E.T.A. Hoffmann – Die Serapionsbrüder »Ihr wißt, daß ich mich vor mehreren Jahren einige Zeit hindurch in B***, einem Orte der bekanntlich in der anmutigsten Gegend des südlichen Teutschlands gelegen, aufhielt. Nach meiner Weise pflegte ich allein ohne Wegweiser, dessen ich wohl bedurft, weite Spaziergänge zu wagen und so geschah es, daß ich eines Tages in einen dichten Wald geriet und je emsiger ich zuletzt Weg und Steg suchte, desto mehr jede Spur eines menschlichen Fußtritts verlor. Endlich wurde der Wald etwas lichter, da gewahrte ich unfern von mir einen Mann in brauner Einsiedlerkutte, einen breiten Strohhut auf dem Kopf, mit langem schwarzem verwildertem Bart, der dicht an einer Bergschlucht auf einem Felsstück saß und die Hände gefaltet gedankenvoll in die Ferne schaute. Die ganze Erscheinung hatte etwas Fremdartiges, Seltsames, ich fühlte leise Schauer mich durchgleiten. Solchen Gefühls kann man sich wohl auch kaum erwehren, wenn das, was man nur auf Bildern sah oder nur aus Büchern kannte, plötzlich ins wirkliche Leben tritt. Da saß nun der Anachoret aus der alten Zeit des Christentums in Salvator Rosas wildem Gebürge lebendig mir vor Augen. – Ich besann mich bald, daß ein ambulierender Mönch wohl eben nichts Ungewöhnliches in diesen Gegenden sei und trat keck auf den Mann zu mit der Frage, wie ich mich wohl am leichtesten aus dem Walde herausfinden könne um nach B*** zurückzukehren. Er maß mich mit finsterm Blick und sprach dann mit dumpfer feierlicher Stimme: ›Du handelst sehr leichtsinnig und unbesonnen, daß du mich in dem Gespräch, das ich mit den würdigen Männern, die um mich versammelt, führe, mit einer einfältigen Frage unterbrichst! – Ich weiß es wohl, daß bloß die Neugierde mich zu sehen und mich sprechen zu hören dich in diese Wüste trieb, aber du siehst, daß ich jetzt keine Zeit habe mit dir zu reden. Mein Freund Ambrosius von Kamaldoli kehrt nach Alexandrien zurück, ziehe mit ihm.‹ Damit stand der Mann auf und stieg hinab in die Bergschlucht. Mir war als läg ich im Traum. Ganz in der Nähe hört ich das Geräusch eines Fuhrwerks, ich arbeitete mich durchs Gebüsch, stand bald auf einem Holzwege und sah vor mir einen Bauer, der auf einem zweirädrigen Karren daherfuhr und den ich schnell ereilte. Er brachte mich bald auf den großen Weg nach B***. Ich erzählte ihm unterweges mein Abenteuer und fragte ihn, wer wohl der wunderliche Mann im Walde sei. ›Ach lieber Herr‹, erwiderte der Bauer, ›das ist der würdige Mann der sich Priester Serapion nennt und schon seit vielen Jahren im Walde eine kleine Hütte bewohnt, die er sich selbst erbaut hat. Die Leute sagen, er sei nicht recht richtig im Kopfe, aber er ist ein lieber frommer Herr der niemanden etwas zuleide tut und der uns im Dorfe mit andächtigen Reden recht erbaut und uns guten Rat erteilt wie er nur kann.‹ Kaum zwei Stunden von B*** hatte ich meinen Anachoreten angetroffen, hier mußte man daher auch mehr von ihm wissen, und so war es auch wirklich der Fall. Doktor S** erklärte mir alles. Dieser Einsiedler war sonst einer der geistreichsten vielseitig ausgebildetsten Köpfe die es in M– gab. Kam noch hinzu, daß er aus glänzender Familie entsprossen, so konnt es nicht fehlen, daß man ihn, kaum hatte er seine Studien vollendet, in ein bedeutendes diplomatisches Geschäft zog, dem er mit Treue und Eifer vorstand. Mit seinen Kenntnissen verband er ein ausgezeichnetes Dichtertalent, alles was er schrieb, war von einer feurigen Fantasie, von einem besondern Geiste, der in die tiefste Tiefe schaute, beseelt. Sein unübertrefflicher Humor machte ihn zum angenehmsten, seine Gemütlichkeit zum liebenswürdigsten Gesellschafter, den es nur geben konnte. Von Stufe zu Stufe gestiegen hatte man ihn eben zu einem wichtigen Gesandtschaftsposten