SEVERIN GROEBNER SERVUS PIEFKE Was sich ein Wiener in Deutschland so denkt © 2011 by Südwest Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, 81637 München. Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Hinweis: Die Informationen in diesem Buch sind von Autor und Verlag sorgfältig erwogen und geprüft, dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Eine Haftung des Autors bzw. des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen. Bildnachweis: Cover: IStockphoto, Shutterstock Illustrationen im Innenteil: Severin Groebner Projektleitung: Dr. Harald Kämmerer Redaktion: Claudia Fritzsche Layout und Satz: Sonner, Vallée u. Partner, München Druck und Verarbeitung: Printed in Germany GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-517-08707-8 FSC 98171635 4453 6271 www.fsc.offl MIX Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das für dieses Buch verwendete PSC-zertifizierte Papier Super Snowbright liefert Hellefoss AS, Hokksund, Norwegen. Papier au» verantwortungsvollen Quellen FSC*C014496 Südwest0 5 Inhalt Ol / Deutsche in Wien Pießel 12 02 / Wien in Deutschland Na servus! 18 03/ Die Deutschen und das Brot Wes lirot ich ess... 22 04 / Deutschland und die Wahrheit Ehrlich! 26 05/ Deutschland und der Humor Was gibt 's da zu lachen? 32 06 / 1 )ie Deutschen und der Karneval Talaa! Tataal Tataal 36 07 / Deutschland und die Effizienz Das ist doch praktisch! 40 08 / 1 )eutschland und seine Struktur Wo bin ich? 45 Oy / Die Deutschen und der Service Sind Sie zufrieden? 50 6 SERVUS PIEFKE 7 INHALT 10 / Deutschland und die Mentalität Wie geht's uns heute? 58 11 / Deutschland und die Sprache Piefke, du kannst des net! 62 12 / Deutschland und die Schönheit Hässlich. Aber nicht schiach. 68 13 / Deutschland und die Bildung In der Unterwelt 72 14 / Deutschland und das Tier Zoologie 80 15 / Deutschland und der Patriotismus Wer ist wer? 85 16 / Deutschland und die Mobilität Baby, You Can't Drive My Car 91 17 / Deutschland und die Vergangenheit Die gute alte Zeit 95 18 / Deutschland und der Fußball Thor! 101 20 / Deutschland und der Rausch Oans, zwoa, gsuffa! HO 21 / Deutschland und die Kunst Kunst ist schön ... 114 22 1 Deutschland und der Krieg Taktaktaktaktaktaktaktak... 121 23 / Deutschland und der Sex Pudern vs. poppen 125 24 / Deutschland und die Ausländer Hin und her 129 25 / Deutschland und die Revolution Nur Wut, Bürger! 134 26 / Deutschland und die Bürokratie Von der Wiege bis zur Bahre 138 27 1 Deutschland und die Arbeit Wer kann, der kann! 144 28 / Deutschland und das Deutsche Und was ist eigentlich deutsch? 148 19 / Deutschland und die Küche Magen und mögen 105 Anhang / Wörterbuch Servus Piefke! 157 9 VORWORT Liebe Leserinnen und Leser! Bevor Sie dieses Buch zu sich nehmen, sollten Sie vielleicht wissen, wer hier schreibt. Ein Wiener - gut, das wissen Sie bereits, es steht ja schon auf dem Cover. Doch die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, war nicht das Wien von heute. Es war das Wien der 80er Jahre (des letzten Jahrhunderts, wie seit über einem Jahrzehnt immer dazuge-sagt wird, was aber irgendwie ein Blödsinn ist, denn die Achtzigerjahre dieses Jahrhunderts gibt es noch nicht und die des vorletzten Jahrhunderts sind ja wohl nicht gemeint. Zumindest hoffe ich, nicht so zu schreiben, dass man glaubt, ich war schon 140 Jahre alt!), und dieses Wien war ein anderes Wien als heute. Es war riesiges Provinzkaff, in einer seltsamen Biegung des Eisernen Vorhangs gelegen. Die Menschen waren grantig, hatten etwas gegen die eingewanderten »Tschuschen« (Südosteuropäer, meist aus dem damals noch existierenden Jugoslawien), der Bundespräsident durfte wegen seiner Nazivergangenheit nicht in die USA einreisen, der Bundeskanzler war ein sozialdemokratischer Banker, Falco war in der Hitparade, der »Russe« eine latente Bedrohung, Jörg Haider klopfte rechte Sprüche, und dennoch glaubte man einen frischen Wind zu spüren unter dieser betonharten »Fadess« (Langeweile), und dieser Wind kam vom Kahlenberg und blies in Richtung Tschechoslowakei. Heute hingegen ist Wien eine pulsierende Weltstadt. Die Bevölkerung ist grantig und hat etwas gegen die eingewanderten Türken, der dritte Nationalratspräsident hat Mitarbeiter, die Nazi-Devotionalien bestellen, er darf aber in die USA reisen, der Bundeskanzler ist ein Sozialdemokrat, welcher der Bevölkerung seine Regierungsabsicht gerne via Leserbrief an die Kronenzeitung mitteilt, Christi Stürmer ist in der Hitparade, der »Chinese« ist eine latente Bedrohung, H. C. Strache klopft noch rechtere Sprüche, und dennoch glaubt man in dieser sumpfartigen Suppe aus Ressentiments, Rassismus und Rechthaberei 10 SERVUS PIEFKE einen Wunsch zu spüren. Einen großen, fantastischen Wunsch. Nämlich den allgemeinen Wunsch, der Russe möge doch bitte den Eisernen Vorhang wiedererrichten. Das ist natürlich vereinfacht ausgedrückt, aber wenn man schon selber kein Weltreich errichten kann, so fühlt sich der Wiener doch am wohlsten, wenn ihn die Welt in Ruhe lässt. Oder anders gesagt: Kennen Sie den Witz von dem Mathematiker, der eine Schafherde einzäunen soll? Er löst das Problem, indem er sich in den Zaun einwickelt und sich als »außen« definiert. Ersetzen Sie einfach die Herde durch die Welt und den Mathematiker durch Wien -und schon haben Sie das Weltbild eines echten Wieners versandfertig. Aber warum schreibt dann ein Wiener, wenn er denn so ein hermetisch abgeschlossenes Weltbild hat, ein Buch über Deutschland? Leben wir nicht in Zeiten, wo sich - weiß Gott - wichtigere Themen anböten? Allein während der Arbeit an diesem Buch wurden mindestens zwei arabische Regierungen gestürzt, drei andere befinden sich in ernsthaften innenpolitischen Schwierigkeiten, in Japan hat die Erde gebebt, und der darauffolgende Tsunami hat einen atomaren Super-Gau ausgelöst, Griechenland ist pleite, Portugal, Irland und Spanien wahrscheinlich auch. Island und Bremen sowieso. Nationalismus und Chauvinismus feiern in ganz Europa fröhliche Wiederauferstehung, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nehmen zu, Großbritannien brennt, die Börsen wackeln, und Österreich hat es nicht einmal geschafft, sich für die Frauen-Fußball-WM zu qualifizieren. Es gäbe also wirklich ausreichend interessante und vor allem spannendere und wichtigere Themen als »Deutschland - und wie es ein Wiener sieht.« Ganz einfach: Weil ich nunmehr seit fast zehn Jahren in Deutschland an unterschiedlichen Orten gewohnt habe bzw. wohne und obendrein durch meinen Beruf Humorkaufmann, also Kabarettist, sehr viel durch das Land fahre. So war ich beispielsweise schon in Mock- 11 VORWORT mühl und Sartrup, und ich glaube, dass es nicht viele Menschen gibt, die schon an beiden Orten waren (abgesehen von meinen zahlreichen Kollegen, die auch dauernd unterwegs sind). Und daher wollt ich einfach mal klarmachen, wie ich das hier alles seh. Sozusagen als gegenseitige Standortbestimmung. Und natürlich kommt ein solches Buch nicht ohne Klischees aus. Ganz im Gegenteil: Ich werde mich darin suhlen. Klischees werden hier nicht nur zementiert, vielmehr werde ich sie auch ausschmücken, bebildern und wie in einer total angesagten Power-Point-Präsentation an die Wand werfen. Mit voller Absicht. Denn je unübersichtlicher die Welt wird, desto mehr erfreuen wir uns an Klischees, Stereotypen und solide gebauten Vorurteilen. Das gibt Sicherheit. In einem Klischee kann man so richtig baden. Sich hineinlassen. Darin schwelgen. Mit einem Satz: Da kann man sich wohl fühlen. In diesem Sinne: Viel Vergnügen auf der Reise durch unhaltbare Halb-wahrheiten, fröhliche Übertreibungen und sagenhafte Stereotypen. Es werden Ihnen haltlose Beleidigungen, gemeine Unterstellungen und unzulässige Verallgemeinerungen begegnen. Kommen Sie mit auf einen Trip durch das nationale Selbstverständnis, bei dem Ihnen so manche Hinterfotzigkeit aufs Brot geschmiert werden wird. Aber immerhin ist es gutes deutsches Schwarzbrot. Und nehmen Sie es - ganz gegen Ihre »deutsche« Natur - nicht zu ernst. Sie kennen doch die Wiener: Immer ein Hintertürchen offen ... Oder wie Schopenhauer gesagt hat: »Jede Nation spottet über die andere - und alle haben recht.« Ihr Severin Groebner 12 SERVUS PIEFKE 01/ Deutsche in Wien Piefke! Ich weiß es noch ganz genau: Es waren viele. Sie waren laut. Die ganze Straßenbahn dröhnte. Und sie waren betrunken. Sehr betrunken. Und fröhlich. Sehr fröhlich. Und sehr betrunken. Und sehr laut. Von Ostern bis Allerheiligen waren sie da und machten Umsatz und Lärm. Das waren die Deutschen. Also, wie sie bei uns in Wien heißen: Die Piefke. Und das ist korrekt geschrieben. Die Mehrzahl von Piefke heißt nämlich Piefke. Wer »Piefkes« sagt, ist selbst ein Piefke. So wie der Plural von Tschick auch Tschick ist und nicht Tschicks. Aber das führt zu weit. Zurück zur Straßenbahn. 13 KAPITEL NO. Ol DEUTSCHE IN WIEN Dieser Haufen plärrender, laut lachender, bisweilen singender Menschen mit vom Alkohol stark geröteten Gesichtern, das waren die Deutschen. Die Italiener waren auch laut, aber die fuhren meist eine Stunde früher heim und waren jünger. Obendrein sprachen sie Italienisch. Und die Amerikaner erkannte man daran, dass sie in kleineren Gruppen unterwegs waren, nie die öffentlichen Verkehrsmittel benutzten und als Erste kotzen mussten. Ich bin in der Nähe von Grinzing aufgewachsen, dem bekanntesten Weinort von Wien. Da lernt man diese Unterscheidungen fein zu treffen. Die Straßenbahn 38, genannt: der 38er, war mein Fluchtweg aus der stickigen Atmosphäre meines Elternhauses hinaus in die große Welt. Also eigentlich hinein in die Innenstadt, wo ich die große Welt vermutete. Und jedes Wochenende, von Frühling bis Herbst, war diese meine Straßenbahn vollgestopft mit betrunkenen Touristen aus der Bundesrepublik. Und wie laut die waren! (Hab ich das schon erwähnt?) Das geht gar nicht. Das sind Wiener nie. Nur bei häuslichen Streitereien und bei Wahlveranstaltungen. Da lassen wir die Sau raus. Aber doch nicht in der Freizeit. Abgesehen von der Lautstärke, die uns sensible Wiener Gemüter immer an den Einmarsch von 1938 erinnert (sonst kann sich das sensible Wiener Gemüt an gar nichts erinnern, nicht einmal daran, wo der kleine Herr mit dem Bart hergekommen ist - wir sind erst im Mai 1945 wieder aufgewacht...), waren die deutschen Touristen für mich und meine pubertierenden Freunde natürlich auch willige Opfer. In der Innenstadt haben wir ihnen die Votivkirche als Stephansdom angepriesen, wir haben ihnen den Wienfluss als Donaukanal verkauft, und wenn sie auf der Suche nach einer Straßenbahnstation, Sehenswürdigkeit oder einer öffentlichen Toilette waren, haben wir sie natürlich freundlich, mit Wiener Schmäh und einem charmanten Lächeln, über dem groß stand: »Glauben Sie mir, ich bin von hier«, konsequent in die entgegengesetzte Richtung geschickt. Ein bisschen Spaß muss sein ... 14 SERVUS PIEFKE Das Schönste an den Deutschen war allerdings, dass man sich mit ein wenig schauspielerischem und sprachlichem Talent als Deutscher ausgeben konnte. Natürlich nur in Wien. Bereits in Linz hätte der Trick nicht mehr funktioniert. In Salzburg erst recht nicht, die wissen genau, wie Deutsche klingen. Aber wenn man sich dann so richtig daneben benehmen wollte, dann schlüpfte man mal kurz in die Rolle eines »Duisburgers« oder »Hamburgers« oder in die des Einwohners einer anderen sehr, sehr exotischen Stadt. Denn eigentlich wussten wir sehr wenig von Deutschland. Irgendwie war es immer ein bisschen »bäh«! Das lag nicht unbedingt an den Besoffenen in der Straßenbahn. Das lag an einer diffusen Gefühlsgemengelage in uns. Die Deutschen? Das waren doch die Nazis gewesen! Und Atomkraftwerke haben sie auch. Überhaupt war das Land so groß. Und hatte einen Zugang zum Meer! Was irgendwie eine Frechheit war, da wir den unseren 1918 verloren hatten. Andererseits: Was waren das denn schon für Meere: Nordsee und Ostsee. So schön wie in »unserem« Triest (das längst zu Italien gehörte, aber so traurige Fakten stören uns Wiener nur kurz) kann es dort nicht sein. In unserer Vorstellung lag Hamburg in etwa am Polarkreis. Das mag jetzt seltsam klingen, aber das waren die Achtzigerjahre in Österreich, und unser Geografielehrer war wirklich die faulste Lehrkraft, die ich jemals erlebt habe. Umso erstaunter war ich, als ich mal einzelne Deutsche, nicht in Gruppen reisend, kennenlernen konnte. Da waren zunächst die Freunde meines Bruders, der in Marburg studierte. Er brachte sie ab und zu mit nach Hause. Das waren ruhige, höfliche Menschen, die in gewählten Worten deutlich über politische Themen sprachen: Nato-Doppelbeschluss, Gorleben, Wackersdorf und immer wieder Helmut Kohl. Der war nicht sehr beliebt, das verstand sogar ich, der mit seinem pubertierenden Schädel natürlich eigentlich ganz woanders war. Das Interessanteste daran war allerdings, dass diese Menschen argumentierten. Sie bellten einander nicht an, sie schütteten sich nicht gegenseitig mit lässigen Sprüchen und kaum versteckten Beleidigungen 15 KAPITEL NO. Ol DEUTSCHE IN WIEN zu, wie ich das von politischen Diskussionen in Wien gewohnt war, sie brüllten sich nicht nach spätestens zehn Minuten an, nein, sie diskutierten. Debattierten. Nahmen gegenseitig teil am Meinungsbildungsprozess des jeweils anderen. Und bisweilen sagte einer sogar zu seinem Gegenüber: »Da hast du recht.« Das war komplettes Neuland für mich. Diese Menschen kamen aus demselben Land, wie diese rotgesich-tigen Brüllaffen, die keinen Wein vertrugen? Später dann, ich weiß sogar genau, es war 1988, traf ich auf nochmal eine ganz andere Art von Deutschen. Es war auf der Kärntner Straße in Wien. Der zentralen Einkaufsmeile. Ach so, Verzeihung: Shopping-Area heißt das ja auf Deutsch. Eine Dame fragte mich in einer Art deutscher Sprache nach dem Weg. Aber es war kein Deutsch. Also nicht das, was wir Wiener unter »Deutsch« verstehen, das fast immer genuschelt wird, aber andererseits ausländischen Mitbürgern gerne ins Gesicht gebrüllt wird verbunden mit der Formulierung: »Faschtähst kaa Deitsch?« Es war aber auch nicht dieses bellende, kehlige Gegröle, das ich aus der 38er-Straßenbahn kannte. Es war etwas, das eigentlich nur sehr entfernt mit Deutsch verwandt sein konnte, und doch war es mir auf wundersame Art möglich, es zu verstehen. Es war Sächsisch. Ich war so verdattert, dass ich ihr sogar den richtigen Weg zeigte. Sie bedankte sich, und als sie schon wieder gehen wollte, hielt ich sie mit der Frage auf, wo sie denn eigentlich herkomme? Ihr Deutsch sei so ... anders. »Isch gomm aus Drähsden!« »Aus Dresden?«, wiederholte ich, »aber das liegt doch in der DDR?« Ich war mittlerweile durchgefallen und hatte jetzt endlich einen ordentlichen Geografielehrer bekommen. »Ja, nadürlisch.« »Aber ... äh ... da dürfen Sie doch nicht herumfahren ... also ... ausreißen ... äh ... ausreisen?« 16 17 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. Ol DEUTSCHE IN WIEN »Och, wir schon ... wir harn eene befrisddede Ausreisebewilligung begomm!« »Und da fahren Sie nach Wien?« »Jo sischä.« Also diese Deutschen waren mir auch nicht geheuer. Jahrzehntelang eingesperrt, und wenn sie dann mal raus dürfen, fahren sie nicht nach Paris, Rom, New York oder wenigstens an irgendeinen spanischen Strand, wo sie ihre Landsleute aus der Westzone treffen könnten, nein, sie fahren nach Wien! Der deutsche Leser muss wissen: Wir Wiener sind natürlich überzeugt, dass unsere Stadt die schönste der Welt ist. Genauso sind wir aber auch davon überzeugt, dass sie die beschissenste Stadt der Welt ist. Also sagen wir mal so: Wien ist die Hölle, und wenn es nicht so schön war, wären wir alle nicht mehr da - weil es aber so schön ist, halten wir es in diesem Drecksloch eben aus. Anders gesagt: Einen Wiener kann man mit der Definition von Descartes' Gefängnis als Bild unseres Daseins nicht schrecken. Das kennt er von Kindesbeinen an. Auf jeden Fall würde der Wiener nie in Wien Urlaub machen. Das machen nur Trotteln. Ausländer und Touristen. Wobei Letztere meist auch noch aus dem Ausland kommen. Aus Deutschland zum Beispiel. Ein Jahr später jedenfalls kamen sie alle. Lauter Deutsche. Aus Ungarn. Und wollten ... nach Deutschland. Und nicht zu uns. Da kam in mir der Gedanke auf, dass ich da vielleicht auch mal hinfahren sollte. Nun wohn ich selbst schon seit einigen Jahren in dem Land, das der Wiener zärtlich als »Piefkei« bezeichnet und fühl mich eigentlich ganz wohl hier. So richtig wohl natürlich nicht. Richtig wohl darf sich der Wiener gar nicht fühlen. Das geht nicht. Das ist ihm nicht in die Wiege gelegt. Da hätte er keinen Grund mehr sich zu beschweren, umanandazuseiern, zu raunzen und grantig zu sein. Und der Wiener fühlt sich nunmal nur wohl, wenn er sich nicht wohlfühlen kann. Manchmal hab ich allerdings auch Heimweh. Dann pack ich meine Freunde ein, und wir fahren nach Wien. Dann gehen wir zum Heurigen nach Grinzing. Und wenn meine Freunde dann besoffen mit mir im 38er nach Hause fahren und laut sind und betrunken und sogar fröhlich laut und betrunken, dann denk ich mir: Es gibt Dinge, die sich nie ändern. Und erfreue mich an den grantigen Gesichtern der Wiener, die uns missbilligend anschauen und sich denken: Die Piefke! 18 19 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 02 WIEN IN DEUTSCHLAND 02/ Wien in Deutschland Na servus! Was ich bei meinen ersten Besuchen in Deutschland erstaunlich fand, war: Wien ist in Deutschland sehr beliebt. Wien ist angesehen und wird freundlich gemocht - wenn auch nicht ganz für voll genommen. Also ungefähr genau das gegenteilige Gefühl, das die Wiener Deutschland entgegenbringen. Wien ist für die meisten Deutschen ein bisschen eine Märchenstadt. In dieser Zuckerbäcker-Architektur lässt es sich gut in vergangene Zeiten hineinträumen. Franzi und Sisi, Heurigenlieder und Hans Moser, Walzer und Weinseligkeit, ein bisschen Dekadenz, die man sich zu Hause nie erlauben würde, und einen schneidigen Leutnant dazu, den man hier auch mal unreflektiert »fesch« finden kann. Oder dufte. Oder endgeil. In vielen deutschen Hirnen ist Wien niemals im zwanzigsten Jahrhundert angekommen. Und das ist nicht nur kongruent mit den Sehnsüchten so mancher Wiener, vielmehr wird dieses Bild von der Wiener Fremdenverkehrswerbung weiter und weiter und weiter bedient. In der Vergangenheit sind wir eben Weltmeister. Freilich leben auch noch andere Klischees gut in deutschen Köpfen: Die Stadt des Todes, der Kult um die »scheene Leich«, die Morbidität, sozusagen Wien als Verwaltungssitz des Abgründigen, wo dich der Tod persönlich mit »Küss die Hand« und einem charmanten »Nehmen Sie doch einmal Platz, gnädige Frau!« begrüßt. Der Tod ist hier eine Art magersüchtige Mönchsversion von Peter Alexander. Und so werden auch die diversen Verbrechen in Österreich, die in schöner Regelmäßigkeit durch die Medien wandern, in ein folkloristisches Schubladerl gepackt: Kellerkinder, Inzest, Russenmafia, Faschisten in der Regierung ... ja, mei... die Österreicher. So sind sie eben. Die meinen das gar nicht bös, die können nicht anders. Und ein mildes Lächeln, das nicht ohne einen Schuss Bewunderung auskommt, erscheint auf dem deutschen Gesicht. Das ist ja auch verständlich, wenn man an den Philosophen Slavoj Zizek denkt. Denn der hat während des Jugoslawienkriegs die These formuliert, der Balkan sei so etwas wie das verdrängte Unbewusste Europas: Nationalistisch, brutal, engstirnig, anfällig für totalitäre Ideologien. Auf Wien und Österreich umgelegt, würde das bedeuten: Wir sind so etwas wie das verdrängte Unbewusste Deutschlands. Schlampig, gemächlich, hinterfotzig und voller seelischer Abgründe. Schließlich kommt Freud ja auch aus Wien - und nicht aus Castrop-Rauxel. Ansonsten - und das war die zweite Überraschung für mich - hat man in Deutschland keine große Meinung zu Wien oder gar Österreich. Über die politische Situation etwa ist der Deutsche ungefähr so gut 20 21 SERVUSPIEFKE KAPITEL NO. 02 WIEN IN DEUTSCHLAND informiert wie über die Börsenkurse von Dschibuti. »War da nicht mal dieser Haider?«, »Seid ihr eigentlich auch in der EU?«, »Wie heißt denn bei euch die liberale Partei?« Wozu auch? Der Deutsche muss dauernd im Konzert der Mächtigen mit Frankreich, England, USA und Russland mitspielen, mit China verhandeln, Indien besuchen, Brasilien beackern und alle zwei Jahre erneut einen vergeblichen Versuch starten, im Fußball Welt- oder wenigstens Europameister zu werden. Eine Meinung zu Österreich ist in all diesen Belangen vielleicht kein Hindernis, aber auch nicht zwingend erforderlich. Doch das Bild im Kopf bleibt. Österreich ist Alpen und Wien. Alpen sind Berge, das ist klar. Da wohnen die Raubritter, die einem die Durchfahrt nach Italien schwermachen und Wegezoll, den sie »Vignette« oder »Pickerl« nennen, abknöpfen. Und Wien sieht aus wie das Cafö Sperl. Denn immer, wenn im deutschen Fernsehen von Wien die Rede ist, gibt es Bildmaterial aus dem Cafe Sperl. Das heißt, alle Deutschen, die noch nie in Wien waren, gehen davon aus, dass ganz Wien holzgetäfelt ist, die Preise überteuert sind und draußen ein Fiaker wartet. Natürlich wartet vor dem Sperl kein Fiaker, aber in dem Fernsehbericht wird der immer anschließend ans Sperl draufgeschnitten. Das Rinterzelt, den Franz Josef-Bahnhof oder die Blaue Lagune in Vösendorf sieht man nicht. Solche Bilder würden in Deutschland auch nicht funktionieren. Da würden sich alle sagen: »Das ist Wien? Sieht ja aus wie zu Hause.« Ansonsten wird der Österreicher - und speziell der Wiener - nicht ganz für voll genommen. So geschah es kürzlich, dass ein Sprecher im Deutschlandfunk ein Paul-Hörbiger-Lied anmoderierte mit den Worten: »Er verkörpert in dem Lied den echten Wiener, charmant und lustig, aber auch vertrottelt und morbid.« Gut, dass das nicht in Wien zu hören war. Sonst war was los gewesen. Weil über Wien »fäun« (also: schimpfen, lästern), das dürfen nur die Wiener. Und auch wenn wir dem deutschen Gast gerne unser schönstes, freundlichstes Gesicht zeigen, sollte er darüber nicht vergessen: Wir haben auch noch unser echtes. Natürlich bietet es aber auch eine riesige Chance, dauernd unterschätzt zu werden. Und die Wiener, die in Deutschland leben, nutzen diese gerne. Und werden nebenbei Chef von RTL oder von Siemens, werden Zirkus-Direktoren oder wenigstens Buchautoren. Manche verkaufen auch blauäugigen, gutgläubigen bayrischen Bankern ein HAAG-Mil-liardengrab. Gut, das waren die Kärntner. Aber denen kann man doch nicht trauen. Das weiß man doch. Zumindest in Wien/Hätte man uns gefragt, wir hätten Ihna scho Bscheid gstessn. Aber das mit Schmäh. Deshalb sind wir ja auch so beliebt. 22 SERVUS PIEFKE 03/ Die Deutschen und das Brot Wes Brot ich ess... Wenn man mich fragen würde, was die deutscheste aller Tugenden ist, das was wirklich alle am meisten am Herzen berührt und sie eint, dann würde ich - noch lang vor dem ziellosen Fleiß, dem unbändigen Bewegungsdrang und der ach so liebenswerten Lautstärke - etwas anderes an die erste Stelle setzen: das Brot. Die Deutschen sind stolz auf ihr Brot. Sie lieben ihr Brot, so wie ihren Wald. Das ist logisch, hat ja auch beides dieselbe Farbe, das Holz und das Brot. Die Franzosen haben Baguette, die Italiener Ciabatta, die Österreicher Semmeln, die Tschechen haben ... Bier. Aber der Deut- 23 KAPITEL NO. 03 DIE DEUTSCHEN UND DAS BROT sehe hat Schwarzbrot, Graubrot, Mischbrot, Bauernbrot, Roggenbrot, Dinkelbrot, Sonnenblumenbrot, Pausenbrot, Brotzeit - und »Pumpernickel«. Ein tolles Wort. Es klingt in meinen wienerischen Ohren lieb, nett, süß, niedlich, und, wenn man dann einmal abgebissen hat davon, schmeckt es nahrhaft. Sehr nahrhaft sogar. Noch Jahrhunderte vor der Erfindung des Müsliriegels haben die Deutschen den Pumpernickel aus der Taufe gehoben. Schwarzes Brot, das auf sich eigentlich nichts duldet, was nicht mindestens ebenso intensiv schmeckt wie der Pumpernickel selbst. Auf den Pumpernickel eine dünne Scheibe zarten Ziegenkäse draufzulegen oder geräucherten Schinken, der ganz leicht nach Wacholder duftet, ist sinnlos, da der Pumpernickel Käse und Schinken geschmacklich sofort übernimmt - und zwar so, dass eine feindliche Übernahme an der Börse dagegen aussieht wie ein leichtfüßiges Tänzchen. Und wie an der Börse wird einer dabei draufgehen. Denn geschmacklich wird nichts übrig bleiben außer dem Pumpernickel. Deshalb kann man auf dieses Brot nur etwas drauflegen, das auch so in die Geschmacksnerven einmarschiert, wie es sich selbst auf der Zunge breitmacht: also Wurst in dicken Scheiben. Viel Wurst in dicken Scheiben, viel Wurst mit viel Senf, am besten noch Majo dazu und vielleicht noch eine dünne Scheibe Tomate - nicht wegen des Geschmacks, sondern damit es gesund ist, äh ... also so aussieht - und dann ist der Pumpernickel ordentlich belegt. Dann kann er schmecken. Wem er schmeckt. Das Wort selbst kommt im Übrigen einer Überlieferung nach aus dem Französischen. Die Franzosen, in Essensdingen bekanntlich völlig ahnungslos, haben angesichts dieses schwarzen Roggenbrots, das die Deutschen vor ihren Augen verspeisten, gemeint, das sei »bon pour Michel«, also gut für den Michel. Den deutschen Michel -und sonst niemanden. 24 25 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 03 DIE DEUTSCHEN UND DAS BROT Andere Quellen behaupten es heiße »bon pour Nickel«. Und Nickel war angeblich das Pferd Napoleons. Auch nicht unbedingt eine Empfehlung. Wieder andere meinten, Pumpernickel heiße »Teufel« oder, nach einem alten Wort für gasförmige Körperausdünstungen, »furzender Nikolaus«. Daran merkt man: Vom Pumpernickel hat man noch lange was. Überhaupt ist die Beziehung zwischen Sprache und Brot in Deutschland keine einfache. Nehmen wir nur einmal den Brotanschnitt, also das, was in Wien »Bugl« oder »Scherzerl« heißt, dafür hat man in Deutschland folgende Bezeichnungen zur Auswahl: Knerzel, Anschnitt, Timpken, Mürgel, Keyzl, Mürgeli, Aheuer, Anscherzl, Riebel, Riebele, Reiftie, Reiftchen, Gigele, Stützle, Gnetzla, Knorzen, Knörzla, Kipf, Kipfla, Knäppchen, Knäppele, Knüppchen, Knippchen, Knurrn, Knust, Knüstchen, Krüstchen, Knießchen, Knäuschen, Knäuzchen, Knörzchen, Ranfl, Ranft, Ränftl, Knäusperle oder Kanten. Nichtsdestoweniger - egal, welch seltsame unterschiedliche Dialekte die Menschen sprechen mögen, welch unterschiedlichen Religionen oder Fußballvereinen (dazu später) sie angehören mögen, wie konträr ihre politischen Meinungen auch sind - man nehme einen von ihnen heraus und stecke ihn in eine völlig fremde Weltgegend (ob Thailand, Guyana oder Mallorca ist jetzt gleich) und frage ihn nach einigen Monaten, was er dort am meisten vermisse. Dann werden alle, ohne Ausnahme, unabhängig von Alter, Geschlecht und sexueller Präferenz sagen: »So eine Scheibe richtig gutes deutsches Brot... das hätt ich gern wieder!« Und dann werden ihre Augen ein wenig zu glänzen beginnen. Dafür werden die Bürokratie und das Wetter nie genannt. Brot ist in Deutschland also gebackenes Nationalgefühl, die deutscheste aller deutschen Tugenden (warum hießen auch sonst so viele Menschen Müller?), und das ist etwas sehr Sympathisches. In welchem Land sonst kann man Tugenden bestreichen, belegen und schließlich aufessen? Das ist doch endlich eine Tugend, die einen Sinn hat. In diesem Sinne: Guten Appetit! 26 i 27 .'5 SERVUS PIEFKE 3 KAPITEL NO. 04 DEUTSCHLAND UND DIE WAHRHEIT 04/ Deutschland und die Wahrheit Ehrlich! Als Wiener lebt man ja grundsätzlich in dem Glauben, dass man den Piefke überlegen ist. Nicht im Fußball, nicht wirtschaftlich und auch nicht bei der korrekten Aussprache deutscher Wörter (aber das würden wir nie zugeben!), doch auf jeden Fall beim Schmäh. Unser Schmäh ist eine Luftbrücke, die uns über die Abgründe des Alltags hinweg mit lebenswichtigen Gütern versorgt. Säckeweise wirft er »Des wird si scho ausgehn«-, »Des schau ma dann, wann ma so weit sand«- und »Nur kaane Wöhn!«-Rationen ab. (Das wird schon klappen/Das werden wir sehen, wenn wir einmal so weit sind/Nur keine Eile!). Warum - um diesen alten Spruch zu bemühen - ist die Lage in Deutschland vielleicht bisweilen ernst, aber nicht hoffnungslos, während sie in Wien zwar hoffnungslos, aber niemals ernst ist? Wegen dem Schmäh (»dem« ist in diesem Fall korrekte Wiener Grammatik. Das können Sie sich Ihnen hinter die Ohren schreiben. Und das war auch idiomatisch korrekt). Wenn erst einmal der Schmäh rennt, dann -so sind wir uns sicher - wird der Rest auch rennen. Irgendwie. Deshalb ist der Wiener Schmäh eine Allzweckwaffe, die uns unbesiegbar macht. Glauben wir. Und ich musste lernen, dass das nicht immer so ist. Es war Mitte der Neunziger und ich musste nach Berlin. Zu einer jungen Dame. Ich steig aus dem Nachtzug aus und geh dann zur S-Bahn. Die erreiche ich mit Hängen und Würgen und meinen beiden zu großen Taschen. »Glück gehabt!«, sag ich mir, und da antwortet mir eine Stimme aus dem Wageninneren: »Die Fahrausweise bitte!«. Daran hatte ich nicht gedacht. Meine Fahrkarte von Wien bis Berlin hatte ihre Schuldigkeit getan, aber dass die Berliner S-Bahn auch noch etwas von mir will... daran hab ich nicht gedacht. »Ihre Fahrkarte bitte, junger Mann!« »Ja ... also es ist so ... wie Sie sehen, bin ich gerade erst angekommen, und ich hab es sehr eilig und deshalb ...« »Und deshalb?«, der Kontrolleur wirkte nicht sehr beeindruckt. »Naja, wie soll ich sagen, ich dachte, meine Zugfahrkarte würde hier auch noch gelten ...« »Kennen Sie sich denn so gut aus im Berliner Nahverkehr?« »Wie? Nein? Ich bin erst das zweite Mal da.« »Wollen Sie vielleicht die Tarifbestimmungen des BVG neu verfassen?« »Ich, nein, wieso?« Ich war völlig verwirrt. In Wien hätte mich der Kontrolleur schon angeschnauzt oder mich einfach reden lassen, 28 SERVUS PIEFKE während der hier sich in aller Ruhe auf ein Gespräch mit mir einzulassen schien. »Naja, wenn Sie das nicht wollen, ich will es auch nicht.« »Jaha ... da haben wir schon was gemeinsam, hehe!«, versuchte ich es mit der simpelsten Verbrüderungstaktik. »Doof nur, dass sie dann so bleibt wie sie ist.« »Wer?« »Na, die Tarifbestimmung. Und da steht nun mal drinnen, dass man einen gültigen Fahrausweis braucht und nicht mit der Fahrkarte der Deutschen Bahn fahren kann.« »Ja ... blöd!« »Genau. Also daher zurück zu meiner ersten Frage: »Haben Sie einen gültigen Fahrschein?« Der ließ nicht locker. Ganz im Gegenteil. Er schnürte mich mit seiner ruhigen, sachlichen, aber unnachgiebigen Haltung ein. Trieb mich in die Ecke. Er war die Katze, die noch ein wenig mit der Maus spielen wollte. Aber kampflos wollte ich mich nicht ergeben. »Aber Sie müssen verstehen, ich musste ganz dringend hierher. Mein Vater, es geht ihm nicht gut. Er lebt hier. Sie müssen wissen, also von Geburt her bin ich eigentlich ein halber Berliner. Also einer von Ihnen, sozusagen, hahaha ...« »Na, da beglückwünsche ich Sie mal. Ich komme aus Rostock!« Mist. Daneben. Die Katze kam schon wieder näher. »Rostock? Soll ja sehr schön sein! Wenn nicht gerade wieder Asylantenheime brennen ... aber das tun sie ja schon lange nicht mehr.« »Wie sieht das eigentlich mit Ihrem Fahrschein aus?« »Genau. Mein Fahrschein. Den hätte mir mein Vater eigentlich schicken sollen. Also er hat mir gesagt, dass das kein Problem ist, weil er ja hier bei der Bahn arbeitet.« »Ah, der Herr Vater ist ein Kollege?« Die Katze war sich einen Moment lang nicht mehr sicher, ob sie die Maus immer noch verspeisen wollte. 