paß. Sein Geld hat er in der vergangenen Nacht verspielt, siebzehn Franken und ein halbes türkisches Pfund — es hätte ohnehin nicht gereicht. Dafür wird er heute gewinnen, das weiß er bestimmt. Sechzig Lire - mehr braucht er nicht. Man kann ganz gut vier Tage hindurch von Brot und von Zigaretten leben, es geht, er hat es schon erprobt. Wie er sich bis morgen um sieben die Reisedokumente beschaffen soll, das macht ihm mehr Sorge. Er hat zwei Pässe, von der Ententekommission in Batum hat er einen russischen . Hüchtlingsausweis erhalten. Aber alle seine Papiere hat Lu-cette in Verwahrung, und sie weigert sich, sie ihm auszufolgen. : Gestern hat er davon zu sprechen begonnen, daß er vielleicht werde verreisen müssen, auf zwei Tage nur, und sicher sei es keineswegs - da hat Lucette ihm eine Szene gemacht - daß es abscheulich von ihm war', jetzt auszurücken, und was Gemeineres gäb's in der Welt nicht - Tränen, Vorwürfe - alle Kellner in diesem verdammten Hotel sind auf dem Gang zusammengelaufen. 196 197 Sie ist j ung und hübsch und Tänzerin, sie fände hundert Liebhaber für einen. Aber sie mag die Griechen mit ihrem «Zwölf-Sous-Parfüm» nicht, und sie verabscheut «alle diese Levantiner, die sich niemals waschen». Freiwillig läßt sie ihn nicht gehen, das ist sicher. Heute morgen, während sie schlief, hat Vittorin das Zimmer durchsucht. Im Wäscheschrank hat er die Nußholzkassette gefunden und dann vorsichtig, wie ein Dieb, unter Lucettes Kopfpolster den Schlüssel hervorgeholt. Aber die Kassette enthielt nur die Geschäftskorrespondenz der drei : Briefe ihres Mailänder Agenten; Briefe von Tingel-Tan-gel-Besitzern aus Galatz, Smyrna, Athen, Alexandrien und Port-Said; Zeitungsausschnitte mit den Bildern der Toledo-Girls; zerdrückte Schleifen, Reste verwelkter Blumen und einen ganzen Stoß Briefe, die mit unterzeichnet waren. Pancrace - von einem Herrn dieses Namens haben Ethel und Adele, die Tanzpartnerinnen Lucettes, wiederholt gesprochen. Wer dieser Pancrace ist und welche Rolle er in Lucettes Leben spielt, das weiß Vittorin nicht. Er weiß nur, daß er diesen Namen schon gehört hat. Seine Pässe hat Vittorin in der Kassette nicht gefunden. Lu-cette muß noch ein weiteres Versteck im Zimmer haben. Dort, wo sie ihren Schmuck aufbewahrt, dort sind auch seine Papiere. Es ist halb eins, Lucette ist gewöhnt, daß er ihr beim Frühstück Gesellschaft leistet. Wenn er sich nicht beeilt, kommt er zu spät. Hinauf nach Pera geht eine Drahtseilbahn, in zehn Minuten könnte er oben sein, aber er hat die zwanzig Para nicht. Alles in der Nacht verspielt. Gegen ein Uhr steht Lucette auf, nach dem Frühstück raucht sie eine Abrazigarette, dann badet sie, dann legt sie Patience oder spielt mit Ethels Papagei - so vergeht ihr Tag. Wenn der Rumäne kommt, der Besitzer des Cafe Elisee, in dem die Toledian-Girls tanzen, dann empfängt ihn Lucette in einem Morgenkleid, das bis an den Hals geschlossen ist. Er bekommt nicht viel zu sehen, der arme Herr Lupescu. In Batum hat Vittorin sie kennengelernt. Er hatte an diesem 198 i Tag als Gepäckträger im Hafen genausoviel verdient, daß er I sich in einem Cafe auf dem Mariinskijprospekt eine Mahlzeit I gönnen konnte. Der Regen hatte die drei Toledian-Girls in das I armselige Lokal getrieben. Das war sein erstes Zusammentref- I fen mit Lucette. Jetz t geht es ihm