bestimmt, als er auf unbegreifliche Weise aus M– verschwand. Alle Nachforschungen blieben vergebens und jede Vermutung scheiterte an diesem, jenem Umstande, der sich dabei ergab. Nach einiger Zeit erschien im tiefen Tirolergebürge ein Mensch, der in eine braune Kutte gehüllt in den Dörfern predigte und sich dann in den wildesten Wald zurückzog, wo er einsiedlerisch lebte. Der Zufall wollte es, daß Graf P** diesen Menschen, der sich für den Priester Serapion ausgab, zu Gesicht bekam. Er erkannte augenblicklich in ihm seinen unglücklichen aus M– verschwundenen Neffen. Man bemächtigte sich seiner, er wurde rasend und alle Kunst der berühmtesten Ärzte in M– vermochte nichts in dem fürchterlichen Zustande des Unglücklichen zu ändern. Man brachte ihn nach B*** in die Irrenanstalt und hier gelang es wirklich dem methodischen auf die psychische Kenntnis gegründeten Verfahren des Arztes, der damals dieser Anstalt vorstand, den Unglücklichen wenigstens aus der Tobsucht zu retten, in die er verfallen. Sei es, daß jener Arzt seiner Theorie getreu dem Wahnsinnigen selbst Gelegenheit gab zu entwischen oder daß dieser selbst die Mittel dazu fand, genug er entfloh und blieb eine geraume Zeit hindurch verborgen. Serapion erschien endlich in dem Walde zwei Stunden von B*** und jener Arzt erklärte, daß, habe man wirkliches Mitleiden mit dem Unglücklichen, wolle man ihn nicht aufs neue in Wut und Raserei stürzen, wolle man ihn ruhig und nach seiner Art glücklich sehen, so müsse man ihn im Walde und dabei vollkommene Freiheit lassen nach Willkür zu schalten und zu walten. Er stehe für jede schädliche Wirkung. Der bewährte Ruf des Arztes drang durch, die Polizeibehörde begnügte sich damit den nächsten Dorfgerichten die entfernte unmerkliche Aufsicht über den Unglücklichen zu übertragen und der Erfolg bestätigte, was der Arzt vorhergesagt. Serapion baute sich eine niedliche, ja nach den Umständen bequeme Hütte, er verfertigte sich Tisch und Stuhl, er flocht sich Binsenmatten zum Lager, er legte ein kleines Gärtlein an in dem er Gemüse und Blumen anpflanzte. Bis auf die Idee, daß er der Einsiedler Serapion sei, der unter dem Kaiser Dezius in die Thebaische Wüste floh und in Alexandrien den Märtyrertod litt, und was aus dieser folgte, schien sein Geist gar nicht zerrüttet. Er war imstande die geistreichsten Gespräche zu führen, ja nicht selten traten Spuren jenes scharfen Humors, jawohl jener Gemütlichkeit hervor, die sonst seine Unterhaltung belebten. Übrigens erklärte ihn aber jener Arzt für gänzlich unheilbar und widerrief auf das ernstlichste jeden Versuch ihn für die Welt und für seine vorigen Verhältnisse wiederzugewinnen. – Ihr könnt euch wohl vorstellen, daß mein Anachoret mir nun nicht aus Sinn und Gedanken kam, daß ich eine unwiderstehliche Sehnsucht empfand ihn wiederzusehen. – Aber nun denkt euch meine Albernheit! – Ich hatte nichts Geringeres im Sinn, als Serapions fixe Idee an der Wurzel anzugreifen! – Ich las den Pinel – den Reil – alle mögliche Bücher über den Wahnsinn, die mir nur zur Hand kamen, ich glaubte, mir, dem fremden Psychologen, dem ärztlichen Laien sei es vielleicht vorbehalten in Serapions verfinsterten Geist einen Lichtstrahl zu werfen. Ich unterließ nicht außer jenem Studium des Wahnsinns mich mit der Geschichte sämtlicher Serapions, deren es in der Geschichte der Heiligen und Märtyrer nicht weniger als acht gibt, bekannt zu machen, und so gerüstet suchte ich an einem schönen hellen Morgen meinen Anachoreten auf. xxx Nun, glaubt ich, sei es an der Zeit mit meiner Kur zu beginnen. Ich holte weit aus und sprach sehr gelehrt über die Krankheit der fixen Ideen die den Menschen zuweilen befalle und nur wie ein einziger Mißton den sonst rein gestimmten Organism verderbe. Ich