29 KAPITEL NO. 04 DEUTSCHLAND UND DIE WAHRHEIT »Jajajaja, der arbeitet hier bei der Deutschen Bahn. In Berlin. Hier in der Zentrale.« »Und der ist eigentlich Berliner? Hat der so einen Schnauzer?« Mein Vater hatte noch nie einen Schnauzer, war begeisterter Autofahrer und hasste Berlin, also antwortete ich mit: »Ja! Wie ein Walross!« »Und der hat eine Familie in Wien?« »Ja, nein, offiziell nicht. Sie verstehen? Offiziell bin ich gar nicht sein Sohn. Also seine Familie weiß nichts von mir.« Was redete ich da? Das war nicht mehr improvisieren, das war schon Fieberwahn. »Also meine Mutter und mein Vater haben sich während des Krieges kennengelernt. Im total zerbombten ...« Ich hatte eindeutig zu viele SAT1 -Historiendramen gesehen. Da nahm die Katze die Witterung wieder auf. »Während des Krieges? Im zerbombten ... was? Berlin? Wien? London? Oder doch Odessa?« Was wollte dieser Kontrolleur von mir? Warum erledigte er sein Opfer nicht endlich mit einem gezielten Prankenschlag und einem Zahlschein, um dann neue Fahrgast-Mäuse zu jagen, die widerrechtlich seinen fahrenden Raubtierkäfig betreten hatten. Ist Berlin die Stadt der interrogativen Kontrolleure? Hab ich noch nirgendwo gelesen. »Lassen Sie mich doch ausreden: Während des Vietnam-Krieges, natürlich!« »Natürlich.« Der heiße Atem der Katze entfernte sich wieder ein wenig. »Ja, mein Vater und meine Mutter haben sich bei einer Anti-Vietnam-kriegs-Demo in Wien« - gab's so was jemals? - »kennengelernt. Er war Austauschstudent der Ostberliner Technischen Universität in Wien und sie hatte gerade mit ihrem bürgerlichen Elternhaus gebrochen. Es war eine wilde Amour fou! Ich bin sozusagen das Produkt politischsexueller Leidenschaft!« Und plötzlich nicht mehr das durchschnittliche Wiener Vorstadtkind aus dem Gemeindebau. »Und Wien war damals noch zerbombt?« 30 SERVUS PIEFKE »Quatsch! Nein, so lassen Sie mich doch ausreden! Während des großen Bombenangriffs auf Pnom Penh, der die Stadt völlig zerstört hatte, wurden sich meine Eltern ihrer doch beschränkten politischen Einflussnahme bewusst. Sie fragten sich, was ihre Überzeugung und ihr Wille zum Widerstand denn überhaupt halfen, so weit weg noch dazu, wenn der übermächtige Gegner über Panzer und Flugzeuge verfügte. Ja, was sind schon Worte und Argumente gegen Kugeln und Bomben.« »Gute Frage.« Die Katze schien wirklich gebannt. »Ja ... und diese Erkenntnis hat sie traurig gemacht. Diese Ohnmacht. Und so haben sie sich in einer kalten Winternacht, während draußen die Schneeflocken fielen wie Bomben auf die wehrlose Bevölkerung von PnomPenh, aneinandergekuschelt, einander gewärmt und geliebt, um einander ein wenig Hoffnung und Licht zu spenden.« Der Kontrolleur schluckte. Und tat so, als hätte er etwas im Auge. Die Katze war besiegt. Aber ich wollte die Sache noch zu Ende bringen. »Nur wenige Tage später war das Austauschsemester zu Ende. Mein Vater musste zurück nach Berlin. Meine Mutter blieb zurück: allein und schwanger. Denn sie waren getrennt von just jener Politik, die sie erst zusammengebracht hatte. Später hat mein Vater dann bei der Bahn angefangen und eine eigene Familie gegründet. Und meine Mutter musste mich ganz alleine großziehen. Und jetzt hat mich eben vor wenigen Tagen die Nachricht erreicht, dass mich mein Vater sehen will. Zum ersten Mal, verstehen Sie? Mein Vater, der Eisenbahner ...« »In der Zentrale der Deutschen Bahn?«, fragte die Katze seltsam munter. »Ja, sagte ich doch schon.« »Da müssen Sie aber nach Frankfurt. Dort sitzen die nämlich.« »Ah, so.« »Und in der DDR gab es keine Austauschstudenten aus Österreich. Das war kapitalistisches Ausland.« »Tatsächlich?« 31 KAPITEL NO. 04 DEUTSCHLAND UND DIE WAHRHEIT »Und Pnom Penh ist die Hauptstadt von Kambodscha. Das liegt nicht in Vietnam.« »Also ... was Sie da sagen, ist ja ... entsetzlich! Meine Eltern haben mich belogen!« »Tragisch. Aber eines würd ich gern noch wissen ...« »Was denn?« »Besitzen Sie einen gültigen Fahrausweis?« Letztendlich bekam die Katze 60 DM. Bar. Bedankte sich und verließ mich zerzauste Maus mit den Worten: »Aber schöne Geschichten können Sie erzählen.« Der Berlin-Aufenthalt war dann auch im weiteren Verlauf eher unerfolgreich. Die junge Dame war weitaus weniger an mir interessiert als ich an ihr. Ich verlor meine Brille in einer Kneipe, von deren Namen ich nur noch wusste, dass da ein X drin war. Und es regnete vier Tage am Stück. Als ich aber am letzten Tag halbblind den Zug nach Wien bestieg, schlug ich im Abteil eine Berliner Zeitung auf, und auf der Chronik-Seite stach mir die Überschrift ins Auge: »Falscher Kontrolleur zockt S-Bahn-Fahrer ab.« Darunter das Bild eines Mannes, der ein wenig wie eine Katze aussah. 32 SERVUS PIEFKE 05/ Deutschland und der Humor Was gibt's da zu lachen? Wenn ich - als Wiener, der noch dazu seinen Lebensunterhalt damit bestreitet, Menschen zum Lachen zu bringen - über Humor in Deutschland etwas sagen will, betrete ich natürlich vermintes Gelände. Publikum und Kollegen werden jedes meiner Worte in die Waagschale werfen, kritisch beäugen und auf Bissfestigkeit prüfen. Dieses Kapitel ist also heikel, fragil, tänzelt am Rande des Abgrunds dahin, und doch wird irgendwer mit Sicherheit behaupten, dass man das so nicht sagen könne. Letztendlich ist es zum Scheitern verurteilt. So betrachtet, ist es also auch wieder wurscht. Dann kann ich ja richtig tief in die Klischee-Kiste greifen. 33 KAPITEL NO. 05 DEUTSCHLAND UND DER HUMOR Ein in Wien weit verbreitetes Vorurteil besagt nämlich, das dünnste Buch der Welt sei das des deutschen Humors. Das ist nicht richtig. Das Buch des deutschen Humors wäre ein sehr dickes. Es wäre eng beschrieben, auf Tausenden Seiten, und hätte ganz unterschiedliche, inhomogene, nicht zusammenpassende Kapitel. Es wäre also diesem nicht unähnlich. Nur viel, viel dicker. Zunächst wäre es voller harter, unangenehmer, gut recherchierter Fakten. Es wäre aufklärerisch, lehrreich und würde mit spitzer Zunge, Feder oder eigens dafür geschärfter Fingerspitze Missstände knallhart anprangern. Es wäre angefüllt mit Analysen, Aufrufen, Appellen und unangenehmen Wahrheiten. Und mit vielen Statistiken und - wahrscheinlich - Tortendiagrammen. Es wäre ein großes Werk. Epochal. Ein Standardwerk. Es wäre also ein bisschen anstrengend. Denn Humor hat in Deutschland immer einen Mehrwert. Denn es ist gut, wenn - wenn man in Deutschland schon seine Zeit mit Lachen verplempert - auch etwas zum Lernen dabei ist. Darum hat der Deutsche auch das Themen-Kabarett erfunden und den humoristischen Reiseführer, das lustige Selbsthilfebuch und außerdem den satirischen Blick auf Land, Nation und Politik. Auch das Wirtschaftslexikon zum Schmunzeln ist sicher bereits in Arbeit. Manchmal lässt er es sogar zu, dass ausländische Humor-Gastarbeiter ein Buch über die »Piefke« schreiben, wenn er sich einen Erkenntnisgewinn davon verspricht. Und sollten einmal »Das große Buch der hochkomischen Geologie« und »Mineralienkunde zum Ablachen« auf den Markt gebracht werden, dann wird das mit Sicherheit in Deutschland sein. Denn das deutsche Publikum liebt Edutainment. Das ist ungefähr ein witziger Volkshochschulkurs, aber ohne eine Volkshochschule betreten zu müssen. Ich merke das immer, wenn ich auf die Frage: »Und was machst du so beruflich?«, antworte mit: »Ich bin Kabarettist!«. Denn dann kommt stets als erste Rückfrage: »Und? Was sind so deine Themen?« In Wien sind die Reaktionen anders. Da heißt es entweder: »Ich 34 SERVUS PIEFKE find Kabarett ja scheiße.« oder »Echt? Kennst du den Hader persönlich?«. Immerhin wird man nicht gefragt: »Ah! Kabarett! Politisch oder nackt?« In Deutschland ist das von vornherein klar. Denn hier hat der Kabarettist noch eine Aufgabe. Das Kabarett muss Missstände aufdecken, Namen nennen und sie alle durch den Kakao ziehen, die Mächtigen: die Merkels, die Putins, die Ackermanns, die Siemens, die Bild-Zeitungs, die Lobbys, die Medien, die Parteien, die EU, die Weltbank, die ölfirmen, die Pharmakonzerne ... fehlt noch was? ... ah ja: die Biotech-Unternehmen, die Finanzbroker, die Versicherungen, die multinationalen Konzerne und alle anderen Verbrecher. Die kriegen im Kabarett ihr Fett weg. Die werden eingeseift und abgewatscht, und das Publikum lacht und klatscht vor Vergnügen und hält sich die Bäuche und freut sich und streut dem Künstler Rosen und jubelt und lobt und tobt. Und dann geht es hinaus auf die Straße und nach Hause und macht genau so weiter wie vorher. Denn man war ja heute schon dagegen. Ein Mal in der Woche zwei Stunden, das muss reichen. Und dafür gibt es das Kabarett. Das ist so etwas wie Humor-Ablass-Handel. Und schon wieder hat der Humor seinen Mehrwert. Aber vielleicht versteh ich da auch etwas nicht. Womit ich aber auch nicht allein bin. Denn die Deutschen verstehen ihren Humor selbst nicht. Oder besser: Es verstehen alle etwas ganz Verschiedenes darunter. Nehmen wir nur mal Menschen wie Mario Barth oder Oliver Pocher. Viele finden das lustig. Und mindestens ebenso viele verstehen nicht, was daran lustig sein soll. Was wiederum ich verstehe. Andere Humoristen haben dafür mit ständigen Vorwürfen wegen Geschmacklosigkeit, Verächtlichmachung von Symbolen, Blasphemie und der Empörung, dass man das doch so nicht sagen könne, zu kämpfen. Was ich wiederum nicht verstehe, weil es doch gerade ge- 35 KAPITEL NO. 05 DEUTSCHLAND UND DER HUMOR nauso gesagt wurde, was ja zeigt, dass man das durchaus so sagen kann. Das bleibt dann aber bisweilen nicht nur beim lautstarken Protest. Das geht dann auch gerne mal bis vor Gericht. Da muss man gar nicht Tucholsky und den »Weltbühne-Prozess« bemühen, da reicht der Hinweis, dass die Satire-Zeitschrift »Titanic« einen Rechtsanwalt hat, dem selten langweilig ist. Und dann gibt es noch das Unverständnis untereinander. Die Bayern finden die Rheinländer zu platt, die Rheinländer die Berliner zu arrogant, schnöselig und politisch korrekt. Die Menschen an den Küsten halten sich für sophisticated, alle anderen sie für langweilig, depressiv und maulfaul. Die Bayern wiederum sind allen anderen grundsätzlich zu derb, und die Schwaben glauben, dass die Sachsen niemals lachen. Was die Sachsen ganz lustig finden. Denn die Schwaben versteht eh keiner. Genauso wie die Sachsen. Worüber das Saarland lacht, interessiert keine Sau. Und in Brandenburg gibt es gar keinen Humor. Man betrachte nur die Wirtschaftsdaten und die Mundwinkel der Kanzlerin (die ist dort aufgewachsen), dann weiß man auch, warum. Aber das alles sind natürlich nur Teilaspekte dieses riesigen Themenkomplexes. Man müsste das vielleicht mal wissenschaftlich angehen, Forschungsgruppen gründen und die Frage aufs Genaueste untersuchen, wie und woher diese Heterogenität des deutschen Humors kommt. Wahrscheinlich könnte man damit mehrere Habilitationsschriften füllen. Die brächte man dann als Sammelband heraus und das Buch hieße: Der deutsche Humor. Und es wäre sehr, sehr dick. 36 06/ Die Deutschen und der Karneval Tataal Tataal Tataal Aber wenn wir schon beim Humor sind, dann lassen Sie mich noch tiefer einsteigen. Sozusagen in den Orkus. Denn in Deutschland gibt es ein Phänomen, das offenbar ausschließlich erfunden wurde, um ausländische Humor-Arbeiter abzuschrecken. Was für den Asylbewerber die Internierung in einem »Ausreisezentrum« ist, ist für den Wiener die Tatsache, dass sich das Publikum in der Wahlheimat ein Mal im Jahr erhebt. Revoltiert. Die Verhältnisse umdreht. Denn dann ist es selbst lustig. Denn dann ist Karneval. Nie wird mir schmerzlicher bewusst, dass ich in Deutschland ein Ausländer bin, als am Donnerstag vor Aschermittwoch. 37 KAPITEL NO. 06 DIE DEUTSCHEN UND DER KARNEVAL Denn zur Weiberfastnacht, wie das ja hierzulande heißt, läuft im Fernsehen Karneval aus Düsseldorf, Köln oder Mainz oder - am allerschlimmsten - aus Franken. Und dabei darf dann jeder Giftmischer, Reinigungsfachmann oder BWL-Student selbstverfasste Gedichte vortragen. Deren Versmaß erinnert einen oft an einen dreibeinigen Hund beim Gassi gehen, und das Humorniveau wirkt, als wäre es beim U-Bahnbau freigelegt worden. Es herrscht lang geplante Fröhlichkeit, vereinsmäßig strukturiert, straff organisiert wie die Bundeswehr (nur ohne Afghanistan und rohe Leber), und diese tritt auf als das Exekutionskommando des Frohsinns bei der Erschießung des Feinsinns: Tusch! Der Humor ist dieser Tage in der Geiselhaft der muffigen Bieder-meierlichkeit, die sich zu diesem Anlass einen lustigen Hut aufgesetzt hat. Nach jeder nicht vorhandenen Pointe erschallt es: »Tataa! Tataa! Tataa!«, damit auch der Autoverkäufer im Publikum weiß, wann er rhythmisch Luft auszustoßen hat. Denn hier ist alles gut gelaunt, da alles in Stimmung ist, weil es ja gar nicht anders geht. Wie anders ist da doch das Fernsehprogramm in Österreich. Da ist Opernball und die versammelte Prominenz, oder was sich dafür hält, muss da hin. Zerstörte Gesichter mit meterdicker Schminke notdürftig übertüncht, Industriemagnaten ohne Verantwortung, Waffenhändler ohne Gewissen, Politiker ohne Macht und ein Staatsoperndirektor ohne Skrupel geben sich mühsam lächelnd die Hand oder umarmen einander in größtmöglicher Geringschätzung. Die Damen busseln sich ab, da es verboten ist, einander mit vergifteten Haarnadeln zu erstechen oder die Inneneinrichtung der Staatsoper auf sonstige Weise mit Blut zu bespritzen. Das darf man nur auf der Bühne und muss dabei singen können. Allerdings wurden als Ausgleich dafür die Ballkleider erfunden. Damit kann man sich selbst wenigstens den gesellschaftlichen Tod zufügen. 38 SERVUS PIEFKE Denn niemand ist gerne da, doch jeder muss da sein, weil es ja anders gar nicht geht. Und ich switch zwischen den Kanälen hin und her und sage mir: »Das ist beides abstoßend, ekelhaft und unwürdig - aber das eine kenn ich von zu Hause.« Der Unterschied hier ist: In Österreich feiert sich die Obrigkeit selbst und merkt nicht, wie sehr sie sich unendlicher Lächerlichkeit preisgibt. In Deutschland hingegen machen sich die Leute über die Obrigkeit lustig und merken nicht, wie tief sie selbst in die ewige Würdelosigkeit sinken. Und als überzeugter Demokrat kann man nicht dafür sein, dass sich das Wahlvolk selbst schadet. Dafür hat es schließlich Volksvertreter. Und als Humorist kann man es obendrein schon gar nicht befürworten. Es geht einfach nicht an, dass sich ein Mal im Jahr das Publikum erhebt und selbst lustig ist. Nein. Das Publikum hat zu zahlen, zuzuhören und dann wieder nach Hause zu gehen. Wo kommen wir denn da hin? Das würde sich auch jeder andere Mund ... äh ... Handwerker verbieten. Oder anders gesagt: Wer, wenn er eine Scheibe Schinken haben will, würde glauben, er könnte das Schwein auch selbst schlachten. Niemand. Aber beim Humor probiert man es trotzdem. Da tritt plötzlich die Totengräberin der Dienstleistungsgesellschaft auf den Plan: die Baumarkt-Fraktion. Und die sitzt dann auch im Publikum der Karnevalssitzungen. Da herrscht die »Lustig? Das kann ich auch selber!«-Mentalität vor. Jetzt ist es lustig, jetzt wird die Sau rausgelassen! Die Sau! Die heimliche Herrscherin des Karnevals. Und jetzt schneiden wir uns unseren Schinken selber ab. Mit der Kreissäge, wenn es sein muss. Da wird dann der Scherz mal mit der Hilti angepackt, die Satire mit Blitzzement passend gemacht. Die leise Ironie zum Sofa passend ausgesucht. Und auf die Pointe, auch wenn sie da gar nicht hineingehört, solang eingedroschen, bis sie sitzt. 39 KAPITEL NO. 06 DIE DEUTSCHEN UND DER KARNEVAL Was nicht passt, wird passend gemacht. Es gibt immer was zu tun. Tataa! Tataa! Tataa! Aber nur bis Aschermittwoch - dann ist alles wieder gut und brav und gesittet. Und sehr unspaßig. Denn wir sind in Deutschland, und da hat sogar der Spaß seine Ordnung. Wie anders doch der Karneval in Wien: Erstens heißt er Fasching. Und zweitens ist er unauffällig. Erst wenn man am Faschingsdienstag auf die Post geht, bemerkt man, dass die Frau hinter dem Schalter, die einen immer so unfreundlich anschaut, sich heute eine verwackelte Micky Maus ins Gesicht gemalt hat. Aber unfreundlich ist sie immer noch. Das war's. Sonst passiert nichts. Den Spaß hat man ja schon am Donnerstag gehabt, beim Opernball. Am Dienstagabend bleibt dann noch ein bisschen Platz für ein kleines Besäufnis. Aber das ist nichts Besonderes in Wien. Das machen wir öfter. Und so fliehe ich, soweit es geht, jedes Jahr vor der organisierten Karnevalität. In die Heimat. Dort sitz ich dann am Faschingsdienstag zusammen mit einem guten Freund in unserer Stammkneipe und wir schildern uns gegenseitig unsere Depressionen. Das Bier ist reichlich und die Stimmung angenehm ruhig. Einem Friedhof nicht unähnlich. So haben wir das gern in Wien. Und sollte tatsächlich einmal die Tür auffliegen, ein verkleideter Mensch ins Lokal stolpern und mit sich überschlagender Stimme schreien: »Fasching! Es ist Fasching!«, dann weiß ich, dass das ganze Lokal wie aus einer Kehle plärren wird: »Geh, gusch und schleich di, du Trottel!« Dann bin ich zu Hause. Denn so etwas Schönes gibt's nur in Wien. Taaaataaaa taaaataaa taaataaa! 40 41 SERVUS PIEFKE 07/ Deutschland und die Effizienz Das ist doch praktisch! Es war vor ein paar Jahren: In meinem Haus wurde ein Aufzug eingebaut. Das wäre praktisch, meinte der Vermieter. Denn da müssten die alten Herrschaften im Haus nicht mehr so viele Stiegen steigen und auch die jungen, wenn sie mal vollbepackt mit Einkaufstüten oder Kinderwägen - oder beidem - nach Hause kämen, wären doch froh, wenn sie der Aufzug ein paar Stockwerke hinauftragen würde. »Praktisch, nicht wahr?«, insistierte er. Sehr praktisch! Und er hätte dann auch die Berechtigung, die Miete zu erhöhen. Dachte ich mir jedenfalls. KAPITEL NO. 07 DEUTSCHLAND UND DIE EFFIZIENZ Also wurde ein Stahlgerüst für den Aufzug in den Hof gestellt und die hofseitigen Treppenhausfenster zu Einstiegstüren ausgebaut. In allen fünf Stockwerken. Die praktischen Folgen waren monatelange Staubbelastung, der Lärm von Stemmarbeiten mit Hiltis, kreischende Metallsägen, mehrere unbeabsichtigte Stromausfälle im ganzen Haus, Zementsäcke in den Treppenfluren, wochenlanger Gesang von Steinbohrern, die versuchten, sich gegen die Hausmauer durchzusetzen und andere Dinge, die einem den Alltag versüßen, wenn man gerade ruhebedürftig ist oder versucht, zu Hause lustige Texte zu schreiben. Positiv formuliert: Sehbehinderte und Gehörlose hätten kaum einen Unterschied bemerkt. Doch irgendwann, nach gefühlten Äonen, in denen ich von meinem Balkon aus gleich mehrere süd- und osteuropäische Sprachen hätte spielerisch lernen können (deren Sprecher aber sicher vollkommen anständig bezahlt wurden und selbstverständlich krankenversichert waren, schließlich ist die Bauwirtschaft ja international bekannt für ihre soziale Ader), also nach schier endloser Zeit war er doch tatsächlich fertig, der Aufzug. »Jetzt sei doch nicht so!«, sprach die Dame meines Herzens in mein unfröhliches Gesicht: »Wenn man mal viel zu tragen hat, oder wenn wir mal umziehen wollen, ist doch so ein Aufzug durchaus praktisch!« Das Problem dabei ist ein kulturelles. Denn »praktisch« ist ein Wort, das in Wien ganz anders ausgelegt wird als in Deutschland. In Deutschland ist etwas praktisch, wenn es dir hilft, etwas zu tun, was du tun musst. In Wien ist etwas praktisch, wenn ein anderer etwas tun muss, was eigentlich du tun müsstest. Denn dann hast du nichts zu tun. Und das ist praktisch. Die Einstiegstüren für den neuen Aufzug waren in den Zwischengeschossen angesiedelt: Zwischen Parterre und erstem Stock war die eine, zwischen erstem und zweitem Stock die nächste, zwischen zweitem und drittem die dritte ... und so weiter. 42 j 43 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 07 DEUTSCHLAND UND DIE EFFIZIENZ Nun war es so, dass die älteste Frau im Haus, Frau Zank, im ersten Stock wohnte. Darüber die junge Familie Neubacher mit ihren beiden Kindern. Beide Parteien kannten sich gut, da sie es liebten, ständig Konflikte wegen gegenseitiger Lärmbelästigung auszutragen. Frau Zank fühlte sich nämlich durch das Kindergetrampel über ihrem Kopf gestört. Andererseits war sie aber derart schwerhörig, dass sie den Fernseher in Stadionlautstärke laufen ließ, um friedlich davor einzuschlafen. Im Gegensatz zu den Kindern von Familie Neubacher. Und wer regelmäßig in den unfreiwilligen Genuss des Soundtracks eines Rosamunde-Pilcher-Films kommt, dessen Verständnis für die Leistungen der vorangegangenen Generationen wächst nicht ins Unermessliche. Nun aber war Friede zwischen den Parteien eingekehrt. Denn die beiden hatten ja jetzt einen gemeinsamen Feind: den praktischen Aufzug. Für die junge Familie war er unbrauchbar, da die Aufzugskabine derart klein geraten war, dass Vater oder Mutter entweder die zwei Kinder oder den Kinderwagen darin verstauen konnte, aber niemals beides zugleich. Kaum oben angelangt, musste er oder sie also sofort wieder runter, um das verbliebene Fahrzeug oder Kind auch noch hinaufzuholen. Statt ein Mal mühsam hinauf, mussten sie jetzt also hinauf, hinunter und wieder hinauf. Das kam der Familie Neubacher nicht sehr praktisch vor. Und für Frau Zank war der Aufzug schlicht sinnlos, da sie im ersten Stock wohnte. Das bedeutete, sie konnte entweder zwei Treppen (vom Parterre übers Zwischengeschoss zum ersten Stock) hinaufgehen, oder sie konnte eine Treppe zum Zwischengeschoss hinaufgehen, ein Stockwerk mit dem Aufzug fahren, um dann vom Zwischengeschoss wieder eine Treppe zum ersten Stock hinunterzugehen. In Anbetracht ihres hohen Alters war ihr aber das Hinuntergehen weitaus lästiger als das Hinaufsteigen, also mühte sie sich die Treppen hoch - wie vorher auch. »Praktisch!«, sagte ich nur zu meiner Freundin, als sie mir das Leid von Frau Zank, die sie im Treppenhaus getroffen hatte, schilderte. Letztendlich wurde der Aufzug aber von niemandem im Haus wirklich benutzt. Er war nämlich dauernd kaputt. Im Schnitt drei Mal die Woche. Das merkte ich daran, dass ich, während ich auf dem Balkon saß, um ein Buch zu lesen oder Basilikum zu ernten oder einfach nichts zu tun (das mach ich nämlich gerne), in regelmäßigen Abständen Arbeitsgeräusche wahrnahm. Es wurde geschraubt und gehämmert, Abdeckungen entfernt und wieder platziert, Stahlseile und Leitungen überprüft, und am Ende des Tages stand meistens ein Mensch in Arbeitsmontur mit einem großen gelben Steuerungsmodul in der Hand auf dem Aufzug und fuhr mit ihm in dem gläsernen Aufzugsschacht hoch und runter. Das sah durchaus nach Spaß aus. In fremden Innenhöfen durch gläserne Türme rauf und runter zu fahren und den Leuten in die Küche (oder sonstwohin) zu schauen, das musste lustig sein. Praktisch, wenn man Hobby und Beruf so verbinden kann, dachte ich mir. Am Abend war der Mensch verschwunden. Tags darauf war der Aufzug ab dem Nachmittag wieder kaputt, und einen Tag später war wieder ein Typ in Arbeitsmontur da, der auf unserem Aufzug im Innenhof rauf- und runterfuhr. Natürlich nicht derselbe Typ. Es war jedes Mal ein neuer. Ich fragte mich mit der Zeit, ob jeder Mitarbeiter der Service-Firma ein Mal drankommen durfte. Möglicherweise war unser Aufzug in Aufzugstechnikerkreisen bereits als Event-Tages-Urlaub zu buchen? Denkbar wäre, dass sie intern schon Wertungen über Balkonbepflanzungen und Beschaffenheit der Wäscheständer austauschten und sich gegenseitig darüber informierten, wann die Studentin im fünften Stock gegenüber ihre Gymnastikübungen machte. Aber die sollten ruhig ihren Spaß haben, schließlich machte ihr Chef mit den dauernden Reparaturen sicherlich das Geschäft seines Lebens. »Praktisch für ihn«, sagte ich zu der Dame meines Herzens, die mir allerdings kaum 44 45 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 08 DEUTSCHLAND UND SEINE STRUKTUR zuhörte, da sie von den ständigen ungebetenen, Aufzug fahrenden Zaungästen am Balkon bereits ziemlich genervt war. Und dann kam doch noch der Brief vom Vermieter. Er verwies darin auf den großartigen neuen Aufzug, die dadurch gesteigerte Lebensqualität und bat um Verständnis dafür, dass sich so eine Investition natürlich auch auf die Betriebskosten auswirken würde, was einen Anstieg der monatlichen Abgaben an ihn leider unvermeidlich machte. Obendrein hoffte er, dass der Dachbodenausbau, der in drei Wochen beginnen würde, reibungslos und für alle Mieter ohne große Lärmbelästigungen ablaufen würde. Aber schließlich war die Firma im Haus ja nicht unbekannt. Die hätte schon den Aufzug eingebaut. Als die Dame meines Herzens und ich schließlich der Staub- und Lärmhölle, zu der unser Haus geworden war, in Richtung neuer Wohnung den Rücken kehrten, sah ich - in meinem Sessel auf der Straße sitzend - leichten Herzens den Möbelpackern zu, wie sie gerade unser gesamtes Hab und Gut vom dritten Stock hinunter in den Umzugswagen schleppten. Der Aufzug war nämlich ausnahmsweise gerade »außer Betrieb«. »Schau,« sagte ich zu ihr, »wie die schleppen. Wenn es die nicht gab, müsst ich das eigentlich machen. Das ist wirklich praktisch!« 08/ Deutschland und seine Struktur Wo bin ich? Wir Wiener leben ja in dem guten Gefühl, in der Hauptstadt der Welt zu wohnen. Vielleicht mag die Welt das anders sehen - Wien und seine Bewohner sind sich jedenfalls sicher, dass die Erdachse eine Verlängerung des Stephansdoms ist. Und sollte man ihnen mathematisch das Gegenteil beweisen können, würde man dem obergscheiten Beweiser nur ein flapsiges »Aber so sollte es sein!« entgegenwerfen. Hab ich schon erwähnt, dass die Berücksichtigung der Faktenlage nicht zu unseren Stärken zählt? 46 I 47 SERVUS PIEFKE 1 KAPITEL NO. 08 DEUTSCHLAND UND SEINE STRUKTUR Das muss man aber auch verstehen, denn das Gefühl, dass Wien der Mittelpunkt der Welt ist, wird auch täglich gut gefüttert. Schließlich trifft man in Wien auf Schritt und Tritt auf Botschaften seltsamer Länder wie Dänemark, Burundi, Griechenland oder der USA. Sogar Deutschland unterhält eine Botschaft in Wien. Obendrein ist Wien, neben New York und Genf, die dritte UNO-Stadt. Der Donau-Oder-Kanal nimmt auch in Wien seinen Ursprung (nur um dann, nach wenigen Kilometern, in Niederösterreich wieder zu enden, ohne jemals auch nur in der Nähe der Oder gewesen zu sein, aber egal. Fakten ...). Und der Weitwanderweg von der Ostsee bis zu den Pyrenäen führt auch durch den Wienerwald. Ganz in der Nähe von hübschen Villen, die sich sympathische orientalische Potentaten, Könige und Diktatorensöhne dort hingestellt haben. Obendrein hat so ungefähr jedes Volk der Welt (zumindest die, die für uns Wiener interessant sind, und wer das ist, bestimmen wir) ein Gotteshaus in Wien: Es gibt eine griechische, eine armenische, eine polnische, eine ukrainische, eine italienische, eine kroatische, eine serbische und eine russische Kirche, eine Synagoge, sogar eine Moschee und einen buddhistischen Tempel. Und auch die Straßennamen der Stadt zeugen von ihrem internationalen Flair: Marokkanergasse, Argentinierstraße, Mexikoplatz, Belgradplatz, Schweizerhaus, Ungargasse, nicht zu vergessen die Dresdner- und die Donaueschingenstraße. Wir haben sogar eine Universumstraße. Wenn schon das Weltall bei uns zu Gast ist, dann muss Wien im Zentrum desselbigen liegen. Das ist doch logisch. Und auch sonst ist in Wien alles vorhanden: Bundeskanzleramt, Bundesrechenzentrum, Rechnungshof, Verfassungsgerichtshof, Verwaltungsgerichtshof, Nationalbibliothek, Messe - außerdem besitzen wir die mit Sicherheit meistfotografierte Müllverbrennungsanlage der Welt. Also - kurz gesagt - der Wiener ist sich völlig gewiss, den Nabel der Welt zu bewohnen. Und darum kümmert es ihn auch wenig, was deren Extremitäten so tun. Wie anders, wie verwirrend, wie völlig unlogisch, ja richtiggehend doof, dagegen Deutschland. Ich kann mich noch erinnern, als ich, erst sehr kurz in Deutschland wohnend, einen Politiker der Opposition sagen hörte: »Dann bleibt nur noch der Gang nach Karlsruhe!« Ich verstand damals nicht, was er meinte. Aber ich fand sofort, »der Gang nach Karlsruhe«, das klang aufregend. Das musste so etwas wie der Canossa-Gang sein. Die Politiker der Opposition würden in zerfetzten Maßanzügen, wie einst Heinrich IV. im Büßerhemd, nach ihrem langen Fußmarsch von Berlin bis Baden über die Autobahnen der Republik in Karlsruhe ankommen und ... tja, was dann? Einen Papst gab es ja nicht in Karlsruhe, sonst hieße das Radio Vatikan »Radio Karlsruhe«. Ich grübelte gerade nach über eine mögliche Involvierung von Karl dem Großen, Karl May oder Karl Moik, da fasste der Nachrichtensprecher noch einmal zusammen und sagte: »Die Opposition meinte, diese Frage müsse möglicherweise in Karlsruhe entschieden werden.« Aha! In Karlsruhe wurde also entschieden. Und wo entscheidet man? Auf dem Kampfplatz. Wenn also eine Fraktion überstimmt wurde, aber nicht klein beigeben wollte, dann traf man sich in Karlsruhe. Und - ich sah es vor meinen Augen - dann wurde gekämpft. Nach überkommenem mittelalterlichem Brauch traten dann die einzelnen Abgeordneten in Feinripp beim Morgengrauen gegeneinander an und maßen ihre durch das Schleppen Hunderttausender Aktenordner gestählten Körper aneinander. Hier wurde im wahrsten Sinne des Wortes um Lösungen gerungen. Wahrscheinlich eine harte Schule, aber es erklärte andererseits, warum so viele deutsche Politiker zu Übergewicht neigten. Sichtlich wollten sie sich dadurch, wie die japanischen Sumo-Ringer, Vorteile im Kampf verschaffen. Deshalb hält die SPD an Sigmar Gabriel fest, und deshalb war Kohl so lange Kanzler gewesen. Masse und Macht, 48 SERVUS PIEFKE das bekam plötzlich einen ganz anderen Sinn! Das muss ein unglaubliches Spektakel sein, dachte ich mir. So etwas würde doch sicher im Fernsehen übertragen! Aber wo bloß? Pro 7? Kabel 1? Neun Live? Man kann sich nicht vorstellen, wie groß meine Enttäuschung war, als ich feststellen musste, dass es sich bei,Karlsruhe' lediglich um ein Synonym für den Bundesverfassungsgerichtshof handelte. Warum ist der denn nicht in Berlin? Das ist doch die Hauptstadt. Dessen nicht genug: Das Bundeskriminalamt sitzt in Wiesbaden und die Agentur für Arbeit (allein der Name!) in Nürnberg, das Bundesarbeitsgericht allerdings in Erfurt, die beiden großen Fernseh- und Rundfunkanstalten (Warum überhaupt zwei???? Wir haben nur eine. Den ORF. Und der sitzt in ... genau!) senden aus Hamburg und Mainz. Der Bundespräsident kommt aus Niedersachsen. Das Deutsche Patentamt steht in München, der Bundesverfassungsschutz wohnt dagegen in Köln, das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, das sich den Hort der Deutschen Nationalbibliothek mit Frankfurt teilt. Frankfurt am Main, nicht an der Oder. Da gibt es auch schon wieder zwei davon! KAPITEL NO. 08 49 DEUTSCHLAND UND SEINE STRUKTUR Wo Österreich zum Monopol neigt, tendiert Deutschland zur Vielfältigkeit. Föderal, dezentral und ziemlich verstreut. Und dieses Chaos wirkt vor allem sehr undeutsch. Denn ganz ehrlich: Beim Stichwort »chaotische Zustände« ist Deutschland wohl nicht das Erste, was einem assoziativ in den Sinn kommt. Wien schon eher. Aber erstens heißt das nicht chaotisch, sondern schlampig, und zweitens dürfen wir das. Schließlich sind wir die Hauptstadt der Welt. In strukturellen Dingen ist Deutschland fürchterlich unübersichtlich, verstreut, kleinteilig, verwirrend und wirkt auf einen Wiener, für den ein »Marsch durch die Institutionen« stets ein kleiner Spaziergang von maximal 10 Minuten durch die Innenstadt ist, wahnsinnig unordentlich. Unaufgeräumt. Wie ein Kinderzimmer, in dessen einer Ecke der Teddybär liegt, die Kindergitarre in der anderen, der Gameboy am Tisch, die Lieblingsdecke am Boden, die Bücher im Bett und das Lego strategisch über den Raum verteilt. Wahrscheinlich kommt es davon, dass Deutschland nach Jahrhunderten des Zerrissenseins erst durch die preußische Pickelhaube eins geworden ist. Unter anderem dadurch, dass es Österreich losgeworden ist. Ich denke, dass dadurch jedoch auch etwas abgestoßen worden ist, was nun fehlt. Etwas Zentralistisches, Monopolistisches, Verdichtetes. 