 DER CRITISCHE MUSICUS AN DER SPREE Marginalien zum Berliner Musikleben von 1740 bis 1770* HANS-GÜNTER OTTENBERG Wer mit der Erforschung der Berliner Musikkultur des 18. Jahrhunderts befaßt ist, wird die beiden Tageszeitungen der preußischen Metropole, die Berlinischen Nachrichten von Staats- und Gelehrten Sachen, auch Haude-Spenersche Zeitung genannt, und die Berlinische Privilegirte Zeitung, das ist die Vossische Zeitung, wegen ihrer vielen die Musik betreffenden Informationen schätzen. Die Lektüre dieser beiden Periodika erweist sich auch im Hinblick auf die Bach-Rezeption in Berlin als aufschlußreich, freilich weniger den Vater als seine beiden ältesten Söhne betreffend. Wir erfahren, daß sich „Herr Wilhelm Friedemann Bach, einer der größten Orgelspieler Deutschlands, [am 15. Mai 1774] Vormittags in der St. Nicolai, und Nachmittags in der St. Marienkirche, öffentlich und mit auszeichnendem Beyfall der Kenner und des Publikums“ habe hören lassen1. Und Aufführungsnachweise von Carl Philipp Emanuel Bachschen Vokalwerken, darunter das Magnificat, Wq 215/H 772, Die Osterkantate, Wq 244/H 803, die Passionskantate, Wq 233/H 776, das Oratorium Die Israeliten in der Wüste, Wq 238/H 775, nehmen seit den siebziger Jahren stetig zu2. Die gezielte Auswertung der Berliner Tagespresse und ihre Nutzung als musikhistorische Quelle wirft die Frage nach der Effizienz der gewonnenen * Dieser Beitrag ist die redigierte Fassung eines Vortrages, den der Autor am 6. Juli 1994 im Rahmen der BACH-TAGE BERLIN 1994 gehalten hat. 1 Berlinische Nachrichten Von Staats- und Gelehrten Sachen. No. 59. Dienstag, den 17 May 1774, S. 287 (Expl.: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz). 2 Angaben nach: G. Busch, Der österreichische Botschafter Gottfried van Swieten, das Berliner Musikleben 1771–1777 und die Musik Carl Philipp Emanuel Bachs, in: Carl Philipp Emanuel Bach. Musik für Europa. Bericht über das Internationale Symposium der Konzerthalle „C. Ph. E. Bach“ in Frankfurt (Oder), 9.–12. März 1994 (in Vorbereitung).  Daten auf: Eine Verlagsanzeige, zum Beispiel, vermittelt nicht nur eine Vielzahl bibliographischer Angaben, sondern läßt zudem Rückschlüsse auf die Struktur des musikalischen Marktes, auf Gattungspräferenzen und bevorzugte Komponisten zu. Eine Pränumerationsankündigung informiert unter Umständen über die geographische Streuung des Publikums sowie seine Pränumerationsbereitschaft, aber auch über die Praxis des Selbstverlags generell. Rezensionen geben Auskunft über die Absichten des Komponisten, über die dramaturgische Anlage des Werkes und anderes mehr. In den Avertissements werden gleich mehrere Interessengebiete des Musikhistorikers angesprochen: Die Versteigerung von Musikernachlässen zieht Fragen nach dem Besitzgang und Überlieferungsweg der Quellen nach sich. Das Inserat eines Instrumentenhändlers oder eine diesbezügliche Verkaufsanzeige wecken Neugier hinsichtlich des Verbleibs der annoncierten Instrumente. Mancher „Steckbrief“ von heute in Museen befindlichen Cembalos, Clavichorden und Hammerklavieren läßt sich bis in die damalige Tagespresse zurückverfolgen. So imposant die Ausbeute der Zeitungslektüre auch sein mag, sie spiegelt doch eine ziemlich einseitige Sicht auf die Dinge wider. Das Problem, das sich hier stellt, reduziert sich für mich auf die alternative Fragestellung: „Was lese ich, was nicht?“ Um diese Problematik zu verdeutlichen, möchte ich einige ausgewählte Meldungen nur eines Tages, des 21. Oktober 1773, zitieren, mitgeteilt in der Vossischen Zeitung3. In der Rubrik „Politische Nachrichten“ ist unter anderem zu lesen: Londen, vom 8 October. Es gehet auf hiesiger Börse ein Gerücht, wie glaubhaft es aber sey, kann man nicht sagen, daß in Lissabon ein allgemeiner Aufstand befürchtet werde, und daß der König von Portugall in der größten Lebensgefahr sey, und seine Garde verdoppelt habe. Wir erwarten mit Ungeduld die nächsten Briefe von diesem Orte, oder auf Schiffe aus den Tagus. Die beyden Capitains Philipps und Lutwich, die neulich eine Reise nach dem Nordpol gemacht haben, werden oft zum Könige [von England] gerufen. Der Monarch unterredet sich mit ihnen, hört ihre Erzählungen von dem, was sie gesehen und erfahren, frägt nach allen besondern Umständen… Se. Majestät bezeigen ein großes Verlangen, alle unbekannte Gegenden der Welt zu entdecken, und nichts mehr unbekannt bleiben zu lassen…4 Unter dem Abschnitt „Vermischte Neuigkeiten“ wird mitgeteilt: … In dem Mittelländischen Meere wimmelt es von Seeräubern. Die Corsaren von Algier sind besonders sehr zahlreich, sie bemächtigen sich der Fahrzeuge gewisser Nationen, durchsuchen anderer ihre, um derselben Ladung oder Lebensmittel wegzunehmen. … 3 Berlinische Privilegirte Zeitung. 126stes Stück. Donnerstag, den 21 October 1773, S. 627–630. 4 Ebenda, S. 627 f. Hans-Günter Ottenberg  Zwischen den Türken und Persern soll bey Omadorma, an den Syrischen Küsten, eine entscheidende Schlacht vorgefallen seyn, und letztere einen völligen Sieg über eine dreymal stärkere Macht der Türken, unter Commando des Scha Thamarste, erhalten haben. Zu Paris ist ein Mann gerädert worden, der einen Priester ermordet. Er ist 74 Jahr alt gewesen, und hat 12 lebendige Weiber gehabt5. Im Anzeigenteil schließlich findet sich folgende Ankündigung: Heute wird die von Sr. Königl. Majestät in Preußen allergnädigst privilegirte Kochische Gesellschaft teutscher Schauspieler aufführen: Das herangewachsene Mägdchen, oder: Die verschiedentlichen Liebhaber, eine Comödie in 2 Akten, von Garrick, aus dem Englischen in den Unterhaltungen 8ter Band, 5. Stück. Den Beschluß macht: Die Weinlese, eine Comödie von Dancourt in einem Akte. Dieses Stück wird mit Singen und Tanzen beschlossen. Die Arien und Gesänge sind am Eingange für 1 Gr. gedruckt zu bekommen6. Aufgeregtheiten und Neuigkeiten als Symptome einer gesellschaftlichen Aufbruchssituation, in der – so der Musikhistoriker Friedrich Rochlitz – „politische und philosophische Unruhe“ herrschten und ein „Aufreissen des Geistes, zum Theil durch Drang und Gewalt der Umstände“ erfolgte7. Es sind nur noch wenige Jahre bis zur Französischen Revolution. Aufgeregtheiten und Neuigkeiten, denen sich auch der komponierende Zeitgenosse nicht entziehen konnte. Aufgeregtheiten und Neuigkeiten, die der Musikhistoriker in der Regel nicht zur Kenntnis nimmt. Wie verarbeitete ein Musiker von damals diese Reizflut und Informationsdichte? Wie reagierte er auf die Schnelligkeit der kommunikativen Prozesse? Die für mich vielleicht erstaunlichste und faszinierende Erkenntnis ist, wie rasch sich der kulturelle Austausch in Mitteleuropa über Länder-, Zoll-, Währungs- und konfessionelle Grenzen hinweg vollzog. Angesprochen ist hier das Phänomen der Schnellebigkeit und der Schnelligkeit, über das Goethe so eindrucksvoll in seinem Brief vom 7. Juni 1825 an Carl Friedrich Zelter reflektierte: „Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel mitgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht …“8. Wie wurde ein Komponist mit der offensichtlich schon damals herrschenden permanenten Zeitknappheit fertig? Wir wissen es nicht! Viele der Ge- 5 Ebenda, S. 628 f. 6 Ebenda, S. 629. 