gen all die Fichten, die Häher und das beredte Laub. Und weil mir zum Bewußtsein kam, daß der Wirt keinen Groschen mehr für eine leere Siphonflasche gibt und für mich auch keine Limonade mehr ausschenkt, überlasse ich anderen den Weg durch die Durchlaßstraße und ziehe den Mantelkragen höher, wenn ich sie blicklos überquere, um hinaus zu den Gräbern zu kommen, ein Durchreisender, dem niemand seine Herkunft ansieht. Wo die Stadt aufhört, wo die Gruben sind, wo die Siebe voll Geröllresten stehen und der Sand zu singen aufgehört hat, kann man sich niederlassen einen Augenblick und das Gesicht in die Hände geben. Man weiß dann, daß alles war, wie es war, daß alles ist, wie es ist, und verzichtet, einen Grund zu suchen für alles. Denn da ist kein Stab, der dich berührt, keine Verwandlung. Die Linden und der Holunderstrauch . . .? Nichts rührt dir ans Herz. Kein Gefälle früher Zeit, kein erstandenes Haus. Und nicht der Turm von Zigulln, die zwei gefangenen Bären, die Teiche, die Rosen, die Gärten voll Goldregen. Im bewegungslosen Erinnern, vor der Abreise, vor allen Abreisen, was soll uns aufgehen? Das Wenigste ist da, um uns einzuleuchten, und die Jugend gehört nicht dazu, auch die Stadt nicht, in der sie stattgehabt hat. Nur wenn der Baum vor dem Theater das Wunder tut, wenn die Fackel brennt, gelingt es mir, wie im Meer die Wasser, alles sich mischen zu sehen: die frühe Dunkelhaft mit den Flügen über Wolken in Weißglut; den Neuen Platz und seine törichten Denkmäler mit einem Blick auf Utopia; die Sirenen von damals mit dem Liflgeräusch in einem Hochhaus; die trockenen Marmeladebrote mit einem Stein, auf den ich gebissen habe am Atlantikstrand. i ' I I I Das dreißigste Jahr ! i Wenn einer in sein dreißigstes Jahr geht, wird man nicht auf- hören, ihn jung zu nennen. Er selber aber, obgleich er keine Veränderungen an sich entdecken kann, wird unsicher; ihm j ist, als stünde es ihm nicht mehr zu, sich für jung auszugeben. Und eines Morgens wacht er auf, an einem Tag, den er vergessen wird, und liegt plötzlich da, ohne sich erheben zu können, getroffen von harten Lichtstrahlen und entblößt jeder Waffe und jeden Muts für den neuen Tag. Wenn er die Augen schließt, um sich zu schützen, sinkt er zurück und treibt ab in eine Ohnmacht, mitsamt jedem gelebten Augenblick. Er ; sinkt und sinkt, und der Schrei wird nicht laut (auch er ihm 1 genommen, alles ihm genommen!), und er stürzt hinunter ins Bodenlose, bis ihm die Sinne schwinden, bis alles aufgelöst, ausgelöscht und vernichtet ist, was er zu sein glaubte. Wenn er das Bewußtsein wieder gewinnt, sich zitternd besinnt und wieder zur Gestalt wird, zur Person, die in Kürze aufstehen und in den Tag hinaus muß, entdeckt er in sich aber eine wundersame neue Fähigkeit. Die Fähigkeit, sich zu erinnern, j Er erinnert sich nicht wie bisher, unverhofft oder weil er es wünschte, an dies und jenes, sondern mit einem schmerzhaf-i ten Zwang an alle seine Jahre, flächige und tiefe, und an alle I Orte, die er eingenommen hat in den Jahren. Er wirft das j Netz Erinnerung aus, wirft es über sich und zieht sich selbst, [ Erbeuler und Beute in einem, über die Zeitschwelle, die Ort- I schwelle, um zu sehen, wer er war und wer er geworden ist. Denn bisher hat er einfach von einem Tag zum andern gelebt, hat jeden Tag etwas anderes versucht und ist ohne Arg gewesen. Er hat so viele Möglichkeiten für sich gesehen und er hat, zum Beispiel, gedacht, daß er alles mögliche werden könne: 14 15 Ein großer Mann, ein Leuchtfeuer, ein philosophischer Geist. Oder ein tätiger, tüchtiger Mann; er sah sich beim Brückenbau, beim Straßenbau, im Drillich, sah sich verschwitzt herumgehen im Gelände, das Land vermessen, aus einer Blechbüchse eine dicke Suppe löffeln, einen Schnaps trinken mit den Arbeitern, schweigend. Er verstand sich nicht auf viele; Worte. Oder ein Revolutionär, der den Brand an den vermorschten Holzboden der Gesellschaft legte; er sah sich feurig und beredt, zu jedem Wagnis aufgelegt. Er begeisterte, er war im Gefängnis, er litt, scheiterte und errang den ersten Sieg. Oder ein Müßiggänger aus Weisheit - jeden Genuß suchend und nichts als Genuß, in der Musik, in Büchern, in alten Handschriften, in fernen Ländern, an Säulen gelehnt. Er hatte ja nur dieses eine Leben zu leben, dieses eine Ich zu verspielen, begierig nach Glück, nach Schönheit, geschaffen für Glück und süchtig nach jedem Glanz! Mit den extremsten Gedanken und den fabelhaftesten Plänen hatte er sich darum jahrelang abgegeben, und weil er nichts war außer jung und gesund, und weil er noch so viel Zeit zu haben schien, hatte er zu jeder Gelegenheitsarbeit ja gesagt. Er gab Schülern Nachhilfestunden für ein warmes Essen, verkaufte Zeitungen, schaufelte Schnee für fünf Schilling die Stunde und studierte daneben die Vorsokratiker. Er konnte nicht wählerisch sein und ging darum zu einer Firma als Werkstudent, kündigte wieder, als er bei einer Zeitung unterkam; man ließ ihn Reportagen schreiben über einen neuen Zahnbohrer, über Zwillingsforschung, über die Restaurationsarbeiten am Stephansdom. Dann machte er sich eines Tages ohne Geld auf die Reise, hielt Autos an, benutzte Adressen, die ihm ein Bursche, den er kaum kannte, von jemand Dritten gegeben hatte, blieb da und dort und zog weiter. Er 16 1 trampte durch Europa, kehrte dann aber, einem plötzlichen Entschluß folgend, um, bereitete sich auf Prüfungen für einen nützlichen Beruf vor, den er aber nicht als seinen endgültigen ansehen wollte, und er bestand die Prüfungen. Bei jeder Gelegenheit hatte er ja gesagt zu einer Freundschaft, zu einer Liebe, zu einem Ansinnen, und all dies immer auf Probe, auf Abruf. Die Welt schien ihm kündbar, er selbst sich kündbar. Nie hat er einen Augenblick befürchtet, daß der Vorhang, wie jetzt, aufgehen könne vor seinem dreißigsten Jahr, daß das Stichwort fallen könne für ihn, und er zeigen müsse eines Tages, was er wirklich zu denken und zu tun vermochte, und daß er eingestehen müsse, worauf es ihm wirklich ankomme. Nie hat er gedacht, daß von tausendundeiner Möglichkeit vielleicht schon tausend Möglichkeiten vertan und versäumt waren - oder daß er sie hatte versäumen müssen, weil nur eine für ihn galt. Nie hat er bedacht. . . Nichts hat er befürchtet. Jetzt weiß er, daß auch er in der Falle ist. Es ist ein regnerischer Juni, mit dem dieses Jahr beginnt. Früher ist er verliebt gewesen in diesen Monat, in dem er geboren ist, in den frühen Sommer, in sein Sternbild, in die Verheißung von Wärme und guten Einflüssen guter Gestirne. Er ist nicht mehr verliebt in seinen Stern. Und es wird ein