erwähnte jenes Gelehrten der nicht zu bewegen war vom Stuhle aufzustehen, weil er befürchtete dann sogleich mit seiner Nase dem Nachbar gegenüber die Fensterscheiben einzustoßen; des Abts Molanus der über alles sehr vernünftig sprach und bloß deshalb seine Stube nicht verließ, weil er besorgte sofort von den Hühnern gefressen zu werden, da er sich für ein Gerstenkorn hielt. Ich kam darauf, daß die Vertauschung des eignen Ichs mit irgendeiner geschichtlichen Person gar häufig als fixe Idee sich im Innern gestalte. Nichts Tolleres, nichts Ungereimteres könne es geben, meinte ich ferner, als den kleinen, täglich von Bauern, Jägern, Reisenden, Spaziergängern durchstreiften Wald zwei Stunden von B*** für die Thebaische Wüste, und sich selbst für denselben heiligen Schwärmer zu halten, der vor vielen hundert Jahren den Märtyrertod erlitt. – Serapion hörte mich schweigend an, er schien den Nachdruck meiner Worte zu fühlen und in tiefem Nachdenken mit sich selbst zu kämpfen. Nun glaubt ich den Hauptschlag führen zu müssen, ich sprang auf, ich faßte Serapions beide Hände, ich rief mit starker Stimme: ›Graf P** erwachen Sie aus dem verderblichen Traum der Sie bestrickt, werfen Sie diese gehässigen Kleider ab, geben Sie sich Ihrer Familie, die um Sie trauert, der Welt die die gerechtesten Ansprüche an Sie macht, wieder!‹ – Serapion schaute mich an mit finsterm durchbohrenden Blick, dann spielte ein sarkastisches Lächeln um Mund und Wange, und er sprach langsam und ruhig. ›Sie haben, mein Herr, sehr lange und Ihres Bedünkens auch wohl sehr herrlich und weise gesprochen, erlauben Sie, daß ich ihnen jetzt einige Worte erwidere. – Der heilige Antonius, alle Männer der Kirche die sich aus der Welt in die Einsamkeit zurückgezogen, wurden öfters von häßlichen Quälgeistern heimgesucht, die, die innere Zufriedenheit der Gottgeweihten beneidend ihnen hart zusetzten so lange, bis sie überwunden schmählich im Staube lagen. Mir geht es nicht besser. Dann und wann erscheinen mir Leute die vom Teufel angetrieben mir einbilden wollen, ich sei der Graf P** aus M– um mich zu verlocken zur Hoffart und allerlei bösem Wesen. Half nicht Gebet, so nahm ich sie bei den Schultern, warf sie hinaus und verschloß sorgfältig mein Gärtlein. Beinahe möcht ich mit Ihnen, mein Herr verfahren auf gleiche Weise. Doch wird es dessen nicht bedürfen. Sie sind offenbar der ohnmächtigste von allen Widersachern die mir erschienen und ich werde Sie mit Ihren eignen Waffen schlagen, das heißt mit den Waffen der Vernunft. Es ist vom Wahnsinn die Rede, leidet einer von uns an dieser bösen Krankheit, so ist das offenbar bei Ihnen der Fall in viel höherem Grade als bei mir. Sie behaupten, es sei fixe Idee, daß ich mich für den Märtyrer Serapion halte, und ich weiß recht gut, daß viele Leute dasselbe glauben oder vielleicht nur so tun als ob sie es glaubten. Bin ich nun wirklich wahnsinnig, so kann nur ein Verrückter wähnen, daß er imstande sein werde mir die fixe Idee, die der Wahnsinn erzeugt hat, auszureden. Wäre dies möglich so gäb es bald keinen Wahnsinnigen mehr auf der ganzen Erde, denn der Mensch könnte gebieten über die geistige Kraft die nicht sein Eigentum sondern nur anvertrautes Gut der höhern Macht ist, die darüber waltet. Bin ich aber nicht wahnsinnig und wirklich der Märtyrer Serapion, so ist es wieder ein törichtes Unternehmen mir das ausreden und mich erst zu der fixen Idee treiben zu wollen, daß ich der Graf P** aus M– und zu Großem berufen sei. Sie sagen daß der Märtyrer Serapion vor vielen hundert Jahren lebte und daß ich folglich nicht jener Märtyrer sein könne, wahrscheinlich aus dem Grunde, weil Menschen nicht so lange auf Erden zu wandeln vermögen. Fürs erste ist die Zeit ein ebenso relativer Begriff wie die Zahl