7 Fr. Rochlitz, Vorschläge zu Betrachtungen über die neueste Geschichte der Musik, in: Allgemeine musikalische Zeitung 1, 1798/99, Nr. 40 vom 3. Juli, Sp. 628. 8 Johann Wolfgang Goethe an Carl Friedrich Zelter, Weimar 7. Juni 1825, in: Carl Friedrich Zelter. Johann Wolfgang Goethe. Briefwechsel. Eine Auswahl, hrsg. v. H.-G. Ottenberg, Leipzig 1987, S. 279. Der Critische Musicus an der Spree  schäftsbriefe Carl Philipp Emanuel Bachs signalisieren, daß Eile geboten war. Das zeigen zwei beliebig ausgewählte Beispiele aus der Korrespondenz des zweiten Bach-Sohnes mit seinem Leipziger Verleger Breitkopf, wie „In Erwartung geneigter Antwort mit der ersten Post“9 oder „Um die baldige Weiterbeförderung inliegenden Briefes bitte ich ergebenst“10. Gewiß, dies offenbart noch nicht die innere Zerrissenheit, die Max Regers Briefe in ihrer gedrängten, mit zahlreichen Interjektionen versehenen Schreibweise und der Häufung von temporären Bildungen wie „baldigst“, „umgehendst“, „dringendst“11 erkennen lassen, aber schon anderthalb Jahrhunderte früher beginnen sich diese Gefährdungstendenzen des Individuums abzuzeichnen. Wie also ging der zeitgenössische Musiker mit diesen „Fazilitäten der Kommunikation“ um? Und, was noch wichtiger wäre, inwieweit erscheinen sie im musikalischen Kunstwerk konfiguriert? Daß sich in den Bizarrerien und Brüchen mancher Bachschen Fantasie oder Sonate die psychische Disposition einer Künstlerpersönlichkeit andeutet, die etwas merkwürdig Unausgeglichenes, Nervöses, ja Exaltiertes besitzt, ist gelegentlich angemerkt worden12, daß sich hier vielleicht auch eine mögliche Reizüberflutung niederschlägt, der sich der Cembalist, Komponist, Selbstverleger, Konzertorganisator, Pädagoge Carl Philipp Emanuel Bach ausgesetzt sah, sei von mir sehr vorsichtig angedeutet. Es ist die fundamentale Frage nach dem Zusammenhang von Biographie und Werk, und ich muß bekennen, daß ich auf diese entscheidende Frage keine Antwort zu geben vermag. Doch liefern die sozialgeschichtlich intendierten Arbeiten von Dahlhaus13, Salmen14, Rummenhöller15, Schleuning16 und 9 Carl Philipp Emanuel Bach an Johann Gottlob Immanuel Breitkopf, Hamburg 31. Januar 1781, in: Briefe von Carl Philipp Emanuel Bach an Johann Gottlob Immanuel Breitkopf und Johann Nikolaus Forkel, hrsg. u. komm. v. E. Suchalla, Tutzing 1985 (= Mainzer Studien zur Musikwissenschaft, Bd. 19), S. 138. 10 Carl Philipp Emanuel Bach an Johann Gottlob Immanuel Breitkopf, Hamburg 14. Februar 1781, ebenda, S. 138. 11 Vergleiche den Abschnitt „Max Reger“ in: Ein Streifzug durch ein Jahrtausend Orgelmusik, in: Wege zur Orgel, hrsg. v. Chr. Krummacher, Berlin 1988, S. 128. 12 H.-G. Ottenberg, Carl Philipp Emanuel Bach, Leipzig 1982, S. 11. 13 Neues Handbuch der Musikwissenschaft, hrsg. v. C. Dahlhaus, Bd. 5: Die Musik des 18. Jahrhunderts, Laaber 1985. 14 Der Sozialstatus des Berufsmusikers vom 17. bis 19. Jahrhundert, hrsg. v. W. Salmen, Kassel, Basel usw. 1971. 15 P. Rummenhöller, Die musikalische Vorklassik. Kulturhistorische und musikgeschichtliche Grundrisse zur Musik im 18. Jahrhundert zwischen Barock und Klassik, Kassel 1983. 16 P. Schleuning, Das 18. Jahrhundert: Der Bürger erhebt sich, Reinbek bei Hamburg 1984. Hans-Günter Ottenberg  der formulierte Anspruch, „die Musiker… so weit als irgend möglich aus der derzeit noch faßbaren Totalität gewesener konkreter Daseinsstrukturen und Geschehenszusammenhänge heraus in ihrer Besonderheit und in den ihnen auferlegten bzw. von ihnen eingegangenen funktionellen Beziehungen“ darzustellen17, eine wichtige empirische und argumentative Basis zur Erörterung dieses Problemkreises. Für die theoretische Entfaltung der folgenden drei Themenbereiche bietet die Anthologie Berliner Musikschrifttum von 1748 bis 1799, die unter dem Titel Der Critische Musicus an der Spree18 1984 erschienen ist, die dokumentarische Grundlage. Nach dem Versuch einer Gesamteinschätzung der Leistungen und Grenzen der Berliner Musiktheorie und -kritik um 1750 beschäftigt sich mein Beitrag punktuell mit der sozialen Stellung des Hofmusikers in Berlin und behandelt in einem dritten und letzten Schwerpunkt die Berliner Liederschule als sozio-kulturelles Phänomen – drei aus einer Vielzahl von möglichen Fragestellungen. 1. Der Umstand, daß Berlin nach vorausgegangener Führung Hamburgs zum Zentrum der deutschen Musiktheorie und -kritik im 18. Jahrhundert aufrückte, lenkt den Blick auf die Ausgangssituation um 175019. Zu diesem Zeitpunkt hatte eine Gruppe theoretisch ambitionierter Köpfe in Anlehnung an den philosophischen Rationalismus Christian Wolffs und in Befolgung seiner wissenschaftstheoretischen Grundsätze, beispielsweise des Axioms vom ausgeschlossenen Widerspruch, eine breit angelegte Musikdiskussion entfacht, die von Anfang an stark praxisorientiert war. Das Berliner Musikschrifttum verstand sich mit seinen profunden und streitbaren Beiträgen zu Grundfragen des musikalischen Schaffens- und Rezeptionsprozesses, angefangen bei der psychologisch untermauerten Forderung nach dem „Erregen“ und „Stillen“ von Affekten bis hin zur Kenner- und Liebhaber-Problematik, mit seinen Überlegungen zur Stellung der Musik im Ensemble der Künste, zur Ästhetik und Soziologie der Gattungen Oper, Singspiel, Lied und Instrumentalmusik und anderem mehr gleichsam als das kritische Bewußtsein der Musikkultur seiner Epoche. Es trug wesentlich zum Selbstverständnis musikalischer Aktivität schlechthin im Zeitalter der Aufklärung bei. Dem Betrachter von heute ermöglicht es substantielle Einsichten in den Prozeß der Herausbildung bürger- 17 Der Sozialstatus des Berufsmusikers vom 17. bis 19. Jahrhundert, a. a. O., S. 8. 18 Vergleiche Der Critische Musicus an der Spree. Berliner Musikschrifttum von 1748 bis 1799. Eine Dokumentation, hrsg. v. H.-G. Ottenberg, Leipzig 1984. 19 Ausführliche Darstellung im Vorwort „Aufklärung – auch durch Musik? Vierundzwanzig Sätze zur Berliner Musiktheorie und -kritik zwischen 1748 und 1799“, ebenda, S. 5–51. Der Critische Musicus an der Spree  licher Musikverhältnisse in Deutschland im 18. Jahrhundert. Obwohl von der musikhistorischen Forschung als maßgebliche Erkenntnisquelle vielfach zitiert und befragt, steht eine systematische Untersuchung des Berliner Musikschrifttums noch aus. Doch die Diskussion ist in Fluß geraten, nicht zuletzt dank einiger in den vergangenen Jahren erschienener Neudrucke und der von Fried Weisbrod und Peter Rummenhöller herausgegebenen Neuen Berlinischen Musikzeitung20. Ein Verständnis so spezifischer Leistungen wie die Breitenwirksamkeit des Carl Philipp Emanuel Bachschen Versuchs über die wahre Art das Clavier zu spielen21, der Generationen von angehenden Musikern als Lehrwerk diente, wie die mit wahrem Feuereifer verfolgte Absicht Friedrich Wilhelm Marpurgs, ein System der Tonkunst zu entwerfen, oder wie – nunmehr schon mit Blick auf das Jahrhundertende – die feinsinnigen poetischen Äußerungen eines der Musik aufgeschlossenen Künstlerkreises um Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder setzt Kenntnis der einschlägigen Quellen voraus, erfordert Wissen um die vielfältigen, oft