warmer Juli. Unruhe überfällt ihn. Er muß die Koffer packen, sein Zimmer, seine Umgebung, seine Vergangenheit kündigen. Er muß nicht nur verreisen, sondern weggehen. Er muß frei sein in diesem Jahr, alles aufgeben, den Ort, die vier Wände und die Menschen wechseln. Er muß die alten Rechnungen begleichen, sich abmelden bei einem Gönner, bei der Polizei und 2 Erzählungen 17 i der Stammtischrunde. Damit er alles los und ledig wird. Er muß nach Rom gehen, dorthin zurück, wo er am freiesten | war, wo er vor Jahren sein Erwachen, das Erwachen seiner Augen, seiner Freude, seiner Maßstäbe und seiner Moral er- • lebt hat. Sein Zimmer ist schon ausgeräumt, aber einiges liegt her- « um, von dem er nicht weiß, was damit geschehen soll: Bücher, Bilder, Prospekte von Küstenlandschaften, Stadtpläne und \ eine kleine Reproduktion, von der ihm nicht einfällt, woher er sie hat. „L'esperance" heißt das Bild von Puvis de Chavan- I nes, auf dem die Hoffnung, keusch und eckig, mit einem zaghaft grünenden Zweig in der Hand, auf einem weißen Tuch sitzt. Im Hintergrund hingetupft - einige schwarze Kreuze; \ in der Ferne - fest und plastisch, eine Ruine; über der Hoffnung - ein rosig verdämmernder Streif Himmel, denn es ist Abend, es ist spät, und die Nacht zieht sich zusammen. Obwohl die Nacht nicht auf dem Bild ist - sie wird kommen! über das Bild der Hoffnung und die kindliche Hoffnung selbst wird sie hereinbrechen und sie wird diesen Zweig schwärzen und verdorren machen. Aber das ist nur ein Bild. Er wirft es weg. Dann liegt da noch ein feiner Seidenschal mit einem Riß, von Staub parfümiert. Ein paar Muscheln. Steine, die er aufgehoben hat, als er nicht allein übers Land ging. Eine vertrocknete Rose, die er, als sie frisch war, nicht weggeschickt hat. Briefe, die beginnen mit „Liebster", „Mein Geliebter", „Du, mein Du", „Ach". Und das Feuer frißt sie mit einem raschen „Ach" und rollt und bröckelt eine feine Aschenhaut. ■ Er verbrennt die Briefe alle. Er wird sich von den Menschen lösen, die um ihn sind, möglichst nicht zu neuen gehen. Er kann nicht mehr unter Menschen leben. Sie lähmen ihn, haben ihn sich zurechtgelegt nach eigenem Gutdünken. Man geht, sowie man eine Zeitlang itn einem Ort ist, in zu vielen Gestalten, Gerüchtgestalteil, um und hat immer weniger Recht, sich auf sich selbst zu berufen. Darum möchte er sich, von nun an und für immer, in seiner wirklichen Gestalt zeigen. Hier, wo er seit langem seßhaft ist, kann er nicht damit beginnen, aber dort wird er es lim, wo er frei sein wird. Er kommt an und trifft in Rom auf die Gestalt, die er den anderen damals zurückgelassen hat. Sie wird ihm aufgezwungen wie eine Zwangsjacke. Er tobt, wehrt sich, schlägt um sich, bis er begreift und stiller wird. Man läßt ihm keine Freiheit, weil er sich erlaubt hat, früher und als er jünger war, hier anders gewesen zu sein. Er wird sich nie und nirgends mehr befreien können, von vorn beginnen können. So nicht. Er wartet ah. Er trifft Moll wieder. Moll, dem immer geholfen werden mußte. Moll, der sonst an den Menschen zweifelte, Moll, der verlangt, daß man sich an ihm bewährt, Moll, dem er vor langer Zeit sein ganzes Geld geborgt hat, Moll, der auch Elena kannte.. . Moll, jetzt im Glück, gibt ihm das Geld nicht zurück und ist deswegen schwierig im Umgang und leicht beleidigt. Moll, den er seinerzeit zu allen seinen Freunden gebracht hat, dem er alle Türen geöffnet hat, weil er so hilfsbedürftig war, hat sich inzwischen überall eingenistet und ihn in Verruf gebracht mit kleinen, fein dosierten Geschichten, nacherzählten, leicht gefälschten Äußerungen. Moll ruft täglich an und ist überall, wo er hingeht. Moll sorgt sich um ihn, erschleicht sich Bekenntnisse, die er an der nächsten Ecke an den Nächstbesten weitergibt und nennt sich seinen Freund. Wo Moll nicht ist, ist Molls Schatten, riesig und bedrohlicher noch in den Gedanken und Phantasien. Moll ohne Ende. Molls Terror. Moll selbst aber ist um vieles kleiner, rächt sich nur erstaunlich geschickt dafür, daß er ihm etwas schuldig ist. Dieses Jahr beginnt schlecht. Er wird inne, daß die Gemein- 18 19 heit möglich ist und daß sie ihn erreichen kann, ja schon des I öfteren ihm nahe gekommen ist, aber diesmal wirft sie sich I mit Gewalt über ihn und erstickt ihn. Und es ist ihm plötz- I lieh gewiß, daß diese Gemeinheit eine lange Geschichte haben, I sich auswachsen und sein Leben durchziehen wird. Ihre Säure § wird ihn immer wieder ätzen, ihn brennen, wenn er nicht I mehr darauf gefaßt sein wird. Auf Moll war er nicht gefaßt. I Auf viele Moll muß er sich noch gefaßt machen, er kennt I ihrer schon zu viele da und dort; erst jetzt begreift er an dem I einen Moll, daß da nicht nur einer ist. I In diesem Jahr wird er irre und weiß nicht, ob er je Freunde hatte, ob er je geliebt worden ist. Ein Blitz beleuch- I tet alle seine Bindungen, alle Umstände, Abschiede, und er 1 fühlt, daß er betrogen und verraten ist. I Er trifft Elena wieder. Elena, die ihm zu verstehen gibt, J daß sie ihm verziehen hat. Er versucht, dankbar zu sein. Daß sie ihn erpreßt und bedroht hat, ohne Verstand in ihrer Wut j war und seine Existenz vernichten wollte - und das ist erst | wenige Jahre her - begreift sie selbst kaum mehr. Sie ist J zur Freundschaft bereit, liebenswürdig, spricht klug, nachsichtig, wehmütig, denn sie ist jetzt verheiratet. Er war damals kurze Zeit von ihr getrennt gewesen, hatte sie, wie er sich i selbst zugab, aufs dümmste betrogen. An den Rest denkt er I widerwillig: an ihre Rache, seine Flucht, seine Verluste, die § Wiedergutmachungen, die Scham, auch die Reue, die erneute Werbung. Jetzt hat sie ein Kind, aber als er sie arglos danach j-! fragt, gibt sie lächelnd und zögernd zu, daß sie eben damals, | in der Zeit der Trennung, schwanger geworden sei. Sie scheint ; einen Augenblick lang bedrückt, nicht länger. Er staunt über } ihre Ruhe, ihre Gelassenheit. Er denkt, empfindungslos und . ohne Erregung, daß ihr Zorn damals also geheuchelt war, daß | sie keinen Grund gehabt habe für ihre Selbstgerechtigkeit, kein | Recht zu der Erpressung, die er hingenommen hatte, weil er j I 20 allein sich schuldig glaubte. (Bisher meinte er, sie sei erst nach seiner Abreise, vielleicht um zu vergessen, zu einem anderen gegangen.) Er hat sich die ganze Zeit über schuldig geglaubt, und sie hatte ihn einfach an seine Schuld glauben lassen. Er atmet leise und nachdrücklich die Schuld aus und denkt: Ich bin schlecht beraten gewesen in meiner Verzweiflung. Aber ich bin jetzt noch schlechter beraten von meiner Klarsicht. Mir wird kalt. Ich hätte die Schuld