und ich könnte Ihnen sagen, daß, wie ich den Begriff der Zeit in mir trage, es kaum drei Stunden oder wie Sie sonst den Lauf der Zeit bezeichnen wollen, her sind, als mich der Kaiser Decius hinrichten ließ. Dann aber, davon abgesehen, können Sie mir nur den Zweifel entgegenstellen, daß ein solch langes Leben, wie ich geführt haben will beispiellos und der menschlichen Natur entgegen sei. Haben Sie Kenntnis von dem Leben jedes einzelnen Menschen der auf der ganzen weiten Erde existiert hat, daß Sie das Wort beispiellos keck aussprechen können? – Stellen Sie die Allmacht Gottes der armseligen Kunst des Uhrmachers gleich, der die tote Maschine nicht zu retten mag, vor dem Verderben? – Sie sagen, der Ort, wo wir uns befinden sei nicht die Thebaische Wüste, sondern ein kleiner Wald, der zwei Stunden von B*** liege und täglich von Bauern, Jägern und andern Leuten durchstreift werde. Beweisen Sie mir das!‹ Hier glaubte ich meinen Mann fassen zu können. ›Auf‹, rief ich, ›kommen Sie mit mir, in zwei Stunden sind wir in B*** und das was ich behauptet, ist bewiesen.‹ ›Armer verblendeter Tor‹, sprach Serapion, ›welch ein Raum trennt uns von B***! – Aber gesetzten Falls ich folgte Ihnen wirklich nach einer Stadt die Sie B*** nennen, würden Sie mich davon überzeugen können, daß wir wirklich nur zwei Stunden wandelten, daß der Ort, wo wir hingelangten wirklich B*** sei? – Wenn ich nun behauptete, daß eben Sie von einem heillosen Wahnsinn befangen die Thebaische Wüste für ein Wäldchen und das ferne, ferne Alexandrien für die süddeutsche Stadt B*** hielten, was würden Sie sagen können? Der alte Streit würde nie enden und uns beiden verderblich werden. – Und noch eins mögen Sie recht ernstlich bedenken! – Sie müssen es wohl merken, daß der, der mit Ihnen spricht, ein heitres ruhiges mit Gott versöhntes Leben führt. Nur nach überstandenem Märtyrertum geht ein solches Leben im Innern auf. Hat es nun der ewigen Macht gefallen einen Schleier zu werfen über das was vor jenem Märtyrertum geschah, ist es nicht eine grausame heillose Teufelei, an diesem Schleier zu zupfen?‹ Mit all meiner Weisheit stand ich vor diesem Wahnsinnigen verwirrt – beschämt! – Mit der Konsequenz seiner Narrheit hatte er mich gänzlich aus dem Felde geschlagen und ich sah die Torheit meines Unternehmens in vollem Umfange ein. Noch mehr als das, den Vorwurf den seine letzten Worte enthielten fühlte ich ebenso tief als mich das dunkle Bewußtsein des frühern Lebens, das darin wie ein höherer unverletzbarer Geist hervorschimmerte, in Erstaunen setzte. Serapion schien meine Stimmung recht gut zu bemerken, er schaute mir mit einem Blick, in dem der Ausdruck der reinsten unbefangensten Gemütlichkeit lag, ins Auge und sprach dann: ›Gleich hielt ich Sie eben für keinen schlimmen Widersacher, und so ist es auch in der Tat. Wohl mag es sein, daß dieser, jener, ja vielleicht der Teufel selbst Sie aufgeregt hat, mich zu versuchen, in Ihrer Gesinnung lag es gewiß nicht; und vielleicht nur, daß Sie mich anders fanden, als Sie sich den Anachoreten Serapion gedacht hatten, bestärkte Sie in den Zweifeln, die Sie mir entgegenwarfen. Ohne im mindesten von jener Frömmigkeit abzuweichen die dem ziemt, der sein ganzes Leben Gott und der Kirche geweiht, ist mir jener aszetische Zynismus fremd, in den viele von meinen Brüdern verfielen und dadurch statt der gerahmten Stärke, innere Ohnmacht, ja offenbare Zerrüttung aller Geisteskräfte bewiesen. Des Wahnsinns hätten Sie mich beschuldigen können, fanden Sie mich in dem heillosen abscheuligen Zustande, den jene besessene Fanatiker sich oft selbst bereiten. Sie glaubten den Mönch Serapion zu finden, jenen zynischen Mönch, blaß, abgemagert, entstellt von Wachen und Hungern, alle Angst, alles Entsetzen der abscheuligen