einander widerstrebenden Aspekte eines hinsichtlich der Universalität seiner Themen großartigen theoretisch-ästhetischen Gedankengebäudes, wie es in den Dezennien nach 1750 in Berlin errichtet wurde. In nur einem knappen Jahrzehnt erschienen in der Spreemetropole 31 Buch- und Zeitschriftentitel musiktheoretischen und -kritischen Inhalts mit einem Gesamtseitenumfang von mehr als 5000 Seiten. Der englische Musikhistoriker Charles Burney fand im Jahre 1772 – zu einem Zeitpunkt, als sich in Berlin doktrinäre Tendenzen in Musikanschauung und -praxis bereits verhärtet hatten und originalen künstlerischen Schaffensdrang lähmten – Worte der Anerkennung für Autoren wie Carl Philipp Emanuel Bach, Agricola, Marpurg, Kirnberger und Sulzer, „deren musikalische Schriften, als das Resultat von ihren vieljährigen Erfahrungen und vorzüglicher Geschicklichkeit durch ganz Deutschland für classisch angesehen werden“22. Die Absicht, die die Berliner Theoretiker verfolgten, war von geradezu enzyklopädischer Tragweite. Was in diesen schöpferischen Jahrzehnten nach 1750 entstand, ist als der ernsthafte und partiell auch geglückte Versuch zu bewerten, das Wissensgebiet „Musik“ unter Verwendung von Gedankengut der französischen und englischen Aufklärung in seinen mathematisch-naturwissenschaftlichen, ästhetischen, psychologischen, instrumentenspezifischen 20 Dieses Periodikum erscheint seit 1986 jährlich in drei Heften. Vergleiche darin unter anderem: P. Rummenhöller, Der Berliner Bach, in: Neue Berlinische Musikzeitung 1988, Heft 3, S. 3–7; G. Wagner, Bach-Tage Berlin. Anmerkungen zu einem Festival, ebenda, 1989, Heft 2, S. 15–22. 21 C. Ph. E. Bach, Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, 2 Bde., Berlin 1753 und 1762 (Reprint, Leipzig 1976). 22 Ch. Burney, Tagebuch seiner Musikalischen Reisen, Bd. 3, Hamburg 1773 (Reprint, Kassel, Basel usw. 1959), S. 57. Hans-Günter Ottenberg  und anderen Aspekten zu systematisieren. Von Anfang an war dabei den theoretischen Unternehmungen ein pragmatischer Akzent eigen. Aufklärend in die Belange des Musiklebens einzugreifen, war ein ebenso erklärtes Ziel, wie das Mittun an der generellen Zwecksetzung von Kunst, nämlich zur Formung und Bildung des „tugendhaften Menschen“ beizutragen. Daß sich hinter dem vielfach gebrauchten Begriffspaar „Kenner und Liebhaber“ oftmals ein Publikum bildungsaristokratischer Konvenienz verbarg, ändert nichts an der Tatsache, daß die Intentionen der Autoren auf Breitenwirksamkeit und Faßlichkeit gerichtet waren. Dieser Umstand erklärt zu einem Gutteil die häufig anzutreffenden lapidaren, gelegentlich hausbackenen Argumentationen. Aber in diesem „für alle“ blieb zugleich ein großes Stück trockener Gelehrsamkeit (obwohl es auch solche gab) auf der Strecke. Denn über Mangel an Zündstoff und Polemik konnte sich der Leser der damaligen Lehrwerke, Wochenschriften, der sogenannten „Briefe an…“ gewiß nicht beklagen, denken wir an die kontroverse Diskussion zwischen dem Critischen Musicus an der Spree und Flavio Anicio Olibrio, das sind Friedrich Wilhelm Marpurg und Johann Friedrich Agricola, um die Frage nach dem Vorrang der italienischen oder französischen Musik und deren Bedeutung für die Herausbildung einer sich als deutsch verstehenden Tonkunst23, wobei gelegentlich auch Johann Sebastian Bach als Gewährsmann für die vertretenen unterschiedlichen Standpunkte zitiert wurde24. Ohne auf solche Themen näher eingehen zu können, sei zusammenfassend festgestellt, daß der Beitrag der Berliner Autoren zur theoretisch-ästhetischen Fundierung der Musikpraxis ihrer Zeit enorm und von immenser Ausstrahlung war. Berliner Musikkritik um 1750 zeigte sich in ihren besten Werken offensiv, pointiert und rückhaltlos, wirkte in die Breite, verfolgte ihren Gegenstand bis ins Detail. 2. Die nachfolgenden Bemerkungen beziehen sich auf die soziale Stellung des Musikers in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts25. Obwohl die Position des Hofmusikers von Residenz zu Residenz unterschiedliche lokale Ausprägungen und Besonderheiten aufwies, lag sie in der 23 Vergleiche H.-G. Ottenberg, „Aufklärung – auch durch Musik?“, a. a. O., S. 8–12. 24 Vergleiche Fr. W. Marpurg, Fortsetzung der Gedancken über den musicalischen Vortrag, S. 218: „In allen Arten der Music, in den Musicken aller Nationen giebt es schlechtes Zeug und auch wieder etwas schönes. Dieß ist der Ausspruch des alten Bachs in Leipzig, der gewiß in der Music gelten kann.“ Zitiert nach: Der Critische Musicus an der Spree, a. a. O., S. 111. 25 Ausführlich behandelt wird diese Thematik in der Habilitationsschrift Hans-Günter Ottenbergs: Untersuchungen zur sozialen Stellung des Musikers, zur kompositorischen Produktion und Distribution in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung des Wirkens von Carl Philipp Emanuel Bach (1714–1788), Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1990 (maschinenschr.). Der Critische Musicus an der Spree  sozialen Rangordnung der Musikerberufe des 18. Jahrhunderts verhältnismäßig weit oben. Eine solche Position galt es zu behaupten. Fluktuationen innerhalb der Berliner Hofkapelle waren relativ selten und resultierten meistenteils aus objektiven Gründen wie Tod und Krankheit. Wenn in Johann Friedrich Reichardts 1779 erschienenem Roman Leben des berühmten Tonkünstlers Heinrich Wilhelm Gulden, nachher genannt Guglielmo Enrico Fiorino26 der aus niedrigen Gesellschaftsschichten stammende und seinen und seiner Familie Lebensunterhalt als herumreisender Virtuose verdienende Gulden schließlich als Violinist in den Dienst eines Fürsten tritt, dann spiegelte sich darin eine tatsächliche Ambition von Musikern im 18. Jahrhundert wider. Da ist zunächst der deutliche autobiographische Bezug der Romanhandlung: Reichardt selbst führte in seiner Kindheit und Jugend ein unstetes Wanderleben als Musiker, ehe er Hofkapellmeister Friedrichs II. wurde. Auch sind in den entgegengesetzten Lebensläufen von Gulden und Hermenfried verallgemeinernde Aussagen „für verneinte und bejahte Möglichkeiten der Musikerexistenz“27 vorgenommen worden. Eine höfische Anstellung bot in der Regel soziale Sicherheit und ein vergleichsweise höheres Einkommen, als dies bei Stadtmusikanten der Fall war. Andere Berufsgruppen wie Lehrer, Pastoren, Handwerker, Manufakturarbeiter lagen wesentlich unter dem Fixum, das höfische Musiker bezogen28. Hinzu kamen Deputate, oftmals Mietzuschüsse, Dienstkleidung, Gratifikationen und andere Vergünstigungen und Aufwendungen. Auch für die Altersversorgung von Hofmusikern, das schwächste Glied in der Kette sozialer Verbindlichkeiten, wurde, beginnend im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, ein Fonds eingerichtet, wenngleich hier soziale Härtefälle nicht ausblieben. Bachs Anfangsgehalt von 300 Rt29 lag durchaus in der Norm. In Berlin und Dresden verdiente der Orchestermusiker durchschnittlich 300 bis 400 Rt jährlich. In München wurden 1751 dem Violinisten Johannes Grönner 500 fl30 (etwa 250 Rt) gezahlt31. In Stuttgart bezog keiner der Hofmusiker unter 300 fl (150 Rt) jähr- 26 Neudruck, Leipzig 1967. 