lieber behalten. Es ist Zerstörung im Gang. Ich werde von Glück reden kön- I nen, wenn dieses Jahr mich nicht umbringt. Ich könnte dief eiruskischen Gräber besuchen, ein wenig in die Campagna fahren, in der Umgebung streunen. Rom ist groß. Rom ist schön. Aber es ist unmöglich, hier nochmals zu leben. Wie überall mischen sich Halbfreunde unter die Freunde, und dein Freund Moll erträgt deinen Freund Moll nicht, und sie beide sind unnachsichtig gegen deinen dritten Freund Moll. Von allen Seiten wird auf die Wand gedrückt, hinter der du Schutz suchst. Obwohl du manchmal gewünscht und gebraucht wirst, selbst Zuneigung faßt und andere brauchst, sind alle Gesten heikel, und du kannst nicht mehr mit Kopfschmerzen herumgehen; sie werden sogleich als beleidigender Unmut ausgelegt. Du kannst nicht einen Brief ohne Antwort lassen, ohne des Hochmuts, der Indolenz bezichtigt zu werden. Du kannst dich bei keiner Verabredung mehr verspäten, ohne Zorn zu erregen. Wie aber hat das bloß angefangen? Hat nicht vor Jahren schon die Unterdrückung, die Bevormundung durch die Netzwerke der Feindschaften und Freundschaften eingesetzt, bald nachdem er sich in die Händel der Gesellschaft hatte verstricken lassen. Hat er nicht, in seiner Mutlosigkeit, seither ein Doppelleben ausgebildet, ein Vielfachleben, um überhaupt noch leben zu können ? Betrügt er nicht schon alle und jeden und vielfach sich selber? Eine gute Herkunft hat ihm ge- 21 schenkt: die Anlage zur Freundlichkeit, zum Vertrauen. Seine $ gute Sehnsucht ist gewesen: das barbarische Verlangen nach Ungleichheit, höchster Vernunft und Einsicht. Hinzuerworben i hat er nur die Erfahrung, daß die Menschen sich an einem vergingen, daß man selbst sich auch an ihnen verging und daß es Augenblicke gibt, in denen man grau wird vor Kränkung - daß jeder gekränkt wird bis in den Tod von den anderen. Und daß sich alle vor dem Tod fürchten, in den allein sie sich retten können vor der ungeheuerlichen Kränkung, die das Leben ist. August! Da waren sie, die Tage aus Eisen, die in der s Schmiede zum Glühen gebracht wurden. Die Zeit dröhnte. Die Strände waren belagert, und das Meer wälzte nicht mehr seine Wellenheere heran, sondern täuschte Erschöpfung vor, die tiefe, blaue. Am Rost, im Sand, gebraten, geflammt: das leicht verderbliche Fleisch des Menschen. Vor dem Meer, auf den Dünen: das Fleisch. Ihm war angst, weil der Sommer sich so verausgabte. Weil das bedeutete, daß bald der Herbst kam. Der August war voll Panik, voll Zwang, zuzugreifen und schnell zu leben. In den Dünen ließen sich alle Frauen umarmen, hinter den . Felsen, in den Kabinen, in den Autos, die unter den Pinienschatten standen; selbst in der Stadt, hinter den herabgelassenen Persianen am Nachmittag, boten sie sich im Halbschlaf an oder sie blieben, eine Stunde später, auf dem Corso mit ihren hohen Absätzen hängen im aufgeweichten Asphalt der flautenstillen Straßen und griffen, Halt suchend, nach einem | Arm, der vorüberstreifte. Kein Wort wurde in diesem Sommer gesprochen. Kein Name genannt. Er pendelte zwischen dem Meer und der Stadt hin und her, zwieviten hellen und dunklen Körpern, von einer Augen-lilick.-p'ier zur andern, zwischen Sonnengischt und Nacht-sli-.'iiiil, mit Haut und Haar gepackt vom Sommer. Und die Sun Ii1 rollte jeden Morgen schneller herauf und stürzte immer früher hinunter vor den unersättlichen Augen, ins Meer. Kr betete die Erde und das Meer und die Sonne an, die ihn so fürchterlich gegenwärtig bedrängten. Die Melonen reiften; zcrlleischte sie. Er kam vor Durst um. Kr liebte eine Milliarde Frauen, alle gleichzeitig und ohne l nicischied. Wer bin ich denn, im goldnen September, wenn ich alles von mir streife, was man aus mir gemacht hat? Wer, wenn die Wolken fliegen! Der Geist, den mein Fleisch beherbergt, ist ein noch größerer Betrüger als sein scheinheiliger Wirt. Ihn anzutreffen, muß ich vor allem fürchten. Denn nichts, was ich denke, hat mit mir zu schaffen. Nichts anderes ist jeder Gedanke als das A ufgehen fremder Samen. Nichts von all dem, was mich berührt hat, bin ich fähig zu denken, und ich denke Dinge, die mich nicht berührt haben. Ich denke politisch, sozial und noch in ein paar anderen Kategorien und hier und da einsam und zwecklos, aber immer diinke ich in einem Spiel mit vorgefundenen Spielregeln und einmal vielleicht auch daran, die Hegeln zu ändern. Das Spiel nicht. Niemals! Ich, dieses Bündel aus Reflexen und einem gut erzogenen Willen, Ich ernährt vom Abfall aus Geschichte, Abfällen von Trieb und Instinkt, Ich mit einem Fuß in der Wildnis und dem anderen auf der Hauptstraße zur ewigen Zivilisation. Irh undurchdringlich, aus allen Materialien gemischt, verfilzt, unlöslich und trotzdem auszulöschen durch einen Schlag auf den Hinterkopf. Zum Schweigen gebrachtes Ich aus Schweigen .. . 23 Warum habe ich einen Sommer lang Zerstörung gesucht im Rausch oder die Steigerung im Rausch? - doch nur, um nicht gewahr zu werden, daß ich ein verlassenes Instrument bin, auf dem jemand, lang ist's her, ein paar Töne angeschlagen hat, die ich hilflos variiere, aus denen ich wütend versuche, ein Stück Klang zu machen, das meine Handschrift trägt. Meine Handschrift! Als ob es darauf ankäme, daß irgend etwas meine Handschrift trägt! Blitze sind durch Bäume ge-fahren und haben sie gespalten. Wahnsinn ist über die Men- I sehen gekommen und hat sie innen zerstückt. Heuschrecken-schwärme sind über die Felder gefallen und haben die Fraßspur gelassen. Fluten haben Hügel verheert, die Wildbäche den Abhang. Die Erdbeben haben nicht geruht. Das sind | Handschriften, die einzigen! Wäre ich nicht in die Bücher getaucht, in Geschichten und Legenden, in die Zeitungen, die Nachrichten, wäre nicht alles Mitteilbare aufgewachsen in mir, wäre ich ein Nichts, eine Versammlung unverstandener Vorkommnisse. (Und das wäre * vielleicht gut, dann fiele mir etwas Neues ein!) Daß ich sehen kann, daß ich hören kann, das verdiene ich nicht, aber meine Gefühle, die verdiene ich wahrhaftig, diese Reiher über weißen Stränden, diese Wanderer nachts, die hungrigen Vaga- | bunden, die mein Herz zur Landstraße nehmen. Ich wollte, | ich könnte all denen, die an ihre einzigartigen Köpfe und die harte Währung ihrer Gedanken glauben, zurufen: seid guten Glaubens! Aber sie sind außer Kurs gesetzt, diese Münzen, i mit denen ihr ldimpert, ihr wißt es nur noch nicht. Zieht sie | aus dem Verkehr mitsamt den abgebildeten Totenköpfen und Adlern. Gebt zu, daß es vorbei ist mit Griechenland und Buddhaland, mit Aufklärung und Alchimie. Gebt zu, daß ihr nur | ein von den Alten möbliertes Land bewohnt, daß eure An- j sichten nur gemietet sind, gepachtet die Bilder eurer Welt. I Gebt zu, daß ihr, wo ihr wirklich bezahlt, mit eurem Leben, es nur jenseits der Sperre tut, wenn ihr Abschied genommen hübt von allem, was euch so teuer ist - auf Landeplätzen, Flugbasen, und nur von dort aus den eigenen Weg und eure Fuhrt antretet, von imaginierter Station zu imaginierter Sta-lion, Weiterreisende, denen es um Ankommen nicht zu tun .