Träume im düstern Blick, die den heiligen Antonius zur Verzweiflung brachten, mit schlotternden Knieen, kaum vermögend aufrecht zu stehen, in schmutziger blutbedeckter Kutte, und treffen auf einen ruhigen heitern Mann. Auch ich überstand diese Qualen von der Hölle selbst in meiner Brust entzündet, aber als ich mit zerrissenen Gliedern, mit zerschelltem Haupt erwachte, erleuchtete der Geist mein Innres und ließ Seele und Körper gesunden. Möge dich, o mein Bruder! der Himmel schon auf Erden die Ruhe, die Heiterkeit genießen lassen, die mich erquickt und stärkt. Fürchte nicht die Schauer der tiefen Einsamkeit, nur in ihr geht dem frommen Gemüt solch ein Leben auf!‹ Serapion, der die letzten Worte mit wahrhaft priesterlicher Salbung gesprochen, schwieg jetzt, und hob den verklärten Blick gen Himmel. War's denn anders möglich, mußte mir nicht ganz unheimlich zumute werden? – Ein wahnsinniger Mensch, der seinen Zustand als eine herrliche Gabe des Himmels preist, nur in ihm Ruhe und Heiterkeit findet und recht aus der innersten Überzeugung mir ein gleiches Schicksal wünscht! E.T.A Hofmann – Ritter Gluck Der Spätherbst in Berlin hat gewöhnlich noch einige schöne Tage. Die Sonne tritt freundlich aus dem Gewölk hervor, und schnell verdampft die Nässe in der lauen Luft, welche durch die Straßen weht. Dann sieht man eine lange Reihe, buntgemischt – Elegants, Bürger mit der Hausfrau und den lieben Kleinen in Sonntagskleidern, Geistliche, Jüdinnen, Referendare, Freudenmädchen, Professoren, Putzmacherinnen, Tänzer, Offiziere usw. durch die Linden nach dem Tiergarten ziehen. Bald sind alle Plätze bei Klaus und Weber besetzt; der Mohrrübenkaffee dampft, die Elegants zünden ihre Zigarros an, man spricht, man streitet über Krieg und Frieden, über die Schuhe der Mad. Bethmann, ob sie neulich grau oder grün waren, über den geschlossenen Handelsstaat und böse Groschen usw., bis alles in eine Arie aus »Fanchon« zerfließt, womit eine verstimmte Harfe, ein paar nicht gestimmte Violinen, eine lungensüchtige Flöte und ein spasmatischer Fagott sich und die Zuhörer quälen. Dicht an dem Geländer, welches den Weberschen Bezirk von der Heerstraße trennt, stehen mehrere kleine runde Tische und Gartenstühle; hier atmet man freie Luft, beobachtet die Kommenden und Gehenden, ist entfernt von dem kakophonischen Getöse jenes vermaledeiten Orchesters: da setze ich mich hin, dem leichten Spiel meiner Phantasie mich überlassend, die mir befreundete Gestalten zuführt, mit denen ich über Wissenschaft, über Kunst, über alles, was dem Menschen am teuersten sein soll, spreche. Immer bunter und bunter wogt die Masse der Spaziergänger bei mir vorüber, aber nichts stört mich, nichts kann meine phantastische Gesellschaft verscheuchen. Nur das verwünschte Trio eines höchst niederträchtigen Walzers reißt mich aus der Traumwelt. Die kreischende Oberstimme der Violine und Flöte und des Fagotts schnarrenden Grundbaß allein höre ich; sie gehen auf und ab, fest aneinanderhaltend in Oktaven, die das Ohr zerschneiden, und unwillkürlich, wie jemand, den ein brennender Schmerz ergreift, ruf ich aus: »Welche rasende Musik! die abscheulichen Oktaven!« – Neben mir murmelt es: »Verwünschtes Schicksal! schon wieder ein Oktavenjäger!