27 G. Hartung, Ein unbekannter Sturm-und-Drang-Roman, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 1963, S. 1022. 28 Grundsätzlich hierzu: M. J. Elsaß, Umriß einer Geschichte der Preise und Löhne in Deutschland, 3 Bde., Leiden 1936–1949. 29 Rt = Reichstaler. 30 fl = gulden. Einige im 18. Jahrhundert gebräuchliche Umrechnungsarten: 1 Taler = 3 Mark = 24 Groschen = 48 Schillinge = 288 Pfennige 1 Speziestaler = 2 Gulden = 4 Mark = 32 Gute Groschen = 120 Kreuzer = 384 Pfennige 1 Taler = 3 Mark = 24 Gute Groschen = 90 Kreuzer = 288 Pfennige 31 Angaben nach Chr.-H. Mahling, Herkunft und Sozialstatus des höfischen Orchestermusikers im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Deutschland, in: Der Sozialstatus des Berufsmusikers vom 17. bis 19. Jahrhundert, a. a. O., S. 126. Hans-Günter Ottenberg  lich; der Violinist Martinez erhielt 400 fl (= 200 Rt) und die gleiche Summe in Naturalien. In den Orchestern kleinerer Residenzen waren die finanziellen Vergütungen wesentlich geringer, andererseits hatten die entsprechenden Lebensunterhaltungskosten ein erheblich niedrigeres Niveau. Christoph-Hellmut Mahling ermittelte durch umfangreiche statistische Recherchen, daß der höfische Orchestermusiker besoldungsmäßig im mittleren Bereich der Gesamtlohnskala der Hofhaltung stand32. Das trifft auch für Carl Philipp Emanuel Bach zu, wie die nachfolgenden Tabellen mit ausgewählten Berufsgruppen am Berliner Hof Friedrichs II. zeigen: 32 Ebenda, S. 126. 33 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Signatur: Rep. 36: Hofverwaltung, Nr. 116. Tabelle 1: Jährliche Einkommen (in Rt) von Hofbeamten zur Regierungszeit Friedrichs II. (Auswahl)33 Funktionen/Berufe Anzahl Gesamt- Einkommen Einkommen summe von … bis Mittelwert 1. General Adjoutanten 7 16800 2400 2400 Den General Major v. Winterfeld 2400 " Obristen v. Manstein 2400 2. Königl : Hof. Bediente und Cämmerer 5 8200 800–3000 1640 Den Graff v. Algarotti 2400 " Cämmerer v. Wülkenitz 1000 3. Königl : Küchen Bediente 12 5101 150–1000 425 Den Maitre d’hotel Joyard 1000 " MundKoch Müller 200 4. Königl : Cammer Bediente 8 3183 100–1263 400 Den Geheimten Cämmerer Fredersdorff 1263 Den Cammer Diener Hundertmarck 500 5. Leib und Andere Medici und Chirurgi 10 3984 200–1500 400 Den Hoff Rath Eller 1500 " Doctor Wahl in Potsdam 500 6. Königl : Cammer Laquayen 10 1040 120–200 150 Hansmann 200 Zeising 120 (Quelle: Hoff-Staats und Fourage-Etat desgleichen Capell-Etat. Von Trinitatis 1750 bis 1751) Der Critische Musicus an der Spree  Innerhalb des Jahresetats 1750/51 für die „Capell-Bedienten“, „Italienischen Sänger und Sängerinnen“ usw. ergibt sich folgende Aufstellung: Tabelle 2: Jährliche Einkommen (in Rt) von Musikern zur Regierungszeit Friedrichs II. (Auswahl)34 Funktionen/Berufe Anzahl Gesamt- Einkommen Einkommen summe von … bis Mittelwert 1. Denen Italienischen Sängern und Sängerinnen 8 12540 400–4400 1570 Den Salimbeni 4440 Der Gasparini 1800 Den Antonio Romani 1000 2. Täntzerinnen 7 6200 350–2100 885 Madame Cortini Denis 2000 Mademoiselle Lionnois 600 3. Commedianten 8 4383 483–1000 550 Mad: la Motte 600 " Neveu 100 Den Harlequein Moms: des Ormes 1000 4. Denen Capell-Bedienten 43 15462 30–2000 360 Den Capell Meister Graun 2000 " Quantz [Flötist] 2000 " Mara [Violoncellist] 600 " Nichelmann [Cembalist] 500 " Baron [Theorbist] 300 " Blume [Violinist] 300 " Grundke [Violinist] 300 " Bach [Cembalist] 300 " Contra Violon Richter 160 " Waldhornist Mengis 156 " Steffani [Bratschist] 150 Denen Notisten 30 (Quelle: Hoff-Staats und Fourage-Etat desgleichen Capell-Etat. Von Trinitatis 1750 bis 1751) 34 Ebenda. Als Carl Philipp Emanuel Bach im Jahre 1756 eine Gehaltserhöhung um 200 Rt auf 500 Rt gewährt wurde, rückte er in der Einkommenshierarchie der Musiker wesentlich nach oben. Nur fünf Hofmusiker, die Stelle des HofkapellHans-Günter Ottenberg  meisters eingeschlossen, hatten höhere Bezüge35. Steigerungen bildeten die Ausnahme, da es sich um einen über Jahre hin weitgehend gleichbleibenden Etat mit einem konstanten Fixum für jede Planstelle handelte36. Trotz vielfacher Erschwernisse, die das höfische Amt mit sich brachte, war sich Bach seiner privilegierten Stellung durchaus bewußt, einem der leistungsfähigsten europäischen Orchester anzugehören, dessen Niveau er ja selbst wesentlich mitprägte37. Und wenn Bach in seiner Selbstbiographie gleichsam coram publico jenes Umstandes gedachte, „das erste Flötensolo, was Sie als König spielten, in Charlottenburg mit dem Flügel ganz allein“ begleitet zu haben38, und gleich mehrmals auf die „vortheilhaften Rufe anderswohin“ zu sprechen kommt39, obwohl er doch so lange im Hofdienst verblieb, dann äußert sich hierin nicht nur Stolz über ein Vorzugsrecht, sondern auch ein sozialer Prestigeanspruch. Später sollte sich dann dieses Faktum zu einer idealisierenden Souverän-Künstler-Beziehung verklären40. 35 Ein höheres Gehalt als Carl Philipp Emanuel Bach erhielten: Carl Heinrich Graun, Kapellmeister 2000 Rt Johann Joachim Quantz, Flötist 2000 Rt Johann Gottlieb Graun, Konzertmeister 1200 Rt Franz Benda, Violinist 800 Rt Ignaz (Ignatius) Mara, Violoncellist 600 Rt Angaben nach Besoldungsliste 1747/48 in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Signatur: Rep. 36: Hofverwaltung, Nr. 2445. 36 Der Jahresetat für die „Capell-Bedienten“, Sänger, Tänzer und andere lag bei etwa 50.000 Rt; ausführlicher darüber in: H.-G. Ottenberg, Carl Philipp Emanuel Bachs Wirken in Berlin. Untersuchungen zum Sozialstatus des Musikers im 18. Jahrhundert, in: Studien zur Berliner Musikgeschichte. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 1989, S. 40– 50. 37 Ich habe diese Problematik detailliert in meinem Beitrag „Vom Hofmusiker zum Originalgenie. Überlegungen zum Sozialstatus C. Ph. E. Bachs“ anläßlich des Frankfurter Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Symposiums im März 1994 dargestellt. Ein Konferenzbericht ist in Vorbereitung (vergleiche Anmerkung 2). 38 C. Ph. E. Bach, Selbstbiographie, in: Ch. Burney, Tagebuch seiner Musikalischen Reisen, a. a. O., Bd. 3, S. 200. 39 Ebenda. 40 So durch Rochlitz in der Aufsatzsammlung Für Freunde der Tonkunst, in der der Verfasser das Verhältnis Carl Philipp Emanuel Bachs zu seinem Souverän euphemistisch darstellt. Vergleiche Fr. Rochlitz, Karl Philipp Emanuel Bach, in: Für Freunde der Tonkunst, Bd. 4, Leipzig 1832, S. 283–286. Der Critische Musicus an der Spree  Etwas anderes zeigt die biographische Mitteilung: gewachsenes Selbstbewußtsein, Stolz auf die eigene Leistung und das Können, die ihn zum königlichen Kammercembalisten befähigten. In Konfliktsituationen pochte Bach auf diese erreichte Position bürgerlicher Selbstbehauptung. Als er in Gesuchen an den König hartnäckig und unbeirrt um eine Gehaltssteigerung kämpfte41, war es neben dem pekuniären Aspekt – die Lebensunterhaltungskosten in großen und Residenzstädten lagen nach soziologischen Berechnungen im Jahre 1750 etwa 80% höher als in kleinen Städten42 – vor allem verletztes Selbstbewußtsein, daß er, der inzwischen längst über die Grenzen Berlins und Deutschlands hinaus anerkannte Musiker, ein dieser Bedeutung nicht angemessenes Gehalt erhielt. Und in dem Maße, wie sich Bach seiner künstlerisch-singulären Position bewußt wurde, spitzte sich für ihn der Widerspruch zwischen höfischer Subordination und Individualitätsentfaltung zu. Bachs Zähigkeit und das schließliche Einlenken Friedrichs II., der die überragende Bedeutung seines Cembalisten durchaus erkannte, bewirkten etwas, was sonst nur wenigen gelang: Bach erhielt die geforderte Gehaltszulage. Nur wenige Musiker in der Kapelle Friedrichs II. erreichten im Laufe ihrer Dienstzeit eine Aufbesserung ihres Gehalts. 