-ein darf! Flugversuch! Neuer Liebesversuch! Da eine immense un-begriffene Welt sich zu deiner Verzweiflung anbietet - laß fuhren dahin! Schattenschlaf, geflügelte Heiterkeit über Abgründen. Wenn einer den anderen nicht mehr umschlingt, still für sich wehen läßt, wenn der Polyp Mensch seinen Fangarm einzieht, nicht mehr den Nächsten verschlingt. . . Menschlichkeit: den Al'Stand wahren können. Haltet Abstand von mir, oder ich sterbe, oder ich morde, oder ich morde mich selber. Abstand, um Gottes willen! Ich bin zornig, von einem Zorn, der nicht Anfang und l'.nde hat. Mein Zorn, der von einer frühen Eiszeit herrührt und sich gegen die eisige Zeit jetzt wendet.. . Denn wenn die Welt zu Ende geht - und alle sagen's, die Gläubigen und die Abergläubischen, die Wissenschaftler und die Propheten, einmal wird sie zu Ende gehen - warum dann nicht vor dem Ausrotieren odervor dem Knall oder vor dem Jüngsten Gericht? Warum dann nicht aus Einsicht und Zorn? Warum sollte sich dieses Geschlecht nicht sittlich verhalten können und ein l'.nde setzen? Das Ende der Heiligen, der unfruchtbar Frucht-liat'en, der wahrhaft Liebenden. Dagegen wäre zufällig nichts zu sagen. lir erwachte immer schwerer an den Morgen. Er blinzelte in das wenige Licht, drehte sich weg, vergrub seinen Kopf im Kissen. Er bat um mehr Schlaf. Komm, schöner Herbst. I u diesem Oktober der letzten Rosen ,,. 24 25 Es gibt allerdings eine Insel, von der ihm einer erzählt hat, in der Ägäis, auf der es nur Blumen und steinerne Löwen gibt; die gleichen Blumen, die bei uns bescheiden und kurz blühen, kommen dort zweimal im Jahr, groß und leuchtend. Die knappe Erde, der abweisende Fels spornen sie an. Die j Armut treibt sie in die Arme der Schönheit. Er schlief meist bis tief in den Nachmittag und half sicli [ mit Liebhabereien über den Abend. Er gab immer mehr Un- mut preis bei diesem Ausschlafen und schlief sich Kraft zu- I sammen. Ihm schien plötzlich die Zeit nicht mehr kostbar, I nicht mehr vernutzbar. Er mußte auch nichts Bestimmtes tun, 'j um zufrieden zu sein, keinen Wunsch oder Ehrgeiz mehr befriedigen, um am Leben zu bleiben. Die Besonderheit dieses abtretenden Jahres war es, mit dem J Licht zu geizen. Auch die Lichttage trugen Grau. Er ging jetzt immer auf kleine Plätze, ins Ghetto oder in | die Cafes der Kutscher nach Trastevere, und trank dort lang- I sam, Tag für Tag zu der gleichen Stunde, seinen Campari. i Er bekam Gewohnheiten, pflegte sie, auch die allerkleinsten. I Diesen seinen Verknöcherungen sah er mit Wohlgefallen zu. I Am Telefon sagte er oft: Meine Lieben, heute kann ich leider | nicht. Vielleicht nächste Woche. - In der darauffolgenden I Woche stellte er das Telefon ab. Auch in den Briefen ließ er fj sich auf keine Versprechungen und Erklärungen mehr ein. So I viele unnütze Stunden hatte er mit anderen verbracht, und | jetzt nutzte er die Stunden zwar auch nicht, aber er bog sie j zu sich her, roch an ihnen. Er kam in den Genuß der Zeit: I ihr Geschmack war rein und gut. Er wollte sich ganz auf sich I selbst zurückziehen. Aber das bemerkte niemand oder nie- I mand wollte es wahrhaben. In den Vorstellungen der Mit- I weit ging er noch verschwenderisch um, war er immer noeb I ein Hans Dampf in allen Gassen, und manchmal traf er sein«' I wolkige Gestalt in der Stadt und grüßte sie zurückhaltend, ( vi-il er MO kannte von früher. Von heule war sie nicht. Heute . 01, ein anderer. Gut fühlte er sich allein, er forderte nichts mein', trug die Wunschgebäude ab, gab seine Hoffnungen auf „ml wurde einfacher von Tag zu Tag. Er fing an, demütig von der Welt zu denken. Er suchte nach einer Pflicht, er wcilltc dienen. Kinoi) Baum pflanzen. Ein Kind zeugen. Isl das bescheiden genug? Ist es einfach genug? Wenn er sich umsähe nach einem Stück Land und einer l'Viin - und er kennt Leute, die das getan haben in aller licsclieidenlieit - dann könnte er um acht Uhr früh aus dem 1.1 aus und an seine Arbeit gehen, im Getriebe einen Platz auffüllen, von den Ratenzahlungen auf Möbel und von den hlaal/ichen Kinderzulagen Gebrauch machen. Er könnte, was er erlernt hat, monatlich in Geldscheinen bedankt sehen und sie dazu verwenden, sich und den Seinen ein ruhiges Wochenende zu machen. Er könnte den Kreislauf mitbeleben, mit-kirii-cn. Das würde ihm gut gefallen. Besonders: einen Baum zu" pflanzen. Er könnte ihn durch alle Jahreszeiten beobachten, Kinge ansetzen sehen und seine Kinder hinaufklettern lassen. Enileii würden ihm gefallen. Äpfel. Obwohl er keine Äpfel essen mag, besteht er auf einem Apfelbaum. Und einen Sohn zu liabon, das wäre nach seinem Geschmack, obwohl es ihm, wenn er Kinder sieht, gleichgültig ist, welchen Geschlechts sie sind. Der Sohn würde auch wieder Kinder haben, Söhne. Aber eine Ernte, die so fern ist, draußen im Garten, den andere übernehmen werden, draußen in der Zeit, in der er kein Leben mehr haben wird! Dieser Schauder! Und hier ist der ganze Erdkreis voll von Bäumen und Kindern, krätzigen, verkrüppelten Bäumen, hungernden Kindern, und keine Hille reicht aus, um ihnen zu einem würdigen Dasein zu verheilen. Pfleg einen wilden Baum, nimm dich dieser Kinder an, 26 27 tu es, wenn du kannst, schütz auch nur einen Baum vom Ge-f älltwerden und sprich dann weiter! Hoffnung: ich hoffe, daß nichts eintritt, wie ich es erhoffe, fch erhoffe, wenn Baum und Kind mir zukommen solfen, daß dies zu einer Zeit geschieht, in der mir jede Hoffnung darauf abhanden gekommen ist und jede Bescheidenheit. Dann werde ich auch umgehen können mit beiden, gut und bestimmt, und sie verfassen können in meiner Todesstunde. Aber ich lebe ja. Ich lebe! Daran ist nicht zu rütteln. Einmal, als er kaum zwanzig Jahre alt war, hatte er in der Wiener Nationalbibliothek alle Dinge zu Ende gedacht und dann erfahren, daß er ja lebte. Er lag über den Büchern wie ein Ertrinkender und dachte, während die kleinen grünen Lampen brannten und die Leser auf leisen Sohlen schlichen, leise husteten, leise umblätterten, als fürchteten sie, die Geister zu wecken, die zwischen den Buchdeckeln hausten. Er dachte - wenn jemand versteht, was das heißt! Er weiß noch genau den Augenblick, als er einem