« Ich sehe auf und werde nun erst gewahr, daß, von mir unbemerkt, an demselben Tisch ein Mann Platz genommen hat, der seinen Blick starr auf mich richtet und von dem nun mein Auge nicht wieder loskommen kann. Nie sah ich einen Kopf, nie eine Gestalt, die so schnell einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht hätten. Eine sanft gebogene Nase schloß sich an eine breite, offene Stirn, mit merklichen Erhöhungen über den buschigen, halbgrauen Augenbraunen, unter denen die Augen mit beinahe wildem, jugendlichem Feuer (der Mann mochte über fünfzig sein) hervorblitzten. Das weichgeformte Kinn stand in seltsamem Kontrast mit dem geschlossenen Munde, und ein skurriles Lächeln, hervorgebracht durch das sonderbare Muskelspiel in den eingefallenen Wangen, schien sich aufzulehnen gegen den tiefen, melancholischen Ernst, der auf der Stirn ruhte. Nur wenige graue Löckchen lagen hinter den großen, vom Kopfe abstehenden Ohren. Ein sehr weiter, moderner Überrock hüllte die große hagere Gestalt ein. Sowie mein Blick auf den Mann traf, schlug er die Augen nieder und setzte das Geschäft fort, worin ihn mein Ausruf wahrscheinlich unterbrochen hatte. Er schüttete nämlich aus verschiedenen kleinen Tüten mit sichtbarem Wohlgefallen Tabak in eine vor ihm stehende große Dose und feuchtete ihn mit rotem Wein aus einer Viertelsflasche an. Die Musik hatte aufgehört; ich fühlte die Notwendigkeit, ihn anzureden. »Es ist gut, daß die Musik schweigt«, sagte ich; »das war ja nicht auszuhalten.« Der Alte warf mir einen flüchtigen Blick zu und schüttete die letzte Tüte aus. »Es wäre besser, daß man gar nicht spielte«, nahm ich nochmals das Wort. »Sind Sie nicht meiner Meinung?« »Ich bin gar keiner Meinung«, sagte er. »Sie sind Musiker und Kenner von Profession...« xxx Er begann: »Jetzt werde ich die Ouvertüre spielen! Wenden Sie die Blätter um, und zur rechten Zeit!« – Ich versprach das, und nun spielte er herrlich und meisterhaft, mit vollgriffigen Akkorden, das majestätische Tempo di Marcia, womit die Ouvertüre anhebt, fast ganz dem Original getreu; aber das Allegro war nur mit Glucks Hauptgedanken durchflochten. Er brachte so viele neue geniale Wendungen hinein, daß mein Erstaunen immer wuchs. Vorzüglich waren seine Modulationen frappant, ohne grell zu werden, und er wußte den einfachen Hauptgedanken so viele melodiöse Melismen anzureihen, daß jene immer in neuer, verjüngter Gestalt wiederzukehren schienen. Sein Gesicht glühte; bald zogen sich die Augenbraunen zusammen, und ein lang verhaltener Zorn wollte gewaltsam losbrechen, bald schwamm das Auge in Tränen tiefer Wehmut. Zuweilen sang er, wenn beide Hände in künstlichen Melismen arbeiteten, das Thema mit einer angenehmen Tenorstimme; dann wußte er auf ganz besondere Weise mit der Stimme den dumpfen Ton der anschlagenden Pauke nachzuahmen. Ich wandte die Blätter fleißig um, indem ich seine Blicke verfolgte. Die Ouvertüre war geendet, und er fiel erschöpft mit geschlossenen Augen in den Lehnstuhl zurück. Bald raffte er sich aber wieder auf, und indem er hastig mehrere leere Blätter des Buchs umschlug, sagte er mit dumpfer Stimme: »Alles dieses, mein Herr, habe ich geschrieben, als ich aus dem Reich der Träume kam. Aber ich verriet Unheiligen das Heilige, und eine eiskalte Hand faßte in dies glühende Herz! Es brach nicht; da wurde ich verdammt, zu wandeln unter den Unheiligen wie ein abgeschiedener Geist – gestaltlos, damit mich niemand kenne, bis mich die Sonnenblume wieder emporhebt zu dem Ewigen. – Ha – jetzt lassen Sie uns Armidens Szene singen!« Nun sang er die Schlußszene der Armida mit einem Ausdruck, der mein Innerstes durchdrang. Auch hier wich er merklich von dem eigentlichen Originale ab; aber seine veränderte Musik war die Glucksche Szene gleichsam in höherer Potenz. Alles, was Haß, Liebe, Verzweiflung, Raserei in den stärksten Zügen ausdrücken kann, faßte er gewaltig in Töne zusammen. Seine Stimme schien die eines Jünglings, denn von tiefer Dumpfheit schwoll sie empor zur durchdringenden Stärke. Alle meine Fibern zitterten – ich war außer mir. Als er geendet hatte, warf ich mich ihm in die Arme und rief mit gepreßter Stimme: »Was ist das? Wer sind Sie?