gut, die Zeit des Hungerns is t I vorüber Er spielt Geige im Cafe Elisee. Lucette weiß es überall, I wo sie auftritt, durchzudrücken, daß er fürs Orchester enga- I giert wird. Wenn die Toledian-Girls am Abend tanzen - als I Spanierinnen, als exotische Schmetterlinge, als Priesterinnen ! des Gottes Shiwa oder als Dandys mit weißer Hemdbrust und I Monokel -, dann blickt er über seine Notenblätter hinweg auf I Lucette, er folgt mit den Augen jeder ihrer Bewegungen und ist, I nach soviel Wochen Zusammenseins, noch immer voll Staunen Idarüber, daß diese Frau ihm gehört und sonst keinem. Wenn er ': mit ihr allein ist und ihren geschmeidigen und beweglichen ■ Körper an sich preßt, muß er sich immer wieder sagen, daß das ; die Tänzerin Lucie d'Aubry ist, auf die am Abend im Cafe Eli- t see hundert begehrliche Blicke gerichtet sind. Wenn sie mit ge- .; schlossenen Augen und halbgeöffnetem Mund in stummer Er- ' mattung in seinen Armen liegt, dann träumt er von ihrer l Stimme und von ihrem Lachen. I Er muß fort. Es ist ihm nicht leichtgefallen, diesen Entschluß f: zu fassen. Er kann es sich nicht vorstellen, wie es ihm möglich I sein wird, ohne sie zu leben. Aber die Pflicht, die ihm auferlegt I ist, verlangt ein letztes Opfer von ihm. Wenn die Sache Selju- 't kow erledigt ist, kehrt er zu Lucette zurück, er wird sie finden, I ob sie nun in Konstantinopel ist oder in Rustschuk oder in I Smyrna. Er läßt nicht mehr von ihr. I Er hat Seljukow in Batum nicht getroffen. Vor fünf Monaten [i" schon ist Seljukow nach Konstantinopel gereist. Vittorin ist I hinter ihm her, in allen Hotels der Stadt hat er nach ihm gefragt, I in den Luxusrestaurants, in den Speisehäusern, in den Bars, in I den Cafes, in den Brasserien, in allen Spelunken Galatas und in S allen Spielhöllen von Pera hat er ihn gesucht. Seit drei Tagen I weiß er, daß Seljukow in Rom ist. f S T99 Rom, Via Nationale, Hotel Royal des Etrangers. Dort wird Vittörin ihn finden. Er sieht in Seljukow nicht mehr den hochmütigen russischen Offizier, der ihn beleidigt hat. Seljukow ist der böse Geist einer entarteten Zeit. In ihm haßt Vittorin alles Schändliche, das seine Augen sehen, in ihm haßt er die Schieber, die Valutageier, die Raubtiermenschen, die sich in den Besitz der Welt geteilt haben. Konstantinopel ist voll von die* sen düsteren Gestalten, voll von Menschen, deren Fingerabdrücke in den Polizeiämtern registriert sind, überall sieht man ihre gierigen und gemeinen, verschwommenen und verfetteten Gesichter. Sie verdienen am Krieg, an der Politik, an der Spionage. Drüben in der Krim kämpft die Armee des Generals Wrangel ihren letzten Kampf. Die hinten liefern^ sie schachern, sie betrügen, sie liefern den Weißen und den Roten, wer mehr bezahlt, dem gehören sie. Sattelzeug, Hufnägel, Revolvertaschen, Putzhadern, Wagenschmiere, verdorbenes Büchsenfleisch. Wenn sie ihre Geschäfte abschließen, strömt der Champagner. Sie sind zahlreich, sie sind unangreifbar, sie sind überall, in Paris, in Bukarest, in Wladiwostok. Nur an einem von ihnen kann Vittorin die Menschheit, die sie verraten, die Welt, die sie verpestet haben, rächen, und dieser eine ist Seljukow. Gluthitze liegt über den Straßen der Stadt. Jetzt ist Vittorin in der Grande Rue de Pera. Unten in Galata versehen Karabi-nieri den Polizeidienst, hier oben stehen englische