Problem der Erkenntnis nachging und alle Begriffe locker und handlich in seinem Kopf lagen. Und als er dachte und dachte und wie auf einer Schaukel hoch und höher flog, ohne Schwindelgefühl, und als er sich den herrlichsten Schwung gab, da fühlte er sich gegen eine Decke fliegen, durch die er oben durchstoßen müßte. Ein Glücksgefühl wie nie zuvor hatte ihn erfaßt, weil er in diesem Augenblick daran war, etwas, das sich auf alles und aufs Letzte bezog, zu begreifen. Er würde durchstoßen mit dem nächsten Gedanken! Da geschah es. Da traf und rührte ihn ein Schlag, inwendig im Kopf; ein Schmerz entstand, der ihn ablassen hieß, er verlangsamte sein Denken, verwirrte sich und sprang von der Schaukel ab. Er hatte seine Kapazität zu denken überschritten oder vielleicht konnte dort kein Mensch weiterdenken, wo er gewesen war, Oben, im 28 L n„|if an seiner Schädeldecke, klickte etwas, es klickte beäng-S|j,r,'iid und hörte nicht auf, einige Sekunden lang. Er meinte, 'i-rsiiiiiig geworden zu sein, und umkrallte sein Buch mit den IPindi'ii. Er ließ den Kopf vornüber sinken und schloß die Aiistrn, ohnmächtig bei vollem Bewußtsein. Kr war am Ende. t i.-,. war mehr am Ende als je, als wenn er hei einer Frau war und wenn in seinem Gehirn alle Leitungen einen Augen-lilirk lang unterbrochen waren, er die Vernichtung seiner Person crlioffte, sich eintreten fühlte in das Reich der Gattung. ■' Denn was hier vernichtet worden war, in dem großen alten I Saal, beim Licht der grünen Lämpchen, in der Stille der feierlichen Buchstabenabspeisung, war ein Geschöpf, das sich zu weil erhoben hatte, ein Flügelwesen, das durch blaudäm-iiii'i'iuli! Gänge einem Lichtquell zustrebte, und, genau genom-' „HTi. '-in Mensch, nicht mehr als ein Widerpart, sondern als • ^ mögliche Mitwisser der Schöpfung. Er wurde vernichtet 1 als möglicher Mitwisser, und von nun an würde er nie wieder 1 so hoch steigen und an die Logik rühren können, an die die I Welt gehängt ist. Kr wußte sich abgewiesen, unfähig, und von Stund an war ! ihm die Wissenschaft ein Greuel, weil er sich darin vergangen halle, weil er zu weit gegangen und dabei vernichtet worden ^ war. Kr konnte nur noch dies und jenes dazulernen, ein Hand-i langer werden und seinen Verstand geschmeidig erhalten, I aber das interessierte ihn nicht. Er hätte sich gern außerhalb ; aiifireslellt, über die Grenze hinübergesehen und von dorther 1zurück auf sich und die Welt und die Sprache und jede Bedingung. Er wäre gerne mit einer neuen Sprache wiederge-■■ lidirl. die getaugt hätte, das erfahrene Geheimnis auszu-= drücken. So aber war alles verwirkt. Er lebte, ja, er lebte, das fühlte ; er zum ersten Mal. Aber er wußte jetzt, daß er in einem Ge- i 29 fängnis lebte, daß er sich darin einrichten mußte und bald wüten würde und diese einzige verfügbare Gaunersprache würde mitsprechen müssen, um nicht so verlassen zu sein. Er würde seine Suppe auslöffeln müssen und am letzten Tag stolz oder feig sein, schweigen, verachten oder wütend zu dem Gott reden, den er hier nicht antreffen konnte und der ihn dort nicht zugelassen hatte. Denn hätte er mit dieser Welt hier etwas zu tun, mit dieser Sprache, so wäre er kein Gott. Gott kann nicht sein in diesem Wahn, kann nicht in ihm sein, kann nur damit zu tun haben, daß dieser Wahn ist, daß da dieser Wahn ist und kein Ende des Wahnes ist! Im Winter desselben Jahres war er mit Leni in die Berge gefahren, auf die Rax, an dem Wochenende, ja, er weiß es genau. Jetzt erst weiß er es genau. Sie hatten gefroren, gezittert, sich verängstigt aneinander geklammert in der Sturm-nacht. Die viel zu dünne schäbige Decke hatten sie einander abwechselnd zugeschoben, dann wieder im Halbschlaf einer dem andern entrissen. Zuvor war er bei Moll gewesen und hatte ihm alles anvertraut. Er war zu Moll gerannt, weil er nicht wußte, was zu machen war, er verstand nichts von alledem, kannte keinen Arzt, kannte sich mit sich selbst und Leni nicht aus, mit Frauen nicht aus. Leni war so jung, er war so jung, und sein 'Wissen, mit dem er sich aufspielte vor ihr, rührte von Moll her, der sich auskannte oder vorgab, sich aus-zukennen. Moll hatte die Tabletten besorgt, die er Leni an dem Abend in der Skihütte zu schlucken befahl. Mit Moll hatte er alles beredet, und obwohl ihm so elend war, hatte er sich beneiden lassen von ihm. (Eine Jungfrau, das ist mir noch nicht untergekommen in dieser Stadt, sprich dich aus, alter Freund!) Getrunken hatte er mit Moll und in seinem Rausch Molls Ansichten inhaliert. (Rechtzeitig Schluß machen. Da gibt's nur eines. Sich aus der Affäre ziehen. An die Zukunft denken. Der Stein um den Hals.) Aber in der Schneenacht graule ihm vor sich selber, vor Moll, vor Leni, die er nicht mehr anrühren mochte, seit er wußte, was ihr bevorstand nie mehr wollte er diesen knöchernen faden Körper, diese geruchlose Kindfrau anrühren, und darum stand er auf mitten in der Nacht und ging noch einmal hinunter ins Gastzimmer, setzte sich an einen leeren Tisch und bemitleidete sich bis ür nicht mehr allein war, bis die beiden blonden Skifahrerinnon sich zu ihm setzten, bis er betrunken war und mit den beiden hinaufging, hinterdreinging wie ein Verurteilter in dasselbe Stockwerk, in dem Leni wach lag und weinte oder schlief und im Schlaf weinte. Als er mit den beiden Mädchen in der Kammer war und sich mit ihnen lachen hörte, schien ihm alles einfach und leicht. Alles das gab es noch für ihn, alles konnte er fordern; es war so leicht, er hatte nur noch nicht die richtige Einstellung, aber er würde sie haben, jetzt gleich und von da an für immer. Er fühlte sich als Mitwisser eines Geheimnisses der Leichtigkeit, der Billigkeit und eines frevelloscn Grevels. Noch ehe er die eine zu küssen anfing, war Leni schon preisgegeben. Noch ehe er einen Rest von Widerstand und Scham überwand und der anderen ins Haar fuhr, war die Angst abgetan. Doch dann bezahlte er, denn er konnte seine Ohren nicht verschließen vor den schrillen Worten und dem irren Gestammel, das ihn einkreiste. Er konnte nicht mehr zurück und er konnte seine Augen nicht schließen, bezahlte mit seinen Augen für alles, was ihm vorher und nachher zu sehen geschenkt war in den Nächten, in denen Licht brannte. Am nächsten Morgen war Leni verschwunden. Als er nach Wien zurückkam, schloß er sich ein paar Tage ein, er ging nicht zu ihr, ging nie mehr zu ihr, und er hörte nie wieder von ihr. Jahre später erst betrat er das Haus im III. Bezirk, in dem sie wohnte; aber sie wohnte nicht mehr dnrl. lír traute sich auch jetzt nicht, nach ihr zu forschen, 30 31 wäre auch sofort wieder