50 51 SERVUS PIEFKE .1 i i • 'I 4 ,—_ J 09/ Die Deutschen und der Service Sind Sie zufrieden? Mir kam die Idee bei einem ganz normalen Einkauf. Einem Einkauf in diesem wirklich großen Supermarkt, der sich bei mir um die Ecke eingenistet hat. Ein Supermarkt, der behauptet »jeden Tag ein bisschen besser« zu sein. Was mich als logisch denkenden Menschen natürlich sofort fragen lässt, auf welch mickrigem Niveau man wohl beginnen muss, um jahrelang täglich ein bisschen besser werden zu können. Aber Logik ist unter Konsumenten des späten realexistierenden Kapitalismus keine gefragte Eigenschaft. Der Wille zum Einkaufen schon. KAPITEL NO. 09 DIE DEUTSCHEN UND DER SERVICE Also nehme ich Zwiebeln, Salat, Nudeln, Eier, Milch (und zwar die mit 3,5 Prozent Fett - die andere ist für Menschen, die glauben, sie könnten mangelnde Bewegung wegsaufen), Küchenrollen, Brot, Tee und eine Ausgabe des Stadtmagazins, das mir wieder mal die Loca-tions für irgendwas verspricht und dann zur Kassa. Ich warte in der Zone für alkoholkranke Kleinkinder - wen interessieren sonst Fer-rero und Asbach-Uralt? - und komme schließlich dran. Mit einer prall gefüllten Plastiktüte, die mich zwingt, die Werbung des Supermarkts durch das ganze Viertel zu tragen, und mit viel zu viel Geld weniger strebe ich dem Ausgang zu. Da fällt mein Blick auf einen Aushang der Geschäftsleitung bzw. des Local-Store-Management, wie das jetzt heißt, und auf dem steht: »Sind Sie zufrieden? Nein? Sprechen Sie mit Herrn Stastic.« Darunter ein Bild des besagten Herrn Stastic. Er sieht aus, als hätte er den Kampf gegen seinen Hemdkragen verloren. Er wirkt ein wenig feist, hat anscheinend einen leicht südländischen Teint und versucht, auf dem Bild sowohl zu lächeln als auch seine Würde zu bewahren. Beides misslingt ihm. Angeblich gibt es ja im Amazonas-Gebiet Indianerstämme, die glauben, wenn man fotografiert wird, werde einem die Seele gestohlen. Angesichts des Herrn Stastic klingt diese Vorstellung erstmals nachvollziehbar. Dennoch lese ich noch mal: »Sind Sie zufrieden? Nein? Sprechen Sie mit Herrn Stastic.« Ich bin Wiener, ich bin nie zufrieden. Die würden sich wundern, wenn ich dieses Angebot annähme. Denn das nächste Mal, wenn ich mit meiner Freundin streite, wegen einer Kleinigkeit, zum Beispiel wegen der Frage, wer zuletzt den Abwasch gemacht hat, und wir so richtig in Fahrt kommen und es mal wieder in großen Verallgemeinerungen endet, die beiden eine gute Gelegenheit bieten, den alltäglichen Stress beim anderen abzuladen, 52 53 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 09 DIE DEUTSCHEN UND DER SERVICE und wenn ich dann so eine richtig beschissene Stimmung habe und dampfend vor Zorn das Haus verlasse, dann fällt mir Herr Stastic ein. Ich betrete also den Supermarkt wie die Deutsche Wehrmacht 1939 das polnische Staatsgebiet und verlange in einem Tonfall, der zu meinem Auftritt passt, sofort Herrn Stastic zu sprechen. Der erscheint. Er lächelt ein Lächeln, das aussieht, als würde er fürs Lächeln bezahlt (was wahrscheinlich auch so ist) und tippelt auf mich zu. »Was kann ich für Sie tu ...« »Ich bin unzufrieden!«, stößt es aus mir heraus. »Aber so etwas von unzufrieden, das glauben Sie nicht!« »Ja, aber womit denn? Ich meine wie kann ich ... ?« »Womit? Das fragen Sie noch? Es ist doch wirklich nicht zu viel verlangt, dass man die Gläser, die man am Vortag selber benutzt hat, auch so abwäscht, dass da keine widerwärtigen Lippenstiftspuren mehr darauf zu finden sind. Oder etwa nicht?« »Äh ... doch ... nur ...« »Nix nur! Das ist jedes Mal so. Jedes verdammte Mal. Dann spül ich doch gleich selber ab. Verstehen Sie mich?« »Ja, natürlich.« »Na dann ist's ja gut«, versetze ich, bereits weniger schnaubend, mache auf der Stelle kehrt und marschiere - nicht ohne eine Packung Parmesan - wieder aus dem Supermarkt hinaus. Und wenn mich drei Wochen später mein Kölner Vertragspartner versetzt und ein Veranstalter einen Auftritt abgesagt hat, dann freut mich das beides gar nicht, und deshalb stehe ich auch schon wieder vor Herrn Stastic. »Das ist doch eine absolute Frechheit, oder?« »Bitte ja, wahrscheinlich, aber was... ?« »Das fragen Sie noch? Was? Bin ich jetzt vielleicht zimperlich, oder wie? Ich lass mir von diesen Idioten in Köln, diesen rheinischen Kretins, diesen Ratten aus dieser Klüngel-Katakombe, die nicht mal eine U-Bahn bauen können, ohne die halbe Historie ihrer eigenen Sladt in den Müll zu treten, von diesen Karnevals-Verbrechern lass ich mich doch nicht verarschen, oder soll ich das? Ha?« »Um welches Produkt handelt es sich denn da?« »Bitte was? Produkt? Bin ich denn ein Produkt? Hier geht es um mich! Verstehen Sie? Um meine Integrität. Ums Menschsein! Und falls Sie nicht wissen, was das ist, dann sag ich Ihnen, das ist genau das, was dieses Scheißsystem einem jeden Tag aufs Neue gegen ein paar lumpige Cent abzunehmen versucht. Klar?« »Ja, ganz klar. Ich frage mich nur, wie ...« »Ja, das frag ich mich auch: Wie lang soll dieser Scheiß eigentlich noch so weitergehen? Von dem anderen Kerl will ich ja gar nicht reden! Dieser Schießbudenbetreiber!« »Handelt es sich dabei um eine Filiale von unserer ...« »Darum geht es doch nicht! Es geht darum, dass sich hier keiner an Abmachungen hält. Alles Verarsche! Alles! Von hint bis vorn! Klar?!« »Völlig.« »Na, geht doch.« Sage ich, schon wieder fast versöhnt, und eile unter Mitnahme einer Zahnpasta und einer Packung Klopapier dem Ausgang entgegen. Und wenn es nur fünf Tage darauf Landtagswahlen in einem Bundesland in Österreich gibt, und ich in dem Moment, wo das Ergebnis, obwohl ich mit einem solchen durchaus gerechnet habe, in seiner brutalen Realität über den Bildschirm flimmert, dann bin ich erschüttert. Entsetzt. Ganz ehrlich gesagt: in höchstem Maße angeekelt. Also in keinster Weise zufrieden. Aber ich schaffe es, diesen Zustand vom Sonntagabend über die Nacht zu retten und stehe Montag um acht Uhr früh im Supermarkt. Herr Stastic hat mich bereits beim Eintreten erblickt und versucht nun, über den Gang mit den Nudeln und dem Knabbergebäck in Richtung Tiefkühlkost abzuhauen. Aber auch ich habe ihn schon erspäht. Durch einen geschickten Haken vom Gemüse hinüber zu den Haushaltsartikeln zwinge ich ihn zu einem Ausweichmanöver 54 55 SERVUSPIEFKE KAPITEL NO. 09 DIE DEUTSCHEN UND DER SERVICE in Richtung Kaffee und Spirituosen. Das habe ich erwartet. Ich weiche in die Getränkeabteilung aus und schneide ihm so den Fluchtweg ab. Da bleibt ihm nur noch der Rückzug vom Leergutrücknahme-Automaten in Richtung Fleischtheke. Dort stelle ich ihn schließlich - keine drei Meter von der Tür, auf der »Personal« steht. Seine Begrüßung und sein Lächeln wirken ein wenig gezwungen. Ich hingegen versuche weder das eine noch das andere, sondern komme gleich zur Sache: Die politische Situation in Österreich ist mein erstes Anliegen. Von dort gelange ich spielend zur Presselandschaft in meiner Heimat und schließe mit einem fundierten Abriss der Geschichte des ostmitteleuropäischen Raumes von 1918 bis heute. Erleichtert und mit einem Becher saure Sahne, Butter sowie einer Packung Spülschwämme verlasse ich um halb elf den Supermarkt. Natürlich hält ein derartiges Hochgefühl in solchen Zeiten nicht lange an. Und wenn dann der Chef einer deutschen Partei, die sich in pissgelber Farbe präsentiert, eines seiner Interviews gibt und dabei mit derselben Fachkenntnis über Sozialpolitik spricht, wie ich über Gänsezucht palavern würde, dann betrete ich - noch mit der Zeitung unterm Arm - den Supermarkt. Herr Stastic sei nicht da, lässt mich die Kassafrau wissen. Aber ich rieche eine Lüge auf drei Kilometer gegen den Wind. Die »Personal«-Türe ist für mich natürlich verschlossen. Aber die Tiefgarage nicht. Von dort führt eine Treppe hinauf, und ich finde mich im Aufenthaltsraum der Angestellten wieder. Ich prüfe die Tasse Kaffee, die dort auf dem Tisch steht: Sie ist noch warm. Langsam schleiche ich in Richtung Hinterausgang. Ich öffne die Türe einen Spalt - und da steht er! Sichtlich gestresst - wahrscheinlich hat auch er das Interview gelesen - drückt sich Stastic gegen die hintere Außenwand des Supermarkts und zieht nervös an seiner Zigarette. Als ich plötzlich vor ihm stehe, ist sein Gesichtsausdruck überrascht, ungläubig und irgendwo auch leicht resignativ. Nach einem fünfstündigen Exkurs über den politischen Liberalismus, den Rechtsstaat und seine Totengräber, das Menschenrecht auf anständig bezahlte Arbeit und den Verfall der Solidarität am Anfang des 21. Jahrhunderts und was all das mit der mangelnden politischen Bildung des gemeinen Wählers zu tun hat, nach diesem Exkurs also, während dessen Stastic zwei Mal - und mit demselben Trick - versucht hat, über die Toilette abzuhauen, fühle ich mich ein wenig erleichtert. Abgesehen von dem Kilo Kartoffeln, dem Sechserpack stilles Mineralwasser, einem halben Kilo Hackfleisch, Knoblauch und einer Flasche l'ensterputzmittel, die ich nach Hause schleppe. Ja, dann werde ich ein zufriedener und ausgeglichener Mensch sein. Allerdings nur, wenn ich sofort aufhören würde, Nachrichten zu konsumieren. Und das werde ich natürlich nicht tun, weshalb es, sobald wieder eine Bank mit Milliarden Steuergeldern »gerettet«, also in Wahrheit an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen wird, schon wieder vorbei sein wird mit meiner Ausgeglichenheit. Herr Stastic ist aber leider nicht da. Er ist nicht in der Getränkeabteilung, in der Tiefgarage, auf dem Parkplatz oder auf der Personaltoilette zu finden. Im Supermarkt will mir auch keiner Auskunft geben. Da fällt mir das elektronische Telefonbuch im Internet ein. Voilä, da haben wir ihn! Herr Stastic: 0179 34 56 788. Am Telefon gebe ich mich als Bediensteter einer Paketzustellfirma aus, der eine Sendung für Herrn Stastic abzuliefern hätte - und seine Neugier ist dann doch zu groß, als dass er mir seine neue Arbeitsstelle verschweigen würde: dieselbe Firma, eine andere Filiale am anderen Ende der Stadt. Ich also rein in die U-Bahn, umsteigen zur S-Bahn, dann noch acht Stationen mit der Straßenbahn und schließlich noch gute zehn Minuten Fußmarsch durch ein trostloses Gewerbegebiet und unter einer Autobahn durch. Aber schließlich bin ich am Ziel. 56 • 57 SERVUSPIEFKE KAPITEL NO. 09 DIE DEUTSCHEN UND DER SERVICE Da würde der Herr Stastic jetzt aber Augen machen. Und die macht er auch. Mit weit aufgerissenen Lichteintrittsöffnungen und ebensolchem Mund starrt er mich wortlos an. Er sieht nicht zufrieden aus, und das kann ich auch völlig nachvollziehen und komme deshalb auch gleich zur Sache. Als ich ihn, nach beißender Kapitalismuskritik, schonungsloser Systemanalyse und unheilvollen Zukunftsprognosen, schließlich gegen Mitternacht allein in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung zurücklasse, fällt mir auf, dass ich so spät in der Nacht wohl nichts mehr werde einkaufen können. Aber dann wird es doch eine Überraschung. Nach dem Erdbeben und dem Vulkanausbruch will ich mich mit Herrn Stastic in Verbindung setzen ... aber vergebens. Weder in der einen noch in der anderen Filiale ist er anzutreffen, sein Telefon ist abgestellt, und in der zentralen Personalstelle der Supermarktkette weiß man nur, dass Herr Stastic nicht mehr für das Unternehmen tätig ist. Andere Daten könne man mir nur mitteilen, wenn ich im Besitz einer Payback-Karte sei. Schließlich bringt seine Nachbarin Licht in die Sache. Herr Stastic sei vor einer Woche unter noch ungeklärten Umständen von der Brücke in den Fluss ge ... tja ... genau das sei die Frage: gefallen oder gesprungen. Sie persönlich vermute ja eher Zweiteres. Er habe in letzter Zeit einen sehr deprimierten Eindruck gemacht. Wo er doch ein so einfühlsamer Mensch gewesen sei, »Oh ja«, stimme ich ihr zu. »Und er konnte so gut zuhören!« Ich hinterlege auf Stastics Grab eine aus mehreren Plastiktüten des Supermarkts selbst gebastelte Skulptur, die ein ungeübtes Auge hätte für Müll halten können, und gehe betrübt nach Hause. Was war nur mit ihm los gewesen? Was hatte ihn bedrückt? Was war denn so unausweichlich, so unabänderlich, dass es ihn zu seiner Tat gezwungen hatte? Und warum hatte er nie etwas gesagt? Vielleicht hatte Stastic die heilende Wirkung einer gründlichen Aussprache nicht gekannt. Schade für ihn. I las macht mich traurig. Und irgendwie unzufrieden. Und ich denke mir: Ich werde mit Herrn Mittelhuber darüber reden. Dessen Bild hängt nämlich seit Neuestem in meinem Supermarkt. Dort, wo Herrn Stastics Konterfei gehangen hatte. Und darüber steht geschrieben: »Sind Sie zufrieden? Nein?« Genau so würde es sein, wenn ich dieses Angebot annähme. Was ich aber nicht tu. Denn ich lass mich nicht verarschen. Ich habe das durchschaut. Diese Deutschen! Die machen einen auf freundlich, nur damit ich bei ihnen in diesem Supermarkt einkaufe. Pfui! Ekelhaft, find ich das. Sowas macht mich richtig ... unzufrieden. 58 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 10 59 DEUTSCHLAND UND DIE MENTALITÄT 10/ Deutschland und die Mentalität Wie gehfs uns heute? Ich hab es schon eingangs erwähnt, dass sich die Wiener eigentlich nur dann wirklich gut fühlen, wenn es ihnen schlecht geht. Ich hab schon mehrmals versucht, es der Dame meines Herzens zu erklären: Wenn ich so richtig am »fäun« (schimpfen, wir hatten das schon, bitte mitschreiben!) bin, ist alles okay. Wenn die Welt im »Oasch« (Arsch, richtig vermutet) ist, läuft es eigentlich gerade ganz gut. Wenn ich die ganzen Oaschgsichter (da kommen Sie jetzt sicher selber drauf ...) nicht mehr sehen kann, dann sollte sie sich freuen. Denn es bedeutet ja, dass sie nicht dazugehört. Ich als Wiener würde ja nie einem Oasch-gsicht ins Oaschgsicht sagen, dass er ein Oaschgsicht ist. Auch wenn es stimmen sollte - das gehört sich nicht. Wenn ich mich also in ihrer Gegenwart über die »ganzen Oaschgsichter« beklage, bedeutet das in letzter Konsequenz also in etwa: Ich liebe dich. Es muss eigentlich sehr schön sein, mit mir zusammen zu sein. Ja, erst wenn wir Wiener raunzen, motschkern, jammern, seiern oder sudern, dann sind wir in unserem Element. Wie eine giftige Kröte in ihrem Sumpfgebiet. Das mag auf den ersten Blick der deutschen Seele verwandt erscheinen, die Unterschiede sind jedoch gravierend. Denn die Deutschen jammern nicht, auch wenn sie es so nennen mögen, vielmehr beschweren sie sich. Sie empören sich. Sie zeigen unhaltbare Zustände auf, sie wollen das so nicht im Raum stehen lassen, sie sind vielleicht sogar einfach dagegen, sie können es nicht hinnehmen, weil es doch nicht sein kann, dass... Und meistens ist es dann gerade so. Jammern geht anders. Motschkern und seiern erst recht. Das ist nicht zielgerichtet und nicht laut. Dazu sitzt man in einer Ecke mit seinen Haberern (vulgo: Kumpels) zusammen und raunzt vor sich hin. Nicht spezifisch, sondern allgemein. Es sind alles Arschlöcher, keiner versteht mich, einen jeden soll der Blitz beim Scheißen treffen, weil die da oben eh machen, was sie wollen, was am Ende aber a wurscht is, weil wir eh alle irgendwann krepieren. Der Deutsche ist da spezifischer: Der Regierungschef ist entweder ein Schlawiner oder ein Weichei, die Minister gekauft, die Opposition ohne Konzept, die Wirtschaft korrupt, die Medien parteiisch, der Muslim voller böser Absichten, die extreme Linke gewaltbereit und die extreme Rechte einfach dumm. Obendrein ist das Wetter eine Katastrophe, und daran ist der Klimawandel schuld. Und der Amerikaner. 60 SERVUS P1EFKE KAPITEL NO. 10 61 DEUTSCHLAND UND DIE MENTALITÄT Aber es gibt natürlich auch Menschen, die anderer Meinung sind. Die glauben, der Regierungschef sei ein herumschlawinerndes Weichei, die Minister ohne Konzept, dafür sei die Opposition gekauft, die Wirtschaft parteiisch, die Medien seien korrupt, die Amerikaner voller böser Absichten, die extreme Linke einfach dumm und die extreme Rechte gewaltbereit. Obendrein sei der Klimawandel eine Katastrophe, und daran sei das Wetter schuld. Und die Muslime. Wer verkauft uns denn das Öl? Na? Eben. Wie auch immer es sich äußert, das deutsche Beschweren ist inhaltsschwangerer, mit weitaus mehr Bedeutung aufgeladen und klarer strukturiert als das wienerische Sudern. Wo man in Wien längst aufgegeben hat, weil es eh »wurscht« ist, wird in Deutschland noch um Positionen gerungen. Wenn auch vergebens. Und es gibt noch eine gänzlich andere Art, mit den unliebsamen Auswüchsen dieser Welt umzugehen, nämlich durch »Betroffenheit«. Wo man sich in Wien sagen würde: »Bin ich froh, dass es nicht mich erwischt hat!«, ist man in Deutschland »betroffen«. Sehr betroffen. Oder auch zutiefst betroffen. Es macht einen betroffen, oder man versucht, seiner Betroffenheit Ausdruck zu verleihen. Grundsätzlich gilt dabei: Betroffen sind immer nur jene, die es nicht betrifft. Ob Flutkatastrophe, Flugzeugabsturz, Seuchen oder einfach nur die stinknormale Armut, die ja jetzt »soziale Benachteiligung« heißt -immer die, die davon verschont geblieben sind, flüchten in Scharen in die Kirche der Betroffenheit. Dort versichert man sich gegenseitig der tiefsten Anteilnahme, des ehrlichsten Mitgefühls, der besten Wünsche und anderer Dinge, von denen die, die es wirklich betrifft, sich nichts kaufen können. Denn Betroffenheit kostet nichts. Sie braucht nur ein wenig Heuchelei, pathetische Worte und eindrucksvoll heruntergezogene Mundwinkel - und schon ist man ehrlich »betroffen«. So geschickt das sein mag, so eloquent Betroffenheit und Beschwerde sich auch darstellen - glücklich und zufrieden macht das auf Dauer auch nicht. Darum verschwindet die Betroffenheit nach ein paar Tagen auch wieder - wie ein Regenmantel im Kasten, der erst wieder hervorgeholt wird, wenn es wieder schüttet. Denn eigentlich sind die Deutschen ganz gerne gut drauf. Ich weiß, das mag für deutsche Leser seltsam klingen, aber für einen Wiener, der mit guten 40 Prozent slawischer Seele und dementspre-chendem Fatalismus ausgestattet ist, hat es durchaus den Anschein, dass die Leute hier - wenn schon nicht fröhlich - so doch zumindest gut gelaunt sind. Im Gegensatz zu Wien lächeln in Deutschland ziemlich viele Menschen auf der Straße, manche lachen sogar laut, stoßen miteinander an, begrüßen sich herzlich und singen betrunken auf der Straße. Und das nicht nur, wenn gerade Weltmeisterschaft ist. Natürlich gibt es immer noch die anderen, die mit dem Hund rausgehen und die, die lachen, drohend von der Seite anschauen. Aber - die gibt es in Wien auch. Und in Wien schauen die meisten Menschen so. Auch ohne Hund. Und ohne Grund. Aber weil wir in Deutschland sind, gibt es für diese (nicht die Wiener, sondern die mit dem Hund) und alle anderen, die gerne jammern und betroffen sind, einen extra Tag im Kalender. Ordnung muss schließlich sein. Und so ist jedes Jahr am zweiten Sonntag im November die gesamte Bevölkerung Deutschlands aufgerufen, traurig zu sein. Traurig darüber, dass man kein Franzose, kein Engländer, Italiener, Spanier oder Amerikaner ist. Nicht einmal Albaner, Grieche oder Haitianer. Wie schön wäre es doch, aus Kanada oder Burundi zu kommen. Wenigstens aus Luxemburg! Kommt man aber nicht, und deshalb ist man traurig. Man ist traurig, weil man Deutscher ist. So ist das! Oder hab ich da den Begriff »Volkstrauertag« falsch verstanden? 62 63 SERVUS PIEFKE KAPITELNO.il DEUTSCHLAND UND DIE SPRACHE 11/ Deutschland und die Sprache Piefke, du kannst des net! Die Deutschen glauben, das Wienerische sei eine Sprache, die mit der ihren verwandt sei. Das ist an und für sich richtig. Sie ist so verwandt, wie ich mit dem Cousin der Nichte meines angeheirateten Großvaters verwandt bin. Entfernt. Den Deutschen sind diese Details aber egal, weshalb sie - wenn sie sich einem Wiener gegenüber wähnen - sofort beginnen »Wienerisch« zu sprechen. Oder das, was sie dafür halten. Natürlich können sie das machen. Man kann auch einem angetrunkenen niedersächsischen Kegelklub das Kommando über einen mit Atomraketen und Massenvernichtungswaffen bestückten Flugzeugträger für die Fahrt über den Atlantik geben. Klar kann man das machen ... Man sollte es aber nicht unbedingt tun. Wir Wiener würden zwar niemals etwas dagegen sagen, weil wir höflich sind. Dafür haben wir auch immer irgendwo einen halb geöffneten Taschenfeidl (Taschenmesser) griffbereit, aber ansonsten sind wir höflich. Doch wir denken uns währenddessen unseren Teil, beispielsweise: »Mei ist der Hab, der Piefke, und er glaubt a no, des is leiwand.« Oder nur: »Halt die Pappn, du kannst des net.« Die Gedanken sind frei. Denn was uns daran stört, ist, dass die Deutschen wienerische Worte Deutsch aussprechen. Und das geht nicht. Denn Wienerisch ist eine Sprache aus deutschen, tschechischen, italienischen, jiddischen, ungarischen, türkischen, slowenischen und anderen Begriffen, die man am besten schlampig ausspricht. Also nicht deutsch. Nicht mit viel Artikulation und laut, sondern mit halb geschlossenem Mund, irgendwo hervorgurgelnd. Und wenn man eine tschechische Großmutter hat, hilft das sehr bei der Aussprache. Dem Deutschen ist der unendliche Variantenreichtum der wienerischen Zwielaute, Umlaute, Gnatsch-, Zisch- und Knautschlaute schlicht unbekannt. Deshalb wird der Deutsche das Wienerische immer, für alle Zeiten, auch noch nach dem Untergang der Welt, wenn die Sonne ein roter Riese und dann ein weißer Zwerg geworden ist, und sich das Universum plötzlich entscheidet, wieder in sich zusammenzufallen, ja selbst dann, nach diesen unvorstellbaren Zeiträumen, selbst dann wird der Deutsche das Wienerische immer noch falsch aussprechen. Dabei ist er wissbegierig. Und das sind ja die schlimmsten Schüler, 64 SERVUS PIEFKE die untalentiert, aber mit ganzer Leidenschaft dabei sind: »Wie sagt ihr immer? Leiwand?« Und dabei spricht der Deutsche »leiwand« aus, | als wäre es eine Wand zum Leihen. So spricht man es aber nicht aus. Allein der Anfangsbuchstabe, das »L«, braucht jahrelange Übung. Es ist ein harter (im Übrigen: tschechischer) Laut, der durch den rech- ) ten (oder auch linken) Mundwinkel hinausgeschnalzt werden muss. Das »W« ist kaum hörbar, fast ein »U«, auf jeden Fall eine Brücke zwischen dem »Ei«, das einen nasalen Unterton besitzt, und dem »A«, das aber kein reines »A« ist, sondern mehr ein »Aou«. Das alles darf man aber nicht angestrengt nachmachen, sondern es muss einem völ- | lig pomali aus derPappn ausse flutschn (geschmeidig aus dem Mund f entweichen). Leiwand. Verstanden? Nein? Eben, lassen Sie's! Wir versuchen ja auch nicht, Fußballweltmeister zu werden. Das Schlimmste ist allerdings, wenn wienerische Begriffe aus Fernseh- f Produktionen in halbgaren germanischen Gehirnen landen und dort wiedergekäut werden. . »Gestern der Film, köstlich: Wie sagt ihr zum Bier? 19er Metall, gell, j 19er Metall?! Köstlich!« »Nein, entweder 16er Blech, aber das ist nur eine Dose Ottakringer, i weil nämlich Ottakring der 16. Wiener Gemeindebezirk ist, oder j einfach nur Alu-Weckerl.« j »Ja, sage ich doch, der 16er Wecken! Köstlich!!« j Dieses Unverständnis hat mich dann schließlich einmal dazu verleitet, - einen Versuch am lebenden Objekt zu wagen. Ein Bekannter von mir, j ein lästiger Bekannter, das muss gesagt werden, also einer, der auch nach der dritten Richtigstellung, dass Wien nicht in den Bergen liegt, immer noch »Schluchtenscheißer« zu mir sagt, dieser Bekannte wollte nach Wien fahren. Ob ich ihm nicht ein paar Tipps geben könnte? Und ich konnte. Ich gab ihm Insider-Tipps, wie sie noch keiner von i mir bekommen hat. Also echtes wienerisches Geheimwissen. Dinge, 65 LN0. 11 DEUTSCHLAND UND DIE SPRACHE von denen noch kaum einer gehört hatte. Vor allem kein Wiener. Und um ihn auch sprachlich ordentlich vorzubereiten, erfand ich gleich ein paar Worte dazu. So spielerisch, wie die USA Kriegsbegründungen. Sie sprudelten nur so aus mir raus. »Spazier-Tuchent« hieß Anorak bei mir. »Zwa Radln zum Durch-schau'n« waren Brillen. Der Stephansdom wurde in meiner Fantasie im Volksmund »der gotische Lulatsch« genannt, das Burgtheater »Tam-tamschlössl«, wonach Burgtheater-Schauspieler in ganz Wien auch nur »Schlosser« hießen, da sie ja im »Schlössl« arbeiteten. Oder auch »Tamtamierer« - aber das sei leicht abwertend, fügte ich hinzu. Ich schüttelte einen vollständig neuen Zweig der wienerischen Etymologie aus dem Ärmel. So nannte man beispielsweise die Türken seit der Belagerung Wiens 1683 aufgrund ihrer gefährlichen Mi-neu re und deren Sprengfallen nur mehr »Bummstataren«, die Tschechen - wegen der in der Monarchie weitverbreiteten böhmischen Köchinnen - nur »Kuchlkönige« und die Deutschen wegen ihrer Lautstärke und des zackigen Auftretens nur »Krachmarschierer«. Das schien ihn kurz zu kränken, weshalb ich geschickt auf kulinarische Themen überwechselte: Er müsse sich im Kaffeehaus unbedingt einmal einen »Pomali-Strudl« bestellen oder einen »Nudeldrucker mit Marmeladinger«. Ich freute mich innerlich sehr und sah schon das indignierte Gesicht eines der immer schon sehr indignierten Wiener Kaffeehauskellner vor mir, wenn der geliebte deutsche Gast gerade einen Strudl aus Gemütlichkeit {Pomali) oder eine Beleidigung (Nudeldrucker) mit einem Deutschen (Marmeladinger) bestellte. Wenn er abends ausgehe, so instruierte ich ihn, müsse er sich als »Negerant« vorstellen, der gerne auf einen »Mistelbacher« hauen würde, weil er für jeden »Bahöö« zu haben sei. Da begann mich kurz mein schlechtes Gewissen zu zwicken. War es wirklich fair, diesen armen, unwissenden Deutschen sagen zu lassen, er wäre pleite (Negerant) und würde gerne Polizisten (Mistelbacher) prügeln, da er keinen Tumult (Bahöö) vermeiden wolle? War das fair? 66 67 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 11 DEUTSCHLAND UND DIE SPRACHE Und gerade, als ich einen Rückzieher machen wollte, sagte er, wir »Schluchtenscheißer« seien doch echt ein »putziges Völkchen«. Da wußte ich: Es ist fair. Sehr fair sogar. Nach der abschließenden Lektion mit Begrüßungs- und Abschiedsformeln (»Servas, es Dachinierer« und »Baba, es Peitscherlbuam!«), was man übersetzen könnte mit: »Guten Tag, ihr Faulenzer« und »Tschüss, ihr Strichjungen«, ließ ich ihn in meine Heimatstadt fahren. In der sicheren Gewißheit, dass er mit wenigstens einem blauen Auge und drei geprellten Rippen zurückkommen würde. Und hoffentlich mit der gefestigten Erkenntnis, dass man zu Wienern niemals »Schluchtenscheißer« sagen sollte. Nach einer Woche hätte er zurückkommen sollen. Aber ich traf ihn nicht. Auch nach zwei Wochen nicht. Nach drei Wochen kroch mir mein schlechtes Gewissen langsam das Rückgrat hoch. Was war passiert? Hatte er das »goldene Wiener Herz« kennengelernt und war kopfüber im Donaukanal versenkt worden? War er - aufgrund meines »fantastischen« Sprachkurses - nackt ans Riesenrad gebunden worden, mit einem Schild um den Hals, auf dem stand: »Ich bin ein blöder Piefke und habe das schöne Wienerisch geschändet«? Oder hatte man ihn, weil er einen »Mistelbacher« mit »Peitscherlbua« angesprochen und ihm einen »Bahöö« vorgeschlagen hatte, einfach in ein sicheres Drittland - etwa nach Weißrussland - abgeschoben? In der vierten Woche erdrückten mich meine Schuldgefühle fast. Ich hatte Schlafstörungen und konnte mich auf nichts mehr konzentrieren. Weiß wie die Wand irrte ich durch mein Viertel, als ich ihn plötzlich beim Kiosk traf. Er lebte. Unverletzt. Was war passiert? Sollte ich ihn ansprechen? Aber er hatte mich schon entdeckt. Er steuerte schnellen Schrittes gerade auf mich zu. Zum Flüchten | war es zu spät. Er hob seine Hand und ... umarmte mich: »Hey, du alter Schluchtenscheißer! Lange nicht gesehen! Ich muss dir was erzählen, du wirst es nicht glauben! Ich sag dir, Wien - eine herrliche Stadt!« Und dann erzählte er. Die ersten drei Tage seien komisch gewesen, er sei sich unverstanden vorgekommen. Und das, obwohl er meine Ratschläge alle aufs Genaueste befolgt habe. Aber am dritten Abend sei es dann passiert: Er sei in einer Bar an eine Partie (Clique) geraten, die seine Art des Wienerischen endlich zu schätzen gewusst habe. Nicht nur das, sie hätten ihm auch neue Worte beigebracht: »Safn-sieda« und »Sacklpicker« zum Beispiel, und die Damen hätte er auf Anraten seiner neuen Kumpels alle gefragt, ob sie nicht »petschie-ren« wollten. Es sei ein sehr lustiger Abend gewesen und das Allerko-mischste daran, dass einer der Herren in dieser Runde beim ORF tätig sei und ihn zwei Tage später angerufen habe. Und jetzt - ich solle mich festhalten - jetzt komme überhaupt das Beste, jetzt würden die mit ihm einen Pilotfilm drehen für die ORF-Comedy-Schiene. »Wienerisch für Piefke!« sollte das Ding heißen. Es gebe eine gute Gage, in zwei Wochen sei Drehbeginn und alles, was er tun müsse, sei nur, »Wienerisch« zu sprechen. Es würde dann vielleicht sogar auf 3sat kommen. »Da guckst du, was? Ich bin ein Naturtalent!«, grinste er mich an. Mein Gesicht wurde zu Stein. Ihm fiel das nicht auf: »Ach, Wien -einfach herrlich! Oder wie sagt ihr Schluchtenscheißer? Ja: Leih-Wand.« Und ich dachte mir: »Halt die Pappn, du Safnsieda, du pief-kinesischer! Du kannst des net.« Aber gesagt hab ich nix. Ich bin ja Wiener. Immer höflich. 68 69 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 12 DEUTSCHLAND UND DIE SCHÖNHEIT N J Oie-ses ßii-O IST LEIDER. /WICHT 12/ Deutschland und die Schönheit Hässlich. Aber nicht schiach. Deutschland kann sehr schön sein. Und sehr hässlich. Aber Deutschland kann niemals »schiach« sein. Wenn Deutschland nämlich schiach wäre, läge es in Österreich. Der Deutsche kennt das »Schiache« nicht, es wird ihm auch nicht schiach, und er sagt auch niemandem, er möge doch nicht so schiach sein. Die Schiachheit mit allen ihren Facetten ist etwas Urösterreichisches und zutiefst Wienerisches. Der Deutsche dagegen kennt nur das Hässliche. Das hat keine weiteren Bedeutungsebenen, aber dafür umso mehr Ausformungen. Denn es gibt viel Hässlichkeit in Deutschland. Und es gibt auch viele hässliche Menschen in Deutschland. Man möge nur einmal kurz von diesem Buch hochblicken und sich umsehen. Na? Stimmt doch. Oder lesen Sie allein im Wald? Natürlich gibt es auch schöne Menschen in Deutschland. Sehr schöne sogar. Manche sind sogar so schön, dass es fast nicht zum Aushalten ist. Da sitzt alles. Ist perfekt miteinander kombiniert. Farben, Formen und Proportionen sind ausgewogen. Die Haare sind schön, die Haut makellos, die Zähne so weiß, dass man glaubt, man wäre in einen Schneesturm geraten. Faltenfreie Figuren sind das. Die si iid so schön, dass alle anderen um sie herum noch hässlicher wirken. Und das sollen sie auch. Das ist Absicht. Und das ist nicht schön von den Schönen. Denn übrig bleiben die Hässlichen. Also Menschen wie du und ich. Zu dick, zu dünn, zu lang, zu klein, mit lächerlichen Figuren, krumm gewachsen, bucklig, verbogen, irgendwie wulstig. Frauen tragen Schnurrbarte, Männer haben Brüste, und die meisten sind seltsam rosa. Die Gesichter bestehen meist nur aus Beulen, in denen irgendwie Sinnesorgane untergebracht sind. Die Haut hat so große Poren, dass man darin Pils flaschenweise lagern könnte. Die Glatzen wirken gewalttätig, die Augenbrauen stehen blöd in der Gegend herum, der Haarausfall ist unorganisiert. Manche tragen ihre Ärsche am Bauch, andere sogar im Gesicht. Ja, es sind hässliche Menschen. Aber sie sind nicht schiach. Denn im Gegensatz zur Schiachheit in Wien wirkt die deutsche Hässlichkeit natürlich. Das gehört so. Das ist Tradition. Der Österreicher, speziell der Wiener, macht in seiner Schiachheit eher einen unnatürlichen Eindruck. Er wirkt überwuchert. Irgendwas hat da nicht aufgehört zu wachsen. Die Leute sehen aus wie eine Kreuzung aus einem Tschechen, einem Italiener und einem Atomreaktorunfall. Wahrscheinlich ist das der wahre Grund für unser stillgelegtes AKW. Die Menschen hatten einfach Angst, noch schiacher zu werden. 