Bobbys mit blauweißen Armbinden. Auf der Terrasse des Hotels des Londres sitzen zwischen englischen und griechischen Offizieren die Schieber, die Schmeißfliegen, die Aasgeier: Menschen von unbestimmbarer Nationalität mit ihren aufgeputzten Weibern - auch ihre Weiber verkaufen sie, wenn der Preis ihnen zusagt, das ist für sie ein Geschäft wie jedes andere. Von den Häusern wehen Fahnen in den Farben der Sieger-Staaten. Kein einziger Fes, kein Tarbusch ist in der Perastraße zu sehen. Die Türken bleiben in ihren Häusern, sie sind fremd geworden in ihrer eigenen Stadt. 200 Vor dem kleinen Hotel, in dessen erstem Stockwerk die Artisten, die im Cafe Elisee auftreten, einlogiert sind, steht, sein Stöckchen schwingend, die Zigarette schief im Mundwinkel, ein junger Mensch mit einem Weibergesicht und flachsblondem, in die Stirne gestrichenem Haar. Er grüßt Vittorin auf eine vertrauliche Art, indem er zwei Finger flüchtig an den Rand seiner Sportmütze legt. Mit einem Gefühl des Unbehagens erinnert sich Vittorin, daß er diesen Menschen in der vergangenen Nacht am Spieltisch kennengelernt hat. Was will der Mensch hier, warum steht er vor dem Hotel? Vittorin hat sein Geld verloren, aber er ist keinem seiner Partner auch nur einen Centime schuldig. Nun? Sie wünschen, mein Herr? Der Herr scheint nichts zu wünschen. Der Herr wendet sich ab und geht, sein Stöckchen schwingend, langsam die Straße hinunter. Schon während er die Treppe hinaufging, vernahm Vittorin die erzürnte Stimme der Tänzerin. Er trat in das Zimmer und sah sich Herrn Lupescu gegenüber, der seinen gewichtigen Körper in einen Lehnstuhl gezwängt hatte und in diesem hilflosen Zustand einen Sturzregen von Ehrenkränkungen und leidenschaftlichen Vorwürfen über sich ergehen lassen mußte. «Daß Sie überhaupt den Mut haben, herzukommen, das ist's, was ich nicht verstehe», rief Lueette bebend vor Empörung. «Wahrhaftig, dazu gehört aber eine Stirne! Kommt ■herein, als wäre nichts geschehen. Es scheint also etwas Gewöhnliches bei Ihnen zu sein, daß Sie eine Künstlerin, die's ; mit ihrem Beruf ernst nimmt, von Ihren Zeitungsschreibern anpöbeln lassen. Lumpenkerle, der eine wie der andere!» Herrn Lupescus Gesicht hatte den Ausdruck eines geäng-■ stigten Kaninchens. Erfühlte sich schuldig. Die Notiz im , der die Entrüstung der Tänzerin galt, war von ihm bestellt und bezahlt worden, aber unglücklicherweise hatte er es unterlassen, den Text vor der Drucklegung zu überprüfen. 201 hatte. Aber es war ihm gleich. Es gab Dinge, die wichtiger waren als dieser Herr Pancrace. Eine Stunde später stand er an Bord der , die langsam aus dem Hafen lief. Staunend sah er das Bild der Stadt, in der er gelebt hatte. Er sah die Terrassengärten und die.Mina-retts und die grünen Kuppeln der Moscheen, er sah die Paläste aus weißem Marmor und die Zypressen der alten Friedhofsgärten und die Stadtmauer mit ihren Toren — er sah dies alles in dem Augenblick, da es ihm entschwand, zum erstenmal. Von Rom führte Seljukows Spur nach Mailand, und hier ging sie verloren. In einem kleinen Logierhaus in der Via Cappelan hatte sich der Stabskapitän mit seinem Diener Grischa vier Tage lang aufgehalten. Wohin die beiden dann gereist waren das konnte Vittorin nicht in Erfahrung bringen. Da er kein Geld mehr besaß, war er genötigt, seine Nachforschungen einzustellen