gegangen, geflohen, wenn sie florl, da gewohnt hätte. Manchmal sah er sie, in Gespensterstunden mit aufgedunsenem Gesicht die Donau hinuntertreiben ocli■;■ das Kind in einem Kinderwagen durch den Stadtpark schieben (und an solchen Tagen mied er den Stadtpark) oder er sah sie ohne Kind, weil das Kind doch gar nicht leben konnte, wie sie als Verkäuferin in einem Geschäft stand und ihn, noch ehe sie ihn sah, nach seinem Wunsch fragte. Er sah sie auch glücklich verheiratet mit einem Vertreter in der Provinz. Aber er sah sie doch nie wieder. Und er vergrub so tief in sich, daß es nur selten hochstieg, das Bild von der Sclmeenachi, von dem Sturm, von dem bis zu den kleinen Hüttenfenstern hochgewehten Schnee, dem Licht, das gebrannt hatte über drei verschlungenen Körpern und einem Gekicher, Hexengekicher und blonden Haaren. Wenn die Kirche im Dorf gelassen ist, wenn einer in die Grube gefallen ist, die er einem anderen grub, wenn sich das Sprichwörtliche erfüllt und alle Voraussagen über Mondwechsel und Sonnengang wieder einmal recht behalten haben -mit einem Wort, wenn die Rechnung vorläufig aufgeht und alles, was im All fliegen soll, fliegt, dann muß er den Kopf schütteln und denken, in welcher Zeit er lebt. Er ist, wie alle, nicht gut vorbereitet; er weiß nur den geringsten Teil und jeder weiß ja nur einen allergeringsten Teil von dem, was vorgeht. Er weiß zufällig, daß es Roboter gibt, die sich nicht irren, und er kennt einen Straßenbahnführer, der sich schon einmal geirrt hat mit der Abfahrtszeit und dem Vorfahrtsrecht. Vielleicht irren sich die Sterne und Kometen, wenn zuviel dazwischenkommt, aus Zerstreuung und Müdigkeit und weil sie abgelenkt werden vom alten poetischen Vortrag ihres Lichts. Mi' nu'ii'liie nicht oben sein, aber es ist ihm recht, daß es oben weilei^'cht, weil oben auch unten ist, also daß es rund-liiTiun weitergeht, denn aufzuhalten ist es nicht. Niemand hüll es auf. Man hält die Gedanken nicht auf und kein Werkzeug zu ihrer Verlängerung. Es ist auch gleich, ob man links /Klei' rechts durch den Raum fliegt, da alles schon fliegt, die Erde- i'lwa, und wenn noch Flug im Flug ist, um so besser, daß es fliegt und sich dreht, damit man weiß, wie sehr es sich dreht und daß nirgends ein Halt ist, nicht im gestirnten Himmel über dir . . . Aber in dir drinnen, wo du kaum aufkommst und nicht sehr inilfliegst, wo zwar auch kein Halt ist, aber ein gestockter, zäher Brei von alten Fragen, die nichts mit Fliegen zu tun halien und Abschußbasen, wo du das Steuer nur ruckweise und kaum spürbar drehen kannst, wo die Moral von der ganzen Geschichte gemacht wird, weil in ihr selbst keine ist, wo du die Moral von der Moral suchst und die Rechnung nicht aufgeht. Wo einer eine Grube gräbt und selbst hineinfällt, wo du Idchst und dich windest und noch immer klebst und nicht weilcr kannst Weil dir dort kein Licht aufgeht (und was hilft's dir dann, alles zu wissen über die Lichtgeschwindigkeit?), weil dir kein l.icht aufgeht über die Welt und dich und die ganzen Leben und Unleben und Tode Weil hier nur Marter ist, weil du in der Gaunersprache das rechte Wort nicht findest und die Welt nicht löst Nur die Gleichung löst du, die die Welt auch ist Die Welt ist auch eine Gleichung, die löst sich und dann ■sl (rold gleich Gold und Dreck gleich Dreck Aber nichts ist dem gleich in dir und nichts gleich der Welt in dir Wenn du das aufgeben könntest, austreten könntest aus 32 3 Erzählungen 33 deiner gewohnten Beklemmung über das Gute und das Böm> und in dem Brei alter Fragen nicht weiterrührtest, wenn du * den Mut hättest, einzutreten in den Fortschritt Nicht nur in den vom Gaslicht zur Elektrizität, vom Ballnn zur Rakete (die subalterne Verbesserung) | Wenn du den Menschen aufgäbst, den alten, und einen ;* neuen annähmst, dann Dann, wenn die Welt nicht mehr weiterginge zwischen '", r Mann und Frau, so wie jetzt, zwischen Wahrheit und Lüge, { wie Wahrheit jetzt und Lüge jetzt Wenn das alles zum Teufel ginge Wenn du die Rechnung, auf die du Wert legst, neu auf- ! stelltest und ihr Rechnung trügst Wenn du ein Flieger wärst und, ohne zu deuteln, deine I Bögen flögst, wenn du nur Nachricht gäbst, Bericht, nicht J mehr die Geschichte von alldem zusammen, von dir und I noch einem und einem Dritten Dann, wenn du heil wärst und nicht mehr verwundet, ge- | kränkt, süchtig nach Reinheit und Rache Wenn du keine Märchen mehr glaubtest und dich nicht { mehr fürchtetest im Dunkeln { Wenn du nicht mehr wagen müßtest und verlieren oder [ gewinnen, sondern machtest Machst, den Handgriff in der größeren Ordnung, denkst in » der Ordnung, wenn du in der Ordnung wärst, in der Rech- \ nung, aufgingst in der hellen Ordnung Dann, wenn du nicht mehr meinst, daß es besser gehen ! müsse „im Rahmen des Gegebenen", daß die Reichen niel mehr reich und die Armen nicht mehr arm sein dürften, die | Unschuldigen nicht mehr verurteilt und die Schuldigen g(-richtet werden sollten • Wenn du nicht mehr trösten und Gutes tun willst und keinen Trost mehr verlangst und Hilfe i 34 Wenn das Mitleid und das Leid zum Teufel gegangen sind ,1er Teufel zum Teufel, dann! Dann, wenn die Welt dort angefaßt wird, wo sie sich auch ifn-^en läßt, wo sie das Geheimnis der Drehbarkeit hat, wo • ,„„,], keusch ist, wo sie noch nicht geliebt und geschändet vurclrn ist, wo die Heiligen sich noch nicht für sie verwandt nd die Verbrecher keinen Blutfleck gelassen haben Wenn der neue Status geschaffen ist Wenn die Nachfolge in keinem Geist mehr angetreten wird Wen" endlich endlich kommt J hin ii Daun spring noch einmal auf und reiß die alte schimpfliche Ordnung ein. Dann sei anders, damit die Welt sich verändert, dainil sie die Richtung ändert, endlich! Dann, tritt du sie an! Wenn er in sein dreißigstes Jahr geht und der Winter komml. wenn eine Eisklammer November und Dezember zusammenhält und sein Herz frostet, schläft er ein über seinen Oiiiili'ii. Er flieht in den Schlaf, flieht zurück ins Erwachen, llii-hl Meinend und reisend, geht durch die Verlassenheit kleiner Slädto und kann keine Türklinke mehr niederdrücken, keinen Gruß mehr entbieten, weil er nicht angesehen und iinjicsproehen werden will. Er möchte sich wie eine Zwiebel, wie eine Wurzel unter die Erde verkriechen, wo sie warm ge-liliflii'ii i.-l. überwintern mit seinen Gedanken und Gefühlen. Mit einem schrumpfenden Mund schweigen. Er wünscht, daß alle .Äußerungen, Beleidigungen, Verheißungen, die er ausgesprochen hat, ungültig würden, vergessen bei allen und er vci'irc.