42,5% der Orchestermusiker lagen im unteren Drittel der Einkommenshierarchie, erhielten also weniger als 300 Rt jährlich, eine Summe, von der Bach sagte, daß er davon „Mit seiner [fünfköpfigen] Familie Nicht lehben“ könne43. Laut Jahresetat 1750/51 verdienten in der königlichen Kapelle 41 Vergleiche den Brief des Verwalters der königlichen „Schatulle“, Michael Gabriel Fredersdorff, vom 9. Mai 1755 an Friedrich II. Zitiert bei H. Miesner, Aus der Umwelt Philipp Emanuel Bachs, in: Bach-Jahrbuch 34, 1937, S. 139. 42 Kiesel/Münch geben folgende Aufstellung über das Realeinkommen (in Rt), das man in den verschiedenen bürgerlichen Schichten als nötig erachtete, um ein ‚standesgemäßes Auskommen‘ zu haben: Jährliche Ausgaben vom Jahr 1750 einer bürger- in einer einer mittel- einer großen lichen Familie Kleinstadt großen Stadt oder Residenzstadt die Geringen 150 Rt 200 Rt 400 Rt die Mittelmäßigen 250 Rt 400 Rt 900 Rt die Vornehmsten 400 Rt 700 Rt 2000 Rt Vergleiche H. Kiesel/P. Münch, Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Marktes in Deutschland, München 1977, S. 57. 43 Brief von Fredersdorff an Friedrich II. (siehe Anmerkung 41). Hans-Günter Ottenberg  4 Musiker zwischen 800 – 2000 Rt 19 Musiker zwischen 300 – 600 Rt 17 Musiker unter 300 Rt44. Waren diese Musiker der Kategorie 3 Alleinverdiener, kamen außerdem Krankheiten und Tod hinzu, so waren Existenznöte für eine große Familie gleichsam vorprogrammiert, wenngleich sie durch Pensionen oder Gewährung von Beihilfen bis zu einem gewissen Grade gemindert werden konnten. In gesellschaftlichen Krisenzeiten, wie dem Siebenjährigen Krieg, verschlechterte sich die soziale Lage selbst der besserverdienenden Hofmusiker, da sie ihren Lohn teilweise in sogenannten „CassenScheinen“ ausgezahlt bekamen, die im Verlauf des Krieges immer mehr ihren Wert verloren45. In der im Staatsarchiv Dresden aufbewahrten „Acta Das Churfürstl. Orchestre und deßen Unterhaltung … betr.“46 sind zahlreiche solcher sozialen Härtefälle dokumentiert. Als Gründe für das Nachsuchen um Gehaltserhöhungen werden hohes Alter, Krankheit, Schulden, vielköpfige Familie, Teuerungen, „Mangel und Dürftigkeit“, auch „Anwandlungen von Schwermuth“ genannt. Selbst Solopositionen wie die des Kontrabassisten der Dresdner Hofkapelle, seit 1734 durch Johann Caspar Horn besetzt, boten keine Garantie für materielle Sicherheit. Wiederholte Gesuche Horns über einen längeren Zeitraum47 führten schließlich zum Erfolg. Am 7. Februar 1776 wurde ihm zum Grundgehalt von 300 Rt eine Zulage von 100 Rt gewährt48. Und sieben Jahre später erhielt laut einer Ordre vom 6. Dezember 1783 „der Erste ContraBassist, Horn, wegen seiner 43jährigen treuen Dienste und großen Dürftigkeit, da ihm öfters das nöthige Brod mangele“ 500 Rt Jahresgehalt49. Nach seinem Tod im Jahre 1789 zeugen Bittgesuche seiner Familie an den Kurfürsten50 von einem entsagungsvollen Kampf um finanzielle Unterstützung, denn das Einkommen seines Sohnes, als Bratscher ebenfalls Mitglied der Hofkapelle, betrug nur 44 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Signatur: Rep. 36: Hofverwaltung, Nr. 116. 45 Vergleiche C. Fr. Zelter, Christian Friedrich Carl Fasch, Berlin 1801, S. 19. 46 Staatsarchiv Dresden, Acta Das Churfürstl. Orchestre und deßen Unterhaltung, ingleichen Das große Opern-Hauß und andere zum Departement des Directeur des Plaisirs gehörige Angelegenheiten betr., insbesondere Locat 383, 910, 911, 2427. 47 Vergleiche die Aktenstücke vom 19. April 1770 (Locat 910, Vol. 3, fol. 67–68), 9. April 1771 (ebenda, fol. 59) und häufiger. 48 Staatsarchiv Dresden, Locat 910, Vol. 5, 1776, fol. 34r. 49 Ebenda, Locat 910, Vol. 8, 1783, fol. 5v. 50 Ebenda, Locat 911, Vol. 10, 1790, fol. 158–159, 160–161, 164r. Der Critische Musicus an der Spree  300 Rt51, viel zu wenig, um für den Unterhalt der Familie aufkommen zu können. So war Johann Caspar Horn bereits zu Lebzeiten auf Nebenverdienste angewiesen, indem er zum Beispiel als Kollekteur tätig war52. Trotz solcher Beispiele für soziale Gefährdungen hatte der höfische Orchestermusiker im allgemeinen, „war er mit festem Gehalt angestellt und nicht zu tief verschuldet, sein Auskommen, wenngleich auch keinen allzugroßen ‚Bewegungsspielraum‘“53. Sein Aufgabenkreis war zwar fest umrissen, dennoch ließ der Dienst in der Hofkapelle Freiräume für anderweitige Beschäftigungen zu, für ein Mitwirken in bürgerlichen Musiziergemeinschaften, für nebenberuflichen Musikalienhandel, für Instrumentalunterricht – willkommene und oft auch notwendige Nebeneinnahmen54. Carl Philipp Emanuel Bachs soziale Stellung am Berliner Hof war nie ernsthaft gefährdet gewesen. Und auch seine wirtschaftliche Situation kann angesichts des weiten Tätigkeitsspektrums, das er in Berlin ausübte, als stabil und zufriedenstellend eingeschätzt werden. Spannungen erwuchsen vor allem aus Bachs kompositorischem Individualitätsanspruch, der zunehmend mit dem Geschmacksdiktat des Königs kollidierte. Verglichen mit anderen komponierenden Hofmusikern – Quantz, Franz Benda, Agricola und anderen –, scheint Bach nur wenige Werke für das höfische Repertoire beigesteuert zu haben55. Er vermochte sich auf die Dauer nicht mit dem einseitig an der italienischen Oper orientierten Musikideal Friedrichs II. zu identifizieren. Weil aber Bach seine künstlerische Bestimmung vor allem auf kompositorischem Gebiet sah, suchte er nach Entfaltungsmöglichkeiten, die außerhalb des Hofes lagen. Als Komponist war er außerordentlich produktiv. Bereits seit Anfang der vierziger Jahre unterhielt Bach geschäftliche Beziehungen zu führenden deutschen Musikverlegern56. Die Zahl der Musikdrucke nahm stetig zu. Was er an Autoren- 51 Ebenda, Locat 383, Vol. 9, 1788, fol. 180r. 52 Als Carl Philipp Emanuel Bachs Kollekteur war er nach Durchsicht der Pränumerantenlisten von 1770 bis 1778 tätig. 53 Chr.-H. Mahling, Herkunft und Sozialstatus des höfischen Orchestermusikers im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Deutschland, a. a. O., S. 122. 54 Vergleiche R. Petzoldt, Zur sozialen Lage des Musikers im 18. Jahrhundert, in: Der Sozialstatus des Berufsmusikers, a. a. O., S. 64 ff. 55 In der Musikaliensammlung der königlichen Hausbibliothek fanden sich ganze drei Titel von Carl Philipp Emanuel Bach neben nahezu tausend Kompositionen von Johann Joachim Quantz. Vergleiche G. Thouret, Katalog der Musikaliensammlung auf der Königlichen Hausbibliothek im Schlosse in Berlin, Leipzig 1895. 