und sich nach einer Arbeit umzusehen, Der Hurrikan des Lebens riß ihn mit sich fort und warf ihn aus einer Stadt in die andere. Im Hafen von Genua arbeitete Vittorin als Kohlentrimmer. In Barcelona war er Adressenschreiber in Narbonne Gehilfe eines Anstreichers. Die Zeit verlief. Er hatte mancherlei gelernt: daß man, wenn es keine Arbeit gibt, auch von Käserinden und Obstabfallen leben kann; daß die Bahn nicht nur für Leute da ist, die eine Fahrkarte besitzen; daß man in gewissen Vorstadtschänken für Zigarettenstummcl, die man tagsüber auf den Boulevards gesammelt hat, ein Stück Brot und ein Glas Wein eintauschen kann - manchmal, wenn die Ausbeute gut gewesen ist, erhält man sogar ein Stückchen Salzfleisch, aber solche Tage sind selten. In Toulon wurde ihm sein Rucksack gestohlen, in Marseille saß er vierzehn Tage lang in Polizeihaft. Er kannte die Brotsuppe der Asyle und den Geruch der Schwefeldämpfe, mit denen die Kleider der Obdachlosen desinfiziert wurden. Unend- lich fern war Seljukow, vielleicht in Algier, vielleicht in Genfj vielleicht in Buenos Aires. Dann kam ein Tag, an dem sich Vittorins Schicksal wendete, ein Tag, der ihm die Freiheit wiedergab, die er im täglichen Kampf um das Stück Brot verloren hatte. Ein Auto, das den Boulevard de la Gorderie überquerte, stieß ihn nieder. Der Führer des Wagens, ein Amerikaner, brachte ihn ins Spital und hinterlegte für ihn die Heilungskosten und ein Schmerzensgeld. Vittorin hatte einen Rippenbruch und Rißquetschwunden an beiden Armen erlitten. Als er vier Wochen später das Spital verließ, wurden ihm sechshundert Franken ausgefolgt. Noch am gleichen Tag fuhr er nach Paris. , Wo immer auch sich Seljukow befand - es gab ein Mittel, seinen Aufenthaltsort festzustellen. In Paris - das hatte Vittorin i von einem Spitalgenossen erfahren - erschienen die Emigrantenblätter der verschiedenen politischen Richtungen, die Blätter der Ultrakonservativen, der liberalen Monarchisten und der Kadettenpartei - Blätter, die den Gedanken einer gewaltsamen Intervention in Rußland verfochten, und andere, die für Versöhnung mit den Sowjets eintraten, Blätter der Menschewiki, Blätter der S.-R.-Partei - sogar eine kleine Gruppe russischer Anarchisten, die sich nannten, hatte ihr täglich erscheinendes Organ. Und es gab keinen russischen Flüchtling, der nicht dadurch, daß er eines dieser Blätter hielt, , den Zusammenhang mit der Heimat und mit den in aller Welt ^versprengten Freunden sich zu erhalten suchte, j An einem trüben Wintermorgen erschien Vittorin in der Re-adaktion der von Miljukow herausgegebenen . Es war der elfte Versuch dieser Art, den er unternahm. |Diesmal hatte er Erfolg. Der Name Michael Michajlowitsch ISeljukow fand sich in der Abonnentenliste. Das Blatt wurde |dem Stabskapitän seit acht Monaten an die gleiche Adresse ge- aus Sibirien kannte er ihn, aus dem Lager von Tschernawjensk, es war das Aroma des chinesischen Tabaks, das Aroma der Zigaretten, die Seljukow rauchte, und er schloß die Augen und sog mit einem unaussprechlichen Wohlgefühl den Duft eines vergangenen Tages ein. Dann läutete er. Hinter dieser Türe, jetzt wußte er es, war Seljukow. Der Tür gegenüber stand ein Bett mit einer gestreiften Decke. Den Raum zwischen Bett und Fenster nahm ein sonderbares Möbelstück ein, eine Art Tischchen mit einer Tretvorrichtung