« – Er stand auf und maß mich mit ernstem, durchdringendem Blick; doch als ich weiterfragen wollte, war er mit dem Lichte durch die Türe entwichen und hatte mich im Finstern gelassen. Es hatte beinahe eine Viertelstunde gedauert; ich verzweifelte, ihn wiederzusehen, und suchte, durch den Stand des Klaviers orientiert, die Türe zu öffnen, als er plötzlich in einem gestickten Galakleide, reicher Weste, den Degen an der Seite, mit dem Lichte in der Hand hereintrat. Ich erstarrte; feierlich kam er auf mich zu, faßte mich sanft bei der Hand und sagte, sonderbar lächelnd: »Ich bin der Ritter Gluck! E.T.A. Hofmann – Des Vetters Eckfenster Meinen armen Vetter trifft gleiches Schicksal mit dem bekannten Scarron. So wie dieser hat mein Vetter durch eine hartnäckige Krankheit den Gebrauch seiner Füße gänzlich verloren, und es tut not, daß er sich, mit Hilfe standhafter Krücken und des nervichten Arms eines grämlichen Invaliden, der nach Belieben den Krankenwärter macht, aus dem Bette in den mit Kissen bepackten Lehnstuhl, und aus dem Lehnstuhl in das Bette schrotet. Aber noch eine Ähnlichkeit trägt mein Vetter mit jenem Franzosen, den eine besondere, aus dem gewöhnlichen Gleise des französischen Witzes ausweichende Art des Humors trotz der Sparsamkeit seiner Erzeugnisse in der französischen Literatur feststellte. So wie Scarron schriftstellert mein Vetter; so wie Scarron ist er mit besonderer lebendiger Laune begabt und treibt wunderlichen humoristischen Scherz auf seine eigne Weise. Doch zum Ruhme des deutschen Schriftstellers sei es bemerkt, daß er niemals für nötig achtete, seine kleinen pikanten Schüsseln mit Asa fötida zu würzen, um die Gaumen seiner deutschen Leser, die dergleichen nicht wohl vertragen, zu kitzeln. Es genügt ihm das edle Gewürz, welches, indem es reizt, auch stärkt. Die Leute lesen gerne, was er schreibt; es soll gut sein und ergötzlich; ich verstehe mich nicht darauf. Mich erlabte sonst des Vetters Unterhaltung, und es schien mir gemütlicher, ihn zu hören, als ihn zu lesen. Doch eben dieser unbesiegbare Hang zur Schriftstellerei hat schwarzes Unheil über meinen armen Vetter gebracht; die schwerste Krankheit vermochte nicht den raschen Rädergang der Phantasie zu hemmen, der in seinem Innern fortarbeitete, stets Neues und Neues erzeugend. So kam es, daß er mir allerlei anmutige Geschichten erzählte, die er, des mannigfachen Wehs, das er duldete, unerachtet, ersonnen. Aber den Weg, den der Gedanke verfolgen mußte, um auf dem Papiere gestaltet zu erscheinen, hatte der böse Dämon der Krankheit versperrt. Sowie mein Vetter etwas aufschreiben wollte, versagten ihm nicht allein die Finger den Dienst, sondern der Gedanke selbst war verstoben und verflogen. Darüber verfiel mein Vetter in die schwärzeste Melancholie. »Vetter!« sprach er eines Tages zu mir, mit einem Ton, der mich erschreckte, »Vetter, mit mir ist es aus! Ich komme mir vor wie jener alte, vom Wahnsinn zerrüttete Maler, der tagelang vor einer in den Rahmen gespannten grundierten Leinewand saß und allen, die zu ihm kamen, die mannigfachen Schönheiten des reichen, herrlichen Gemäldes anpries, das er soeben vollendet; – ich geb's auf, das wirkende, schaffende Leben, welches, zur äußern Form gestaltet, aus mir selbst hinaustritt, sich mit der Welt befreundend! – Mein Geist zieht sich in seine Klause zurück!