-'-en bei allen. AIht kaum ist er befestigt in der Stille, kaum wähnt er sich eingepuppt, behält er nicht mehr recht. Ein naßkalter Wind Iroihl seine Erwartungslosigkeit um die Ecke, über einen lilnini'iistand mit Sterbeblumen und Wintergrün. Und plötz- 35 lieh hält er die Schneeglocken in der Hand, die er nicht kau- I fen wollte - er, der mit leeren Händen gehen wollte! Die I Schneeglöckchen beginnen wild und lautlos zu läuten, und i geht hin, wo ihn sein Verderben erwartet. Voller Erwartung 1 und wie noch nie, mit der Erwartung und dem Erlösungs- I wünsch aus allen Jahren. Erst jetzt, nachdem er sich ruhig und glücklich gepriesen I hat, nachdem er alle glaublichen Erfahrungen gemacht hat, I kommt die unglaubliche Liebe. Mit Todesriten und den kul- I tischen Schmerzen, die jeden Tag anders verlaufen. Von dieser Stunde an, noch eh die Blumen ihre Empfänge- I rin kennenlernten, war er nicht mehr Herr seiner selbst, son- 1 dern ausgeliefert, verdammt, und sein Fleisch zog ihn mit sich I in die Hölle. Er ging acht Tage lang und, nach dem ersten 1 Bruch und Rettungsversuch, nochmals acht Tage lang in die 1 Hölle. Sympathie, Wohltaten, Wohlgefallen hatten keinen I Raum. Sie war nicht eine Frau, die so oder so aussah und so 4 oder so war; ihren Namen konnte er nicht aussprechen, weil I sie keinen hatte, wie das Glück selbst, von dem er geschleift j wurde ohne Rücksicht. Er war in einem Zustand des Außer- 1 sichseins, in dem der Geschmack eines Mundes nicht mehr | wahrgenommen wird, in dem keine Geste Zeit läßt, eine an- f dere auszudenken, in dem Liebe zur Revanche wird für alles. \ was auf Erden erträglich ist. Die Liehe war unerträglich. Sie | erwartete nichts, forderte nichts und schenkte nichts. Sie ließ j sich nicht einfrieden, hegen und mit Gefühlen bepflanzen, sondern trat über die Grenzen und machte alle Gefühle j nieder. Er war noch nie ohne Gefühl gewesen, ohne Komplikation, und nun war er zum erstenmal leer, ausgewrungen, und spürte nur mehr mit tiefer Befriedigung, wie eine Welle ihn in kurzen Abständen gegen einen Felsen hob und hinschlug und wieder zurücknahm. jir lieble. Er war von allem frei, aller Eigenschaften, Gedanke'1 und Ziele beraubt in dieser Katastrophe, in der nichts gut und schlecht oder recht und unrecht war, und er war sicher, daß es keinen Weg weiter oder heraus gab, den man als Weg hätte bezeichnen können. Während anderswo allerorten die anderen eine Arbeit taten, um Werke bekümmert waren, liebte er vollkommen. Es nahm mehr Kraft in Anspruch, als zu arbeiten und zu leben. Die Augenblicke glüh-li>ii. die Zeit wurde zur schwarzen Brandspur dahinter, und von Augenblick zu Augenblick, trat immer lebendiger hervor als ein Wesen von reiner Bestimmung, in dem nur ein cin/iges Element herrschte. Kr packte seine Koffer, weil er instinktiv begriff, daß auch die erste Stunde Liebe schon zuviel gewesen war, und suchte mit der letzten Kraft seine Zuflucht im Abreisen. Er schrieb drei Briefe. In dem ersten beschuldigte er sich selbst der Schwäche, im zweiten seine Geliebte, im dritten verzichtete er darauf, nach einer Schuld zu suchen, und hinterließ seine Adresse. „Schreib mir bitte postlagernd nach Neapel, nach Brindisi, nach Athen, Konstantinopel. . ." Er kam aber nicht weit. Ihm ging auf, daß mit der Abreise alles zusammenbrach, er hatte nur mehr wenig Geld, das letzte schon ausgegeben, um die Wohnung vorauszubezahlen, um sie halten zu können, einen Ort trotz allem halten zu können. Er lungerte im Hafen von Brindisi herum, verhandelte seine Habe bis auf zwei Anzüge und suchte nach Schwarzarbeit. Aber er taugte wohl nicht zu solchen Arbeiten und zu diesen Gefährlichkeiten, in die er jetzt hineingeraten konnte. Er wußte; nicht mehr weiter, schlief zwei Nächte im Freien, fing an, die Polizei zu .fürchten, den Schmutz zu fürchten, das Elend, den Untergang. Ja, er würde untergehen. Dann schrieb er einen vierten Brief: „Ich habe jetzt noch zwei Anzüge, die gebügelt werden müßten, meine zwei Pfeifen und 36 37 das Feuerzeug, das du mir geschenkt hast. Es ist kein Benzin mehr drin. Wenn du mich aber vor dem Sommer nicht sehen willst, dich nicht von N. trennen kannst vor dem Sommer .. ,:i Vor dem Sommer! „Und wenn du dann noch immer nicht weißt, mit wem und warum und wozu, mein Gott. . . Aber wenn du es wüßtest, dann wüßte ich es vielleicht nicht, und es wäre mir noch erbärmlicher zumute. Ich kann in keinem Weg mehr einen W im> sehen. Wir hätten es nicht überleben sollen." Vor dem Sommer! Dann würde er dieses Jahr abgebiifii haben, und alles, was er später aus dem Stoff von dreißi» Jahren bereiten konnte, versprach ihm, gewöhnlich zu wer-den. Oh, müssen wir wirklich alt, häßlich, faltig und schwach» sinnig, beschränkt und verstehend werden, damit unser Los sich erfüllt? Nichts gegen die Alten, sagte er zu sich, es ist ja bald auch so weit für mich, und ich fühle schon den Schauder, mit dem alle meine Jahre über mich kommen werden, Bald. Noch aber stehe ich dagegen, noch will ich's nicht glaii-' ben, daß dieses Licht erlöschen kann, Jugend, dies ewiglich scheinende Licht. Als es aber immer kurzatmiger und hungrig zu flackern begann, und da alle Versuche, Arbeit zu finden oder weiterzukommen mit einem Schiff - all diese unsinnigen Unterfangen, die einem jüngeren Menschen oder einem Irren besser angestanden wären - fehlgeschlagen waren, schrieb er nach Hause. Er schrieb beinahe die Wahrheil; und bat seinen Vater zum ersten Mal um Hilfe. Ihm war elend zumute, denn er war dreißig Jahre alt, und früher hatte er es immer verstanden, sich durchzuschlagen. Nie war er so kraftlos und hilflos gewesen. Er bekannte seinen Zusammenbruch ein und bat um Geld. Er sollte nie schneller Geld erhalten. Er hatte sich noch nicht von der raschen Rettung erholt, da war er schon auf der Rückreise. Er ging über Venedig, Dort kam er spätabends vor dem Markusplatz an, steuerte 38 I f ihn ß,mue war ^eel- Zuschauer waren von Sil/"'1 geschwemmt. Das Meer hatte den Himmel über-■(i-vii die Lagunen waren voll von Geflacker, da die Leuch-i-und I alernen ihr Licht nach unten ins Wasser geworfen hallen. Licht lichtes Leuchten, fern vom Gelichter. Er geisterte liirch Von Anfang an hatte es ihn getrieben, Schutz in der Schönheit zu suchen, im Anschauen, und wenn er darin ruhte, s'igte er sich: Wie schön! Das ist schön, schön, es ist schön. 