70 71 SERVUS PIEFKE : iirFlNO. 12 DEUTSCHLAND UND DIE SCHÖNHEIT Und nirgendwo gibt es so viele schiache Leute wie in Wien. Äußerlich und innerlich. Wien ist so etwas wie die Welthauptstadt der Schiachheit. Architektonisch freilich nicht. Da ist Wien sehr schön. Aber in Wahrheit wurden all die schönen Gebäude nur errichtet, um von den schiachen Menschen abzulenken. Denn die sind teilweise so schiach ... dass es fast schon wieder schön ist. Und das ist auch der Unterschied zwischen der deutschen Hässlichkeit und der wienerischen Schiachheit. »Schiach« ist etwas viel Tieferes. Es ist nicht nur hässlich, es ist auch ekelhaft und gemein. Es ist abgründig, dunkel und endlos. Das Schiache ist die Rückseite vom »Schmäh«. Das Hässliche hingegen bleibt an der Oberfläche. Breitet sich dort aber dafür gut aus. Egal, ob Autobahnraststätten, Gewerbegebiete, Kreisverkehre, Industrieruinen, S-Bahnhöfe, verstopfte Toiletten oder die Menschen, die in schreiendes Pink, stechendes Orange, glitzerndes Schwarz, silbriges Weiß oder alles gleichzeitig gewandet, sich auf Bergen und Fahrrädern, in Kanus und Parks befinden, um dem Betrachter farbenfroh, nonverbal, aber doch brüllend zu vermitteln: »ICH HABE FREIZEIT! SEHT HER, ICH ARBEITE GERADE NICHT!«, wie auch immer - die deutsche Hässlichkeit ist von vielerlei Gestalt und zeigt sich. Sie duckt sich nicht verschämt weg, sondern ist klar und deutlich da. Sie hat einen rauen Charme: ein bisschen Ruhrpott, ein wenig Plattenbau, ein Hauch von Containerhafen. Das ist kalte Funktionalität, die einem den Finger zeigt und auf ihr Aussehen pfeift. Das ist postproletarischer Piefke-Punk. Und das ist sehr erholsam, wenn man aus Wien und seiner Zuckerbäcker-Architektur kommt, wo ein großer Teil der Stadt aussieht, als wären dort riesige Tortenstücke abgeworfen worfen. Das hat was. Und ist auch ein verbindendes Element. Denn deutsche Innenstädte sehen zum Beispiel fast alle gleich aus. Gleich hässlich, versteht sich. Sie sind so individuell und unverwechselbar wie Zahnpastatuben ohne Aufdruck. Sicher war das nicht immer so. Natürlich wurden die deutschen Städte in der zweiten Hälfte des letzten Weltkrieges von amerikanischen und britischen Architekturkritikern in Uniform massiv umgestaltet. Aber abgesehen davon, dass die deutsche Luftwaffe ihrerseits Rotterdam und Coventry und Gernika bereits vorher große Umgestaltungsmöglichkeiten eröffnet hatte, ist diese Gleichförmigkeit der Städte, die Stadtplaner, Baulöwen und Gewerbetreibende seit den Fünfziger jähren erzeugt haben, vielleicht auch be-vvussl gewählt. [cli denke, zukünftige Generationen von Archäologen, die einmal Mainz, Köln, Dortmund, Ulm, Hannover, Augsburg, Bochum, Karlsruhe, Krefeld, Essen oder Speiben ausgraben werden, werden dafür den Begriff »Typisch deutsche AldiLidlKaufhofGaleriaZaraSchlecker-KarstadtStarbucksEin-Euro-ShopTengelmannHundM-Kultur« prägen. Sie werden die Städte überhaupt nur aufgrund ihrer unterschiedlichen Kirchen auseinanderhalten können. (Das ist aber schon heute nicht anders. Ich selbst hab einmal in Ulm den Weg zum Bahnhof fast nicht mehr gefunden, weil ich glaubte, in Hannover zu sein. Erst vor dem gotischen Münster ist mir mein Irrtum aufgefallen.) Und auch der Zeitgenosse von heute hat was davon. Denn so kann sich jeder, ob Sachse, Schwabe, Hanseat oder Bayer, sofort heimisch fühlen. Vielleicht kommt er ja gerade von weit her, war auf Reisen, hat die Welt gesehen, und dann betritt er eine deutsche Innenstadt, und schon nach wenigen Metern weiß er: So sieht es nur in Deutschland aus! Ich bin zu Hause! Oder, um es mit den Worten des Dichters Robert Gernhardt zu sagen, welcher der Vergänglichkeit der Schönheit entgegenrief: »Dich will ich loben Hässliches, du hast so was Verlässliches.« 72 SERVUS PIEFKE 13/ Deutschland und die Bildung In der Unterwelt Es ist ja allgemein bekannt: Um die Bildung in Deutschland steht es nicht gerade bestens. Verkürzte Gymnasien, hoffnungslose Hauptschulen und eine Bildungsministerin, die aus Baden-Württemberg kommt. Dazwischen fällt Deutschland im Pisa-Test negativ auf (trotz der vielen italienischen Gastarbeiter!), und die Parlamente sind voller Doktoren, deren Dissertationen man als »in summa geklaute« bezeichnen könnte. Wenn man ihnen draufkommt, sind sie zerknirscht und treten zurück. 73 DEUTSCHLAND UND DIE BILDUNG In Ösl er reich werden solche Menschen dann in die EU-Kommission abgeschoben. Kein Wunder, dass Europa ein so schlechtes Image hat. Dabei kann die gar nichts dafür, schließlich wurde sie von Zeus in Gestalt eines Stieres aus Kleinasien nach Kreta entführt. Aber das weiß ja keiner mehr, weil es eben um die Bildung sehr schlecht bestellt ist. »I »agegen müsste man doch etwas tun«, sagte ich mir, als ich in der U-Bahn zum Hauptbahnhof unterwegs war. Es war Winter und kalt, und die ganze U-Bahn war voll mit Menschen, die dick in dunkle Wintermäntel und Daunenjacken eingehüllt waren. Abgesehen von ein paar Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die wirklich glaubten, man sähe mit weißen Kapuzen-Sweatern cool aus. Das tut man natürlich nicht. Man sieht darin nur aus wie ein Jugendlicher m it Migrationshintergrund, der auf seinem Weg über das weite Meer der Mode wie ein kleiner, unerfahrener Matrose ganz, ganz am Anfang steht. Die Stimmung im Wagon war gedämpft. Kaum einer sprach. Und wenn, dann auch nur mit seinem Handy. Dafür saß mir aber eine junge Frau gegenüber. l.rste Station. Nichts passiert. Zweite Station. Nichts passiert. Nach der dritten Station begann die junge Frau, in ihrer Handtasche zu kramen. Ich dachte mir, sie wird jetzt wohl ein Skript herausholen (schließlich fährt die U-Bahn zur Uni). Oder sie will telefonieren. Vielleicht holt sie auch eine Flasche Rum heraus, leert sie in einem Zug, schwingt sich anschließend von Haltegriff zu Haltegriff und singt dabei »I can see clearly now«, mit einer Stimme, die zwischen Tom Waits und Micky Maus liegt. Aber das war nicht sehr wahrscheinlich. Das ist mir bisher überhaupt erst ein Mal passiert. Und da war ich erstens selbst nicht ganz nüchtern, und zweitens behaupten böse Zungen bis heute standhaft, diese junge Frau wäre gar nicht jung gewesen und auch keine Frau, sondern ich. 74 SERVUS PIEFKE 75 KAPITEL NO. 13 DEUTSCHLAND UND DIE BILDUNG All das, was ich mir da dachte, wusste die junge Frau natürlich nicht, und sie wollte es wahrscheinlich auch gar nicht wissen. Sie hatte nämlich etwas anderes zu tun. Sie kramte in ihrer Handtasche und beförderte aus deren unbeschreiblichen Tiefen eine Frucht an das Kunstlicht der U-Bahn: einen Granatapfel! Das war an sich schon erstaunlich, da ich der festen Überzeugung bin, die Handtaschen meiner weiblichen Mitmenschen seien direkte Zugänge zur Hölle, dem nächstgelegenen schwarzen Loch oder wenigstens zu einem Paralleluniversum. Einem Paralleluniversum, um genau zu sein, in dem eine Tube Handcreme eine gnadenlose Einparteiendiktatur errichtet hat, in der Wattestäbchen und Haarnadeln bemitleidenswerte Ohrringe und Tampons blutig unterdrücken und dabei ein Götzenbild in Form einer Puderdose anbeten. Jedoch soll sich - neuesten Gerüchten zufolge - an diesem fernen Ort bereits ein bunter oppositioneller Haufen aus kaputten Kugelschreibern, unbrauchbaren Feuerzeugen und leeren Lippenstiften um eine weise alte Haarbürste sammeln, die behauptet, Aspirin sei nicht dazu da, um daraus immer wieder weitere, neue Handcreme-Nachfolger zu formen - Aspirin würde vielmehr in einer anderen, fernen Welt von seltsamen zweibeinigen Wesen zur Schmerzlinderung geschluckt. Wesen, die obendrein ihren Urwald am Kopf trügen und an denen dieses Universum herumbaumelte wie eine Handtasche. Aber das gehört eigentlich gar nicht hierher. Denn ich saß ja immer noch in der U-Bahn und war von der jungen Frau und ihrem Granatapfel sehr begeistert. Mein Hirn arbeitete: Junge Frau! Granatapfel!! Noch dazu in der U-Bahn! Das schreit doch nach ... nein. Doch. Nein. Doch. Nein. Doch ... Während die junge Frau den Granatapfel bedächtig zerteilte, um ihm schließlich einen Kern nach dem anderen zu entnehmen und zu ihrem Mund zu führen, rang ich mit mir. War das nicht die Gelegenheit, meinem Gastland endlich ein wenig zurückzugeben? Mal abgesehen von Steuern, Kranken- und Rentenversicherungsbeiträgen sowie dem täglichen Versuch, die Menschen durch humoristische Kleinode ein wenig aufzumuntern. Wäre das hier nicht eine perfekte Steilvorlage, um das Bildungsniveau in diesem Land, also zumindest in diesem Wagon, ein wenig zu heben? Wie wär's, dachte ich mir, wenn ich nun laut und deutlich zu der jungen Frau sagen würde: »Ha! Das ist ja wie bei Proserpina!« Da würde natürlich erst mal nichts passieren. Die junge Frau verstünde zunächst gar nicht, dass sie gemeint wäre. Denn sie saß mir auch nicht wirklich gegenüber. Sie saß schräg gegenüber. Auf der anderen Seite des Ganges. Am anderen Fenster sogar. Und noch dazu neben der anderen Tür. Also ziemlich weit weg, eigentlich. Deshalb hätte sie mich noch gar nicht bemerkt. Aber das ließe sich ja ändern. »Ich sagte: Das ist ja wie bei Proserpina!« Keine Reaktion. Von ihr. Andere Fahrgäste musterten mich schon deutlich interessierter. Also gäbe (oder gübe?) ich meinen Worten noch ein wenig Nachdruck: »Ja, Sie! Sie sind ja wie die Proserpina! Hallo!!« Jetzt schaute mich die junge Frau an. Und mit ihr der gesamte Wagon. »Ja, Sie meine ich. Proserpina, was? Hahahaha!«, würde ich sagen, um mich so geschickt jovial und menschenfreundlich zu geben. Ohne dabei meine Stimme zu senken, was auf Kosten meiner Jovialität und der Menschenfreundlichkeit ginge. »Bitte?« sagte die junge Frau dann. »Na, Proserpina. Auch gern Persephone, wenn Ihnen das lieber ist. So sehen Sie aus.« »Wie bitte?« »Jajajaja, jetzt stellen Sie sich doch nicht blöd, junge Frau! Sie wissen doch! Proserpina! Hehehe ...« Ich zwinkerte ihr zu, wie man sich nur in den Kreisen der humanistisch gebildeten Klasse zuzwinkert. Mal abgesehen davon, dass man sich in diesen Kreisen wahrscheinlich überhaupt nicht zuzwinkert. Aber das würde hier niemand bemerken. Das Bildungsniveau! 4 76 4 77 SERVUS PIEFKE ! i/ůPITEL no. 13 DEUTSCHLAND UND DIE BILDUNG Die Frau blickte mich nun auf eine Art an, die Bewunderung in ihren Augen vermuten ließe. Oder blankes Unverständnis. Dafür genösse ich die ungeteilte Aufmerksamkeit des Wagons. Des ganzen Wagons. »Hallo, hallo, hallo!«, versuchte ich sie sanft, freundlich und einfühlsam auf den Weg der Erkenntnis zu locken, »Du. Der Granatapfel. Hier unten. Winter ... klar?« Nichts. »Ich weiß nicht...« »Na, jetzt verstellen Sie sich nicht junge Frau! Das ist doch blanke Absicht, was Sie hier tun. Ich seh das doch! Hahaha. Und muss Ihnen sagen: Sehr gelungen!« Die junge Frau blickte sich stolz zu unseren Mitfahrgästen um. Oder hilfesuchend. Ich entschiede mich aber für Ersteres. »Ja, das ist wirklich sehr, sehr treffend modernisiert, was Sie da tun. Ehrlich. Ich hab es nicht gleich kapiert, aber wie Sie dann den Granatapfel herausgeholt haben, war es mir klar.« Und dann beugte ich mich ein wenig zu ihr hinüber - wodurch ich den alten Herrn neben mir fast vom Sitz schöbe - und flüsterte: »Und ich finde es super, wie Sie das machen.« »Bitte waaas?« Sie stellte sich ahnungslos. Ich stockte kurz. Könnte es sein, dass ich sie missverstanden hätte? Aber kurz darauf würde mir klar, dass dies zu ihrem Spiel dazugehörte. »Jajajaja ... sehr gut, machen Sie nur weiter so! Sie sind ja noch besser, als ich dachte. Diese Ahnungslosigkeit! Wie Sie sich zieren. Gehört natürlich dazu! Perfekt! Hahahaha!« Mein Lachen dröhnte durch den Wagon. Und wie ich mich selber so hörte, dämmerte mir erst, was sie von mir wollte. »Ach, soooooo haben Sie sich das gedacht! Jetzt verstehe ich! Ich soll also mitspielen ... Na, das hätten Sie mir aber auch früher sagen können. Aber okay.« Und angespornt durch ihr nonverbales Angebot, stünde ich auf und begäbe mich zu ihr. Da plötzlich. Die Stimme eines der jungen Männer im weißen Kapuzenpulli. »He, du Spinner, lass die Frau in Ruhe!« »Ach. schweig Er! Er, der nicht versteht, was hier vor sich geht. Dies liier ist ein weltbewegend Ding, und Ihr«, mit diesen Worten wendete ich mich an den ganzen Wagon, in dessen Mitte ich stünde. »Ihr alle seid nur Schatten hier in der Unterwelt.« »Ich glaub, dem jungen Mann geht es nicht ganz gut.« »Ach was, das sind diese Drogensüchtigen.« »Isch glaub, isch hau ihm gleisch eine auf die Fresse.« »Von wegen Schatten, der hat ja selber einen Schatten!« So tönte es mittlerweile vielstimmig durch mein Reich. Doch es wären nur die Stimmen der Toten, deren Herrscher ich nun bin, und sie könnten mir nichts anhaben. «Ich heiße Euch zu schweigen, Schatten! Denn ich bin der Hades, der I lerr der Unterwelt, und dies ist mein Weib!« Und ich zeigte auf die junge Frau, die ihre Fingernägel voller Ehrfurcht tief in den Granatapfel gegraben hätte, und mich mit großen Augen bewundernd anblickte. Mit einem Blick, den weniger bedarfte Gemüter auch als blankes Entsetzen missdeuten könnten. Ich jedoch fühlte mich erst richtig angespornt. »Oh ja, Du bist es Persephone, die man auch Proserpina nennt, Tochter der Demeter. Du mein Weib, das ich einst aus Sizilien entführte und hierher mit hinabnahm in diese meine Unterwelt!« »Von Sizilien bis hierher? Da seid ihr aber oft umgestiegen!«, würde ein ewiger Zweifler dazwischenwerfen. Doch ich wischte die geografisch-verkehrstechnischen Details beiseite. Wozu wäre ich denn der Gott der Unterwelt? »Ia, geraubt habe ich Dich Deiner Mutter und hierhergebracht. In mein Reich.« Da würfe eine Frau, die Juristin sein könnte, dazwischen: »Das ist entweder Freiheitsberaubung oder Zwangsheirat oder beides. Auf jeden Fall eine strafbare Handlung, mein Herr!« Und das ginge mir gegen den Strich. »Ich werde dir etwas über Strafe erzählen, du quäkende Nymphe! Wer hier noch einmal das Wort gegen mich erhebt, den setze ich, wie 78 I 79 SERVUS PIEFKE p|T£L N0 )3 DEUTSCHLAND UND DIE BILDUNG einst den stolzen Theseus, auf den Stuhl des Vergessens, von dem sich keine menschliche Seele mehr erhebt, weil sie nicht mehr weiß, wessen Eltern Kind sie ist, wo die lieblichen Auen ihrer Heimat liegen oder welchem Liebsten ihr Herz gehört. Dort sitzt ihr dann ... bis ans Ende der Welt!« Das wirkte, und der Wagon verstummte. Nur irgendwo wäre ein Flüstern zu hören: »Klingt geil. Wo kriegt man dieses Zeug?« Doch ich wendete mich nun wieder meinem Weibe zu. »Liebste Proserpina, holdes Weib, Königin der Unterwelt! Mit dieser Frucht ...« - dabei deutete ich auf den Granatapfel -, »hast Du mir ein Zeichen gegeben. Das Zeichen, das wir zueinandergehören. Denn die Tage als Du bei mir warst, Deiner Mutter entrissen, als Du Dich mir verweigertest, wolltest Du nichts von mir und meinem Reich wissen. Keinen Wein, den ich Dir kredenzte, wolltest Du trinken. Kein Schabernack konnte Dich zum Lachen verführen. Und kein iPad mit aberwitzigen Apps ward einst schon erfunden, um Dich zu erheitern. Auch essen wolltest Du nichts. Und Deine Mutter, die Göttin der Fruchtbarkeit, war über Deine Abwesenheit so bekümmert, dass sie alle Pflanzen auf der Erde verdorren ließ. Kein Korn wuchs, keine Blume blühte, keine Frucht gedieh. Gedieh ... nein ... Gedeih und Verderb war alles auf Erden. Da ... erinnerst Du Dich noch, holdes Weib? ... da schritt Zeus ein, und ich sollte Dich wieder freigeben.« Ich blickte mich um. Alles lauschte gespannt. »Jedoch nur, so der Spruch meines Bruders, des Göttervaters Zeus, jedoch nur, wenn Du keinerlei Speise von mir angenommen hättest. Aber Du hattest. Die Kerne des Granatapfels hatten Dir gemundet. Vier Stück nur. Aber diese vier Stück erlauben mir, Dich jedes Jahr zu mir herabzuführen, für vier Monate. Einen Monat für jeden Kern. Und in dieser Zeit lässt Deine Mutter die Erde verdorren. Und kalte Winde fegen über das Land. Und Frost und Schnee übernehmen die Regentschaft. Mit einem Wort: Es ist einfach ein Scheißwetter. Und diese Jahreszeit ist jetzt und heißt Winter. Und Du bist schuld daran.« Alle blickten mich an. Ich hielte meinen Arm ausgestreckt und böte der jungen Dame meine Hand. Und sie stünde auf und wir schritten du ich die Schatten der Fahrgäste hindurch, die sich ehrfürchtig vor uns verneigten. Vor dem Herrscher der Unterwelt und seiner Gemahlin. Aber ich tat es nicht. 1 )enn da kam schon die Station »Hauptbahnhof«. Ich musste also raus und konnte der jungen Frau mit dem Granatapfel bloß noch ein Zwinkern zuwerfen, wie es nur in den Kreisen der humanistisch gebildeten Klasse zu finden ist, und ihr zurufen: »Proserpina, was?« Sie sah mich aber nur überrascht an und fragte: »Welches Proseminar?« Dann war ich draußen und dachte mir, dass es wirklich traurig aussähe mit dem Bildungsniveau in diesem Land. Aber ich könnte ja eine Geschichte darüber schreiben. Vielleicht eine mit ziemlich vielen Konjunktiven. Damit hebte ich wenigstens das sprachliche Niveau. Oder höbe es sogar. Ich würde mit Zeus darüber sprechen müssen. 80 81 KAPITEL NO. 14 DEUTSCHLAND UND DAS TIER SERVUS PIEFKE 14/ Deutschland und das Tier Zoologie Wenn der Frühling kommt, ist es herrlich. Alles blüht und gedeiht. Die Pflanzen sprießen, und Mensch und Tier sausen durch die erblühende Natur auf der Suche nach Nahrung, Sonnenschein und Paarungspartnern. So ist es und so soll es sein. Nur leider gibt es Menschen, die - wohl aufgrund der steigenden Temperaturen - den Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht mehr ganz genau ausmachen können. In München etwa. Da sitz ich kürzlich in einem Biergarten bei einem Weißbier, genieße die Frühlingssonne und höre, wie sich am Nebentisch ein Gespräch entspinnt. Eine Frau mittleren Alters und mittleren Alkoholkonsums legt ihren Tischnachbarn lauthals in breitem Bayrisch ihre Meinung über die Verbindung von Libido und Vegetarier-Dasein dar: »Nia, nia ned (niemals) könnt i mit an Metzger z'ammsei (Zusammensein)!« »Must ja aa net!« »Na, nia könnt i des! Oder könnt'st du a Viech (Tier) umbringa?« »Ich liebe Viecher (Tiere). Wann's tot san.« »Das sag i dir, da nehmat (nähme) i liaba (lieber) an Totengräber!« Das find ich logisch. So ein Totengräber bringt ja keine Tiere um (mal abgesehen von zwei, drei Regenwürmern), und wenn doch, kann er sie auch gleich verscharren. Doch die Frau hat noch mehr zu sagen: »I wui nur, dass ihr des wisst's: Mi interessier'n Kinder ned. Aber die Viecher! I dad (würde) am Tier mehr heifa (helfen) ois wia (als) am (einem) Kind!« Von so viel Ehrlichkeit sind nicht alle am Tisch restlos begeistert. Und es werden Gegenstimmen laut. Denn Tiere sind auch in Deutschland gerne Objekte leidenschaftlicher Streitereien. Nicht erst seit den Krötenwanderungen, dem Schutz der Haselmäuse und den Killerhunden. So ist München beispielsweise die Stadt mit den meisten Single-Haushalten in der Bundesrepublik. Und mit den meisten Hunden. Da stellt sich doch die Frage: Haben sich all diese Singles einen Hund zugelegt, weil sie sich sonst so alleine fühlen? Oder zerbrechen andauernd Beziehungen, weil sich einer der beiden mehr für den Hund interessiert als für den Partner. Und dann zieht der eine aus und nimmt den Hund mit. Und der andere kauft sich einen neuen Hund, weil er sich sonst so alleine fühlt. Und schon gibt es wieder einen Single-Haushalt und einen Hund mehr. Das ist wie mit der Henne und dem Ei. Schon wieder ein Tier! 82 SERVUS PIEFKE Und während ich in diesem Münchner Biergarten sitze und über Tiere sinniere, wächst sich das Gespräch hinter mir langsam zu einem Streit aus. Da versucht die tierliebende Frau einen Kompromiss: »Okeh, sogn ma (sagen wir) d' Natur. I bin für d' Natur! Wurscht, ob Kinder oder Viecher, Hauptsach': Natur! Oiso, wann Kinder Natur san (sind), dann bin i aa (auch) dafür.« Da haben jetzt die natürlichen Kinder Glück gehabt, denk ich mir, und für die unnatürlichen Kinder brechen harte Zeiten an, denn diese Naturbefürworterin wird ihnen im Zweifelsfall nicht helfen. Damit war die Sache eigentlich geklärt, nur scheint eine andere Frau am Tisch noch nicht so ganz zufrieden zu sein (Vielleicht hat sie ja unnatürliche Kinder zu Hause?) und blickt unsere Naturfreundin scharf an. Das bemerkt diese natürlich. Und während die Auseinandersetzung am Nebentisch mit Beschimpfungen, Verallgemeinerungen und Alkohol wieder an Fahrt gewinnt, grüble ich über Natur, Tiere und Deutsche nach und frag mich schließlich, was denn von seiner Natur her das deutscheste aller Tiere sein könnte. Der Adler, würden jetzt vielleicht manche sagen, da er ja auch das Bundeswappen ziert. Sicherlich, ein imposanter Vogel, der Herr der Lüfte, er haust in den Bergen und sein Bau heißt Horst. Und das ist doch nach wie vor ein sehr beliebter deutscher Vorname. Aber ich denke, er passt nicht wirklich. Denn erstens steht der Adler unter Naturschutz und ist vom Aussterben bedroht, die Deutschen sind das (trotz gegenteiliger Meinung der NPD und des Herrn Sarrazin) sicherlich nicht. Und zweitens weiß ich noch genau, wie der Adler auf den deutschen 1-Mark-Münzen ausgesehen hat: Ein vollkommen verfettetes Tier mit verkümmerten Gliedmaßen, dessen gewaltiger Rumpf es keine zwei Zentimeter vom Boden hätte abheben lassen. Das war eigentlich kein Adler, das war ein Kapaun an Karneval. Natürlich gibt es als zweiten logischen Kandidaten den Schäferhund. Den deutschen Schäferhund! Ein schlaues Tier. Durchaus ansehnlich. Ein wenig überzüchtet, mit Haltungsschäden, aber dafür 83 KAPITEL NO. 14 DEUTSCHLAND UND DAS TIER vielseitig einsetzbar. Er ist gerne Diensthund bei Polizei, Militär und beim Zoll, Rettungshund, Lawinensuchhund und Blindenhund, er findet sich auch auf dem Cover dieses Buches, ja, er wäre perfekt, wenn nicht... Hitler einen gehabt hätte. Gut, der war eigentlich Österreicher. Aber dennoch: Aufgrund der historisch gewachsenen Verantwortung Deutschlands, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und seiner Rolle während des Zweiten Weltkrieges - so in etwa würde das der Bundespräsident formulieren - geht das gar nicht. Sorry. Wir Österreicher könnten den Schäferhund freilich ohne weiteres zu unserem Nationalsymbol erwählen, wir waren ja nicht dabei - aber zu uns passt er leider nicht. Ansehnlich und vielseitig einsetzbar? Wir doch nicht. Zu uns würde eher ein Igel passen oder eine Schildkröte oder ein Silberfischchen. Oder eine Kellerassel. Wie auch immer - mein Weißbier geht langsam zur Neige, und der Streit am Nebentisch droht zu eskalieren. Die Frau mit der natürlichen Tierliebe und freiwilligen Metzgerabneigung schreit ihr weibliches Gegenüber mittlerweile unumwunden an: »Du schaugst mi o (an) wie a Mörderin, bloß weil i mi für Tiere ... interessiere!« Das nun ausbrechende Schreiduell ignoriere ich und hänge weiter meinen eigenen Gedanken nach. Ich verwerfe im Kopf potenzielle deutsche Nationaltierarten. Ich streiche den Vogel Strauß, auch wenn er sowohl die berühmte »German Angst« als auch den ehemaligen bayrischen Ministerpräsidenten repräsentieren könnte. Kurz überlege ich, ob nicht der Regenwurm denkbar wäre. Schließlich ist er bestens angepasst an das deutsche Wetter, hat ein sehr bewegliches Rückgrat, ist fest verbunden mit der Heimaterde und hält auch historischen Vergleichen problemlos stand - leben doch beide Enden munter weiter, wenn er geteilt wird! Leider kann er aber überhaupt nicht marschieren, Auto fahren und ist auch in der Industrie nicht verwendbar. 84 SERVUS PIEFKE Schließlich komm ich zu dem Schluss, dass das deutscheste aller Tiere natürlich, ohne Zweifel und fraglos, nur eines sein kann: die eierlegende Wollmilchsau! Erstens besitzt sie höchste Funktionalität. Sie kann Rohstoffe für Pullover, Janker, Mützen, Rührei, Schweinebraten und Pfannkuchen gleichzeitig herstellen, auf Wunsch auch einen Pullover aus Pfann- j kuchen und eine Mütze aus Schweinebraten. Zweitens ist sie die perfekte Kreuzung aus Machbarkeitswahn und Sicherheitsdenken und so in jeder Situation einsetzbar. Drittens trägt sie die typisch deutsche Allmachtsfantasie in sich, sie ist sozusagen die V2 der Zoologie - denn wenn man so ein Tier hätte, dann könnte man die Welt schon morgen mit Mützen aus Schweinebraten versorgen. Und viertens - und das ist das Allerwesentlichste - ist sie absolut unübersetzbar. Eine derartige Konstruktion ist in anderen Sprachen undenkbar, im Deutschen aber ein geflügeltes Wort. Also fliegen kann sie auch. Ja, da bin ich mir sicher, sie ist das perfekte Tier für Deutschland! Leider existiert sie nicht. »Aber das ist ja nicht mein Problem, ich bin ja Wiener«, sag ich mir und bringe mein leeres Weißbierglas zur Pfandrückgabe, während die Frau mit ihrer Liebe zur Zoologie mittlerweile alleine am Tisch sitzt und in ihren Maßkrug schimpft. Aus der Ferne hört es sich fast wie das Bellen eines Hundes an. Find ich irgendwie tierisch. 85 KAPITEL NO. 15 DEUTSCHLAND UND DER PATRIOTISMUS T 15/ Deutschland und der Patriotismus Wer ist wer? Manchmal versteh ich Dinge auch einfach nicht. Kürzlich hat zum Heispiel jemand in einer Diskussion den schönen Satz gesagt: »Wir sind wieder wer.« Das ist einer jener Sätze, die ich als Wiener einfach nicht versteh. Wir waren immer wer, wir sind immer wer und werden immer wer sein. Und selbst, wenn wir nicht mehr sind, wird immer noch ein Wein sein. Und den wird dann schon wer trinken. Also hab ich dem, der das gesagt hat, erwidert, wie unverständlich das für mich ist, und ob er mir nicht erklären kann, was das heißen soll: »Wir sind wieder wer.« 86 87 SERVUS PtEFKE KAPITEL NO. 15 DEUTSCHLAND UND DER PATRIOTISMUS Daraufhat er nur leise gelächelt, irgendetwas über »diese Österreicher« fallen lassen, sich jovial zu mir herübergebeugt und gesagt: »Na, das ist ganz einfach. Das heißt, dass wir wieder wer sind!« Ich: »Ja, klar. Aber wer ist wer?« Er: »Wie, wer ist wer?« Ich: »Wer ist wir? Wer ist wieder wer?« Er: »Na, Deutschland.« Ich: »Also: Deutschland sind wieder wer? Das kommt mir doch grammatikalisch fragwürdig vor. Ist das korrektes Deutsch?« Er: »Also bitte, wenn du unbedingt willst ...« (Das ist auch etwas, das ich an Deutschland liebe: Man kennt sich keine zwei Minuten, und schon duzt man sich, so als hätte man gemeinsam den Wehrdienst geleistet. Es ist wie ein großer Ikea, dieses Land.) »Also bitte, wenn du unbedingt willst, bitte: Deutschland ist wieder wer.« Ich: »Also Deutschland ist wieder wer.« Er: »Ja, genau!« Ich: »Und wer?« Er: »Willst du mich verarschen, oder was? Das hab ich doch schon gesagt: Deutschland.« Ich: »Aha! Deutschland ist also wieder Deutschland. Aber wann war denn Deutschland nicht Deutschland?« Er: »Na, während der Teilung.« Ich: »Wieso? Da gab es doch zwei Deutschlands. Eines mehr als jetzt, Waren dir das zu viele Deutschlands? Weil dann die Deutschlands wieder im Plural sind?« Er: »Nein, so war das nicht gemeint. Schau, das verstehst du als Österreicher wahrscheinlich nicht. ,Wir sind wieder wer', heißt einfach: ,Wir sind nicht niemand'.« Ich: »Deutschland ist also nicht niemand, sondern ... ?« Er: »Na, eben wer.« Ich: »Also damit ich das richtig verstehe: Deutschland sind nicht. Und Deutschland ist nicht niemand, sondern Deutschland ist wer. Aber wer?« I-1" »Bist du begriffsstutzig? Nein, man ist wer. Verstehst du. Endlich wieder!« Ich: »Wieso wieder?« llr: »Na, seit der Wiedervereinigung.« Ich: »Ja, aber das deutet ja wieder daraufhin, dass Deutschland schon mal wer war. Wann war denn Deutschland das letzte Mal wer?« I'.r: »Naja, ... 193 ... also nein, eher ... ich meine eben, früher. Ich bin da nicht so gut in Geschichte. Seit... seit... ach! Das ist mehr so ein Gefühl.« Ich: »Also muss es nicht unbedingt ,wieder' sein.« I-r: »Nein.« Ich: »Also Deutschland ist wer. Das klingt aber fast nach einer Frage: Deutschland ist... wer?« Er: »Nein. Das ist mehr so eine Gefühlsfrage. Man ist wieder ... also, man ist selbstbewusst.« Ich: »Gefühltes Selbstbewusstsein? Ich dachte, Bewusst-Sein hätte etwas mit den kognitiven Fähigkeiten zu tun. Also mit dem Hirn. Fühlt man Deutschland mit dem Hirn?« Er: »Nein, ich meine das Selbstgefühl. Verstehst du? Man spürt die Kraft, die von diesem Land ausgeht.« Ich: »Meinst du die ganzen Facharbeiter und Akademiker, die nach Kanada, Australien und in die Schweiz auswandern?« Er: »Nein. Die Selbstwahrnehmung: Man fühlt sich wieder deutsch.« Ich: »Ach so! Man fühlt sich also, wenn man wer ist, wieder deutsch.« Er: »Genau!« Ich: »Dann heißt das also: Deutschland ist deutsch.« Er: »Ja!« Ich: »Das hab ich kürzlich erst irgendwo gelesen ... ich glaub, auf einem NPD-Plakat.« Dann ist er aufgestanden, hat »Arschloch« gesagt und wollte nicht mehr mit mir reden. Ich hab es von Anfang an befürchtet: Ich versteh das nicht. 88 89 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 15 DEUTSCHLAND UND DER PATRIOTISMUS Dabei ist es ganz einfach: Denn Patriotismus ist in Deutschland ganz normal. Und heißt Schwarz-Rot-Geil. Und obendrein ist er gesund. Er sei ein gesunder Patriotismus, sagt der Patriotismus. Also kein ungesunder. Kein kränkelnder, kein zersetzender, kein volksschädigender, kein verweichlichter, kein krankhafter, kein entarteter - sondern eben ein gesunder. Und fröhlich. Eine einzige Party. Eine Party, die völlig ungelenkt, absolut spontan, ohne die Unterstützung von Massenmedien und Merchandising-Produkten, plötzlich aufpoppt. Spontan auftritt. Immer im Sommer und alle zwei Jahre. Venedig hat die Biennale, Deutschland den völlig gesunden und natürlichen und spontanen Patriotismus, der sich an Fußballgroßereignissen orientiert. Oder wenn Lena gerade die Sprache der Engländer und Amerikaner, im Übrigen beides Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, vor aller Welt durch den Kakao zieht. Ohne einen richtigen Ton zu treffen. Das ist aber wurscht, das tun die Fußballfans auch nicht. Die können nicht einmal ganze Wörter aussprechen und singen also: Schlaand (hier geht es etwa eine Quart runter), Schlaand (ungefähr eine Quart wieder rauf), Schlaand (ansatzweise eine Quart runter), Schlaand ... so geht das den ganzen Sommer. Und der unbedarfte zuhörende Wörterbuchbesitzer fragt sich: Fehlt da nicht ein Deut? Aber vielleicht wäre ja gerade dieser Deut das Ungesunde. Das wäre zu deutlich. Und dann wäre der Patriotismus nicht mehr normal. Patriotismus muss also anscheinend undeutlich sein, um gesund zu bleiben. Deutlichkeit ist also unpatriotisch, unnormal und ungesund. Fragt sich nur, für wen. Wahrscheinlich für das »Volk«. Ein Begriff, der gerade fröhliche Urständ feiert. Lange war er im Giftschrank der Diskurshüter eingeschlossen, aber irgendwie, wie im Märchen, ist er seinen Kerkermeistern entwichen. Wahrscheinlich haben die im Fernsehen die Fußballweltmeisterschaft geschaut. Es muss also ein Sommermärchen gewesen sein. Und da war der Begriff wieder frei und hat sich unters Volk gemischt. Also unter sich selbst. Um nicht zu sagen: unter seinesgleichen. Und »Volk« ist ja auch zu schön. Fast zu schön, um wahr zu sein. Volk klingt ein wenig nach Mittelalter, ein wenig nach Hollywood, ein wenig sehr romantisch. Volk - da ist man Teil von etwas Größerem! Wie unsexy dagegen der altersschwache Ausdruck »Bevölkerung«. I )a ist man nicht Teil von etwas - bei der Bevölkerung ist man nur dabei. Oder noch schlimmer: darunter. Bevölkerung gab es nur in der Bundesrepublik. Die ist auch verschwunden. Ab und zu taucht sie noch als »alte Bonner Bundesrepublik« auf, sonst gibt es nur noch Deutschland. Bundesrepublik aber ist etwas für das »Haus der Geschichte«. Das steht ja auch in Bonn. So wie die Zentrale der Post. Aber wer schreibt heute noch Briefe? Irgendeine verschwindende Minderheit, die noch »Bevölkerung« sagt und glaubt, in der Bundesrepublik zu wohnen. Heute schreibt man E-Mails, twittert, lebt in Berlin, in Deutschland und ist Volk. Und ein Volk braucht nicht nur ein einig deutsches Vaterland, sondern auch ein Symbol. Erstaunlicherweise hat die Ingenieursnation Deutschland kein technisches Symbol. Keine funktionsfreie, aber elegante Konstruktion wie den Eiffelturm. Kein historisch inszeniertes aufklappbares Brückenkunstwerk wie die Towerbridge. Ja nicht einmal ein Riesenrad! Deutschland hat das Brandenburger Tor. Nicht gerade eine technische Meisterleistung. Aber wenigstens in Berlin. Und wenn man dann einmal hinfährt, um es sich anzusehen, steht neben einem ein badischer Tourist, der ein wenig enttäuscht vor sich hin murmelt: »Also des han i mir größer vorg'stellt.