56 Vergleiche L. Hoffmann-Erbrecht, Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel Bachs Nürnberger Verleger, in: Die Nürnberger Musikverleger und die Familie Bach, Materialien zu einer Ausstellung des 48. Bach-Fests der Neuen Bach-Gesellschaft, Nürnberg 1973, S. 5 ff. Hans-Günter Ottenberg  honoraren und aus dem Verkauf von Notenexemplaren bezog, wurde bisher noch nicht systematisch untersucht. Nach vorsichtigen Schätzungen belief sich ein solcher Nebenverdienst auf 400–500 Rt jährlich57. Ein weiteres zusätzliches Einkommen hatte er als Klavierlehrer, eine Tätigkeit, die ihm – wiederum ein Faktor des sozialen Prestiges – den Zugang zu den Adelshäusern und gutsituierten bürgerlichen Kreisen Berlins und Potsdams verschaffte. Als Verfasser des weithin in Deutschland bekannten und geschätzten Versuchs über die wahre Art das Clavier zu spielen, dessen Veröffentlichung er planmäßig betrieben und an dem er auch erheblich verdient hatte58, erfüllte Bach zugleich maßgebliche Anforderungscharakteristika eines aufgeklärten Gelehrtentyps. Derzeit nicht zu beantworten ist die Frage, ob Bach in Berlin eigene Konzerte organisierte59; nachweisbar aber ist, daß er als Cembalist in Konzerten bürgerlicher Liebhabervereinigungen auftrat60, für deren Repertoire er offensichtlich auch einen Großteil seiner Werke geschaffen hat. Alle diese Tätigkeitsbereiche – Komposition, Klavierunterricht, Musiktheorie, Konzertorganisation, Orchester- und solistisches Spiel – hatte Bach in Berlin zielstrebig zu verwirklichen versucht und später in Hamburg teilweise noch ausgebaut und erweitert. In ihrer Gesamtheit ergeben sie einen Musikertypus, der, obwohl in höfischen Diensten stehend, seine künstlerische Bestimmung weiter faßte, der die unterschiedlichen Funktionen sinnvoll ausfüllte und gelegentlich bis an ihre Grenzen ausschritt. Die hierzu nötige soziale Sicherheit war durch die höfische Anstellung garantiert. Hierin äußerte sich zweifelsfrei eine emanzipatorische Tendenz: das Streben nach unbehinderter Entfaltung der kompositorischen, ästhetischen, pädagogischen Intentionen. Die soziale Stellung eines Hofbediensteten und die daraus resultierenden Abhängigkeitsverhältnisse konnten auf die Dauer ohnehin nicht befriedigen. Bachs Entscheidung, Berlin zu verlassen, war eine Entscheidung für den Status des ‚freien‘ bürgerlichen Künstlers. (Die Lebenswege Telemanns, Haydns und Mozarts zeigen vergleichbare Bestrebungen, sich aus höfischen Bindungen zu lösen.) Dennoch blieb die angestrebte Existenzform des ‚freien‘ Musikers im 18. Jahrhundert in Deutschland weitgehend eine Fiktion61. 57 Ausführlich darüber bei: H.-G. Ottenberg, Carl Philipp Emanuel Bachs Wirken in Berlin, a. a. O. 58 Vergleiche H.-G. Ottenberg (Hrsg.), Der Critische Musicus an der Spree, a. a. O., S. 21–23. 59 So die Vermutung von K. Geiringer, Die Musikerfamilie Bach. Musiktradition in 7 Generationen, München 1977, S. 207. 60 Vergleiche H.-G. Ottenberg, Carl Philipp Emanuel Bach, a. a. O. (Anmerkung 12), S. 88 ff. 61 Im literarischen Bereich zeichnet sich eine ähnliche Situation ab. Vergleiche dazu grundlegend H. J. Haferkorn, Zur Entstehung der bürgerlich-literarischen Intelligenz und Der Critische Musicus an der Spree  3. Abschließend möchte ich mich mit dem Berliner Lied, wie es nach 1750 seine Ausprägung erfahren hat, beschäftigen62. In einer nur wenige Zeilen umfassenden Nachricht informierten Marpurgs Historisch-Kritische Beyträge zur Aufnahme der Musik über das Erscheinen der von Ramler und Krause 1753 herausgegebenen Oden mit Melodien: „Gegenwärtige Sammlung von neuen Liedern ist bereits in verschiednen öffentlichen Blättern mit so viel Ruhm angekündiget, und von Kennern mit so viel Beyfall aufgenommen worden, daß sie keiner Anpreisung mehr bedarf“63. Dies ist eines von unzähligen Urteilen, das die außerordentlich produktive Phase der Liedkomposition in Berlin in den fünfziger und sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts begleitete. Als im Jahre 1768 mit dem vierten Teil der Lieder der Deutschen mit Melodien der Höhe- und zugleich Endpunkt in der Geschichte der sogenannten 1. Berliner Liederschule erreicht war, hatte sich ein Fundus von mehr als dreißig Sammlungen mit annähernd neunhundert Liedern angehäuft, komponiert von achtzehn Autoren64. Acht Verleger, überdes Schriftstellers in Deutschland zwischen 1750 und 1800, in: B. Lutz (Hrsg.), Deutsches Bürgertum und literarische Intelligenz 1750–1800, Stuttgart 1974 (= Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften 3), S. 113 ff. 62 Vergleiche H.-G. Ottenberg, Die 1. Berliner Liederschule im Urteil der zeitgenössischen Presse, in: Studien zum deutschen weltlichen Kunstlied des 17. und 18. Jahrhunderts, hrsg. v. G. Busch und A. J. Harper, Amsterdam, Atlanta (GA) 1992 ( = Chloe, Beihefte zum Daphnis 12), S. 247–267. 63 Historisch-Kritische Beyträge zur Aufnahme der Musik, hrsg. von Fr. W. Marpurg, Bd. 1, Berlin 1754 (Reprint, Hildesheim, New York 1970), S. 55. 64 Es handelt sich um folgende Komponisten (in alphabetischer Reihenfolge): Johann Friedrich Agricola (1720–1774), Carl Philipp Emanuel Bach (1714–1788), Franz Benda (1709–1786), Gottlob Wilhelm Burmann (1737–1805), Christian Friedrich Carl Fasch (1736–1800), Carl Heinrich Graun (1702 oder 1703–1771), Johann Gottlieb Graun (1703 oder 1704–1759), Johann Gottlieb Janitsch (1708– um 1763), Johann Philipp Kirnberger (1721–1783), Christian Gottfried Krause (1719–1770), Friedrich Wilhelm Marpurg (1718– 1795), Christoph Nichelmann (1717–1762), Johann Joachim Quantz (1697–1773), Friedrich Christian Rackemann (1735– ?), Wilhelm August Traugott Roth (1720–1765), Johann Philipp Sack (1722–1763), Christian Friedrich Schale (1753–1800), Johann Gabriel Seyfarth (1711–1796). Grundlegende Literatur hierzu: M. Friedlaender, Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert. Quellen und Studien, 3 Bde., Stuttgart, Berlin 1902; B. Engelke, Neues zur Geschichte der Berliner Liederschule, in: Riemann-Festschrift, Leipzig 1909, S. 456–472; G. Frotscher, Die Ästhetik des Berliner Liedes im 18. Jahrhundert, Phil. Diss. Leipzig 1922; Teildruck in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 6, 1923/24, S. 431–448; H. W. Schwab, Sangbarkeit, Popularität und Kunstlied. Studien zu Lied und Liedästhetik der mittleren Goethezeit 1770–1814, Regensburg 1965 (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 3); J. W. Smeed, German Song and its Poetry. 