und zwei Rädern. Rechts an der Wand hing ein Büchergestell, das viel zu groß war für die wenigen Bücher, die es enthielt. Auf dem freien Raum stand ein Spirituskocher neben einer Tee? kanne aus Steingut. Uberall im Zimmer gab es holzgeschnitzte Figürchen, auf dem Schrank, auf der Kommode, auf dem Fensterbrett und in allen Winkeln: buntbemalte Dorfmusikanten; säbelschwingenge Kosaken, trinkende Bauern, eine Tröika, eine Dorfschmiede, tanzende Bären, und auf dem Waschtisch neben dem Wasserkrug stand eine Kirche mit blauer Kuppet und vielen winzigen kleinen Wallfahrern. Auf einem Tisch in der Mitte des Raumes lagen kleine Messer mit verschiedenartig gekrümmten Klingen zwischen Farbtöpfen und Rundhölzern. An dem Tisch saß ein Mann mit einer Brille, unrasiert, in einem alten, abgetragenen Sakko, und dieser Mann war Seljukow. Vittorin hielt noch immer die Türklinke in der Hand und starrte auf die bemalten Holzfiguren, auf die zerschlissene Bettdecke, auf den Mann mit der Brille und auf den zerbrochenen Wasserkrug. Es war kalt im Zimmer, kein Feuer brannte in dem gußeisernen Ofen. Seljukow erhob sich. Seljukow trug ausgetretene Pantoffeln, seine Hosen waren an den Knien durchgewetzt. Der Tisch mit. dem Tretbrett und den Rädern war eine Drehbank. i «Erkennen Sie mich, Michajlowitsch?» fragte Vittorin nach F. langem Schweigen. Nein. Seljukow erkannte ihn nicht. ■ Seljukow nahm die Brille ab, um sie zu putzen. Seine Augen waren entzündet. «Leutnant Vittorin aus dem Lager Tschernawjensk. Ehema-v liger Kriegsgefangener, Pavillon 4.» Der Mann, der Seljukows Gesicht hatte, lächelte und sprach mit Seljukows Stimme: «Tschernawjensk! Vorbei sind diese Tage. Damals war ich Offizier und diente Rußland.» l «Und heute?» 1 «Nun, Sie sehen. Ich lebe. Ich schnitze Spielzeug, und ein i- Kamerad, der im großen Krieg mein Diener war, verkauft es I auf den Straßen. Manchmal verkauft er, manchmal aber \ kommt er erst spät abends und bringt kein Geld.» Vittorin suchte ein Wort und fand es nicht. Eine große Leere [ war in ihm, er starrte durch das Fenster hinaus auf die Straße. Pascholl - hieß dies Wort nicht Pascholl? Seljukow stand vor ! ihm in Pantoffeln und mit unrasiertem Kinn. Wo war das Georgskreuz? Wo war die Zigarette, nie hatte er Seljukow ohne l Zigarette gesehen, wo war der Duft des chinesischen Tabaks? Es roch nach Lack, nach Leim und nach frischer Farbe. 1 «Rauchen Sie, Michael Michajlowitsch?» fragte er mit ge-«preßter Stimme. X : «Nein. Früher habe ich geraucht, jetzt aber rauche ich nicht »mehr.» Wk. -«Aber haben Sie nicht eben erst, kurz bevor ich kam, eine ■jZigarette geraucht? Ausländischen Tabak?---» H" «Nein», sagte Seljukow. «Seit einem Jahr schon habe ich »nicht geraucht. Aber wenn Sie gestatten---» KJ} Er nahm eine von den Zigaretten, die Vittorin ihm anbot, Hund zündete sie an. Auf eine unnachahmliche Art hielt er sie, ■während er die blauen Ringe in die Luft blies, zwischen zwei ■jEingern der linken Hand. Und einen Augenblick lang war es HjMttorin, als hätte er den Stabskapitän Seljukow vor sich, Selju- 226 227 1,1 l kow mit dem hochmütigen Gesicht, mit dem Georgskreuz und dem Wladimir-Orden.