« Und da hat er recht. Laut Elias Canetti und seinem Werk Masse und Macht ist das deutsche Nationalsymbol ja eigentlich das Heer. Das klingt zunächst nach einem billigen Vorurteil. Oder aber von jemandem, der Zeitzeuge des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges war, eindeutig biografisch gefärbt. So einfach ist es aber nicht. Denn für Canetti ist das Heer 90 91 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 16 DEUTSCHLAND UND DIE MOBILITÄT bereits eine Übersetzung des eigentlichen nationalen Symbols. Es isl der marschierende Wald. Der Mensch verliert sich im Wald zwischen den Stämmen, wird Teil eines größeren Ganzen und findet sich im preußischen Militarismus wieder, der das Heer zum »laufenden Wald« macht. Der deutsche Wald also. Und irgendwo hat der Gedanke ja auch was. Man denke an die zahlreichen deutschen Volkslieder, in denen man sich im Wald wähnt: Nun ruhen alle Wälder, Der Jäger in dem grünen Wald, Es steht ein Baum im Odenwald (dort gibt es im Übrigen auch eine recht aktive Neonazi-Gruppe, aber das nur nebenbei). Wo in englischen Liedern lieber von grünen Auen und sanften Hügeln der Heimat die Rede ist, haben sich die Romantiker in Deutschland gern im Wald verloren. Und wen wollten denn die Grünen vor dem sauren Regen bewahren? Den Wald. Und was ist die erste Schlacht, die jedes deutsche Schulkind lernt? Die Schlacht im Teutoburger Wald, Und könnte nicht auch der Wunsch, stets ein Teil eines größeren Ganzen zu sein, von niemandem besser formuliert werden, als von einem einsamen Baum? (Abgesehen davon, dass Bäume meist nichts formulieren.) Und wann wird es dem Deutschen so richtig mulmig? Wenn er »den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht«. Nur noch Artgenossen, kein größeres Ganzes... Aber das sind natürlich Überlegungen von vorgestern. Die Franzosen laufen ja auch nicht mehr, wie zu Napoleons Zeiten, kleinwüchsigen, größenwahnsinnigen Präsidenten hinterher. Und auch das deutsche Volk hat dazugelernt. Man ist nicht mehr so. So dunkel bewaldet und militärisch, sondern aufgeschlossen, modern und weltoffen und trotzdem patriotisch. Alle zwei Jahre wenigstens. Schwarz-Rot-Gesund! Wenn ich das richtig verstanden habe ... 16/ ] )eutschland und die Mobilität Baby, You Can't Drive My Cor Jetzt muss ich es doch einmal gestehen. Diese unangenehme Wahrheit ist nicht länger zu verschweigen. Darum sag ich es geradeheraus: Ich kann nicht Auto fahren. Ich besitze nicht mal einen Führerschein. Wozu auch? Es gibt öffentliche Verkehrsmittel, Fahrräder und Füße. Und wenn ich ausnahmsweise mal wirklich ein Auto benötige, leiste ich mir ein Taxi. Da muss ich erstens nicht selbst fahren, und über den Verkehr ärgert sich auch der Taxifahrer für mich. Natürlich werde ich dafür in Deutschland gerne belächelt. »Österreicher ohne Führer-Schein ... hahaha!« Das macht mich natürlich ei n bisschen zum Idioten, aber dafür wenigstens politisch unverdäch- 92 93 SERVUS PIEFKE ITEL NO. 16 DEUTSCHLAND UND DIE MOBILITÄT tig. Und ich gönne den Menschen ihren Spaß. Schließlich ist auch für mein Amüsement gesorgt, wenn ich in meiner Küche stehe, Zwiebeln schneide, dabei dem Verkehrsfunk lausche und dann so schöne Sätze höre, wie: »Und jetzt die Verkehrsmeldungen mit Staus über 65 Kilometer Länge.« Denn von Saarbrücken bis Dresden und von Kiel bis Kufstein steht man in Deutschland im Stau. Jeden Tag. Das Auto-Mobil, die viel besungene »heilige Kuh«, ist in Deutschland längst zum Auto-Immobil geworden. Zwar kann man sich damh kaum bewegen, aber dafür sitzt man selber darin. Es sind kleine Burgen aus Metall und Plastik, die dicht aneinandergereiht stehen, wie Wellblechhütten in südamerikanischen Slums. Nur haben Slums wenigstens ab und zu einen Wasseranschluss. Aber warum tun sich die Deutschen das an? Wer nur flüchtig hinsieht, mag den Eindruck haben, die Deutschen bewegen sich gerne. Oder versuchen es zumindest. Einfach so. Aus Spaß. Wie die Jungs in den italienischen Städten, die mit ihren Vespas ohne Ziel und ohne Sinn und Verstand immer und immer wieder um den Häuserblock fahren. Hupend, versteht sich. So, hab ich anfangs auch geglaubt, so fahren die Deutschen auch einfach gerne in der Gegend herum. Nur nicht um einen Häuserblock, sondern um das ganze Land. Dauernd fahren sie von München nach Stuttgart, von Stuttgart nach Frankfurt, von Frankfurt nach Köln, von Köln nach Hamburg, von Hamburg nach Berlin, von Berlin nach Dresden, von Dresden nach Leipzig, von Leipzig nach Nürnberg und von Nürnberg wieder nach München, von wo sie wieder nach Stuttgart aufbrechen. Man könnte diese Rastlosigkeit als Ausdruck allzu großer Lebensfreude missverstehen. Als ein Zeichen von überschäumendem Übermut, der C02 in die Luft jagt und Feinstaub in die Wohnungen und Lokale bläst (wo dafür das Rauchen aus gesundheitlichen Gründen verboten ist). Oder als fanatisierte Liebe zu ihrem Vehikel, die im Akt des Fahrens ihren fast geschlechtlichen Ausdruck findet. Erst wenn man spürt, wie der fahrbare Untersatz über den Asphalt rollt, dann ist man wirklich mit ihm vereint und fühlt sich lebendig. Volvo ergo sum -würde der Lateiner sagen. Wenn er nicht schon ausgestorben wäre. Apropos ausgestorben: Ich hab auch schon versucht, es historisch zu begründen. Sind die Deutschen nicht hervorgegangen aus Völkerscha-ren, deren gemeinsames Schicksal es war, es NICHT über die Alpen geschafft zu haben? Und so versuchen sie Tag für Tag aufs Neue, diesen historischen Fehler zu korrigieren. Nur um es am Ende dann wieder is'ICI IT über die Alpen zu schaffen, weil sie im eigenen Land herum-sau.sen wie ein Haufen verrücktgewordener Ameisen auf Kokain. Vielleicht könnte man auch die verblichenen mittelalterlichen Reisekönige als Kronzeugen heranziehen. Die sind ja auch mit ihrem Hofstaat von Pfalz zu Pfalz gezogen, um Gericht zu halten, den Zehent zu kassieren und die örtliche Damenwelt zu beeindrucken. Sind das dann alles kleine Könige, die in ihren automobilen Burgen durch das I.nnd düsen? Oder sind Wirtschaft und Föderalismus schuld daran? Werden die Menschen in Deutschland durch den ständigen Konkurrenzkampf der Kommunen und Länder, durch diese endlose Schlacht um Standortvorteile, schlicht dazu gezwungen, von der Stadt mit der besten I .cbensqualität in den Landkreis mit denbestbezahlten Arbeitsplätzen über das Bundesland mit dem breitesten Kindertagesstätten-Angebot zu der Kommune mit den seniorengerechtesten Wohnbauten hin und her zu hetzen, sodass sie gar nicht mehr wissen, wo sie eigentlich zu Hause sind? So vernünftig das alles klingen mag - ich fürchte, die Wahrheit ist viel erschreckender und grausamer: Es liegt am Dreißigjährigen Krieg. Also an jenem Konflikt, der angeblich 1648 beendet wurde. 94 95 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 17 DEUTSCHLAND UND DIE VERGANGENHEIT Und genau das stimmt nicht. Er wird weitergeführt. Denn auf Deutschlands Autobahnen hat dieser Krieg nie aufgehört. Hier kämpfen immer noch Böhmen (Skoda) gegen Schwaben (Mercedes), Bayern (BMW) ringen mit Niedersachsen (VW), es fallen die Schweden (Volvo) ein, und die Franzosen (Renault, Peugeot) wollen auch ihren Teil vom Kuchen. Und die Habsburger senden ihre spanischen Truppen (Seat) in die Schlacht. Es ist ein brutaler Machtkampf. Eine Schlacht um die Vorherrschaft. Es regiert das Gesetz des Stärkeren. Es gibt keine Regeln, das heißt: Geschwindigkeitsbeschränkungen, und wer im Straßengraben zurückbleibt, dem sind Hohn und Spott der anderen sicher. Was früher Hellebarde, Armbrust und Kanonen waren, sind heute PS, ABS und Airbag. Das »Warum?« ist schon lange obsolet geworden, der Krieg ernährt sich selbst und verwüstet dabei rücksichtslos ganze Landstriche. Der ADAC ist die Mutter Courage, und die namenlosen Opfer, die Jahr für Jahr in der Statistik der Verkehrstoten auftauchen, sind jene zivilen Opfer, die jeder Krieg fordert und die man heute »Kollateralschäden« nennt. Aber die sind egal, denn der Krieg geht weiter. Tag für Tag. Und kein Westfälischer Friede wird ihn beenden. Vielleicht wird er eines Tages einfach einschlafen, weil ihm das Öl ausgeht. Dann können die Überlebenden auf den Autobahnen kegeln und die Tankstellen zu Ferienhäusern umbauen. Doch bis dahin seien Sie auf der Hut, wenn Sie auf die Autobahn müssen, dort sind die Menschen unberechenbar. So habe ich kürzlich das Gespräch von zwei Frauen belauscht. Da sagte die eine: »Mein Mann ist eigentlich sonst ein ganz ein Ruhiger, aber beim Autofahren schreit der herum wie ein Wahnsinniger!« Darauf die andere: »Ja, das gibt es oft. Viele fahren dann ja auch in den Wald und schreien dort.« Darauf meinte die erste wieder: »Ja, aber da müssen die ja auch mit dem Auto hinfahren.« Und deshalb hab ich keinen Führerschein. 17/ Deutschland und die Vergangenheit Die gute alte Zeit Wien ist die Hauptstadt des Historismus. Wenn ein Gedanke, eine Idee oder auch eine Person so richtig tot ist, dann wird er oder sie in Wien erst so richtig lebendig. Die Gegenwart ist in Wien unbeliebt. Während sie in Deutschland eine Herausforderung ist, ist sie in Wien immer eine Bedrohung, ein Ärgernis, zumindest eine Belästigung. Wir Wiener kommen erst dann, wenn alles vorbei ist. Oder wie es auf einer Postkarte formuliert war, die ich kürzlich in Wien in einer Schaufensterauslage gesehen habe: »Wenn der Weltuntergang naht, kommen Sie nach Wien - da passiert alles 20 Jahre später.« Sehen Sie: Auch die Zukunft ist in Wien schon Vergangenheit. 96 97 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 17 DEUTSCHLAND UND DIE VERGANGENHEIT Und die Vergangenheit ist immer allgegenwärtig. Die gute alte Zeil. So sitz ich im Kaffeehaus in Wien. Neben mir eine Partie (Gruppe/ Clique) klasser Burschen (dufter Kumpels), die sich unterhalten. Also eigentlich redet nur einer, und die anderen schweigen, weil er dozierl. Über Geschichte. Wie das war 1848 bei der Revolution, Königgrätz und das Attentat auf Franz Joseph I., die großdeutsche Lösung und andere Dinge, die in unserer Geschichte gescheitert sind. Er doziert in leicht nasalem Ton, klingt betont sachlich und behauptet teilweise völlig aus der Luft gegriffene Dinge, denen er meist die Worte vorausschickt: »Und was die wenigsten wissen, ist, dass ...«, und er zieht seine Zuhörer in den Bann. Sie laben sich an den Ereignissen, diesen Dingen, »die was die damals halt wirklich glaubt ham« und natürlich an dem Faktum, dass sie es heute besser wissen. Es ist aber kein Blick zurück im Zorn. Eher einer mit einem leisen Lächeln auf den Lippen, im Wissen, dass »eh ollas irgendwann meier geht« (ohnehin alles irgendwann den Bach hinunter geht). Mir fällt Tucholsky ein, der geschrieben hat, er könne die Wiener Intellektuellen nicht leiden, weil sie alle so täten, als hätten sie mit Buddha gefrühstückt. Tucholsky ist zwar tot, aber die Wiener Geisteswelt frühstückt immer noch mit Buddha. Vielleicht sogar Buddha selbst. Sie sehen ihm nämlich teilweise ziemlich ähnlich. Wie anders ist das doch, wenn ich in Deutschland Menschen zuhöre, die sich über die Vergangenheit unterhalten. Da wird an große Zeiten gemahnt. Erinnert. Gedacht. Hier wird ins Gedächtnis gerufen, wie das war mit den Kolonien, dem »Platz an der Sonne«, wie human die Deutschen doch gewesen seien - im Vergleich zu den Engländern oder den Franzosen. Oder dass die Wehrmacht doch immerhin bis zu den Ölquellen des Kaukasus gekommen sei. Oder dass mit der »ZI« der Computer doch eigentlich von Konrad Zuse in Deutschland erfunden worden sei. Oder dass die Zeppelin-Technologie in den Zwan- ziger- und Dreißigerjahren doch revolutionär gewesen sei. Oder dass oder dass ... oder dass... Wo sich die Wiener liebevoll über ihre Vergangenheit beugen und das ständige Scheitern lächelnd betrachten, um am Ende zu dem fatalistischen Schluss zu kommen, dass es zwar schön war, aber eigentlich eh »ollas kan Sinn« hat, da betrachtet der Deutsche die hinter ihm liegenden Jahrhunderte und Ereignisse als Aneinanderreihung von Großtaten, die weltbewegend waren, zukunftsweisend und die nur zu Unrecht zu wenig im Bewusstsein der Menschen verankert sind. Takten, wie der Völkermord an den Herero im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika, dass das Öl des Kaukasus für deutsche Motoren ungeeignet war, dass die ZI im Krieg zerstört worden und dass das Luftschiff in New York spektakulär in Flammen aufgegangen ist, werden freundlich ignoriert. Das ständige Scheitern, das den Wiener erst mit der Vergangenheit versöhnt (wo kämen wir denn da auch hin, wenn es die früher besser gehabt oder gar besser gemacht hätten), wird in Deutschland entweder als historische Ungerechtigkeit empfunden oder aber als kleines, lästiges, unwichtiges Detail am Rande, das nicht weiter zu beachten ist. Und das, obwohl es diesen »Großtaten« ständig und unvermeidlich auf dem Fuß folgt. Die Vergangenheit ist für die Völker dieser Welt nun mal eine Wundertüte. Da sind wir alle gleich. Nur was sich jeder rausnimmt, das unterscheidet sich. Und wo wir Wiener uns in die selige Zeit der k.u.k.-Monarchie hineinträumen, wo die Tschechen noch Dienstboten waren und keine Nachbarn mit eigenem Staat, wo die Türken noch Feinde waren und nicht Nachbarn im eigenen Haus, und wo wir noch einen Zugang /um Meer und einen echten Kaiser hatten (eigentlich hatte der Kaiser ja uns) und nicht nur den Neusiedlersee und einen faden Kanzler, da greift der Deutsche gleich viel tiefer in seine Wundertüte hinein. Vorbei am zwanzigsten Jahrhundert mit den Verbrechen und Ideologien, tiefer als ins neunzehnte Jahrhundert mit seinen Revolutionen 98 99 SERVUS PIEFKE Kflp|TEL NO. 17 DEUTSCHLAND UND DIE VERGANGENHEIT und Einigungskriegen, auch tiefer als in den Absolutismus und die religiösen Auseinandersetzungen - gleich ganz runter, dorthin, wo es dunkel ist: ins Mittelalter. Und wo es dunkel ist und man deshalb kaum etwas sieht, kann man sich prima etwas ausdenken. Und so entstehen dann Mittelaltermärkte, Mittelalterbands, ganze Mittelalterwelten. In Deutschland gibt es eine ziemlich große Szene von Menschen, die sich regelmäßig am Wochenende irgendwo im Wald treffen, um Mittelalter nachzuspielen. Juhu, wir haben wieder Zehentabgaben, unheilbare Krankheiten und einen Alphabetisierungsgrad von zwei Prozent! Und alle glauben endlich wieder, dass die Erde eine Scheibe ist. Hier kann Hildegard von Bingen Otto den Großen treffen, ohne dass die zweihundert Jahre, die zwischen ihnen liegen, weiter stören. Dazu reicht man Kartoffelsuppe und gekochte Maiskolben und anderes, das erst durch die Entdeckung Amerikas nach Europa gekommen ist. Man spielt Märkte und Turniere nach sowie das Leben in Burgen und auf dem Land. Die gute alte Zeit wird zu neuem Leben erweckt. Hungersnöte, Pogrome und Pestgruben werden allerdings selten nachgestellt, Oder es geht noch tiefer in die Geschichte. Nicht zu den Römern, auch nicht zu den Germanen (dass die erst kürzlich sehr verehrt wurden, weiß man noch), sondern zu den Kelten. Da hat man nicht mal mehr das lästige Christentum mitzuschleppen. Hier kann man sich getrost sphärischer Musik hingeben - die gerne mal so klingt, als wäre man im Soundtrack von Der Herr der Ringe eingesperrt - und heidnische Kulte pflegen. Das keltische Sonnenrad ist in diesen Kreisen beispielsweise sehr beliebt. Ist ja auch ein uraltes Symbol. Es kommt aus Indien und heißt Swastika. Im Deutschen Hakenkreuz. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Aber Gott sei Dank gibt es neben der individuellen Vergangenheitsbenutzung auch noch die offizielle »Aufarbeitung«. Die war früher unbeliebt, da haben zornige Studenten gegen staubige Talare gewettert. Und das war richtig und wichtig für die politische Hygiene im Land. Was rauskommt, wenn man so was nicht macht, sieht man ja in Österreich, wo weite Teile der Bevölkerung glauben, die Nazis wären so etwas wie ein bisschen verrückte Pfadfinder gewesen, die schlecht in Geografie waren, weswegen sie so viel in anderen Ländern herumspaziert sind. Zumindest wählt man so, als glaubte man dies. Doch in Deutschland ist die »Vergangenheitsbewältigung« (Allein was für ein Wort! Versuchen Sie mal, das ins Englische zu übersetzen: Past-Handling? Das klingt mehr nach einem oberbayrischen Dorf...) nach vielen Jahren des Widerstands dagegen mittlerweile zum Selbstläufer geworden. Zu einem medialen Schauprozess. Das Publikum schaut (war schließlich nicht dabei) auf den oder die Angeklagten (dummerweise alle schon tot) und Staatsanwalt, Verteidiger und Richter (alle in einer Person vereint) sprechen ein ehrliches, hartes, mildes, weises und verständnisvolles Urteil, dass so viel Genauigkeit, Schärfe und Klarheit besitzt, wie das Wort zum Sonntag. Und darum passiert das auch jeden Sonntag. Denn da erscheint er auf den TV-Schirmen der Nation: Guido Knopp. Ein Mann mit einer sehr ruhigen Stimme, sehr betroffenem, sehr verinnerlichtem Gesichtsausdruck und sehr betonierter Frisur, der von gestern erzählt. Dabei wirkt er auf mich wie eine Kreuzung aus Gute-Nacht-Onkel, Pastor und einem Gebrauchtwagenhändler, der den Anzug, den er als Anzahlung für den Kleinwagen angenommen hat, auch privat trägt. 100 101 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 18 DEUTSCHLAND UND DER FUSSBALL Dann folgen viele Schwarz-Weiß-Aufnahmen, in denen oft der berühmteste Österreicher der Welt auftaucht, der Off-Kommentator verwendet Begriffe wie »schrecklich«, »entsetzlich« und »unvorstellbar«, ein bisschen dramatische Musik dazu, und dann sieht man wieder Herrn Knopp. Er sagt etwas wie »einerseits-andererseits«, »ver-stehen-erklären-bedenken« und »wachsam-sein-für-die-Zukunft«, und dann droht er noch, nächste Woche wiederzukommen. Amen. Währenddessen verkauft die Regierung Panzer nach Saudi-Arabien, kürzt das Kindergeld für Hartz-IV-Empfänger und schiebt Flüchtlinge ab. Aber das wird uns erst der Guido Knopp-Nachfolger in sechzig Jahren erzählen, wenn wir Vergangenheit sind. Sofern das dann jemand hören will. Vielleicht aber werden die Leute dann lieber nach Ostdeutschland fahren, zum Drittes-Reich-Wochenende, wo man in schicken Uniformen lustig Erschießungen nachstellt, in Formation marschiert, und wo Österreich noch bei Deutschland war. Die gute alte Zeit eben ... 18/ Deutschland und der Fußball Thor! Wenn ein Österreicher, und in diesem Fall muss ich als Wiener für das ganze Land sprechen, in Deutschland über Fußball redet, ist das natürlich ungefähr so, wie wenn ein Somalier einem Schweizer erklärt, wie man Volksabstimmungen korrekt durchführt. In Österreich ist Fußball immer mit Schmerzen verbunden. Nicht bei den Spielern, die bewegen sich nur, wenn es gar nicht anders geht, sondern bei den Zuschauern. Was da auf dem Spielfeld geboten wird, ist nämlich zum größten Teil geprägt durch Eigensinn, das blanke Unverständnis der Bedeutung von »Mannschaftssportart« und die absolute Unfähigkeit, Tore zu schießen. Es tut weh. Allein beim Zusehen. 100 101 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 18 DEUTSCHLAND UND DER FUSSBALL Dann folgen viele Schwarz-Weiß-Aufnahmen, in denen oft der berühmteste Österreicher der Welt auftaucht, der Off-Kommentator verwendet Begriffe wie »schrecklich«, »entsetzlich« und »unvorstellbar«, ein bisschen dramatische Musik dazu, und dann sieht man wieder Herrn Knopp. Er sagt etwas wie »einerseits-andererseits«, »ver-stehen-erklären-bedenken« und »wachsam-sein-für-die-Zukunft«, und dann droht er noch, nächste Woche wiederzukommen. Amen. Währenddessen verkauft die Regierung Panzer nach Saudi-Arabien, kürzt das Kindergeld für Hartz-IV-Empfänger und schiebt Flüchtlinge ab. Aber das wird uns erst der Guido Knopp-Nachfolger in sechzig Jahren erzählen, wenn wir Vergangenheit sind. Sofern das dann jemand hören will. Vielleicht aber werden die Leute dann lieber nach Ostdeutschland fahren, zum Drittes-Reich-Wochenende, wo man in schicken Uniformen lustig Erschießungen nachstellt, in Formation marschiert, und wo Österreich noch bei Deutschland war. Die gute alte Zeit eben ... 18/ Deutschland und der Fußball Thor! Wenn ein Österreicher, und in diesem Fall muss ich als Wiener für das ganze Land sprechen, in Deutschland über Fußball redet, ist das natürlich ungefähr so, wie wenn ein Somalier einem Schweizer erklärt, wie man Volksabstimmungen korrekt durchführt. In Österreich ist Fußball immer mit Schmerzen verbunden. Nicht bei den Spielern, die bewegen sich nur, wenn es gar nicht anders geht, sondern bei den Zuschauern. Was da auf dem Spielfeld geboten wird, ist nämlich zum größten Teil geprägt durch Eigensinn, das blanke Unverständnis der Bedeutung von »Mannschaftssportart« und die absolute Unfähigkeit, Tore zu schießen. Es tut weh. Allein beim Zusehen. 102 103 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 18 DEUTSCHLAND UND DER FUSSBALL In Deutschland ist das anders. Denn Deutschland ist ein sehr religiöses Land. Das war es immer schon. Zuerst verehrte man Odin und die Irminsul, dann war man katholisch, dann protestantisch, dann glaubte man an den Kaiser, dann entweder an Stalin oder einen kleinen Österreicher mit grotesker Rotzbremse (vulgo: Oberlippenbehaarung), dann wurde man wieder mystisch, denn alles betete das Wirtschaftswunder an, und schließlich hat man all die religiösen Streitereien ad acta gelegt und aus der Geschichte gelernt. Nun glaubt die ganze Nation nur noch an eines: den Fußball. Freilich geht auch das nicht ganz ohne das typisch deutsche Sektierertum. So verehren die einen die heilige Werder aus Bremen, andere die selige Borussia (die in vielerlei Gestalt und an unterschiedlichen Orten auftritt: Dortmund, Mönchengladbach ...), dritte wiederum hängen an Fortuna oder Eintracht, weniger am lichtbringenden Dynamo oder der humpelnden Hertha, Zahlenmystiker versprechen sich von 04, 05 oder von der 96 die Erlösung, die breite Masse jedoch glaubt an »Bayern«. Hier ist nicht das Bundesland gemeint, sondern eine Sekte, die monarchistische Elemente (Kaiser) mit katholischem Mönchstum (Paulaner) und protestantischer Arbeitsethik (Hauptsache, wir gewinnen!) zu verbinden weiß. So zersplittert diese Religion mit ihren unterschiedlichen Glaubensrichtungen erscheinen mag, so hoch wird gleichzeitig der Gedanke der Ökumene gehalten. Die Messen werden grundsätzlich gemeinsam gefeiert. Jedes Wochenende, wie sich das für ordentliche Gläubige gehört. Die Messen folgen strengen Ritualen. Es gibt ein gemeinsames rhythmisches Bewegungsritual - ähnlich dem der muslimischen Derwische -, um einen höheren Bewusstseinsgrad zu erlangen, genannt: die Welle. Der Gläubige hat den Tempel (vulgo: Stadion) in vorschriftsmäßiger Kleidung zu betreten. Er muss diese Kleidung, meist Schal und Kappe, dazu auch noch Jacke, Tasche, Wimpel und weitere Devotionalien in den vorgegebenen Farben seiner Glaubensrichtung erwerben und darf NIEMALS mehr andere Farben tragen. Denn ein Konvertieren zwischen den einzelnen sektiererischen Gruppen ist so gut wie unmöglich und wird mit sozialer Ächtung bestraft. Die Musik ist, da es sich bei dieser Religion (wie bei allen anderen auch) um eine Massenbewegung handelt, einfach und sehr eingängig. Schließlich muss der Gläubige auch noch nach dem Genuss mehrerer bewusstseins-erweiternder Getränke (meistens Bier) in der Lage sein, während der Liturgie Text und Melodie im Einklang mit der Gemeinde wiederzugeben. Im Zentrum der Texte steht die Betonung der eigenen und einzig richtigen religiösen Überzeugung (z. B.: »Wir sind nur ein Karnevalsverein!«), die Verächtlichmachung des Gegners (»Zieht den Bayern die Lederhosen aus!«) und die Bannung des Teufels (»Schiri, wir wissen, wo dein Auto steht!«). Wie in allen Religionen gibt es Fundamentalisten und Fanatiker, die nichts Schöneres kennen, als die Straße zu beherrschen und dort am besten auf Fundamentalisten und Fanatiker der Gegenseite zu stoßen. Denn so richtig messen kann sich der fanatische Gläubige, hier nennt man ihn »Hooligan«, eigentlich nur mit seinesgleichen. Toleranz und pseudoliberaler Relativismus (»Das ist doch nur ein Spiel!«) sind ihm ein Gräuel. Vergessen werden jedoch all die unterschiedlichen Ausrichtungen der reinen Lehre (oder reinen Leere?), wenn die Glaubensgemeinschaft in ihrer Gesamtheit zum Kampf gegen Andersgläubige antritt. So wie plötzlich aus Lutheranern, Calvinisten, Evangelikaien, Freikirchlern und Katholiken die Kampfgemeinschaft der »Christen« wird, kaum begegnen sie Sunniten, Schiiten, Salafiten, Aleviten und anderen, die ebenso plötzlich zu einem Haufen »Muslime« geworden sind, so wird auch in dieser Religion zum Heiligen Krieg geblasen, wenn man beispielsweise auf die Anhänger von Liverpool, Manchester, Chelsea, Tottenham oder Arsenal trifft, die sich zur Einheit der »Engländer« zusammengefunden haben. 104 SERVUS PIEFKE Im Unterschied zu anderen Religionskriegen weiß man hier allerdings ganz genau, wann und wo er ausbrechen und wie lange er dauern wird: Alle zwei Jahre, und die Schlachten dauern maximal 120 Minuten, meistens nur 90. Doch wie in den allermeisten Religionen dienen Liturgie und Glau-benskrieger-Rhetorik auch hier nur zur Ablenkung des Kirchenvolk.s von den wahren Inhalten: der Geldvermehrung. So kann es doch kein Zufall sein, dass der Vorsitzende des DFB (sozusagen das Äquivalent zur Deutschen Bischofskonferenz) Theo (griechisch für »Gott«) Zwanziger (Bezeichnung für einen Geldschein) heißt. Da bekommt der zentrale Glaubenssatz: »Alles ist möglich, solange der Ball rund ist.« plötzlich einen ganz anderen Unterton. Und doch gibt es auch eine sympathische Seite an dieser Art des rel i-giösen Wahns: Es handelt sich wohl um die einzige Glaubensrichtung auf der Welt, die ab und zu auch mal Pause macht. Eine im Winter und eine im Sommer. Dann bleibt dem im spirituell luftleeren Raum zurückgelassenen Deutschen nur der Griff zu den beiden Ersatzreligionen: der Bild-Zeitung und dem Glaubensbekenntnis, dass niemand auf der Welt so hart arbeitet wie die Deutschen. 105 N0. 19 DEUTSCHLAND UND DIE KOCHE 19/ 1 )eutschland und die Küche Magen und mögen Dieses Kapitel ist zu lang. Ligentlich sollte es nur lauten: Ja, die Deutschen haben eine Nahrungsaufnahme. Und aus. Denn es gibt wohl kaum einen Lebensbereich, in dem sich der Wiener in Deutschland derart in der Fremde, in der Diaspora, in der Wüste fühlt, wie beim Essen. Wieso, fragt man sich bisweilen, hat man (irammelknödel, Fiakergulasch, Powidltatschkerln und Marillenpalatschinken eigentlich so schnöde verlassen? Vielleicht wegen der Xe i l ungslandschaft? 106 107 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 19 DEUTSCHLAND UND DIE KÜCHE Die ist in Deutschland nämlich weitaus gehaltvoller und gesünder. Hier kann ich mir einen bunten Salat aus FAZ, Süddeutscher, FR, Zeit, Taz und ARD-Homepage zusammenbasteln. Werfe noch ein paar unabhängige Seiten aus dem Internet dazu, garniere ihn mit zwei, drei Blogs (ist modisch wie Balsamico-Essig) und schmecke ihn mit einem Schuss »Hast du schon gehört?