« Seit der Zeit ließ sich mein Vetter weder vor mir, noch vor irgendeinem andern Menschen sehen. Der alte grämliche Invalide wies uns murrend und keifend von der Türe weg wie ein beißiger Haushund. – Es ist nötig zu sagen, daß mein Vetter ziemlich hoch in kleinen niedrigen Zimmern wohnt. Das ist nun Schriftsteller- und Dichtersitte. Was tut die niedrige Stubendecke? Die Phantasie fliegt empor und baut sich ein hohes, lustiges Gewölbe bis in den blauen glänzenden Himmel hinein. So ist des Dichters enges Gemach, wie jener zwischen vier Mauern eingeschlossene, zehn Fuß ins Gevierte große Garten, zwar nicht breit und lang, hat aber stets eine schöne Höhe. Dabei liegt aber meines Vetters Logis in dem schönsten Teile der Hauptstadt, nämlich auf dem großen Markte, der von Prachtgebäuden umschlossen ist und in dessen Mitte das kolossal und genial gedachte Theatergebäude prangt. Es ist ein Eckhaus, was mein Vetter bewohnt, und aus dem Fenster eines kleinen Kabinetts übersieht er mit einem Blick das ganze Panorama des grandiosen Platzes. Es war gerade Markttag, als ich, mich durch das Volksgewühl durchdringend, die Straße hinab kam, wo man schon aus weiter Ferne meines Vetters Eckfenster erblickt. Nicht wenig erstaunte ich, als mir aus diesem Fenster das wohlbekannte rote Mützchen entgegenleuchtete, welches mein Vetter in guten Tagen zu tragen pflegte. Noch mehr! Als ich näher kam, gewahrte ich, daß mein Vetter seinen stattlichen Warschauer Schlafrock angelegt und aus der türkischen Sonntagspfeife Tabak rauchte. – Ich winkte ihm zu, ich wehte mit dem Schnupftuch hinauf; es gelang mir, seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, er nickte freundlich. Was für Hoffnungen! – Mit Blitzesschnelle eilte ich die Treppe hinauf. Der Invalide öffnete die Türe; sein Gesicht, das sonst, runzlicht und faltig, einem naßgewordenen Handschuh glich, hatte wirklich einiger Sonnenschein zur passabeln Fratze ausgeglättet. Er meinte, der Herr säße im Lehnstuhl und sei zu sprechen. Das Zimmer war reingemacht und an dem Bettschirm ein Bogen Papier befestigt, auf dem mit großen Buchstaben die Worte standen: »Et si male nunc, non olim sic erit.« Alles deutete auf wiedergekehrte Hoffnung, auf neuerweckte Lebenskraft. – »Ei«, rief mir der Vetter entgegen, als ich in das Kabinett trat, »ei, kommst du endlich, Vetter; weißt du wohl, daß ich rechte Sehnsucht nach dir empfunden? Denn unerachtet du den Henker was nach meinen unsterblichen Werken frägst, so habe ich dich doch lieb, weil du ein munterer Geist bist und amüsable, wenn auch gerade nicht amüsant.« Ich fühlte, daß mir bei dem Kompliment meines aufrichtigen Vetters das Blut ins Gesicht stieg. »Du glaubst«, fuhr der Vetter fort, ohne auf meine Bewegung zu achten, »du glaubst mich gewiß in voller Besserung oder gar von meinem Übel hergestellt. Dem ist beileibe nicht so. Meine Beine sind durchaus ungetreue Vasallen, die dem Haupt des Herrschers abtrünnig geworden und mit meinem übrigen werten Leichnam nichts mehr zu schaffen haben wollen. Das heißt, ich kann mich nicht aus der Stelle rühren und karre mich in diesem Räderstuhl hin und her auf anmutige Weise, wozu mein alter Invalide die melodiösesten Märsche aus seinen Kriegsjahren pfeift. Aber dies Fenster ist mein Trost, hier ist mir das bunte Leben aufs neue aufgegangen, und ich fühle mich befreundet mit seinem niemals rastenden Treiben. Komm, Vetter, schau hinaus!« Ich setzte mich, dem Vetter gegenüber, auf ein kleines Taburett, das gerade noch im Fensterraum Platz hatte. Der Anblick war in der Tat seltsam und überraschend. Der ganze Markt schien eine einzige, dicht zusammengedrängte Volksmasse, so daß man glauben mußte, ein dazwischengeworfener Apfel könne niemals zur Erde gelangen. Die verschiedensten Farben glänzten im Sonnenschein, und zwar in ganz kleinen Flecken, auf mich machte dies den Eindruck eines großen, vom Winde bewegten, hin und her wogenden Tulpenbeets, und ich mußte mir gestehen, daß der Anblick zwar recht artig, aber auf die Länge ermüdend sei, ja wohl gar aufgereizten Personen einen kleinen Schwindel verursachen könne, der dem nicht unangenehmen Delirieren des nahenden Traums gliche; darin suchte ich das Vergnügen, das das Eckfenster dem Vetter gewähre, und äußerte ihm dieses ganz unverhohlen.