1740–1900, London, New York, Sydney 1987. Hans-Günter Ottenberg  wiegend in Berlin ansässig, hatten den Stich bzw. Druck besorgt65. Nach vorsichtigen Schätzungen belief sich die Gesamtauflage auf etwa 20.000 Exemplare. Aber das Reservoir an Liedern war ungleich größer. Sie fanden in zahlreichen Anthologien, in Musikzeitschriften und Almanachen Aufnahme. Einen exakten Überblick hierüber zu geben, ist ebensowenig möglich, wie die Zahl der in Berlin entstandenen unveröffentlichten und handschriftlich überlieferten Einzellieder zu ermitteln. Bedenkt man, daß der deutsche Buch- und Musikalienhandel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts über ein weitverzweigtes Netz von Niederlassungen sowie über ein gut funktionierendes Vertriebssystem verfügte, wodurch eine Verbreitung des Berliner Liedes im gesamten deutschsprachigen Raum möglich wurde66, dann stellt sich dem Betrachter ein sozio-kulturelles Phänomen ersten Ranges dar, das in und vermittels der Öffentlichkeit wirkte. Obwohl die Berliner Fachpresse vor 1753, dem Erscheinungsjahr der Oden mit Melodien, keine liedspezifischen Beiträge enthält, wurden hier dennoch entscheidende Voraussetzungen für das theoretische Verständnis dieser Gattung fixiert. Marpurgs Critischer Musicus an der Spree aus den Jahren 1749 und 1750 scheint diese Feststellung auf den ersten Blick nicht zu bestätigen. Der Liedbegriff wird in dieser Musikzeitschrift fast ausschließlich in pejorativem Sinne verwendet, polemisch zugespitzt, um gleichsam als negative Gegeninstanz zu der bei Marpurg favorisierten Opernarie zu fungieren. Da ist abschätzig von Gassen-, Trink- und Küchenliedern sowie in derb-drastischen Formulierungen von einem „Clavierpaucker“ die Rede, der „eine lahme Bierarie mit einem trommelnden Baße zu radebrechen, gewohnt ist“67, oder von 65 Vergleiche R. Elvers, Musikdrucker, Musikalienhändler und Musikverleger in Berlin 1750 bis 1800, in: Festschrift Walter Gerstenberg zum 60. Geburtstag, hrsg. v. G. von Dadelsen und A. Holschneider, Wolfenbüttel, Zürich 1964, S. 37–44. 66 Um zwei Beispiele zu nennen: Nach den Angaben von Hannelore Gericke führten folgende Wiener Musikalienhändler Berliner Liedersammlungen in ihrem Notensortiment: Johann Peter Edler van Ghelen, Peter Conrad Monath, Johann Paul Krauß, Felix Emmerich Bader, Hermann Joseph Krüchten, Johann Thomas Edler von Trattner. Vergleiche H. Gericke, Der Wiener Musikalienhandel von 1700 bis 1778, Graz, Köln 1960 (= Wiener Musikwissenschaftliche Beiträge 5), S. 20 ff. In dem gleichzeitig mit den „Leipziger Zeitungen“ herausgegebenen EXTRACT Der eingelauffenen NOUVELLEN ist unter dem 7. Oktober 1758 folgende Anzeige eingerückt: „In der Voßischen Buchhandlung auf der Nicolai-Strasse im Huhnischen Hause sind zu haben: Preußische Kriegs-Lieder in den Feldzügen 1756 und 1757, von einem Grenadier, mit Melodien, Kl. 8. Berlin a 8 Gr. …“. 67 Der Critische Musicus an der Spree, hrsg. v. Fr. W. Marpurg, Berlin 1749–1750 (Reprint, Hildesheim, New York 1970), S. 3. Der Critische Musicus an der Spree  „unbeugsamen Bierkählen, die ieden Thon zerstücken, und mit einem gewaltsam aus einer fetten Gurgel sich herauswältzenden Hahehihohu zu begleiten pflegen“68. Durch Attribute wie „buntschäkkig“, „gemein“, „leichtsinnig“ näher charakterisiert, erscheint der Terminus Lied in Hinblick auf die Bezeichnung einer artifiziellen Leistung diskreditiert. Marpurg benennt auch fast beiläufig den Gegenstand seiner Kritik: „ein Duzend verliebter Arien von der neuesten Sperontischen Sammlung“69. Aber zugleich liegt in der von Marpurg unterstellten Trivialisierungstendenz und der Unterschreitung eines literarischen und kompositionstechnischen Mindestniveaus in dieser Sammlung ihre Nichtgesellschaftsfähigkeit begründet. Die zitierten „Bierkählen“, „Dorfschencken“ und „Kirmeßfreunde“ zeigen unmißverständlich, in welchem sozialen Milieu Marpurg eine solche Musikpraxis ansiedelt: in den ländlichen und städtischen Unterschichten; ihre Ausübung oblag dem in der Mitte des 18. Jahrhunderts wenig geachteten Stand der Spielleute und Volksmusikanten. Daß aus Marpurgs Äußerungen ein Gutteil bildungsaristokratischer Standesdünkel sprach, läßt sich für die Berliner Musiktheorie und -kritik um 1750 mehrfach belegen70. Auch wenn Marpurg die Gattung als Ganzes nicht ablehnte, sind noch bis etwa 1755 Vorbehalte hinsichtlich einer ästhetischen Gleichstellung des Liedes im Ensemble der vokalen Gattungen in seinen Schriften anzutreffen71. Marpurg hatte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Critischen Musicus an der Spree offensichtlich keine Veranlassung, besonderes theoretisches Augenmerk auf eine Gattung zu richten, die in Berlin noch keine oder nur eine geringe Wirksamkeit besaß. Und doch lieferte sein Journal für die Theoriebildung und Ästhetik der späteren Berliner Liederschule wichtige Erkenntnisse. Aus dem mit Vehemenz geführten Nationalitätenstreit um den Vorrang der französischen oder italienischen Musik erwuchs ein Musikideal, das Marpurg so umriß: „Man schreibe nur natürlich und singbar, ohne gemein und trocken zu werden; angenehm … ausdrückend, ohne Zwang, und künstlich, ohne auszuschweifen. Man … bestrebe sich etwas mehr der Zärtlichkeit…“72. Diese Aussage wurde von Marpurg unzweideutig auf die Oper bezogen, die Domäne höfischer Musikpflege 68 Ebenda, S. 4. 69 Ebenda, S. 33. 70 Vergleiche das Vorwort „Aufklärung - auch durch Musik?“ v. H.-G. Ottenberg, a. a. O., S. 6–27. 71 Noch im ersten Band seiner Historisch-Kritischen Beyträge zur Aufnahme der Musik (1754–1755) äußerte Marpurg stilistische und ästhetische Bedenken hinsichtlich des chanson à boire, an das sich bekanntlich das Berliner Lied anlehnte. Vergleiche Historisch-Kritische Beyträge zur Aufnahme der Musik, a. a. O., S. 25 f. 72 Fr. W. Marpurg, Der Critische Musicus an der Spree, a. a. O., S. 4. Hans-Günter Ottenberg  und im Theorieverständnis von Mattheson bis Reichardt die exponierte Gattung der Vokalmusik. Selbst Krause, dessen zeitgleich mit den Oden mit Melodien erschienene Musikalische Poesie die für Berlin erste geschlossene Liedtheorie beinhaltet, verstand diese zuerst als Anleitung, „die Singstücke, so viel möglich, dramatisch einzurichten“73. Doch der Schritt zur ästhetischen Anerkennung des Liedes war nicht mehr weit, und die von Marpurg herausgestellten guten Eigenschaften des Gesanges ließen sich problemlos auf diese Gattung übertragen. Auch das formale Vorbild für das Berliner Lied wurde bereits im Critischen Musicus an der Spree erwähnt, das französische Chanson: „Man sage was man will von der französischen Music, eine natürliche, ungezwungene, nicht weit hergesuchte, leichte Melodie, auch nur eines französischen Liedgens, kann niemand verwerfen, wenn sie gut und nach der ihr gehörigen Art herausgebracht wird“74. Selbst eine soziale Zielgruppe, an die sich das Lied dann wenden wird, deutete sich hier schon an, freilich noch in einem anderen Zusammenhang genannt: die „klavierspielenden Frauenzim- mer“75. Ästhetische Programmatik und kompositorischer Standard der 1. Berliner Liederschule wurden schließlich in den von Marpurg herausgegebenen und wöchentlich erscheinenden Kritischen Briefen über die Tonkunst entwickelt und vertieft; überhaupt kann dieses Journal als eine theoretische Plattform für die Liedkomposition in der Mitte des 18. Jahrhunderts angesehen werden. In acht Folgen wurde ein „Verzeichnis deutscher musikalischer Odensammlungen“ mitgeteilt76, begleitet von liedästhetischen Grundsätzen77 und einem „Unterricht im Vocalsatze“78 sowie „zum Vergnügen der Liebhaber, mit einer Ode zum Singen beym Clavier…“79. In dieser thematischen Komplexität äußert sich zugleich ein interessantes wissenschaftsmethodisches Phänomen: Marpurg hatte vom Beginn seiner Tätigkeit als Theoretiker an systematisch 73 Chr. G. Krause, Von der musikalischen Poesie, Berlin 1753 (Reprint, Leipzig 1973), Vorrede, S. 6. 74 Fr. W. Marpurg, Der Critische Musicus an der Spree, a. a. O., S. 218. 75 Ebenda, S. 5, 10. 