« von mir bekannten Spiegel-online-Lesern ab. Ganz am Schluss tu ich noch meinen eigenen Senf dazu - und fertig. Natürlich kann es ab und zu auch etwas Einfaches aus der Gerüchteküche sein: also BILD. Das ist Fast-Food. Das ist ein Burger, dessen Zutaten geschmacklich reinhauen wie Kofferbomben. Fett. Laut. Groß. Hauptsache Wirkung. Viel Ketchup (Blut), Rindfleisch (nackte Mädchen), Mayonnaise (Meinungsmache), tränen-treibende rohe Zwiebeln (Heuchelei), und über allem zerfließt der Schmelzkäse der Sportberichterstattung. Dramen, Empörung, Trauer, Wut... einfach geil. Also im kulinarischen Sinne: das Fetteste vom Fetten. Hier bekommt man immer dieselben Zutaten. Alt, aber mit Ausrufezeichen: Deutsche! Ausländer! Killer! Monster! Massaker! Wahnsinn! Busen! Boris! Becker! Bundesliga! Und du ziehst sie dir rein. Du frisst sie, mampfst sie hinunter, weil sie so super aussehen, zwischen diesen Fotos groß wie halbe Weckerin (Brötchen). Aber man muss einen guten Magen haben. Sonst wird einem schlecht. Und die ganzen unverdaulichen Aromastoffe und Geschmacksverstärker - die Tonnen von Glutamat und Salz liegen dir wie Steine auf dem Hirn ... im Magen, natürlich. Denn so frisch war das dann alles doch nicht. Im echten Leben könnte man das wieder rauswürgen, auf die Straße spucken oder das Ganze wenigstens noch mit Pommes und einer Cola beerdigen. Bei der Bild-Zeitung hilft das nix. Hier braucht es dazu noch Unterschichtsfernsehen und ein Bier. Und dann noch eins. Und am besten noch eins. Bis man völlig blau ist, nichts mehr mitbekommt und nicht merkt, welchen Müll man gerade gefressen hat. Und tatsächlich schreibt BILD nämlich, wie der Deutsche am liebsten isst: in großen Portionen. Es muss viel sein. Egal was, Hauptsache viel. Wenn viel, dann gut. Viel hilft viel. Mehr ist mehr, und weniger ist einfach nur weniger. Da will man doch lieber mehr. Der Bauch muss sich blähen, das Völlegefühl soll Gase produzieren, die einem mit Druck bei den Ohren rauskommen, sodass dadurch ein leises Pfeifen entsteht. Erst wenn die Gürtelschnalle durch den Raum fliegt, weil die Hose geplatzt ist, dann war es gut. Wie es geschmeckt hat? Egal. War es viel, dann war es auch gut. In Wien ist Essen ein Wert an sich, in Deutschland ist es eine Notwendigkeit. Darüber geben auch die Erfindungen der deutschen Küche Auskunft: Toast Hawaii. Damit konnte man vielleicht die Verwandten in der DDR ärgern, weil die keine Ananas hatten, aber essen ... ? Und ganz traurig wird es, wenn die deutsche Küche versucht, die Wienerische nachzuahmen. Es mag wie ein Vorurteil klingen, ist mir aber tatsächlich schon serviert worden: Ein Wienerschnitzel paniert mit Haferflocken (!), dazu eine undefinierbare, fettige Sauce (!!) und Nudeln, die mit Speck, Ei und Käse »verfeinert« wurden (!!!). Und natürlich wurde Ketchup (!!!!!!!!!!!) dazu gereicht. Abgesehen von der Frage, wer das alles essen sollte, bleibt festzuhalten: Das schmeckt nicht. Denn selbstverständlich war das Schnitzel dick. Gute zwei Zentimeter dick. Und das geht nicht, das darf man nicht machen, das ist gegen alles, was in irgendeiner Form mit Kulinarik zu tun hat. Wer solche Schnitzel herstellt, der lagert auch Atommüll auf der grünen Wiese im Wendland und behauptet, das wäre absolut unbedenklich für Mensch und Natur. Atommüll ist Scheiße, und ein Schnitzel muss dünn sein. Hauchdünn. Und gut geklopft. Es wird in nichts anderem als Mehl, Ei und Bröseln (man darf dazu auch gern Paniermehl sagen, wenn es hilft) gewendet, in Butterschmalz herausgebacken (maximal zwei Minuten auf jeder Seite), dazu gibt es Reis oder Kartoffeln oder Kartoffelsalat, 108 109 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 19 DEUTSCHLAND UND DIE KÜCHE eine Zitronenspalte und - wenn es unbedingt sein muss - in einem extra Schüsselchen eine Portion Preiselbeeren. Aber eigentlich muss das nicht sein. Sonst nichts. Gar nichts. Keine Nudeln, keine wie immer geartete Sauce und niemals - unter Androhung der Todesstrafe mit anschließendem Höllenfeuer und ewiger Verdammnis inklusive Stromstößen in sehr empfindliche Körperregionen - Ketchup. Ketchup ist an und für sich kein Lebensmittel, sondern ein Sedativum für nervige Kinder. Weiter zum Mitschreiben: Im Übrigen kommen auch auch keine Rosinen in den Kaiserschmarrn. Und Pfannkuchen, die man in kulinarisch höherentwickelten Teilen des Kontinents »Palatschinken« nennt (haha, Palat-Schinken, haha), sind - siehe Schnitzel - umso besser, desto dünner sie sind. Grundsätzlich gilt: Dick schmeckt nicht. Dick macht nur dick. Vielleicht zuerst schnell satt. Aber dann dick. Um ganz ehrlich zu sein: Ich versteh es nicht. Das Land ist fruchtbar, es bringt wunderbares Gemüse hervor, wohlgenährte Kühe und Schweine finden hier ihr Auskommen bis zum Ableben, Herde und Töpfe sind ausreichend vorhanden, Kochshows und »perfekte Dinner« sowieso, auch Kochbücher sind bekannt, aber ... es nützt nichts. Überall in der Gastronomie undefinierbarer, ungenießbarer, aber unglaublich sättigender Matsch. Es ist wohl der Effektivitäts-Gedanke, der dahinter steht. Wie kann man möglichst viel Geschmack (viel ist ja gut), in möglichst kurzer Zeit (Zeit ist Geld, schnell, schnell, schnell...) zu einem Essen verarbeiten, das möglichst viel (viel ist ja immer noch gut) Kalorien und Kohlehydrate in der kleinstmöglichen Einheit vereinen, die man so schnell wie möglich (Zeit ist Geld, jajajaja) in sich hineinstopfen kann. Wer so denkt, der erfindet dann die geschmacksnervenzerstörende, unerreichbar effektive und nirgendwo anders denkbare - Currywurst mit Pommes! Das Nationalgericht in Deutschland. Das wollen alle. Und die meisten wollen auch nichts als das. Etwas Besseres ist ja gar nicht denkbar! Und mit dem kulinarischen Qualitätsbegriff ist es leider nicht weit her in Deutschland. Lebensmittelskandale im Vierteljahrestakt (Gammelfleisch, Dioxin, EHEC-Erreger, um nur einige zu nennen) paaren sich mit einer genussfeindlichen Grundeinstellung. Wie man nämlich durch europaweite Vergleichsstudien herausgefunden hat, achten die Deutschen beim Einkauf von Lebensmitteln am allerwenigsten auf dem gesamten Kontinent auf die Qualität. Nebenbei haben sie auch prozentual die wenigsten Kinder. Gibt es da einen Zusammenhang? Wer schlecht frisst, der bumst auch nicht gern? So oder so, feststeht: Der Deutsche schaut auf den Preis. (Der Bayer sogar auf den Saupreiß). Es muss günstig sein, dann ist es auch gut. Das liegt aber nicht an übertriebener Sparsamkeit, nicht an der allgemeinen Mangelwirtschaft und der um sich greifenden Armut (obwohl jedes sechste der zu wenigen Kinder von Armut bedroht ist, das nur zur Vollständigkeit) sondern, weil ja viel auf den Teller muss. Und da nimmt man lieber was Billigeres, ist ja ohnehin schon viel, da muss es nicht mehr gut sein, weil ja viel gut ist. Ich weiß, das ist unfair. Man kann auch in Deutschland gut essen. Sehr gut. Sogar auch außerhalb von Baden. Aber ehrlich: Es ist wie mit der Presselandschaft in Österreich. Auch wir haben gut gemachte, interessante Produkte. Man muss sie nur finden. Aber der größte Teil ist einfach unverdaulich. 110 111 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 20 DEUTSCHLAND UND DER RAUSCH 20/ Deutschland und der Rausch Oans, zwoa, gsuffa! Der Rausch ist in Deutschland - wie so vieles - streng reglementiert. Natürlich gibt es auch in Wien jede Menge Vorschriften, Ge- und Verbote. Aber dass diese bindenden Charakter haben, sieht nur ein Teil der Bevölkerung so. Und wer wann was trinkt, ist ohnehin Privatsache. In Deutschland auch, wird man jetzt einwenden. Ja, offiziell. Inoffiziell herrschen aber klare Regeln: Man trinkt nach Feierabend das Feierabendbier. Am Wochenende gibt es das Wochenend-Besäufnis. Und im Urlaub darf man auch schon mal spät frühstücken, dafür früh anfangen - da kann man dann am »Ballermann« in Mallorca über einem Kübel Sangria hängen. Selbstverständlich gibt es Unterschiede: Bei dem einen ist das Feier-ahendbier ein kleines Pils, beim anderen drei große Export - für einen Wiener im Übrigen ein verwirrender Name: »Export«. Wieso? Das ■■cht doch gar nicht außer Landes, das trinken die Deutschen doch alles selbst. Am Wochenende schütten sich die einen im Schrebergarten zu, und die anderen ziehen von Bar zu Bar, um gemixten Alkohol in vielen unterschiedlichen Farben zu sich zu nehmen, um am nächsten Morgen Kopf- und Magenschmerzen zu haben. Und auch im Urlaub reicht das Spektrum vom Weingenießer, der von italienischem Weingut zu italienischem Weingut pilgert, bis zum Obdachlosen, der seine Stütze im Park versäuft. Denn der hat ja irgendwie immer Urlaub. Aber den gibt es in Wien auch. Doch etwas gibt es in Deutschland, das einzigartig ist: Das Oktoberfest! Das größte geplante Besäufnis der Welt. Natürlich kann die »Wiesn« recht schön sein, wenn man dort ist, mit seiner Liebsten ein Hendl trinkt, ein Fahrgeschäft isst und in ein, zwei Maß einsteigt. Sofern man das an einem Sonntag oder Montag macht, kann man mit ein bisschen Glück sogar echte Münchner treffen. Die sind nämlich auf der Wiesn mittlerweile ziemlich rar. Denn die Wiesn zieht mittlerweile ganz andere Leute an. Das Oktoberfest hat sich in den letzten Jahren zu so etwas entwickelt wie zum Fest der Idioten dieser Welt. Von überall her kommen sie, aus den entlegensten Winkeln der Erde: Australien, Armenien, Aschaffenburg, Indien, Italien, Ingolstadt, Kambodscha, Kongo, Köln ... nur, um sich auf einem betonierten Parkplatz bei schlechter Musik, übler Luft, lauwarmem Essen und schlecht eingeschenktem, aber überteuertem Bier in Container-Gebäuden, die irgendein Architektur-Analphabet einmal »Zelte« getauft hat, zu besaufen. Denn darum geht's. Um sonst nichts. Die Leute kommen, um sich mal ordentlich niederzutrinken, abzudichten, zuzulöten. Und dann auch richtig schlecht zu benehmen. 112 113 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 20 DEUTSCHLAND UND DER RAUSCH Und so bevölkern sie mit ihrer dem Alkoholpegel geschuldeten natürlichen Fröhlichkeit, der damit einhergehenden Feinmotorik und dem entsprechenden Fingerspitzengefühl zweieinhalb Wochen lang München. Und alle Züge von und nach München. Und das sind nicht wenige. Diese Züge sind dann voller Menschen, die glauben, dass Country Road auch im Speisewagen gut klingt. Dabei klingt Country Road nirgendwo gut. Ganz zu schweigen von der Mode, die sich eingeschlichen hat: Zahnarzthelferinnen in typisch neonfarbenen Dirndln, original hanseatische Bayern in schwarzer Glattleder-Lederhose und Original Italian Australians with a Gamsbart. Nach dem Motto: Wenn man sich schon auf das Niveau eines Stallknechts ohne Schulbildung aus dem 19. Jahrhundert runtersäuft, dann will man auch so aussehen. Nur voll im Trend. Vor allem voll. Das ganze Oktoberfest gleicht einem Treffen von »Raus aus den Schulden« und »Bauer sucht Frau«, und dabei kommt raus »Bauer versauft seine Schulden« und sieht dabei aus wie Daniel Küblböck auf Speed. Und natürlich macht das Fernsehen mit. Keine superexklusiveli-vestylebrennende Reportage-Sendung ohne »die Wiesn«. Wer da ist, was er trägt, was man eigentlich heute trägt, was man nicht tragen sollte, wer mit wem eigentlich da ist, und schon sitzt dir die Wiesn im Wohnzimmer. Man ist also auch zu Hause nicht davor sicher. Aufgequollene Gesichter, derangierte Dekolletes, alkoholgeschwängerte Interviews, in denen man und frau mal endlisch Schagen gann, wasch mannnn wirklisch denkt, weilaufda-hick!-wiesnisegggal! Weildaisch gemütlisch! Verschtehscht du? Hier zeigt die sogenannte Prominenz endlich, aus welchem Holz sie geschnitzt ist. Denn gerade in dem Moment, wo man sich aus guten Gründen verstecken sollte, hält man auch noch hackedicht seine Fresse in die Kamera. Ks gibt mehrere mehrstündige Sondersendungen über zweieinhalb Wochen. Die Wiesn ist überall und das einzige interessante Thema. Moderatoren-Pärchen, die man getrost als Mister Hyde und Miss Frankenstein bezeichnen könnte, sagen zwei Wochen lang nichts anderes als: »Guat schaugst aus! - Aba du aa! - Und i hab mi gestern so guat amüsiert. Aba du aa, göi? - Ja sicher, weil mir ja hier so eine Gaudi ham. Und die andern aa! - Wei des is eben g'miatlich (gemütlich) da, und zwengs dem (deshalb) ham mir jetzt einen Gast hier. -Und den frag'n mir jetzt: Na, wie geht's denn dir? - Na danke. Super. Aba dir aa? - Ja sicher. Und bist guat drauf? - Ja freili, brutal guat drauf, göi. - Also wirkli sauber, du. Aber was i dir sag'n muass: Guat schaugst aus! - Jo, aba du aa.« Das Grundrecht auf Daueralkoholismus wird medial abgefeiert mit der Behauptung, das wäre Kultur. In Wahrheit ist es nur ein massentaugliches Suchtmittelproblem. Und es breitet sich aus. Wie ein Virus. Denn es gibt auch schon Oktoberfeste in Mainz, Fürth, Mannheim, Frankfurt, Hannover, Berlin, Hamburg, Zwickau, Leipzig, Rostock, Düsseldorf, Köln, ja sogar in Kanada und Brasilien. Alle zur mehr oder minder gleichen Zeit. Und zufälligerweise wird in diesen Wochen gerne mal ein neuer Bundestag gewählt. So etwas beeinflusst doch das Ergebnis. Und dann ist es plötzlich aus. Die Kotze in den U-Bahn-Bahnhöfen wird weggewischt. Man zieht sich wieder Kleidung an, die den gesellschaftlichen Umständen des 21. Jahrhunderts auch entspricht und geht wieder seiner Arbeit nach. Der Rausch ist vorbei, der Kater klingt ab. Es herrscht Ernüchterung. Bis zum nächsten Wochenende. Und bis zum nächsten Oktoberfest. Das gibt es im Übrigen jetzt auch schon in Wien. Und das ist absolut unverzeihlich. 114 115 SERVUS PIEFKE KAPITEL I DEUTSCHLAND UND DIE KUNST 21/ Deutschland und die Kunst Kunst ist schön... Grundsätzlich ist es besser, in Deutschland Künstler zu sein, als in Wien. Einfach, weil sich die Leute eigentlich nur für Fußball wirklich interessieren. Schließlich leben in Deutschland 80 Millionen Menschen, von denen jeder fest daran glaubt, dass er eigentlich der bessere Bundestrainer wäre. In Österreich dagegen 8 Millionen, die sich sicher sind, dass sie eigentlich die wahren Burgtheater-Direktoren sind. Und deshalb kann man in Deutschland viel leichter Künstler sein. Man wird in Ruhe gelassen und kann in Frieden sein Ding durchziehen. (Warum aber die österreichische Fußball-Nationalmannschaft im Umkehrschluss trotzdem nichts zusammenbringt, weiß ich auch nicht...) pieses freundliche Desinteresse mag ich eigentlich gern. Aber es gibt Grenzen. Es war vor etwa zwei Jahren: Ich schaue »Wer wird Millionär?«. Die Sendung, deren Titel jeder Zuschauer mit einem sich-seiner-selbst-gewissen »Ich heute nicht« beantworten kann. Die Sendung also, bei der einer der mögliche große Gewinner werden kann und dabei von vielen sicheren Verlierern betrachtet wird. Und manche dieser Verlierer schauen auch ganz, ganz nah zu. Nicht so wie ich im sicheren Abstand, sowohl geografisch (weil zu Hause vor dem Fernseher) als auch zeitlich (schließlich ist es eine Aufzeichnung, ich kann nicht mehr eingreifen, es ist alles bereits passiert), vielmehr sitzen diese betrachtenden sicheren Verlierer in Rufweite des möglichen Millionärs. Sie atmen dieselbe Luft wie er und fiebern mit ihm mit. Sein Geld wird er trotzdem nicht mit ihnen teilen. Und natürlich ist auch der ewige Gewinner da. Der, der die Fallhöhe des Kandidaten erst richtiggehend erfahrbar macht, der, der es geschafft hat, da er nämlich jede Sendung gewinnt, weil er wöchentlich ein Honorar bezieht, das ihn schon nach zehn Minuten zum Millionär gemacht hat: der Moderator Jauch. Und da haben wir auch das dreistufige Gesellschaftsmodell: ewige Verlierer - Kandidat - ewiger Gewinner. Man bemerke: Es gibt Millionen von Verlierern, ein paar Hundert davon in der Nähe der Kandidaten. Es gibt aber nur zehn Kandidaten-Kandidaten, von denen es maximal drei pro Sendung zum echten Kandidaten schaffen. Und es gibt nur einen ewigen Gewinner. Wer anhand dieser anschaulichen Darstellung den Kapitalismus nicht verstanden hat, der verdient es nicht besser. Und deshalb schau ich diese Sendung auch sehr gern. Nicht wegen der Fragen. Und der blöden Antworten. Und der leicht sadistischen Bemerkungen von Herrn Jauch. Nicht, um meinen Fernseher anzuschreien: »1683 waren die Türken vor Wien! Die Türken! Nicht die Mongolen! Auch nicht die Benediktiner und nicht die Urlauber! Die Tüüüürken, du Saudepp!« Nein, nicht deswegen. Das passiert mir nur unabsichtlich. 116 117 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 21 DEUTSCHLAND UND DIE KUNST Und ich sehe die Sendung natürlich sehr gerne, weil sie unfreiwillig Auskunft über die Geisteshaltung, Bildung und Fähigkeiten von Kandidat und manchmal auch des Publikums gibt. »Fremdschämen« würden zartere Gemüter das nennen. Ich sage »berechtigte Unterfütterung meines misanthropischen Kulturpessimismus« dazu (kurz: bUmmK) oder kürzer: »Alles Trotteln!« Natürlich gibt es da auch Grenzen. Die österreichische Ausgabe der Sendung kann ich mir zum Beispiel nicht mehr anschauen. Ein Kärntner Schifahrer stellt Volksschullehrerinnen Fragen und ist - obwohl sein Niveau wirklich so nieder ist, wie die Kärntner Berge hoch sind -immer noch schlauer als diese. So werden auswanderungswillige Mitbürger herangezüchtet. Also zurück zu Jauch. An diesem Tag war sein Kandidat eine durchaus selbstständige und intelligent wirkende Frau, die ihren Beruf mit »Polizistin« angab. Noch dazu aus Offenbach. Sie war trotzdem sympathisch. Durch die ersten fünf Fragen war sie ohne Problem durchgekommen, und jetzt wartete die sechste auf sie. Und Günther Jauch stellte sie. Nicht ohne das für ihn typische, leicht fiese Lächeln, das weniger bedarfte Gemüter zu Unrecht als Sympathie dechiffrieren. Und er sagte: »Karl Valentin hat gesagt: A) Kunst ist schön, macht aber viel Dreck, B) Kunst ist schön, bringt aber nichts ein, C) Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit, oder D) Kunst ist schön, bringt aber nichts als Ärger.« Ich gestehe: Ich liebe Karl Valentin, und ich kenne das Zitat. Und ich finde er hat recht. Diesen Satz habe ich immer begriffen als Stoßgebet eines kreativen Kopfes, der mit seinem Schicksal hadert. Aber vielleicht sagt das auch mehr über mich als über Valentin. Der Polizistin jedenfalls sagte dieses Zitat nichts. Ihre augenscheinliche Unbelecktheit in Sachen Kunst und Valentin machte sie mir sogar ein wenig sympathisch. Ja, denn ich find, die Welt ist schon unübersichtlich genug: Es gibt Skilehrer aus Holland und thailändische Köche, die ausgezeichneten Sauerbraten herstellen, es gibt iranische atheistische Sozialisten und Al-Qaida-Anhänger aus Wuppertal und Emden. Das ist alles sehr verwirrend. Und daher bin ich einfach froh, wenn eine Polizistin aus Offenbach keine Ahnung hat von Karl Valentin, seinen Zitaten und Kunst im Allgemeinen. Das passt zu meinem Vorurteil, danke! Daher fand ich das gut. Die junge Frau, die in ihrem Berufsleben ex-jugoslawischen Drogendealern nachläuft, hat also keine Ahnung und nimmt nach gutem Zureden von Herrn Jauch einen sogenannten Joker. Natürlich ruft sie niemanden an. Sie kennt niemanden, der Karl Valentin kennt. Kunst und Staatsgewalt vermischen sich nicht in Deutschland. Sie nimmt auch nicht den 50:50-Joker. Wozu auch? Ob sie jetzt zwei Antworten nicht weiß oder vier, macht keinen Unterschied. Also fragt sie das Publikum. Die übliche Prozedur, der Moderator wiederholt die Antwortmöglichkeiten, zwangsbeglückte Menschen nesteln an Geräten mit vier Knöpfen herum, man sieht das Close-up auf eine Hand, und dann kommt endlich das Ergebnis. Und das sieht folgendermaßen aus: A 21%, B 63% C 2% D 14% Moment, was war noch einmal B? Nein?! Mir bleibt der Mund offen ... Wozu, frag ich mich, druckt jedes zweite Museum diesen Satz auf die Recycling-Tüte seines total trendig-coolen Museumsshops, wenn er dann so ganz und gar am kollektiven Gedächtnis vorbeigeht? Oder kaufen dort nur amerikanische Mittelständler und russische Turbokapitalisten ein. Oder gar nur chinesische Parteifunktionäre, die dann lächelnd sagen können: »Oh ja, Kunst ist sööööön abel ...«, und dann werfen sie wieder einen Nobelpreisträger ins Gefängnis. 118 119 SERVUS PIEFKE KAp|TEL NO. 21 DEUTSCHLAND UND DIE KUNST Anscheinend. Wie kann es denn sonst sein, dass ein Saal von gm dreihundert Leuten zu 63% der Meinung ist, dass Kunst zwar schön ist, aber nichts einbringt. Und weitere 21% - das ist jeder Fünfte! -meinen sogar, Kunst mache viel Dreck. Was sind das für Menschen? Wahrscheinlich die direkten Nachfolger derjenigen, die im Dritten Reich die Ausstellung »Entartete Kunst« kuratiert haben. Und die glauben auch noch, Karl Valentin hätte das gesagt! Aber wahrschein ■ lieh meinen sie auch, Karl Valentin wäre die einzigartige genetische Mischung aus Karl Moik und Rudolfo Valentino. Was ist das für ein Land? frage ich mich entsetzt. Was ist denn Kunst hier wert, wenn sie niedriger als Müll angesetzt wird? Der macht nämlich auch Dreck, aber er bringt wenigstens was ein. Eine Klage hebt in meinem Herzen an: Wo sind sie geblieben die Dichter und Denker? Das ist ja entsetzlich! Das ist ja grässlich! Das ist ja abscheulich! Das ist ja ... ja ... fast wie in Österreich! Auch der Herr Jauch hat mit diesem Ergebnis sichtlich nicht gerechnet. Aber er greift ein. Ich glaube beinahe, er teilt meine grundsätzliche Sympathie für die Offenbacher Polizistin. Kämpft sie nicht, ähnlich wie er, auf verlorenem Posten? Schließlich versucht sie, den Rechtsstaat in Offenbach zu verteidigen, und er bemüht sich um Niveau im Fernsehen. Er rät der ahnungslosen Staatsgewaltin, doch noch mal zu überlegen. Wie viele hier drinnen wären denn überhaupt in der Lage, diese Frage wirklich zu beantworten? Wie viele hier wüssten denn, wer Karl Valentin sei? Wer von diesen Menschen wüsste überhaupt, was Kunst sei? Nein, das sagt er nicht. Das denke ich mir, dass er sich das denkt. Und die Polizistin merkt, dass er ihr helfen will. Und weil sie weiß, dass er der Gscheithappel ist, glaubt sie ihm. Schließlich will sie ja Millionärin werden. Deshalb folgt sie seinem Vorschlag und nimmt einen zweiten Joker und fragt, wer aus dem Publikum, es wirklicli wisse. (Sie spielt nämlich die Risiko-Variante. Klar bei dem Beruf.) Daraufhin stehen Menschen auf. Genau zwei. Line Frau mittleren Alters mit Brille, Typ Deutschlehrerin, und ein tvpisch deutscher Familienvater mit Schnauzer und einem Ingenieur-Heruf. Ein Mann, der sicher gern einmal ein Pils trinkt, keinen Posten in seinem Kegelverein innehat, aber dafür auch mal bei den Nachbarn anpackt, wenn es denn sein muss. Ein Mann, auf den man sich verlassen kann und den wohl so mancher Meinungsforscher als absoluten Durchschnittsbürger bezeichnen würde. Also niemand, den man über Kunst befragen sollte. Außer, man ist Polizistin. Denn sie fragt ihn. Der Mann steht auf, bekommt ein Mikrofon in die Hand gedrückt ii nd zupft seinen Pullunder zurecht. Der Spot ruht auf ihm, und er genießt diesen flüchtigen Fokus der Aufmerksamkeit, in dem er sich nun befindet. »Und Sie wissen die Antwort?«, fragt ihn der Günther der Nation. »Jawoll!«, verkündet die Schallaustrittsöffnung unterhalb des Schnauzers. »Dann sagen Sie uns bitte, wie sie lautet«, sagt Günther. Die Augen des Landes und die Hoffnungen sämtlicher sich selbst ausbeutender sogenannter Kreativer ruhen auf ihm. Wird er nun endlich richtigstellen, wie das mit der Kunst ist? Die Spannung ist fast unerträglich. »Also ich ...«, spricht der eingepullunderte Mann seine Stimme in den Saal und in die Kameras, »also ich, ich kenn mich zwar nicht so gut mit Karl Valentin aus, aber ich bin mir sicher, es ist B: ,Kunst ist schön, bringt aber nichts ein'.« »Das hab ich mir auch gedacht!«, sagt die Polizistin. Günther Jauch sieht elend aus. Ich sitze mit offenem Mund vor dem Fernseher und sehe zu wie diese Antwort »eingeloggt« wird. So sieht es aus mit dem deutschen Kunstverständnis: Kunst ist zwar schön, aber meine Schrankwand vom XXXLutz kann ich damit nicht bezahlen, und den Plasmafernseher hätte der Papa auch nie auf Ratenzahlung beim Saturn bekommen, wenn er ein Künstler wäre. Nein, 120 121 SERVUS P1EFKE 1p|TEU NO. 22 DEUTSCHLAND UND DER KRIEG für so einen schönen Fernseher, der noch dazu farblich auch zu der Schrankwand passt und zu dem neuen Audi, nein, da darfst du kein Künstler sein. Polizist vielleicht. Aber die haben es ja auch nicht leicht. Denn die bekommen ab und zu Fragen über Dinge, von denen sie gar keine Ahnung haben und dann müssen sie unter den Augen des vor dem Bildschirm versammelten Landes mit läppischen 500 Euro den Saal verlassen. Ja, so ist das: Unwissenheit ist zwar schön, bringt aber nichts ein. Kunst dagegen macht viel Arbeit. Das wusste schon Karl Valentin. Und Günther. Und ich. Und vielleicht die Dame mittleren Alters. Und nach dieser Sendung vielleicht ein paar mehr in diesem Land. 22/ Deutschland und der Krieg Taktaktaktaktaktaktaktak... Der Zug war überfüllt. Mit Rentnern und Bundeswehrsoldaten. Das gibt es heute nicht mehr, weil die Wehrpflicht abgeschafft wurde. I leute fahren nur noch Rentner. Aber damals war auch die Bundeswehr dabei. Die sitzt dicht gedrängt auf dem Boden und versucht, nichts voneinander mitzubekommen. Das haben die ja in der Kaserne schon geübt. Die einen hören Musik, andere lesen, dritte unterhalten sich so laut, dass sie kein Wort von anderen Gesprächen aufschnappen können. Zum Beispiel von denen, die laut telefonieren. Einer schreibt etwas in sein Notizbuch. Die meisten sind aber über ihren Notebooks versunken. Der vor mir etwa. Er ist Anfang zwanzig, mit abstehenden 122 123 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 22 DEUTSCHLAND UND DER KRIEG Ohren und zahlreichen Sommersprossen gesegnet, die aussehen, als wären sie die Fortsetzung des Tarnanzugs in seinem Gesicht. Mit stierem Blick starrt er auf seinen Computerbildschirm und hat die Welt vergessen. Denn er ist gerade dabei, irgendwo im Mittleren oder Nahen Osten nachts eine Stadt zu durchkämmen. Sein Ego-Shooter (oder besser: shooting ego) schleicht durch die Gassen einer Altstadt mit maurischer Architektur und ist zum Äußersten bereit. Jedes Haus ein Kampf. Jede Ecke eine Gefahr. Er muss auf der Hut sein. Dauernd tauchen aus den unterschiedlichsten Fenstern und Türen und hinter Mauervorsprüngen Menschen mit dunklen Augen und schwarzen Barten auf. Sie schreien, schießen und werfen Granaten auf ihn, wenn er nicht schneller ist und sie im Namen von Frieden, Freiheit und Highscore digital umnietet. Lange müssen sie nicht warten. Denn er ist schnell. Er ist gnadenlos. Und er ist ziemlich gut, wenn man seinem Punktestand trauen darf. Dabei bleibt sein Sommersprossengesicht regungslos. Nur seine Finger hämmern auf die Tastatur ein. Der digitale Feind mit seinem Bart und den dunklen Augen aus einem ihm nicht wohlgesonnenen Kulturkreis wird hingemetzelt. Taktaktaktaktaktaktaktaktaktaktaktaktaktakhört man es durch den Wagon hämmern. Einmal schreckt er hoch, weil eine Frau durchs Bild läuft. Er hal sie aber gerade noch verschonen können. Doch da zerreißt sie ihre Kleidung, und ein Sprengstoffgürtel kommt zum Vorschein. Und gerade als sie zünden will... Taktaktaktaktaktaktaktaktaktaktaktaktak. Da springt der nächste schreiende Bartträger stechenden Blicks und jetzt sogar mit Turban (damit man sie unterscheiden kann, sonst sehen sie eigentlich alle gleich aus) hinter einer Ecke hervor. Taktaktaktak-taktak, und weg ist er. Der Bildschirm wandert weiter durch das Straßengewirr der Stadt. Über die Geschichte des Bartträgers erfahren wir nichts. Wen kümmert's auch, ob der Mann Familie hat - vielleicht eine Frau, vier Kinder und zwei Ziegen - und von nichts sehnlicher träumt, als ein Mal in seinem Leben einen Traktor zu besitzen, der ihm die Feldarbeit erleichtert. Oder wenigstens mal ins Kino zu gehen. Oder einfach mal mit dem Hund raus. Vielleicht macht er das sogar. Und das ist schon recht peinlich in einem arabischen Land, wo doch alle anderen den Hunden Steine nachwerfen. Er kann den Hund in Wahrheit auch nicht leiden, aber seine Frau liebt das Tier. Und weil er sich nicht lächerlich machen und gesehen werden will, wie er mit dem Hund an der Leine spazieren geht, macht er das nur in der Nacht. Der Bartträger geht also abends mit dem Hund raus, fragt sich, wann dieses blöde Tier endlich mal sterben wird, wo es doch schon so alt ist. Er will eine Zigarette rauchen und hört plötzlich irgendwo einen Krach. Einen Moment lang ist er abgelenkt. Der Hund reißt sich los und verschwindet hinter der nächsten Ecke. Er rennt ihm brüllend hinterher. Wenn er ohne Hund heimkommt, dann macht ihm seine Frau die Hölle heiß. Und wenn einer seiner Nachbarn sieht, dass er einem Hund nachjagt, um ihn einzufangen, dann stirbt er den gesellschaftlichen Tod. Aber, Allah sei Dank, es herrscht ja nächtliche Ausgangssperre. Da sieht ihn wahrscheinlich keiner. Er biegt in die nächste Gasse ein, in die übernächste, noch ein Häuserblock und da - steht plötzlich ein gepixelter Mann mit Sommersprossen vor ihm. Der Bartträger schreit ihn an, weil er sonst seinen Hund nie einholen kann. »Aus dem Weg!«, schreit er. Und da wird er schon von vielen, vielen digitalen Kugeln durchsiebt. Blutend bricht er zusammen. Es wird ihm schwarz vor den Augen, und er hört nur noch: Taktaktaktaktaktaktaktaktak! So, als hämmerte jemand auf eine Computertastatur ein. Eigentlich ein friedliches Geräusch. Und auch der mit den Segelohren und den Sommersprossen schaut ganz friedlich aus. Aber er scheint an Geschichten uninteressiert zu sein. Ich denke mir, dass es ihn wahrscheinlich auch nicht interessiert, dass diese Bartträger mit den gekrümmten Nasen mich als historisch halbgebildeten Menschen ein bisschen an die Karikaturen aus dem »Stürmer« und dem »Völ- 124 125 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 23 DEUTSCHLAND UND DER SEX kischen Beobachter« erinnern. Ich hab auch nicht das Gefühl, dass er jetzt gerne über deutsche Außenpolitik und die Interessen der Rüstungsindustrie würde debattieren wollen. Oder dass ich ihm erzählen sollte, dass Deutschland der drittgrößte Waffenexporteur der Welt ist. Nein, das will er alles nicht. Denn er hat eine Mission zu erfüllen. Einen Auftrag. Er muss funktionieren. Und nicht diskutieren. Save theMissionl Taktaktaktaktaktaktaktaktaktaktaktaktaktak... Aber das gibt's jetzt nicht mehr. Die »Bürger in Uniform« sind in Deutschland zusammen mit der Wehrpflicht ad acta gelegt worden, Jetzt gibt's nur noch Berufssoldaten. Die fahren aber nicht mit der Bahn. Zumindest hab ich noch keine getroffen. Bleiben nur die Rentner. Aber die spielen sowas nicht. Vielleicht deshalb, weil von denen noch ein paar miterlebt haben, wie das ist, wenn analoge Geschosse durch die Luft fliegen und knapp neben einem einschlagen. Das macht dann so ein Geräusch: Taktaktaktaktak taktaktaktaktaktaktaktaktaktak... HEM.GA' PR.I VAT Cf3 SO 23/ Deutschland und der Sex Pudern vs. poppen Sex. Ausgerechnet Sex! Das ist ein sehr schwieriges Kapitel für einen Wiener. Und wir haben keinen Sex. »Sex haben« ist uns unbekannt. Wir »machen« auch nicht »Liebe«. Und »poppen« tun wir schon gleich gar nicht. Wir pudern, bumsen, schnacksein oder petschieren. Und darüber redet man eigentlich nicht. Und wenn nur kurz: Wer mit wem? Hast du schon gehört? Die und der? Ach, die und die! Nein, wirklich: Der und der?? Das war's, Details klärt man mit dem Urologen. Aber nur, wenn es sein muss. Ansonsten bleibt das alles, wo es hingehört: unter der Decke. Denn dort ist es dunkel, und das macht die Sache erst richtig spannend. 126 127 SERVUS PIEFKE [ KAPITEL NO. 23 DEUTSCHLAND UND DER SEX Anders in Deutschland: Hier ist Sex grundsätzlich mal etwas Berechenbares, Brauchbares und Gesundes. Da kann man auch locker drüber sprechen. Sex ist hier so eine Art Mischung aus Baumarkt, Bioladen und Selbsthilfegruppe. Das war natürlich nicht immer so, sonst wären die Aufklärungsfilme von Oswald Kolle nicht nötig gewesen. Aber allein ihr Erfolg beweist, dass man in Deutschland den Sex grundsätzlich für ein verstehbares Phänomen hält. Und Herr Kolle hat viele Nachahmer gefunden: von Doktor Sommer aus der Bravo über die Sex-Tipps in Cosmo-politan und Brigitte bis hin zu Schulmädchen-Report und Praline. Ganz zu schweigen von der florierenden deutschen Porno-Industrie. Die Grenzen zwischen Aufklären und Aufgeilen sind also fließend. Oder sagen wir es so: Geilheit ist gesund, wenn man rechtzeitig drau I" schaut, dass man sie hat, wenn man sie braucht. In Deutschland herrscht also größtenteils ein krampfhaft betonter, im-verkrampfter protestantisch-pragmatischer Zugang zum Geschlechtsakt vor. Der Volkskörper darf auch mal seine Körpersäfte fließen und spritzen lassen, wenn es der Volksgesundheit dient. Im Gegensatz zum katholisch-schuldbeladenen Ansatz in Wien und Österreich ist man in Deutschland der Meinung, Sex sei - ähnlich wie bis vor kurzem die Atomkraft - grundsätzlich beherrschbar. In Österreich sind wir uns sicher: Er ist es nicht. Aber wir haben auch nur ein Atomkraftwerk und das ist niemals in Betrieb gewesen. Anders gesagt: In Deutschland vögelt man trotz des Restrisikos (das man sich vorher genau ausgerechnet hat und daher beweisen kann, dass der Ernstfall eigentlich gar nicht eintreten kann - und wenn, nur in Japan). In Österreich vögelt man nur wegen dem Restrisiko (eines inaktiven Kraftwerks), da das erst den Kick bringt. Ohne drohenden Abgrund, Tod und Verderben kein Spaß (wie gesagt: in Österreich heißt es »wegen dem«). Die sexuelle Revolution, die in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts von Amerika nach Westeuropa schwappte, wurde in der Bundesrepublik gern angenommen und sofort in etwas Benötigtes, Hygienisches, Gesundes - kurz gesagt: in etwas Brauchbares verwandelt. Das anarchische Wesen der Revolution ging dabei freilich irgendwo zwischen Rhein und Elbe verloren. Vielleicht ein Grund, warum es in Österreich überhaupt keine sexuelle Revolution gab. Das ist aber - abgesehen vom Sex - sowieso nicht nötig, da die Anarchie in Wien ein latenter gesellschaftlicher Dauerzustand ist und sich gewöhnlich als freundliches »Weiterwursteln« anreden lässt. Sexuelle Aufklärung überlassen wir der Kronenzeitung. Dort schreibt Frau Dr. Gerti Senger jeden Sonntag und wird dafür »Sexpertin« genannt. Und wer sie einmal im Fernsehen gesehen hat, denkt sofort wieder an unser inaktives AKW. Die Deutschen haben also sexuell alles absolut im Griff. Und genau das ist es auch, was ihnen ein bisschen den Spaß verdirbt. Denn trotz - oder gerade wegen - ihres pragmatischen Zugangs haben die Deutschen in sexueller Hinsicht nämlich einen kleinen nationalen Minderwertigkeitskomplex. Von Deutschland aus betrachtet, sind nämlich alle anderen Länder sinnlicher. Versauter. Sexuell gewitzter. Orgiastischer und variantenreicher. Mit Ausnahme der Schweiz vielleicht. Und das versteh ich. Ich persönlich glaube ja, dass sich die Schweizer ausschließlich per Volksentscheid vermehren und die überflüssigen körperlichen Sekrete im Emmentaler entsorgt werden. Daher die Löcher. Der wird dann exportiert, und das nennt man dann Ausschaffung. I >er latente Minderwertigkeitskomplex der Deutschen gegenüber anderen Nationen ist aber auch ein Politikum. Er ist eine stete Quelle der Xenophobie und der Angst vor »Überfremdung«. Man denke nur an die paranoide Klage: »Die Ausländer nehmen uns die Frauen weg!