--- . «Sind Sie zufrieden mit Ihrem Leben?» fragte er, und jetzt war in seiner Stimme ein kalter und harter Klang. «Geht es Ihnen gut, Michael Michajlowitsch?» «Zufrieden? Ich bin vielleicht sogar noch mehr als zufrieden. Ich habe immer Glück gehabt. Meine Kameraden sagten: seljukow hat in allem Glück, selbst in der Hölle findet er ein kühles Plätzchen.) Es geht mir gut. Ich will Ihnen sagen, ich hatte in Moskau eine Freundin, sie war Sängerin an der Oper. Nun sehen Sie, auch sie ist hier, und sie wohnt sogar mir gegenüber, dort, in jenem Hause. Sie weiß nicht, daß ich hier bin, und sie wird es auch nicht erfahren. So wie ich heute bin, soll sie mich nicht sehen. Aber ich kann sie von einem Fenster aus sehen, wenn sie am Flügel sitzt und singt, ich sehe sie alle Tage. Ein junger Herr begleitet sie. Ich habe gefragt - es ist nicht ihr Geliebter, es ist der Korrepetitor. - Warum sollte ich nicht zufrieden sein.» Vittorin schwieg. Ohne daß er es wußte, stieß er einen leisen Seufzer aus. «Sie sind also gekommen, haben mir die Ehre erwiesen», sagte Seljukow. «Darf ich fragen - was sind Ihre Wünsche?» Vittorin fuhr auf. Er war mit seinen Gedanken weit fort gewesen, im Schneesturm der russischen Steppe, in den Straßen Moskaus, auf kahlem Feld zwischen pfeifenden Geschossen, in der Isolierbaracke eines Typhusspitals, in Paris in einem hellerleuchteten Raum, eine Jazzband lärmte, und das Mädchen, das er liebte, nahm Abschied von ihm und ging am Arm eines anderen fort---dieser alte Mann hier hatte irgend etwas gefragt — was er hier suche, warum er gekommen sei---- «Ich wollte —» stotterte Vittorin, «ich dachte — man hat mir gesagt, daß hier russisches Spielzeug zu bekommen ist. Ich brauche russisches Spielzeug, ich möchte kaufen.» «Bitte», sagte Seljukow, und er gab sich keine Mühe, seine Überraschung und seine Freude zu verbergen. «Nehmen Sie, 228 was Sie brauchen. Es ist nicht teuer, aber Sie verstehen — das Material, die Farben, les petits frais — Mein Kamerad trägt alles in Ihre Wohnung.» Er brachte zur Auswahl einen grellbemalten Kosaken, einen Popen mit weißem Bart, zwei Hasen mit beweglichen Ohren, einen heiligen Iwan und eine Bäuerin, die einen Milchtopf trug. Vittorin nahm alles. Im Vorzimmer stand Grischa und verneigte sich tief bis zur Erde. «Ssdrawstwuj, Grischa!» grüßte ihn Vittorin, der wie aus einem Traume erwacht war. «Wünsche Gesundheit, gnädiger Herr!» «Ich war in deinem Dorf, Grischa, in Staromjena. Ich habe mit deiner Mutter gesprochen. Sie sitzt daheim und weint Tränen um dich.» «So wird sie lachen, wenn ich wiederkomme», sagte Grischa und betrachtete seine roten, von der Kälte geschwollenen Hände. «Dein Taufpate Gawrila Schikulin ist gestorben. Den ' Schmied haben sie in die Kreisstadt gebracht», fuhr Vittorin in seinem Bericht fort. , «Mögen ihm dort hundert Ziegelsteine auf den Kopf fallen», (murmelte Grischa. «Also Gawrila Iwanytsch ist tot, ich werde ■ihn nicht wiedersehen. Er war mein Pate. Nun, Gott hat es so I bestimmt, es war sein heiliger Wille.» «Der Schmied hat gestohlene Pferde verkauft. Deine Mutter lläßt dir sagen, daß sie nichts verschleudert. Mit dem Brot ist sie |bis zum März ausgekommen. Aber sie hat niemanden, der ihr im Garten den Boden umgräbt.» S «Sie soll Katjuschka nehmen, die Tochter des Schneiders, •ie Katjuschka hat nur ein Auge, aber'sie ist ein kräftiges Weib ihd versteht die Arbeit. Sie soll nur mit dem Schneider spreizen», sagte Grischa, und er sah Vittorin an, als sei es selbstver- 229