76 Kritische Briefe über die Tonkunst, hrsg. v. Fr. W. Marpurg, 2 Bde., Berlin 1759– 1763 (Reprint, Hildesheim, New York 1974), Bd. 1, S. 160–164, 241–247, 250–253, 355– 357, 497–499; Bd. 2, S. 46–52, 427–438. 77 Ebenda, Bd. 1, S. 17–23, 170–176 und häufiger. 78 Ebenda, Bd. 1, S. 462 ff. (in den Briefen Nr. 60–70). 79 Ebenda, Bd. 1, S. 2: „Jedes folgende periodische Stück soll, zum Vergnügen der Liebhaber, mit einer Ode zum Singen beym Clavier, oder mit einem kleinen Clavierstück begleitet werden.“ Der Critische Musicus an der Spree  und zielstrebig die einzelnen Gebiete der Tonkunst aufgearbeitet80, um von dem einmal gewonnenen Erkenntnisstand aus neue, weitergreifende Fragestellungen abzuleiten: Über einzelne Zwischenstationen – Historisch-Kritische Beyträge (1754 ff.), Anleitung zur Singcomposition (1758), Kritische Briefe über die Tonkunst (1759 ff.) – wurde Marpurgs Odentheorie ausgebaut, bevor ihre wesentlichen Elemente Eingang in eine größere Abhandlung fanden, in die Anleitung zur Musik überhaupt, und zur Singkunst besonders (1763). Ein solcherart praktiziertes Systematisierungsstreben war für die Berliner Musiktheorie in ihrer Gesamtheit symptomatisch81. Rezensiert wurden in den Kritischen Briefen 43 Liedersammlungen, davon 12 von Berliner Komponisten. Der sich in den Besprechungen herauskristallisierende Idealtypus des Liedes weist, anlehnend an Krauses Musikalische Poesie, folgende Hauptmerkmale82 auf: – Bekenntnis zum schlichten Strophenlied nach französischem Vorbild; – Darstellung eines Grundaffektes; – Klassifizierung in „Singoden“ und „Klavieroden“83; – Einheit von Wort und Ton, entsprechend der Forderung, man solle „sich … beständig erinnern, daß man Verse mache, welche sollen gesungen wer- den“84; – Kennzeichnung eines wirkungsästhetischen Begriffsfeldes, das durch Attribute wie „sangbar“, „einfach“, „verständlich“, „gefällig“, „angenehm“ näher bestimmt ist. Mit diesem Gattungsverständnis wurde über die Berliner Sammlungen hinaus ein weiter Bereich der zeitgenössischen Liedkomposition erfaßt. Doch die Theoretiker bezweckten mehr: Die in Berlin entwickelte Odentheorie sollte im Sinne eines kodifizierten Normenkomplexes stilistischer und anderer Parameter auch Leitbildfunktion andernorts besitzen. Dies aber mußte folgerichtig zu einer Monopolisierung von Wertvorstellungen führen, die wiederum mit spezifischen Entwicklungslinien des deutschen Liedes kollidierten. 80 Vergleiche H. Serwer, Friedrich Wilhelm Marpurg (1718–1795). Music Critic in a Galant Age, Ph. diss. Yale University 1969; H.-G. Ottenberg (Hrsg.), Der Critische Musicus an der Spree, a. a. O., S. 6–10, 14, 16–18 und häufiger. 81 Vergleiche H.-G. Ottenberg, ebenda, S. 6 ff. 82 Zusammenfassend zum Typus des Berliner Lieds vergleiche K. Gudewill, Abschnitt „Das Kunstlied im deutschen Sprachgebiet“, in: Artikel „Lied“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Bd. 8, Kassel, Basel usw. 1960, Sp. 762. 83 Vergleiche Kritische Briefe über die Tonkunst, hrsg. v. Fr. W. Marpurg, a. a. O., Bd. 1, S. 22 f. 84 Chr. G. Krause, Von der musikalischen Poesie, a. a. O., S. 49. Hans-Günter Ottenberg  Marpurgs negatives Urteil über Sperontes Singende Muse an der Pleisse85 erwuchs zwar aus der Beobachtung gravierender Verstöße gegen die Regeln; sein hauptsächlicher Einwand bezog sich jedoch darauf, daß diese Sammlung den Geschmack und Verständnishorizont unterer Schichten der Gesellschaft repräsentiere. Aber auch Tendenzen der jüngeren Liedentwicklung bewertete Marpurg kritisch. Der von Johann Adam Hiller bereits in den endsechziger Jahren begründeten Richtung des volkstümlichen Liedes, die für die Herausbildung des Singspiels wichtig wurde86, stand er ziemlich verständnislos gegenüber. Die Hillerschen Lieder mit Melodien fürs Clavier, 1759 anonym erschienen87, lehnte Marpurg sogar ab88. Und die süddeutsche und Schweizer Liedproduktion lag gänzlich außerhalb seines Gesichtskreises89. Anders die Berliner Sammlungen: Als Muster der Gattung waren sie gleichsam tabuisiert und damit ihre Autoren gegen kritische Einwände gefeit. So unterblieben in den Kritischen Briefen auch jegliche Versuche, dichterische Vorlage und kompositorische Gestalt (zum Beispiel grammatikalischer Aufbau und Sinneinheiten des Textes, der „Gang der Leidenschaften“, Gesang, Harmonie, Bewegung und Begleitung)90 auf mögliche Fehler hin zu analysieren. Statt dessen Elogen, wie die folgende: „Die Hand eines Meisters verräth sich auch in den allerkleinsten Aufsätzen, und diese Sammlung von zwey und zwanzig Liedern, die die rührendsten und erbaulichsten Melodien, mit einem darunter gesetzten Generalbaß enthält, ist ein Beweis davon“91. Die im Lied erreichte Artifizialität – Synonym für das Gearbeitete, Handwerkliche etc. – wurde als dem „neuen Volkston“ entgegenstehend zum hemmenden Faktor. Die Vertreter der 1. Berliner Liederschule sahen sich zu Beginn der siebziger Jahre in ein doppeltes Konfliktfeld gestellt. Zum einen er- 85 Kritische Briefe über die Tonkunst, hrsg. v. Fr. W. Marpurg, a. a. O., Bd. 1, S. 161 f. 86 Vergleiche B. Seyfart, Das musikalisch-volkstümliche Lied von 1770 bis 1800, Phil. Diss. Leipzig 1894, S. 12 ff. 87 M. Friedlaender, Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert, a. a. O., Bd. 1, Nr. 76. 88 Kritische Briefe über die Tonkunst, hrsg. v. Fr. W. Marpurg, a. a. O., Bd. 1, S. 355 f. 89 Vergleiche die bei M. Friedlaender, Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert, a. a. O., genannten Liedersammlungen, Bd. 1, Nr. 34, 47, 48, 70, 71, 81, 99. 90 Zu analytischen und methodologischen Aspekten der Liedkomposition im 18. Jahrhundert vergleiche auch Kl.-P. Koch, Musikanalytische Betrachtungen zum Liedschaffen Reichardts. Referat, gehalten auf der Konferenz „Johann Friedrich Reichardt (1752–1814). Komponist und Schriftsteller der Revolutionszeit“, Halle 23. und 24. September 1989, in: Schriften des Händel-Hauses in Halle, Bd. 8, Halle 1992, S. 83–95. 91 Dieses Urteil bezieht sich auf Johann Joachim Quantz’ Neue Kirchen-Melodien zu denen geistlichen Liedern des Herrn Profeß. Gellerts…; vergleiche M. Friedlaender, Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert, a. a. O., Bd. 1, Nr. 91. Der Critische Musicus an der Spree  folgte eine weitere Zementierung des Nord-Süd-Dualismus und durch ihn – bewußt oder unbewußt – eine mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit zu stilistischer Assimilation bei den Komponisten der preußischen Metropole. Zum anderen trat eine neue Dichter- und Musikergeneration auf den Plan. Sie vollzog einen Paradigmenwechsel in Ästhetik und Kunstpraxis mit weitreichenden Konsequenzen für die Entwicklung des Liedes. Was Marpurgs und Krauses Oden an Regelzwang und galant-rokokohafter Manier anhaftete, überwanden Johann Abraham Peter Schulz, Karl Spazier, Johann Friedrich Reichardt und Carl Friedrich Zelter. Doch damit ist bereits ein weiteres Kapitel der Berliner Liedgeschichte aufgeschlagen92. 92 Grundlegend hierzu M. Friedlaender, ebenda; H. W. Schwab, Sangbarkeit, Popularität und Kunstlied, a. a. O.; W. Salmen, Johann Friedrich Reichardt. Komponist, Schriftsteller, Kapellmeister und Verwaltungsbeamter der Goethezeit, Freiburg i. Br., Zürich 1963. Hans-Günter Ottenberg