« Diese Panik ist nur logisch, wenn man der Meinung ist, dass die 128 129 5ERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 24 DEUTSCHLAND UND DIE AUSLANDER »Ausländer« unglaubliche sexuelle Praktiken, Kniffe und Tricks drauf-haben, von denen man selber keine Ahnung hat. Die wissen da was, denn die kommen ja nicht von hier. Aber natürlich kann man jedes Vorurteil auch umdrehen. So habe ich selbst einmal unverhofft den kürzesten Weg ins Bett einer deutschen Frau gefunden, weil ich nebenbei erwähnt hatte, dass ich nicht nur aus Wien käme, sondern obendrein auch keinen Führerschein besäße. »Schau einer an. Ein Wiener und ohne Führerschein ... eine ganz seltene Spezies.« Und damit war die Anbahnungsphase auch schon beendet, und wir gingen zum angenehmen Teil des Abends über. Offenbar war für sie etwas Exotischeres als ein Mann, der kein Auto lenken kann, nicht denkbar. Ich war wohl so etwas wie eine Palmeninsel. Diese geile Fremdheit hat auch in der Zeit der deutschen Teilung in den Hirnen Niederschlag gefunden. Bis heute ist man - zumindest in den alten Bundesländern - überzeugt, dass in Sachsen die »schönen Mädchen auf den Bäumen wachsen« und dass, wenn es auch gar nichts gab in der DDR, der Sex dort zumindest viel, viel freier war. Ohne Bananen, aber dafür hat die Stasi mitgehört. Insofern ist der Telefonsex wahrscheinlich eine realsozialistische Erfindung. Wirklich orgiastisch wird es in Deutschland selbst nur in begrenzten Zeiträumen: In den Goldenen Zwanziger Jahren, zur Wiedervereinigung, zur Fußballweltmeisterschaft, beim Oktoberfest, zu Karneval oder wenn ein Deutscher zum Papst gewählt... nein, da nicht. Aber in klar umrissenen Zeiträumen wird auch mal die Sau rausgelassen. Und anschließend wieder eingefangen. Das ist eindeutig geregelt, hebt sich deutlich ab, und jeder weiß, von wann bis wann er oder sie mal darf. Das mag ein wenig unspontan wirken, ist aber dafür auf jeden Fall berechenbar. Na, da haben wir es wieder! 24/ Deutschland und die Ausländer Hin und her Natürlich ein heikles Thema. Vor allem, weil jeder dazu eine eigene Meinung hat. Oder glaubt, es sei seine eigene. Meist ist sie zwar schon vorgekaut von Boulevard, Glotze und Stammtisch - die muss man dann nur noch schlucken, und dann hat man sie. Sarrazin-Debatte, jugendliche Schläger, Parallelgesellschaft, Minarett-Debatte, prügelnde Ehemänner, Krawalle in England und und und ... Der »Ausländer« ist in Deutschland in erster Linie ein Problem. Das ist nicht schön, aber immer noch besser als in Wien. Da ist der »Ausländer« bereits zum Feindbild mutiert. Und dabei bin ich ja selber Ausländer. 130 131 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 24 DEUTSCH LAND UND DIE AUSLANDER Obwohl ich mich eigentlich lieber als »Reinländer« bezeichne (und dass, obwohl ich am Main wohne). Zu Hause bin ich dafür ein »Rausländer«, obwohl ich eigentlich »Inländer« wäre. Denn ich bin ja aus Österreich raus und nach Deutschland rein gezogen. Also sind Ausländer immer Reinländer, während Inländer immer (zumindest potenzielle) Rausländer sind, nur eben nicht im Inland. Um es noch klarer zu machen: Wenn man wohin kommt, ist man eigentlich Hillländer, auch wenn man Ausländer genannt wird. Dort, woher ma 11 kommt, heißt man zwar Inländer, ist aber Herländer. Weil man ja daher kommt, wo man gerade nicht ist. Ist man aber mal wieder im Herland, interessiert es keinen, woher man kommt, weil da ja alle herkommen. Bis auf die Hinländer, die woandersher sind. Also muss man zuerst einmal woandershin, um dort Hinländer zu werden und zu merken, was für ein Herländer man eigentlich ist. Es geht also immer hin und her aus aller Herren Hinundherländer. Klar? Und das geht den Deutschen auch nicht anders. Denn sie sind selbsl häufig Raus-und-Rein- und Her-und-Hinländer. Also kurz: Ausländer. So gibt es große deutsche Gemeinden in China, Argentinien, Chile, USA, Kanada, Schweiz, Spanien, Thailand und natürlich in Österreich. Jahrhundertelang war einem großen Teil der Deutschen vor allem daran gelegen, das geliebte Heimatland hinter sich zu lassen. Deutschland war ein reines Auswanderungsland. Menschen flohen vor Krieg, Armut, religiöser Intoleranz, politischer Repression, Kaiser, Hitler, den Alliierten, der SED oder der Bürokratie. In Bremerhaven gibt es sogar ein ganzes Auswanderer-Museum. Das hab ich mir angesehen und dann auch Bremerhaven und hab mir gedacht, wie stimmig das doch ist. Bremerhaven ist ein guter Platz zum Auswandern. Dort hält einen nichts. Und da die Deutschen das so lange getan haben, haben sie auch ein Problem mit den Ausländern. Es wollen plötzlich Leute hierher? freiwillig? Nach Deutschland? Das ist für die Deutschen schwer zu verstehen. Das kenn ich auch aus Wien. Als ich vor Jahren mit einer deutschen Freundin in Wien war, wurde sie gefragt, wo sie herkomme. Aus München. »München? Das ist doch total oasch (Arsch)!« Sie .stimmte - sehr unmünchnerisch - dem zu, und dann überlegte man gemeinsam, wo man denn sonst hin solle. Hamburg war keine Möglichkeit, war auch »total oasch!«, Berlin auch »oasch«, Köln sowieso .»nasch«. Letztendlich meinte das Wiener Gegenüber, bleibe man am besten zu Hause. In Wien. »Stimmt«, sagte meine Freundin, »das hab ich mir auch gedacht, deshalb möchte ich jetzt nach Wien ziehen!« Darauf sagte der wienerische Mund: »Wien? Bist deppat? Wien ist total oasch!« Ich denke in Wien, wie in Deutschland, hält man auch die Einwanderer einfach für nicht ganz dicht, weil sie hierherkommen wollen. Diese Ausländer müssen komische Menschen sein. Und das sind sie auch. Ich hab sie kennengelernt. Ich wurde nämlich mal eingeladen, »Gaststar« beim Fest eines türkischen Kultur-Vereins zu sein. Sozusagen als Ausländer unter Ausländern im Ausland. Da müsste ich mich doch heimisch fühlen. Die Stadt, in der der Verein residierte, war eine dieser katholischen, konservativen mittleren Städte, wo auch noch im 21. Jahrhundert um zehn am Abend die Gehsteige hochgeklappt werden, um am nächsten Morgen alles gut drunterkehren zu können. Aber mir macht das nix, ich kenn das. Zwar komm ich aus Wien, aber ich hab oft meine Verwandten in Österreich am Land besucht. Und diese Städte gibt's bei uns auch, das ist im Wesentlichen nicht anders. Und es ist auch gut, dass man das kennt. Denn nur so wird man ein aufgeklärter Humanist mit einem großen Faible für die strikte Trennung zwischen Kirche und Staat, da man ja dort erlebt, wie es ist, wen n die beiden nicht wirklich getrennt sind. 132 133 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 24 DEUTSCHLAND UND DIE AUSLANDER Wenn man also in so einer Gegend einen türkischen Kulturverein betreibt und der auch noch ein Fest organisiert, dann ist das ungefähr so, als würde man versuchen, auf den Wiener Opernball zu kommen, indem man im Blaumann auf einem Traktor Einlass begehrt. Also: An und für sich eine lustige Idee, aber man sollte nicht mit viel Applaus rechnen. Dachte ich mir. Ich sollte mich irren. Das Vereinslokal lag im »schlechten« Teil der Stadt, unweit des örtlichen Gewerbegebiets, und war wohl früher selbst eine Druckerei, Tischlerei oder etwas Ähnliches gewesen. Und es war streng genommen gar kein Vereinslokal, sondern eine Moschee. Freilich ohne Minarette, vor denen man hätte Angst haben müssen. Nur mit einem schlichten Gebetsraum. Dass ich mich also nicht im selbstverwalteten Kollektiv der revolutionär-sozialistischen Partei für ein freies Kurdistan befand, war mir rasch klar. Ich stand also mitten in der vielzitierten »Parallelgesellschaft«, Der Ausländer unter Ausländern und der einzige Nicht-Muslime unter geschätzten vierhundert gläubigen Muslimen. Ich wurde herumgeführt und aufs Herzlichste begrüßt und blieb doch ein Außenseik-r. Und mit einem Mal kam mir diese Rolle unglaublich bekannt vor. Aber woher? Da fielen mir wieder meine Kindheitsbesuche bei den Verwandten am Land ein. Das Stadtkind, das keine Ahnung hat, den Dialekt nicht versteht und überhaupt nicht einmal weiß, wie man einen Traktor fährt, dieses Stadtkind wird zum Kirchtag (oder zu Ostern oder Fronleichnam) herumgeführt. Alle sind freundlich, aber auch ein bisschen distanziert - denn ganz geheuer ist so ein Stadtmensch auch nicht. Da wird man dem und dem vorgestellt, der einem ein bisschen die Hand schüttelt, aber eigentlich in Ruhe gelassen werden will; der Pfarrer kommt auf einen zu, riecht komisch und ist ansonsten un- interessiert; der Vorsitzende des örtlichen katholischen Familienver-ba tides streicht dir auf unangenehme Art über den Kopf, während du versuchst, dich unter dieser Hand rauszuwinden. Irgendwann bekommst du etwas zu essen, was sehr gut schmeckt, und du denkst dir: Was sind das doch für seltsame Menschen mit dieser völlig fremden Lebensform? Mit Bratwurst, Traktor, Katholizismus und Hier am Vormittag? Und hier war es exakt genauso. Ich wurde freundlich begrüßt, ich war ein gern gesehener Gast, aber eigentlich wollte man seine Ruhe haben; der Imam schüttelte mir Hand, ich war schließlich der »Künstler«, war aber ansonsten uninteressiert; der Vorsitzende der Gemeinde gab mir auf unangenehme Art die Hand, und ich versuchte, mich sei Ties feuchten Händedrucks bald zu entledigen; und irgendwann nach meinem Auftritt bekam ich einen Teller Gegrilltes, was gut geschmeckt hat, und ich hab mir gedacht: Was sind das doch für seltsame Menschen mit Kebab, Mercedes, Islam und Pfefferminztee den ganzen Tag? Auf der Heimfahrt dachte ich mir dann, dass wir, wenn wir uns denn vor den »Ausländern« schon unbedingt fürchten wollen, nicht vor dem Fremden fürchten sollten, sondern vor diesen erschreckenden Ähnlichkeiten: Verdrucksten Moralvorstellungen, die niemals einer Überprüfung unterzogen werden, schwammigen Begriffen wie »Tra-dition«, womit man alles begründen oder ablehnen kann, was einem nicht passt, und dieser beharrlichen Abneigung gegenüber jeder Art von Veränderung. Das ist doch überall dasselbe. Oder wie es der Wiener beim Heurigen nach dem sechsten Viertel in seiner besonderen Form des weinseligen Humanismus formuliert: »Menschen samma alle!« ligal, ob hin oder her. Und genau das ist vielleicht das Problem. 134 135 KAPITEL NO. 25 DEUTSCHLAND UND DIE REVOLUTION SERVUS PIEFKE 25/ Deutschland und die Revolution Nur Wut, Bürger! Das Verhältnis der Deutschen zur Revolution ist ein schwieriges. Aber zum Trost: In Wien ist es noch viel schwieriger. Um auf unsere letzte Revolution zu stoßen, muss man schon ins vorletzte Jahrhundert zurückgehen. Und davor war auch nicht viel. Außer Habsbur-gern natürlich. Von denen haben wir jede Menge. Und sobald sie tot sind, verehren wir sie unbändig. In so einem Klima des glücklichen Untertanengeists haben es Revolutionen natürlich nicht leicht. Das zeigt auch der Bedeutungswandel des Begriffs die »48er«: So hießen in Wien früher einmal die Revolutionäre von 1848 - heute meint man damit die Vertreter des Magistrats 48. Das ist jene Truppe der Wiener Stadtverwaltung, die für die Müllentsorgung zuständig ist. Revolution und Mist sind in Wien also dasselbe. Die Deutschen haben es da aber auch nur wenig leichter. Einerseits blicken sie immer wieder halb neidisch, halb staunend nach Frankreich (manchmal auch nach Spanien oder nach Arabien), wo ihnen vorgeführt wird, wie man auch mit Obrigkeiten umgehen kann (sie verjagen beispielsweise), andererseits ist ihr Bedürfnis nach Ruhe und Ordnung fast immer größer als das nach Gerechtigkeit. Und Revolutionen sind nun mal mit Ruhe und Ordnung kaum vereinbar. Sollte es aber doch mal jemand schaffen, ruhige und geordnete Revolutionen zu organisieren, dann wird es mit Sicherheit ein Deutscher sein. Andererseits ist die Geschichte der Revolutionen in Deutschland eine Geschichte des Scheiterns. Auf diese gescheiterten Revolutionen folgen meist Jahre der Repression, die dann von »Revolutionen von oben« abgelöst werden, die natürlich keine sind. Oder es folgt einfach Krieg. Auch unterscheiden sich die einzelnen Landstriche sehr in ihrer Affinität zu Umstürzen. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation war die Rolle des ewigen Unruhestifters eigentlich den Böhmen zugewiesen, die diese auch mit Bravour ausfüllten. Ob Hussiten, ob böhmisch-mährische Brüder in Zeiten der Glaubensspaltung oder einer der beiden Prager Fensterstürze, die Böhmen (vulgo: Tschechen) ließen sich immer etwas Neues einfallen. Da waren sie freilich nicht die Einzigen. Auch die Schweizer und die Holländer waren immer mal für Aufstände gut. Dumm nur, dass die meisten dieser Aufstände zur Selbstständigkeit der betreffenden Landesteile führten, sodass für Deutschland quasi jene Bevölkerungsteile und Landstriche übrig blieben, die mit ihren Aufständen 136 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 25 137 DEUTSCHLAND UND DIE REVOLUTION weniger erfolgreich waren. Man könnte daraus natürlich den Schluss ziehen, dass es ein nationales Charakteristikum der Deutschen sei, ein Volk der gescheiterten oder gar nicht durchgeführten Revolutionen zu sein. Neben dem guten Schwarzbrot, versteht sich. Tauscht der Deutsche also politische Freiheit gegen Brot? Das wäre dann aber doch zu kurz betrachtet: Gerade die ach so ordnungsliebenden Schwaben beispielsweise haben sich in ihrer Geschichte gern und oft gegen die Obrigkeit erhoben. Nicht nur, weil sie selbst über ihre Bahnhöfe bestimmen wollten. Nein, in den Bauernkriegen wollten sie zum Beispiel selbst über ihre Bauernhöfe bestimmen. Auch die Bayern haben revolutionäres Potenzial, wenn es ums Bier oder gegen die Preußen geht. 1705 versuchten die Bayern gar, eine Republik zu errichten, was aber scheiterte. An den Habsburgern natürlich. Der heutige Freistaat allerdings, auf den sich konservative CSU-Politiker heute so gerne berufen, wurde eigentlich während der Räterepublik vom ersten Ministerpräsidenten Bayerns ausgerufen. Von dem Sozialisten Kurt Eisner. Der wurde zum Dank dafür zweieinhalb Monate später von einem Grafen erschossen. Und eine der größten Demonstrationen, die Bayern seit 1945 gesehen hat, war die sogenannte Biergarten-Revolution 1995, wo 25.000 Bayern auf die Straße gingen, um für ihr Recht einzustehen, bis 23 Uhr an der frischen Luft saufen zu dürfen. Man sieht, der Bayer weiß, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Am Rhein hingegen, nah bei Frankreich, liegen die geistigen Wurzeln der 1848er-Revolution. Mainz war sogar mal kurz Republik und damit die erste auf deutschem Boden (wenn man von den Schweizern absieht); in Heppenheim an der Bergstraße kann man heute noch das Wirtshaus besuchen, in dem die Nationalversammlung vorbereitet wurde, die dann 1848 in Frankfurt tagte, um ein Jahr später in Stu11-gart von württembergischen Reitern auseinandergetrieben zu werden. Selbst im königstreuen Berlin ging man 1848 und 1918 auf die Barrikaden. Von 1967 und seinen Folgen ganz zu schweigen. Und auch hoch im Norden, in Kiel, haben die Matrosen 1918 revoltiert. Und dennoch ist festzuhalten, dass die erfolgreichste Revolution in Deutschland ausgerechnet von Leipzig ausging. Von einer Kirche. Und schön regelmäßig. Jeden Montag im Herbst 1989. Und das ist natürlich starker Tobak für all die nach Freiheit lechzenden Herzen der vorangegangen Generationen. Ob Wiedertäufer, Jakobiner, revolutionäre Sozialisten, Trotzkisten, 68er, Startbahn-West-Kämpfer ... Sie alle sind mehr oder minder gescheitert. Und wer war erfolgreich? Sächsische Protestanten, die friedlich, mit Kerzen in der Hand, singend durch die Innenstadt von Leipzig gezogen sind. Vielleicht ist sie also doch möglich, die Revolution, die ordentlich vonstatten geht. Andererseits ist das Protestantische ja von Martin Luther erfunden worden und damit sowohl eine durch und durch deutsche wie auch revolutionäre Geisteshaltung. Es brauchte eben nur knappe 500 Jahre, bis sie durch die Macht der Straße politische Veränderungen hervorbrachte. Ich schließe daraus: Revolution in Deutschland ist ein sehr, sehr, sehr langwieriges Geschäft. Aber wenigstens kein Mist. 138 139 KAPITEL NO. 26 DEUTSCHLAND UND DIE BÜROKRATIE SERVUS PIEFKE 26/ Deutschland und die Bürokratie Von der Wiege bis zur Bahre Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich in Deutschland überhaupt existieren kann. Denn ich habe ein entsetzliches Manko. Eine Behinderung. Ich kann etwas nicht, das man hier unbedingt können muss: Ich kann Formulare nicht. Soll ich ein Formular ausfüllen, werde ich sofort zum siebenjährigen Grundschüler mit extremer Lese- und Schreibschwäche. Wie der heilige Sebastian fühl ich mich, festgekettet von kleinen Kästchen, die mit Buchstaben gefüllt werden wollen, von den Fragen wie von Pfeilen durchbohrt. Alles will dieses Blatt Papier von mir wissen: Wo ich geboren bin und wann, wo ich wohn, wie meine Bankverbindung lautet und wie meine Sozialversicherungsnummer, wann ich umgezogen bin und von wo. Wer mir dabei geholfen hat, welche Marke der Umzugs-Lkw hatte, was die ersten Worte waren, die ich zu meiner Nachbarin gesagt habe, und wie sie heiße? Wann und wo sie geboren sei und wie ihre Bankverbindung laute? Und von lauter Begehrlichkeiten bombardiert, formen sich in meinem Kopf neue, eigene Fragen - wie zum Beispiel: Was geht euch das an? Warum wollt ihr das alles wissen? Wer seid ihr eigentlich? Das würde mich nämlich interessieren. Aber das bleibt unbeantwortet. Wahrscheinlich müsste ich erst ein hübsches Formular entwerfen, dieses der Formulare ausstellenden Stelle schicken, mit der Bitte, es vollständig leserlich ausgefüllt und unterschrieben zurückzusenden. Doch auch das würde nichts helfen. Ich wette, ich bekäme kurz darauf ein Schreiben der Formulare ausstellenden Stelle, das den Eingang meines Formulars bestätigt und auch die sachgemäße Verarbeitung garantiert, allerdings brauchten sie dafür noch ein paar Informationen über die Formulare erstellende Person, weshalb sie ein Formular beigefügt hätten, das ich bitte vollständig leserlich ausgefüllt und unterschrieben zurücksenden möge. Das Amt gewinnt immer. Dabei meinen die das gar nicht böse. Man merkt es nicht gleich, aber spätestens nach dem zweiten oder dritten Wortwechsel mit dem Beamten spürt man es. Dieser Mensch einem gegenüber ist kein Vertreter eines Staates, kein willfähriger Büttel einer Obrigkeit, kein Rädchen in der großen Maschine der sich stets selbstversorgenden und durch jede Reform weiter wachsenden Verwaltung. Nein, das ist ein Mensch, der einem helfen will. Er versucht, einen auf die richtige Seite zu bringen, einem den goldenen Weg zu zeigen. Er glaubt unerschütterlich erstens an seine Sendung, zweitens an die vollständige Richtigkeit und drittens - und das ist die Quintessenz aus beidem - an Formulare! 140 141 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 26 DEUTSCHLAND UND DIE BÜROKRATIE Natürlich gibt es auch in Österreich Formulare. Nicht zu wenig sogar. Es gibt auch die wissenschaftliche These, dass der Kult und die Anbetung des heiligen Bürokratius eigentlich in Österreich entstanden seien. Wahrscheinlich eines der perfiden Herrschaftsinstrumente der spanischen Linie der Habsburger, um die Bevölkerung zu unterdrücken und das wankende Regime am Leben zu erhalten. Also so etwas wie das Hofzeremoniell, die Hofreitschule oder das nie eingelöste Versprechen, dass wenn der »Wiener einen Schaaß lässt« (furzt), der Herrgott ein schönes Wetter macht. Die Wiener glauben im Übrigen heute noch daran, das werden Sie merken, sobald Sie mal in Wien U-Bahn fahren. Aber der Kult hat seine Bedeutung und Ausprägung in Wien verändert. Ähnlich wie auch das Christentum. Das hat sich ja zuerst auch in Kleinasien verbreitet. Heute herrscht dort ein anderer Aberglaube vor. In Wien auf dem Amt ist die Sache folgendermaßen: Beide Seiten leiden an dem Formular, das sie verbindet, ohne das sie gar nie in Beziehung zueinander getreten wären. Beide tun so, als wäre es notwendig und sind sich doch seiner absoluten Überflüssigkeit, ja seines destruktiven Potenzials bewusst. Aber das Formular wird trotzdem hingenommen. Wie schlechtes Wetter, Seuchen oder das Fernsehprogramm. Es gehört zum Leben - wie ein juckender Hautausschlag. Und genauso beliebt ist es auch. Der Formular-Ausfüller schreibt etwas hinein, von dem er glaubt, dass es dem Formular-Empfänger gefällt. Und der Formular-Empfänger tut so, als würde er das, was der Formular-Ausfüller geschrieben hat, auch glauben. Beide sind sich der absoluten Sinnlosigkeit ihres Tuns bewusst und verrichten dieses Ritual mit derselben Schicksalsergebenheit wie Naturvölker, wenn sie ihren Schamanen tanzen lassen, damit der die Sturmflut abwehren soll, die schon dreißig Behausungen weggerissen und das halbe Dorf das Leben gekostet hat. Alle wissen natürlich: Das hilft nichts, aber es gehört eben dazu, und deshalb hilft es nichts, etwas dagegen zu unternehmen, weil das nur noch mehr Formulare nach sich zöge. Und noch dazu in einem amtlichen Vorgang, der weitaus komplizierter und unüblicher ist, als eben dieser übliche. Dass die nächste Sturmflut auch wieder das halbe Dorf wegreißen wird, ist so sicher wie das Amen im Gebet. Aber der Schamane ist eben privat ein netter Kerl. Kurz gesagt: Das Formular ist beliebt wegen seiner philosophischen Größe, geschätzt wegen seiner aparten Sinnlosigkeit, man mag es, weil es so abstrus lebensfremd und lustig realitätsfern ist. Es macht keinen Spaß, aber das hat wieder was ... So ist das in Wien. Außer man ist Ausländer, dann spielt der Schamane gern einmal verrückt, findet Anzeichen für den Untergang des Stammes, springt wie von der Tarantel gebissen umher, sieht Dämonen in dem Fremden wohnen und zaubert noch mehr okkulte Rituale hervor. Also noch weitere Formulare. Und bei der Sozialversicherung. Für die sind alle, die nicht bei ihnen arbeiten, Ausländer. Also beispielsweise alle ihre Beitragszahler. In Deutschland hingegen musst du ehrlich an das Formular glauben. Ohne das Formular bist du nichts (und nicht etwa, wie man meinen sollte, andersrum). Es hat dich im Griff, und du bist gezwungen, es anzubeten, diesen Götzen aus Papier, Eigensinn, Fremdherrschaft und Dummheit. Das Formular ist für den Staatsbürger, was für die katholischen kleinen Kinder der Beichtzettel ist, auf dem sie ihre Sünden notieren. Und der Beamte ist der Beichtvater. Unerbittlich, streng, mit bohrendem Blick, Herr über dein äußeres und inneres Selbst. Mit einem Wort: Der Vertreter Gottes auf Erden. Selbstverständlich gibt es diesen Typus da und dort auch noch in Wiener Amtsstuben, aber der wird meist wegen übereifriger Pflichterfüllung in höhere Positionen weggelobt. In ein Büro mit viel Licht und kleinem Aufgabengebiet, wo er keinen Schaden anrichten kann. Im Zweifelsfall in die Politik. 142 143 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 26 DEUTSCHLAND UND DIE BÜROKRATIE In Deutschland hingegen ist die heilige Bürokratie immer noch hoch angesehen und ihre Hostie, das Formular, wird in Ehren gehalten. Das Formular gibt Halt im Leben. Es verspricht Ordnung in einer immer komplizierter werdenden Welt. In ihm ruhen Sicherheit und Überblick, denn es verspricht dem, der es zu lesen weiß, eine Ansicht von oben. Wie ein Adler schwebt er, der formularistische Schriftgelehrte, über den Häusern der Menschen und sieht, wie es um die Gesellschaft bestellt ist. Und je mehr Formulare er bekommt, desto klarer wird sein Blick, schärfer die Analyse und weiter sein Horizont. Das Formular ist ein Segen. Natürlich nur für ihn. Für alle anderen ist es ein undurchschaubares Dickicht, das nichts als Ärger macht. Ein Dschungel voller Schlingpflanzen, die täglich mehr werden und sich um Arme und Beine ihres Opfers winden, um es schließlich zu erdrücken. Dennoch wird es nicht infrage gestellt. Denn wer weiß schon, was an seine Stelle träte. Chaos? Aufruhr? Oder gar Freizeit? Aber das fragt man sich in Deutschland nicht. Hier ist der Formular-Ausfüller angehalten, das Prozedere gutzuheißen. Das Formular zu preisen, als Hüter des einzigen Glaubens. Als Heilsbringer und Schutzherr vor dem Bösen und dem ein wenig Unordentlichen. Die Erde würde sich auftun und uns alle verschlingen, gäbe es das Formular nicht. Vielleicht tut sie das ja bereits, aber niemand bekommt es mit, weil willfährige, sich selbst aufopfernde Beamte täglich die sich unbemerkt auftuenden Lücken wieder und wieder mit Papieren zustopfen. Deshalb ist in Deutschland auch wahrscheinlich das Grillen in der Öffentlichkeit so oft verboten, weil unter den Wiesen nur noch ein Haufen Altpapier wohnt, das wackere Streiter im Geiste der Bürokratie dem Planeten in den Rachen geschoben haben, um ihm sein gefräßiges Maul zu stopfen. Denn sonst würde er uns alle verschlingen und nichts, aber auch gar nichts, würde von uns bleiben. Die Erde würde ihr Antlitz von uns säubern, und niemand käme auf die Idee, dass wir und unsere Kultur überhaupt je existiert hätten, wenn nicht - ja wenn nicht - da irgendwo noch jede Menge Formulare herumlägen. Die sind nämlich selbst für Mutter Erde absolut ungenießbar. Also, werte Leserinnen und Leser, wenn Sie das nächste Mal vor einem Hohepriester des Bürokratismus stehen, sitzen oder gar liegen (das wünscht man natürlich niemandem), dann seien Sie sich gewiss: Der Mann tut das nicht, weil es ihm Spaß macht, er Sie quälen will oder einfach auch nur einen Job braucht, obwohl er tief in seinem Herzen eigentlich lieber mit mundgeblasenen Skateboards für ältere Damen mit Gleichgewichtsstörungen sein Geld verdienen würde. Nein, dieser Mensch macht das in dem Wissen, dass die Menschheit ohne ihn verdammt wäre. Er ist ein Überzeugungstäter through the hone. Ein Fanatiker. Also tun Sie besser, was er sagt. Solche Leute sind unberechenbar. 144 , 145 SERVUS PIEFKE , KAPITEL NO. 27 DEUTSCHLAND UND DIE ARBEIT Deutschland und die Arbeit Wer kann, der kann! 5 i| Als Wiener muss man das ja auch mal sagen: Wenn man sich in j Deutschland umschaut, es könnte einen ja fast der Neid packen. Was hier alles gemacht wird! Was alles hergestellt! Mit welcher Inbrunst. Denn die Deutschen, die können wirklich alles! Sie können U-Boote j und Panzer bauen (und dann auch noch verkaufen), Diktaturen er- j richten, manchmal sogar stürzen; sie können Transrapids erfinden, Lokführerstreiks anzetteln; sie können in die Atomkraft einsteigen : und dann wieder aussteigen (nur dass der Ausstieg länger dauert); sie können sehr schnell Auto fahren und sehr früh Brötchen backen, sie können sich sogar trotz ihrer auseinanderdriftenden Dialekte eini- germaßen miteinander unterhalten; sie können denken und dichten, henken und richten, schenken und schlichten und ihre Vorgärten mähen ... Aber eines können sie nicht: nichts tun. Einfach nix. Einmal nix machen. Nix planen. Nix wollen. Nix sollen. Nix müssen. Das kann der Deutsche einfach nicht. Er will es auch nicht. Das Nichts ängstigt ihn. Das ist logisch: Denn der Deutsche ist ein Tun-Mensch. Und als solcher fürchtet er sich dann natürlich vor dem Nichtstun, weil es an seiner Eigendefinition kratzt. Der süße Müßigang schmeckt für den Deutschen wie Essig. Selbst wenn er nicht zu den brav arbeitenden und sich totschuftenden Bürgern gehört, vielleicht sogar ganz gegen diese eingestellt ist, will er gleich wieder das System einreißen. Er schickt sich an, die Parameter zu verändern, es den Schweinebullen zu zeigen, die Bonzen vom Sockel zu holen, den Kapitalismus abzuschaffen, die Revolution zu entfachen, die Welt zu verändern - mit einem Wort: Er will das Übel an der Wurzel packen! Und das klingt doch schon wieder sehr nach Gartenarbeit. Also nicht unbedingt nach Nichtstun. Sogar wenn er meint, die Sinnlosigkeit allen menschlichen Strebens erkannt zu haben, wenn er, die eigene Endlichkeit vor Augen, seine eigene im Vergleich zum Kosmos bedeutungslose Existenz realisiert. Was macht er dann? Dann schreibt er ein Buch. Begründet eine Philosophie! Erfindet eine neue Weltanschauung! Wird ein genialer Denker! Schon wieder Arbeit. Diese Geisteshaltung schlägt sich auch in der Sprache nieder: Heißt es doch »schuften wie ein Ochse«, »ackern wie blöd«, »sich bei der 146 147 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 27 DEUTSCHLAND UND DIE ARBEIT Arbeit den Arsch aufreißen«, aber: »Leben wie Gott in Frankreich'!. Da braucht man doch kein Hellseher zu sein, um eine Idee zu haben, wo die Ochsen, die wie die Blöden ackern, sich den Arsch aufreißen. Und zwar wie die Teufel. Immer gilt es, etwas anzupacken, durchzuziehen, auf die Reihe zu kriegen, damit das dann bald mal fertig ist und man nachher das nächste Ding anpacken kann. Und durchziehen ... Egal, ob Autobahn, Wiederaufbau, Dresdner Frauenkirche oder das Bruttonationaleinkommen. Was dem Schweizer seine Genauigkeit, seine Biederkeit, sein Bankwesen und die Mülltrennung ist, dem Österreicher seine Hochnäsigkeit, Weltverachtung, Bequemlichkeit und seine Mehlspeisen, das ist dem Deutschen sein absolut sinnloser, keineswegs zielgerichteter, wild umherirrender, aber stets vorhandener Fleiß. FLEISS! Und so schallt es durch das Land: »Arbeit schändet nicht!« Keine Frage. Tut sie nicht. Nur sie adelt auch nicht. Sie ist halt Arbeit, um etwas zu erreichen. Und dann? Zu genießen? Nein! Um sich neue Ziele zu setzen. Da wundert es einen dann auch nicht mehr, dass ein Baumarkt in Deutschland sehr erfolgreich mit dem Slogan: »Es gibt immer was zu tun« wirbt. In Wien wäre das eine Drohung. In Deutschland ist das ein süßes Versprechen! Ob für Wilhelm, die Nazis oder den Exportweltmeistertitel -wurscht. Einem Deutschen wäre der Satz: »panta rhei - alles fließt« nie im Leben eingefallen. Und wenn doch, dann ginge es bei ihm um die Neugestaltung seines Badezimmers. Und dabei kommt ja auch was heraus: Der Dübel, der wurde von einem Deutschen erfunden, ebenso wie der Ottomotor und das Düsentriebwerk. Das klingt doch alles ein wenig nach innerer Unruhe. Mal ganz zu schweigen von der industriellen Massenvernichtung. Nur mit innerer Unruhe kann man das allerdings nicht mehr erklären. Eigentlich war es ja interessant, einmal herauszufinden, was ihn so antreibt, den Deutschen. Warum er der ganz normalen, angenehmen und friedfertigen Faulheit so unwirsch, ja feindselig gegenübersteht. Beweist ihm doch seine herrschende Klasse Tag für Tag, dass es sich mit weit weniger Aufwand und der nötigen Portion Frechheit und Kaltschnäuzigkeit auch sehr gut leben lässt. Ja, das wäre mal eine Untersuchung wert, zu erfahren, warum die Deutschen keine Muße kennen. Nur wäre das eine gigantische, kräftezehrende Arbeit, man müsste sich mit Tonnen von Material befassen, Statistiken anlegen und Berge von Daten vergleichen. Es wäre zweifellos eine Herkules-Aufgabe, die viel Engagement und Zeit in Anspruch nehmen würde. Also mit einem Wort: nichts für einen Wiener. Wir tun lieber nichts. I i I 149 KAPITEL NO. 28 DEUTSCHLAND UND DAS DEUTSCHE 28/ Deutschland und das Deutsche Und was ist eigentlich deutsch? Als ich in meiner Stammkneipe unvorsichtigerweise auf die Frage: »Was machst du eigentlich gerade?« mit »Ich schreib ein Buch!« antworte, ist es mit der Ruhe aus. »Worüber?« »Über Deutschland.« »Aha!« In diesem »Aha!« schwingt sehr viel mit und nicht sehr viel von dem, was da mitschwingt, ist positiv. »Du? Ich will ja nichts sagen, aber du bist doch Österreicher?« Da haben wir's wieder. Erdreistet sich der Ösi doch glatt, das Maul aufzumachen. Noch dazu übers schöne Germanien. Wenn er auf der Bühne steht, kann er ja ganz witzig sein, aber wollen wir von dem eine Meinung über die Heimaterde haben? Nee. Dem Österreicher ist nicht zu trauen, das weiß man doch! Der kleckert uns das Vaterland mit seiner Marillenmarmelade zu, schlägt es in Blätterteig ein, streut Staubzucker drauf und schiebt es am Ende bei 180 Grad für zwei Stunden in den Backofen. Und während wir darauf warten, was rauskommt, schwängert er hinterrücks unsere Töchter. Nee. Nee. Nee. Der soll hier schön brav Steuern und Sozialversicherung zahlen - und ansonsten das Maul halten. Dennoch bleibe ich positiv: »Ja, gerade deswegen. Es geht um den Blick von außen. Die Migranten-Meinung sozusagen.« »Na super«, sagt ein anderer, »da werden wir ja was lernen, gell? Die österreichische Kunst der Definition: Hitler war Deutscher und Beethoven Österreicher. Kennen wir schon! Nee, hör mir auf, am Schluss kommt raus, dass ihr uns den Goebbels und den Marx auch noch rüberschiebt.« »Aber Goebbels und Marx waren doch Deutsche?« frage ich verwirrt. »Na und?«, wirft ein Dritter ein, »meine Oma kam aus Polen, sprach fließend polnisch und ukrainisch und nicht ein Wort Deutsch ... und willst du Österreicher mir jetzt sagen, dass ich kein Deutscher bin?« Jetzt wird es schwierig. Erstens hab ich drei verschiedene Disku-tanten mit drei unterschiedlichen Themenansätzen in drei völlig unterschiedlichen Alkoholisierungsgraden am Start, zweitens scheint sich der Umstand, dass ein Österreicher ein Buch über Deutschland schreibt, zu meinen Ungunsten auslegen zu lassen, und drittens will ich überhaupt nicht diskutieren. Ich will Bier trinken. Später vielleicht ein Glas Wein. Und ganz viel später sogar einen kleinen Kurzen. Heißt: Ich will mir gepflegt einen kleinen Rausch ansaufen. Und das schließt nach meiner bisherigen Lebenserfahrung sinnvolle Diskussionen aus. Doch meine drei alkoholisierten Vaterlandsverteidiger sind nun schon in Debattierwut entbrannt, da heißt es, sich geschickt aus der Affäre ziehen (typisch Österreicher!). Ich schlage also gedanklich einen 150 151 SERVUS PIEFKE KAPITEL NO. 28 DEUTSCHLAND UND DAS DEUTSCHE Flic-Flac, den ich mit einer dreifachen Kerze abschließe, um schließlich in einem perfekten Telemark zu landen und sage: »Das ist richtig, was ihr sagt ...« Immer mit einem Lob beginnen, ganz wichtig, »Ich hab da tatsächlich ein Problem. Und ihr könnt mir vielleicht dabei helfen. Was ich nämlich nicht ganz verstehe .., also je länger ich an dem Thema arbeite, frag ich mich: Was ist eigentlich deutsch?« Stille. Drei Augenpaare blicken mich an. Von hinten flüstert mir der Kellner ins Ohr: »Bist du sicher, dass du das mit denen da diskutieren willst?« Ich hätte ihm sagen können, dass ich mir sogar ganz sicher bin, es mit ihnen nicht diskutieren zu wollen, aber dazu ist es nun zu spät. Die Büchse der Pandora stand so weit offen, dass ein ganzes Zirkuszelt mit schlechten Clowns, stumpfsinnigen Elefanten und einbeinigen Seiltänzern hineingepasst hätte. »Was ist denn das für eine Frage?«, empört sich der Marx-und-Goeb-bels-Verweigerer. »Ich find die nicht schlecht,«, sagt der polnische Enkel, »weil ich glaube, dass die wenigsten Deutschen wissen, was deutsch ist.« »Und was ist es?«, wirft der Dritte ein. »Na ja ... deutsch ist... deutsch ist... zum Beispiel nicht französisch. Weißt du, ich war mal in Frankreich, und da war mir schnell klar, dass das nicht Deutschland ist.« »Ja, super. Ich war auch schon mal in Kroatien und hab gewusst, dass das nicht Italien ist.« »Und woran hast du's gemerkt?« »Na, zum Beispiel reden die überhaupt nicht Italienisch.« »Deutsch ist also überall, wo Deutsch gesprochen wird?« »Klar.« »Dann ist Österreich also auch Deutschland?«, frage ich. Kurze Stille. Dann aus drei Kehlen im Chor: »Nee!« »Österreich ist so ... hinten rum, so eititeiti... so ... ich weiß nicht... das ist nicht deutsch. So sind wir nicht.« »Wie dann?« »Deutsche sind geradeheraus. Ehrlich. Fleißig. Wir sind stolz auf das, was wir tun.« »So wie der Guttenberg, oder?«, wirft der Kellner ein. »Also in Österreich werden die meisten Betrugsdelikte unter den Ausländern von Deutschen begangen«, bemühe ich die Statistik. »Das ist der schlechte Einfluss von euch!« »Ist denn der Deutsche so leicht zu beeinflussen?«, frage ich. »Ja!« - »Nein!« - »Nur von Österreichern!«, tönt es gleichzeitig. Der Marx-und-Goebbels-Revisionist ist sich hingegen sicher: »Wir lassen uns nichts erzählen!« »Warum ist dann die Bild-Zeitung so erfolgreich?«, fragt der andere. »Das ist es: Wer die BILD liest, der ist deutsch!« »Moment, ich les die aber nicht, bin ich jetzt staatenlos?«, der Kellner ist voll miteingestiegen. »Vergiss die Bild-Zeitung. Das Bier ist es. Wir sind das Volk der Biertrinker. Niemand trinkt so viel Bier wie wir.« »Außer den Tschechen. Die haben einen höheren Pro-Kopf-Verbrauch. Sind die jetzt auch Deutsche?« »Apropos: Ich hab da in Belgien mal ein Bier getrunken ... das war fantastisch!« »Ach du kommst ja rum: Frankreich ... Belgien ...« »Sind die Belgier jetzt auch Deutsche?« »Vielleicht sind die Belgier französisierte Tschechen, die früher mal Deutsche waren ... ?«, schlage ich vor. »Ja, ja, jetzt fängt er gleich wieder mit Göring und Honecker an.« Ich bin verwirrt: »Aber Göring und Honecker waren doch Deutsche?« »Meine Großmutter hat immer gesagt: Hätte man Göring 1945 geschlachtet, hätte man damit die halbe Bevölkerung durch den Winter gebracht.« »Das klingt aber nach polnischer Küche!« 152 SERVUS PIEFKE t I Jlllll »Das war die andere Großmutter, und die war aus Baden. Die hat : - i sehr gut gekocht!« »Kein Wunder, liegt ja auch gleich bei Frankreich.« ■ »Jetzt hab ich's: Die Küche. Wer die deutsche Küche mag, der ist Deutscher!« »Was ist die deutsche Küche?«, frage ich, immer verwirrter. »Na, zum Beispiel Wiener Schnitzel!« : Ich will gerade Luft holen, da wirft ein junger Mann vom Nebentisch ein: »Vielleicht sind wir einfach eine ganz eigene Rasse?« Kurze Stille, dann bricht ein Sturm los. i »Waaaaas?!« »Spinnst du?« »Nichts aus der Geschichte gelernt, oder was?« j »Und ich mit meiner Großmutter, was soll ich dazu sagen?« j »Ich dachte, die kam aus Baden?« »Die andere, die aus Polen!« »Schleich dich doch rüber in den Osten zu deinen Freunden von der NPD!« »Da muss er gar nicht so weit, es gibt zwanzig Kilometer von hier ! einen sehr aktiven Ortsverband, hab ich kürzlich in den Nachrichten gesehen.« Der junge Mann aus der Defensive: »Ihr habt mich falsch verstan- ] den! Ich meinte eine Rasse, wie bei so Computerspielen ... oder bei Der Herr der Ringe, also sowas wie die Orks.« »Also von der allgemeinen guten Laune her könnte das passen«, j meint der Kellner. »Auch vom Wetter. Hast du das gesehen, bei Der Herr der Ringe, immer wenn die Orks auftauchen, ist schlechtes Wetter.« »Na dann sind die Orks aber eher die Norddeutschen oder so. Bei meiner Oma war nämlich immer schönes Wetter.« »In Polen?« »In Baden!« 153 KAPITEL NO. 28 DEUTSCHLAND UND DAS DEUTSCHE »Ich glaub immer noch, es hat was mit der Ernährung zu tun. Es ist das Brot!« »Das Brot? Weil sich andere Völker ausschließlich von Bohnen ernähren, oder wie?« »So ein gutes Brot wie bei uns gibt es nirgendwo!« »Was meinst du? Baguette aus Backmischung beim Billigbäcker?« »Schwarzbrot, sag ich nur, Schwarzbrot!« »Schwarz-Brot-Volk!«, ruft der Kellner mit Hitlerstimme dazwischen. Ich find's lustig. Die anderen nicht so. »In Sachsen heißt das aber Graubrot, hat mir meine Oma erzählt.« »Hast du jetzt auch noch eine Oma in Sachsen?« »Und was ist dann mit den Autobahnen?« »Die gibt's woanders auch!« »Aber wer hat sie erfunden?«, frage ich. »Der Österreicher!«, rufen alle. Es wurde dann noch ein längerer Abend. Mehrere angedachte deutsche Alleinstellungsmerkmale wie Fußball (haben die Engländer erfunden), Absenz von Höchstgeschwindigkeiten auf Autobahnen (Und wenn ich mit der Bahn fahr, bin ich dann Ausländer?), Schrebergärten (Wenn das Deutsch ist, nehme ich sofort die ugandische Staatsbürgerschaft an!) oder verbissene Humorlosig-keit (Wenn du das ernst meinst, hau ich dir eine rein!) wurden allesamt durch mehr oder weniger stichhaltige Gegenargumente widerlegt. Am Ende waren sich dann alle einig, dass sie - wenn sie schon keine Franzosen waren - wenigstens glücklich seien, keine Dänen zu sein -oder gar Österreicher. Ich lachte kurz, heiser und ohne echte Begeisterung. 154 SERVUS PIEFKE Auf dem Heimweg, der ein wenig länger ausfiel als sonst, da die Straße, die zu meiner Wohnung führt, ihre Steigung deutlich erhöht hatte, kam mir noch ein Gedanke: Vielleicht ist es einfach wahnsinnig deutsch, sich über alles den Kopf zu zerbrechen, immer klare, einfache, abgegrenzte Begriffe und Lösungen finden zu wollen, für Dinge, die ständig im Fluss sind und sich verändern. Und vielleicht ist es das Deutscheste überhaupt, sich zu fragen: Was ist deutsch? Und auch noch zu hoffen, darauf eine Antwort zu bekommen ... Wenn das stimmt, dachte ich mir auf dem Heimweg, dann bin ich schon richtig gut integriert. ANHANG 157 WÖRTERBUCH Anhang / Wörterbuch Servus Piefke! Diverse Wörter und Begriffe wurden in diesem Buch verwendet, die der deutsche Leser vielleicht nicht sofort versteht. Zum besseren Verständnis folgen nun kurze Erklärungen in ortsüblicher Schreibweise. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird so mancher Wiener an Form und Inhalt etwas auszusetzen haben. Aber wann hat der Wiener an irgendetwas nichts auszusetzen? Eben! 158 SERVUS PIEFKE 16er Blech i Eine Dose Bier - aber ausschließlich der Marke »Ottakringer«. Otta-kring ist nämlich der sechzehnte Wiener Gemeindebezirk. Dort steht auch die Brauerei. Daher der »16er«. 38er, der Straßenbahn, die zwischen Grinzing und Schottentor (Innenstadt) i verkehrt und deshalb die Nummer 38 trägt, weil zuerst 30 Minuten keine kommt, dann aber acht hintereinander. j In Wien sind alle Straßenbahnen männlich, obwohl es die Tramway (ausgesprochen: Drahmwei) heißt. Grund dafür ist die still mitgedachte Bezeichnung »Wagen«, die hört man nur mehr beispielsweise J beim »D-Wagen« (es gibt auch Straßenbahnen mit Buchstaben, wenige, aber doch), also der Straßenbahnlinie D. : j I Hier möchte ich ausdrücklich daraufhinweisen, dass ich die äußerst billige Pointe, dass ich zum ersten Mal Deutsche in einer Straßenbahn treffe, die exakt jene Nummer trägt, die auch das Jahr bezeichnet, in dem die Deutschen zum letzten Mal (unter österreichischer Führung) in Österreich und Wien einmarschiert sind, elegant beiseitegelassen habe. Grundsätzlich ist es aber besser, sich im 38er zu befinden als im 38er Jahr. ( :111J8SS| ' 'fllllil 159 ANHANG WÖRTER8UCH Abbusseln Eine Methode durch möglichst häufiges Aufdrücken gespitzter Lippen auf Wangen (oder Luft) bei größtmöglich-versicherter Freundlichkeit in der Öffentlichkeit einander die tiefstmögliche Verachtung auszudrücken. Bei privater Anwendung kann es sich durchaus tatsächlich um Sympathie handeln. Muss aber nicht. Sonderfall Fußball: Hier kann es im Radio bei Live-Übertragungen schon mal zu klassenüberschreitenden Emotionsausbrüchen kommen, so beispielsweise in Cordoba 1978: »Der Herr Diplom-Ingenieur und I, wir busseln uns ab!« Kommt aber ähnlich oft vor wie ein Sieg der österreichischen Fußballnationalmannschaft über die deutsche. Aluweckerl Eine Dose Bier. Sollte es sich um »Ottakringer« handeln, siehe: 16er Blech. Ausgehn, sich Siehe: Das wird sich schon ausgehn. Auslage Schaufenster. Wenn man etwas »nicht in die Auslag' stellen soll«, ist man dazu aufgerufen, es nicht so plakativ zu behandeln. Oder einfach zu schweigen. Auslända In Wien: Feindbild und an allem schuld. In Deutschland: ein Problem. Vergleiche: Problembär, Problemkuh, Problemvorsitzender 160 SERVUS PIEFKE ANHANG 161 WÖRTERBUCH Ausse flutschn Geschmeidig entweichen. Nicht zu verwechseln mit: Ausse rutschen. Dann ist jemandem etwas unfreiwillig entwichen. Meist unangenehme Wahrheiten. Bahöö Lärm, Krach, Tumult, Streit, Aufregung (kommt vielleicht vom Tschechischen pahel - Krawall). Wird in Wien nicht gerne gesehen. Wer »an Bahöö macht«, dem fehlt es meist an »Schmäh« (siehe dort). Bscheid Stessen Jemandem eine Auskunft erteilen. Wird gerne zu spät oder indirekt gemacht. Rechtzeitig und direkt liegt dem Wiener nicht. Bugl Brotanschnitt. Nicht zu verwechseln mit »Buckl« - denn das ist ein körperliches Merkmal, eine Verkrümmung des Rückens. Merke: Das eine isst man am Würstelstand beispielsweise zur »Eitrigen« (siehe dort), das andere hat der Quasimodo. I Bumsen ! i Ist nicht »poppen« oder »ticken«, sieht aber von außen genau so aus. Hat aber nichts zu tun mit den Südtiroler »Bumsern«. Das waren Bombenleger. III Burschen, klasse Siehe: Klasse Burschen \ Chick Siehe: Tschick Dachinierer Nichtstuer, Taugenichts. Höchste Form der Wiener Unternehmungslust. Das wird sich schon ausgehn In etwa: »Das wird schon klappen«. Meistens angewandt, wenn gerade ein Abgabetermin in unangenehme Nähe rückt. Das »sich« ist eines der vielen reflexiven Elemente des Wienerischen, das sich die Wiener aus dem Tschechischen eingebürgert haben. Sozusagen ein grammatikalischer Einwanderer. Ähnlich auch: »Treff ma sich« (treffen wir uns bzw. einander). Des schau ma dann, wann ma so weit san »Das werden wir dann sehen, wenn wir erst einmal so weit sind«. Die automatische Antwort auf die anklagende Frage: »Wie soll sich das ausgehn?« Siehe: ausgehn, sich und »Das wird sich schon ausgehn« Die da oben Mythische Beschreibung der gesellschaftlichen Elite, Entscheidungsträger und politischen Instanzen. Wer genau das ist, weiß man nicht und will es auch gar nicht wissen. Unterscheidungsmerkmal ist lediglich, dass der Sprecher nicht dazugehört. 162 SERVUS PIEFKE 163 WÖRTERBUCH Du Trottel Unfreundliche Bezeichnung des Gegenübers. Aber immer noch besser als »Wappler«, »Wixer« oder »Weh«. Eh Eigentlich: ohnehin. Hat aber viel mehr Bedeutungsebenen als dieses kleine Glossar erfassen kann. In »eh« steckt alles drin, was Menschen und Gesellschaft (vielleicht auch Gebäude) in Wien zusammenhält. »Eh« ist so etwas wie der Klebstoff dieser Stadt. Eine Lebens- und Weltanschauung in einer Silbe. Das ist Effizenz! Verstanden? Nein? Is eh wurscht... Eitrige Die gebratene Käsekrainer. Also eine Wurst, die mit Käse gefüllt ist, welcher in ihrem gebratenen Zustand flüssig austritt. Intergrations-willige Piefke (siehe dort) erkennt man daran, dass sie versuchen, diese am Würstelstand mit den Worten: »eine Eiterige, bitte« zu bestellen. Was dem Wiener Ohr wehtut und dem Piefke wider dessen Absicht keinerlei Sympathien einbringt. Korrekt wird die »Eitrige« mit einem »Bugl« (siehe dort) einem »Aluweckerl« (siehe dort) und einem »Krokodil« (aufgeschnittenes Essiggurkerl) verzehrt. Fäun Eigentlich: stinken. Hat aber auch noch die Bedeutungen beschimpfen, nerven, sich beklagen: ich fäu dich an, es fäut mich an, er fäut umananda (siehe dort). Die hier gewählte Schreibweise wird sicherlich in Wien da und dort auf Ablehnung stoßen, da die Wortwurzel »faulen« nicht mehr erkennbar ist. Andererseits hält sie der Autor für phonetisch korrekt. Und wem das nicht passt, der »soll net umananda fäun, sondern selba a Biachl schreibm, wei's mi unhamlich anfäut, deppat von der Seitn angfäut zum werdn.« Womit, glaube ich, alles erklärt wäre. Fesch Äußerlich ansprechend und attraktiv. Fast immer mit gegenteiligem Inhalt versehen. Fiakergulasch Gulasch aus Essiggurkerln, Spiegelei und Wursteln. Der »Fiaker« beschreibt sowohl eine Art Pferdewagen-Taxi wie auch den Kutscher desselben. Und wird FiÄcker ausgesprochen (also mit Betonung auf der zweiten Silbe), und nicht - wie das der Piefke (siehe dort) gerne tut - Fi Acker (mit Betonung auf der ersten Silbe). Der arme Mann muss zwar ständig mit Pferden leben, mit einem Vieh-Acker hat er trotzdem nichts am Hut. Das nach ihm benannte Gulasch hingegen kann man an kalten, nassen und windigen Wintertagen (und von denen gibt es in Wien reichlich) nur sehr empfehlen. 164 SERVUS PIEFKE ANHANG 165 WORTERBUCH Geh, gusch! Halt die Klappe! bzw. Halt's Maul! »Geh« hat in diesem Fall nichts mit »gehen« zu tun. Vielmehr ist es eine Art »Aussage-Anlauf«-Silbe. So sagt man auch: Geh, zu wasn? (Aber wozu denn?) oder auch: Geh, schleich di! (Hau ab!). »Gusch« kommt natürlich von »kuschen«. Eine auch in Deutschland weitverbreitete Konfliktvermeidungsform. Goldenes Wiener Herz Eine Erfindung der Wiener Fremdenverkehrswerbung. Bestenfalls ein Gerücht. Obwohl es auch in Wiener Liedern oft besungen wird, ist es in Wirklichkeit unauffindbar. Also ein PR-Gag, der älter ist als das Wort »PR-Gag«. Grammelknödel Knödel (setze ich als bekannt voraus) gefüllt mit Grammeln (in Deutschland »Grieben«). Also unglaublich fett, cholesterinreich und voller Kohlehydrate, mit einem Wort: herrlich! Halt die Pappn! Halts Maul! Aus der »Pappn« (Mund/Maul/Goschen-hat also nichts mit Pappe oder Papier zu tun) kann auch gern etwas »ausse flutschn« {siehe dort). Heuriger Buschenschank/Buschenschänke. In Deutschland auch bekannt als »Besen«- oder »Straußwirtschaft«. Die Wiener wissen großenteils gar nicht, dass es das woanders auch gibt. Geht alles letztlich auf eine Verordnung Josephs II. aus dem Jahr 1784 zurück (er war einer der wenigen vernünftigen Habsburger und deshalb auch sehr unbeliebt), die den Weinbauern (mitunter auch Bierbrauern) gestattet, ihr Getränk auch selbst zu verkaufen und es damit nicht zu festgesetzten Preisen an den nächsten Großkopferten abgeben zu müssen. Diese Freiheit wird durch ein Reisigbündel am Haustor angezeigt. Später nimmt man auch ein bißchen Grünzeug dazu. So entsteht der »Buschen« (oder eben Besen oder Strauß). Klasse Burschen Ungefähr »dufte Kumpels« oder »tolle Jungs« oder »coole Typen«, wie auch immer, meist eingeschworene Männerrunden, in denen es einen gibt, der redet, einen der organisiert, einen der zahlt und einen, der der Depp ist und eigentlich nur dazu da, die anderen zu bewundern. Diese Rolle kann natürlich auch mit der des Zahlenden zusammenfallen. Krepieren Die Patschen strecken, den Holzpyjama anziehen, a Bankerl reissen, also: abieben. Krokodil Siehe: »Eitrige« 166 SERVUS PIEFKE ANHANG 167 WÖRTERBUCH Liab, (mei ist der) Eine Beleidigung. »Liab« (lieb) ist so gut wie nie nett gemeint, außer es handelt sich um ein Kind. Besser noch einen Hund. Leich, scheene Siehe: Scheene Leich Leiwand DAS wienerische Wort schlechthin. Alles ist leiwand, wenns leiwand ist, weil nur was wirklich leiwand ist, kann auch leiwand sein. Oder urleiwand. Oder noch leiwander und am leiwandsten. Und »leiwand« ist natürlich viel leiwander als »dufte«, »knorke«, »krass«, »endgeil« oder das simple »super«. Kommt tatsächlich vom »linnen Gewand«, also der »Leinwand«, wird aber viel häufiger aus Baumwoll-T-Shirts heraus geäußert. Wenn man in Wien fragt, was es eigentlich bedeutet, bekommt man gerne die Antwort: »Na, net oasch.« (oasch - siehe dort) Marillenmarmelade Marillen sind Aprikosen, und Marmelade ist keine Konfitüre, deshalb auch der Begriff »Marmeladinger« (siehe dort). Die »Wachauer Marille« ist im Übrigen seit dem EU-Beitritt Österreichs ein geschützter Begriff. Marmeladinger Kosename für die Deutschen. Zum Ursprung des Begriffs gibt es zwei Thesen: Entweder weil die deutschen Besatzer von 1938 bis 1945 sich als so gierig auf süße Mehlspeisen (oft mit Marmelade gefüllt) erwiesen haben, oder weil der Deutsche gerne »Konfitüre« sagt, wo er »Marmelade« sagen sollte. Möglich ist auch beides. Meier gehen Sterben, funktionsuntüchtig werden, kaputtgehen. Was der Meier damit zu tun hat? Das müssen Sie den schon selber fragen. Menschen samma alle Höchster Glaubenssatz des Wiener Fatalismus und gleichzeitige Entschuldigung für so ziemlich alles. Mistelbacher Polizist. Angeblich weil viele Polizisten aus Mistelbach (rund 50 km nördlich von Wien gelegen) kommen. Man sollte aber nie einen Mistelbacher als Mistelbacher ansprechen. Auch nicht als »Kieberer«, »Schnittlauch« oder »Spinatwachter«. Am besten spricht man ihn gar nicht an. Motschkern Sich beschweren, nölen, miesmachen. In Wien ein durchaus beliebter Zeitvertreib. Negerant Kommt von »neger«, das bedeutet soviel wie »pleite«. Über die Herkunft kann nur spekuliert werden. Wie wär's damit: abgebrannt -schwarz - neger. Der »Negerant« ist das passende Hauptwort dazu. Also jemand, der pleite ist. Ähnliche Hauptwörter: Der Besitzer einer Trafik (Tabakladen, Kiosk) ist der »Trafikant«. Nichts damit zu tun haben allerdings die »Mizzi Tant« und »Samarkand«. i i 168 SERVUS PIEFKE ANHANG 169 WÖRTERBUCH Nudeldrucker Beleidigung. Früher spezifisch für einen Pedanten bzw. Geizkragen, heute vielseitig einsetzbar. Nur kaane Wohn Wörtlich: »nur keine Wellen«. Keine Aufregung, keine Eile, keine Hast. Besser alles ist »pomali« (siehe dort). Oasch Arsch. Ist aber auch - und weitaus häufiger - als Eigenschaftswort in Verwendung. Was in Deutschland vielleicht »saufies«, »vollkrass« oder sogar »arschig« ist, ist in Wien alles nur »oasch«. Und was nicht »oasch« ist, ist eigentlich »eh leiwand« (siehe dort). Oaschesichta ! Nein, wir haben gesagt, da müssen Sie schon selber draufkommen! I Palatschinken Pfannkuchen. Nur schmackhafter als diese, weil nicht dick wie ein Steak. Und immer wieder großer Quell der Freude des sehr einfachen deutschen Wortspiels »Palat - Schinken!« Und schon freut man sich. In Wahrheit hat das Wort denselben Wortstamm wie Plazenta und heißt einfach nur »Kuchen«. Ist aber von seinem langen Weg von Ru- \ mänien über Ungarn nach Österreich ein wenig ausgeschmückt worden. Dafür schmecken sie besser. Pappn, die Siehe: Halt die Pappn Partie, die Clique, Gruppe, Freundeskreis. Also einfach »a Blasn aus lauter Haberer«. Peitscherlbua, der Strichjunge Petschieren Früher: Versiegeln, vom tschechischenpecet (Siegel). Heute: pudern, schnacksein, bumsen (siehe dort) Pickerl Siehe: Vignette Piefke »Liebevolle« Bezeichnung für die Bürger Deutschlands. Diese sprechen auch »Piefkinesisch« und wohnen in der »Piefkei«. Benannt nach dem Militärmusiker Johann Gottfried Piefke, der 1866 nach dem Sieg der Preußen über die Österreicher den »Königgrätzer Marsch« komponierte und ihn auch noch unweit von Wien (etwa 20 km) in Gänserndorf von preußischen Militärkapellen hat intonieren lassen. So macht man sich nicht beliebt bei uns. Merke aber: Bayern sind keine Piefke! Insofern gibt es große Überschneidungen mit dem bayrischen Begriff »Preiß n« (Preußen). 170 SERVUS PIEFKE Pomali Gelassen, leicht, gemütlich. Wird auf Wienerisch allerdings »gmiad-lich« ausgesprochen. Powidltatschkerl Teigtaschen mit Pflaumenmus gefüllt. Schmeckt allerdings - natürlich - besser, wie man an dem Wort schon sieht. So wie Powidltatschkerl »ganz pomali aus der Pappn ausse flutscht«, wenn es denn flutscht, so viel besser munden sie denn auch als »Teigtaschen«. Beide Worte kommen mal wieder aus dem Tschechischen. Pudern Petschieren, schnacksein, bumsen (siehe dort) Raunzen Jammern, sich beschweren, beklagen. Nur lautmalerisch ausgeprägter. Am ehesten trifft es noch das deutsche Wort »quengeln«. Verwandt mit »motschkern« (siehe dort). Sacklpicker Schimpfwort. Bedeutete früher »Knastbruder«, da in den Werkstätten des Gefängnisses (in Wien: »Häfn«) Papiertüten gefertigt bzw. dort zusammengeklebt wurden. Tüte heißt »Sackl« oder »Sackerl«, kleben heißt »picken«. Heute ist das Wort universeller verwendbar, als es die Wortwurzel vorgibt. 171 ANHANG WÖRTERBUCH Safnsieda Schimpfwort, eigentlich »Seifen-Sieder«, »Seifen-Kocher«. Schaaß, der Siehe: Wenn der Wiener an Schaaß lasst Scheene Leich Ein schönes Begräbnis. Ziel- und Endpunkt des Wienerischen Seins. Scherzerl Brotanschnitt, aber auch: kleiner Witz, Schmäh. Schiach Häßlich, aber mit breiterem Bedeutungsspektrum - so kann es auch für ekelhaft, abgründig, grauenhaft oder gemein stehen. Wenn beispielsweise »jemandem schiach wird«, so hat dieser Angst. Existenzi-elle Angst. »Mulmig« wäre hier also eine zu schwache Übersetzung. Die war nicht »schiach« genug. Schleich di Verpiss dich, Hau ab, Mach die Fliege, Mach dich vom Acker. Mit einem Wort: »Hau di über'd Heisa!« (über die Häuser). 172 SERVUS PIEFKE ANHANG 173 WÖRTERBUCH Schmäh Vielleicht vom Jiddischen schema - »Erzählung«, »Gehörtes« abgeleitet, vielleicht aber auch aus der »Schmähung« (das glaub ich eher). Neben »leiwand« (siehe dort) ein wesentliches Wort des Wienerischen. Bedeutet zuerst nur: Scherz, Witz. Meint aber auch: Sinn für Humor, Mutterwitz, Trick, Kniff, soziale Kompetenz. Keinen »Schmäh« zu haben, führt in Wien automatisch zur sozialen Isolation. Man muss den »Schmäh führen« können, damit der »Schmäh rennt«. Und alles, was dabei gesagt wird, soll man nicht zu ernst nehmen, da es ja nur »schmähhalber« gesagt wurde. Und fällt einem gar nichts mehr ein, weil man sprachlos oder sehr erstaunt ist, dann ist man »schmähstad«. Ernst gemeint, also »schmäh ohne« bzw. »ohne Schmäh«. Die Deutschen stehen grundsätzlich im Verdacht, keinen Schmäh zu haben. Ehrlich - ohne Schmäh! Schnacksein Pudern, petschieren, bumsen (siehe dort) Seiern Raunzen (siehe dort) Semmeln Brötchen Semmelbröseln Paniermehl. Ohne diese gibt es keine »Panier« (und nicht »Panade«) beim Wiener Schnitzel. Und das wäre ein herber Verlust. Servas Servus. Lateinische Kurzform für servus sum - »ich bin dein Sklave«. Verwandt mit »Service« und »servieren«. Allerdings nicht mit dem Vornamen »Severin«, der vom Wort Severus hergeleitet wird, und das bedeutet: ernst, streng. Bei genauer Beobachtung merkt man auch, dass das »r« innerhalb dieser Wörter an ganz unterschiedlichen Stellen steht. Entgegen Peter Alexanders Aussage wird in Wien »Servus« eigentlich nie zum Abschied gesagt, sondern fast ausschließlich zur Begrüßung. Speiben Kotzen. Manche meinen »speiben« wäre dünnflüssiger als »kotzen«, da beim Kotzen mehr feste Substanzen mitkämen. Empirisch ist das von mir aus nicht zu belegen. Sudern Seiern (siehe dort) Tachinierer Siehe: Dachinierer Taschenfeidl Taschenmesser. »Feidl« kommt vom Mittelhochdeutschen »vitelen«, was soviel bedeutet wie »sägen«. Trottel, Du Siehe: Du Trottel 174 175 SERVUS PIEFKE ANHANG WÖRTERBUCH Tschick, der Vom Italienischen cicca - Zigarettenstummel. Bedeutet »Zigarette«. Der Tschick ist Singular, die Tschick Plural. Wiener, die das Wienerische schlecht beherrschen (auch solche gibt es!), sprechen gerne von »Tschicks«. Das allerdings ist Englisch, wird chicks geschrieben und bedeutet entweder »Hühner« oder »Mädchen«. Wer auf Nummer sicher gehen will, soll einfach »Spe« sagen. Das bedeutet dasselbe. Tuchent Eine dicke Daunendecke. Eigentlich wird sie »Duchend« ausgesprochen, aber anders geschrieben, um Ähnlichkeiten mit der Familie Dichand (Herausgeber der Kronenzeitung) zu vermeiden. Wenn etwas »unter der Tuchent« gemacht wird, soll es nicht ans Tageslicht gelangen. Und das betrifft nur in den seltensten Fällen sexuelle Dinge. Umananda Umher, herum, ringsum. Vignette Vulgo: »Pickerl«, weil sie auf die Windschutzscheibe geklebt (gepickt) wird. Deutsche Autofahrer vermuten häufig, die Vignette sei extra dazu erfunden worden, um sie zu ärgern. Was nicht stimmt. Sie wurde erfunden, um die Autobahnbenutzer abzukassieren. Egal, welcher Nationalität. Menschen ohne Führerschein finden das völlig in Ordnung. Weckerin Kleine Brote, aber keine Semmeln (siehe dort). Es gibt Grahamweckerln, Kronweckerln, Wachauer und viele andere. Hat auf jeden Fall nichts mit »Weckern« zu tun. Weiterwursteln Höchste Form der Staatskunst in Österreich. Bedeutet: eine Arbeitsgruppe gründen, Probleme durchdiskutieren, Beschlüsse fassen und dann genauso weitermachen wie vorher. Wenn der Wiener an Schaaß lasst ... macht der Herrgott a scheens Wetter. Wörtlich für Piefke: Sollte der Wiener Flatulenzen produzieren, wird eine höhere Macht positiv ins klimatische Geschehen eingreifen. Der mythische Glaube, als Wiener per se vom Schicksal bevorzugt zu sein. Ist aber nicht wirklich ernst gemeint. Nur Schmäh (siehe dort). Wiener Herz, goldenes ! Siehe: Goldenes Wiener Herz i Wöhn, kaane Siehe; Nur kaane Wöhn I Wurscht Egal. Gibt es auch als »wuascht«, »wurst« oder »blunzn«. Tritt häufig ! zusammen auf mit: a, echt, eh, ganz, mir, so, sowas von, total, völlig. Das missing link der Zustandsbeschreibung zwischen »leiwand« (siehe dort) und »oasch« (siehe dort). Was weder das eine noch das andere ist, ist im Prinzip »wurscht«. f I 176 Der Autor Severin Groebner Severin Groebner ist seit 1969 vom Schicksal bestimmter Wiener, zwangsläufiger Bahnfahrer und freiwilliger Frankfurter. Essen, Trinken und Wohnen finanziert er sich durch selbst gestrickte Kabarettprogramme, Radiosendungen und Schauspielerei. Aufgrund seiner ausgeprägten, aggressiven Schüchternheit war es ihm unmöglich, mehrere Kleinkunstpreise (Salzburger Stier, deutscher Kleinkunstpreis, etc.) abzulehnen. All dies ermöglicht ihm ausgedehnte Reisen durch das deutsche Gastland, an dem er vor allem die badische Küche, den Rheingauer Riesling, bayrisches Bier, den Zugang zum Meer und die Frankfurter grüne Soße schätzt. Sowie den Umstand, dass es nicht sein Heimatland ist. Sonst geht's ihm gut. Was er sich drüber hinaus denkt, steht in diesem Buch. Der Autor Severin Groebner ist seit 1969 vom Schicksal bestimmter Wiener, zwangsläufiger Bahnfahrer und freiwilliger Frankfurter. Essen, Trinken und Wohnen finanziert er sich durch selbst gestrickte Kabarettprogramme, Radiosendungen und Schauspielerei. Aufgrund seiner ausgeprägten, aggressiven Schüchternheit war es ihm unmöglich, mehrere Kleinkunstpreise (Salzburger Stier, deutscher Kleinkunstpreis, etc.) abzulehnen. All dies ermöglicht ihm ausgedehnte Reisen durch das deutsche Gastland, an dem er vor allem die badische Küche, den Rheingauer Riesling, bayerisches Bier, den Zugang zum Meer und die Frankfurter grüne Soße schätzt. Sowie den Umstand, dass es nicht sein Heimatland ist. Sonst geht's ihm gut. Was er sich darüber hinaus denkt, steht in diesem Buch. Danksagung »Scrvns Piefke!« wäre nicht entstanden ohne Folgende Personen und Institutionen: Julia Reifenberger, Florian Grunde], Harald Kämmerer, Peter Blau, Öle Schmitt, Ruth Oppl, Mark-Stefan Tietze und Christian Moser (den Mann mit dem entscheidenden Hinweis). Sowie der Gaststätte Klabunt. (Alles Piefke, nebenbei gesagt) Und meiner wunderbaren Heimatstadt Wien, ohne die ich nie geworden wäre, was ich bin: Exilwiener.