1 ,aß es immer so schön sein und mich meinetwegen verderben für das Schöne und was ich meine damit, für Schönheit, für lieses „Mehr als . . .", für dieses Gelungensein. Ich wüßte kein Paradies, in das ich, nach dem, was war, hinein möchte. Aber da ist mein Paradies, wo das Schöne ist. Ich verspreche, mich damit nicht aufzuhalten, denn die Schönheit ist anrüchig, kein Schutz mehr, und die Schmerzen verlaufen schon wieder anders. Früher hatte er nie gewußt, wie man reist. Er stieg in die /iige mit Herzklopfen und wenig Geld. In den Städten kam im1 immer nachts an, wenn Ströme von umsichtigen Fremden längst alle Hotelzimmer an sich gerissen hatten und seine Freunde schon schliefen. Einmal ging er die ganze Nacht spazieren, weil er kein Bett fand. Auf den Schiffen fuhr er mit noch gröliercin Herzklopfen und in den Flugzeugen hielt er vor Entzücken den Atem an. Diesmal aber hatte er den Fahrplan gelesen, sein neues Gepäck gezählt, einen Träger genommen. Kr balle einen reservierten Platz und Reiselektüre. Er wußte, wo er umsteigen wollte, und das Geld ging ihm nicht schon .'iiif dem Balmsteig aus, nachdem er einen Kaffee ge-Irnnkeii halte. Er reiste wie ein Mensch von Distinktion und so ruhig, daß keiner ihm sein Vorhaben ansah. Er hatte vor, das Wanderleben zu beenden. Er wollte umkehren. Er fuhr in die. Sl.-idl zurück, die er am meisten geliebt hatte und in 39 der er Steuern hatte zahlen müssen, auch Lehrgeld, Studien, geld und sonst noch einiges. Er fuhr nach Wien - mit dein Wort „heim" hielt er trotzdem an sich. Er legte sich im Abteil nieder, den Kopf auf seinem /u. sammengerollten Mantel und dachte nach. Auf diesem La-ger würde er durch Europa rollen, aufschrecken aus Träumen frieren, wenn er den vertrauten Gebirgen nah kam, dösen, sich peinlich erinnern. Er wollte an den Ausgangspunkt n & rückkehren, denn er hatte von dem, was man die Welt nennt -: I genug gesehen. [ Er quartierte sich in einem kleinen Hotel in der Inneri-n Stadt ein, in der Nähe der Post. Nie hatte er in Wien in einem i Hotel gewohnt. Er war hier Untermieter gewesen, ohne und -1 mit Badbenützung, ohne und mit Telefonbenützung. Bei Ver- S wandten, bei einer alleinstehenden Krankenschwester, die sei-nen Tabakgeruch schlecht vertrug, bei einer Generalswitwc, f für deren Katzen und Kakteen er, wenn sie zur Kur fuhr, j hatte sorgen müssen. Zwei Tage lang war er so unschlüssig, daß er es nicht waule, » jemand anzurufen. Niemand erwartete ihn; einigen Leuten | hatte er zu lange nicht geschrieben, andere wieder hatten ant | seine Briefe nie Antwort gegeben. Er fühlte plötzlich, ilnß * seine Rückkehr eine Unmöglichkeit war aus vielen Gründen. ' Genausowenig hätte ein Toter wiederkommen dürfen. Es ist j niemand erlaubt, fortzusetzen, wo man abgebrochen hat. Da ist niemand, sagte er sich, niemand, der noch auf mich zählt. Er ging essen, in ein Restaurant, in das er sich früher nie hineingewagt hätte, las die Speisekarte geläufiger als anderswo, j er meinte gerührt zu sein über jede seltsame, lang vermißte^ Bezeichnung, aber er war es nicht. Er erkannte die alten vermißten Glocken beim Mittagsläuten. In ihm blieb es totenstill. Er traf zufällig Bekannte am Graben, traf mehr Bekannte, und, von den bedeutungsvollen Zufällen ermuntert, schloß er 40 s ■i ■ .,([,,,, übereifrig und verlegen an. Er fing unsicher zu ■•i len -in von seinem Leben, das ör anderswo geführt hatte, erza'i" und brach gleich wieder ab, weil ihm klar wurde, daß sein .|„.ii audi'i^wo allen als ein Verrat galt, über den es besser viir. Srlrwi«''11 zu bewahren. ii',. l;,-inlle «ich einen Stadtplan in einer Buchhandlung, für die Stadl, in der er jeden Geruch kannte und über die er liclils Wissenswertes wußte. Er schlug das Buch auf, setzte .'eh damit auf eine regennasse Bank im Stadtpark, fürchtete •iiiziifn''1''1" lin,i SmS dann, den Sternchen nach, zu dem gro-ijeii l'alasl mit der Rüstungssammlung und in das Kunsthisto-i'isi'ln' jMiisenm, zur Gloriette und zu den Kirchen mit den Ba-rochi'iii-'i'lii. -Am Abend fuhr er bei Sonnenuntergang auf den Kahlenberg und schaute auf die Stadt hinunter, von einem empfohlenen Punkt aus. Er hielt sich die Hand vor die Augen und dachte: Das alles ist nicht möglich! Es ist nicht möglich, ■hiß ich diese Stadt gekannt habe. So nicht. Anderntags traf er sich mit Freunden. Er wußte überhaupt nicht, wovon sie redeten, aber alle Namen, die fielen, waren ihin hekannt, und selbst, wenn die Gesichter dazu sich nicht mehr einstellten - er kannte sie alle. Die Etiketten waren L'clilii'lion. Er nickte zu allem, was er hörte, bestätigend, es cr.ii'liirn ihm aber doch unwirklich, daß es das alles gab: neue Kiiido' einer alten Freundin, Berufswechsel, Korruption, Skandale, Premieren, Liebschaften, Geschäfte. f.Mcin Vorhaben: Ankommen!) Kr trifft Moll wieder, den Wunderknaben, das Genie Moll, das zwanzigjährig alle geblendet hat, den reinen Geist Moll, der für ein Butterbrot seinerzeit seine vielbewunderten Studien über den Wertzerfall und die Kulturkrise einer christlichen Redaktion zur Verfügung gestellt hat. Moll ist ironisch jrewnrden, bezieht die höchsten Honorare, eilt von Kongreß zu Kongreß, Moll, über den man sich lustig macht und der 4L sich über sich selbst lustig macht, Moll, der jetzt bei Round- ~t Table-Gesprächen vom einstigen Vermögen zehrt und semes Alters, der ihn Irriilit: er 111 ■■ Mio ihn kennen, aber es will ihm nicht einfallen, .,.)■ d:i< 'hl " doch, es 'st natürlich Moll, der da steht, und •r iiiiifi M"ll bnslig und erfreut bitten, Platz zu nehmen an einem Ti-eli. Mo", den schüchternen Bildungshungrigen, der .jmiial ergründen wollte, was der neue Stil sei, und der ihn im, i.efiuideii hat. Moll, der also heute weiß, wie man woh-M1 nullen, '.ehreiben, denken und komponieren muß. Endgültig, entschieden. Der einst tastende, suchende Moll, ge-jipeisl von den I '.rkenntnissen einer ihm vorangegangenen Generation, hat verdaut und käut das Verschlungene wieder. Mails Svsieni. Molls Unfehlbarkeit. Moll als Kunstrichter. Moll, der l iierbittliche, odi profanum vulgus, Moll, der die Sui'nclic M'ilnren hat und dafür mit zweitausend Pfauenfedern aus anderen Sprachen paradiert. Moll, der Romane nicht mehr le-en kann, Moll, für den das Gedicht keine Zu-liiinlt Iial. Moll, der für die Kastration der Musik eintritt und der die Malerei der Leinwand entfremden will. Moll, schäumend, unbarmherzig, mißverstanden, verweisend auf die GriihV von Gnilielmus Apuliensis (ca. 1100) . . . Moll, der von allen Malern l-.'rhard Schön für den erstaunlichsten hält. Moll wi-aweisend. Moll, der entrüstet schweigt, wenn von einem Grüi'iislniiil die Rede ist, der dem anderen bekannt ist, darbt uhi Hilfsbeamter, als Sammler obskurer Texte, als übergangener. Midi, eifersüchtig darauf bedacht, daß man ihn verkennt und übergeht, rächt sich durch ätzende Bitterkeit, strafende Blicke an jeder schönen Frau, an einem Sonntag, an einer r'iuelil. an einer Gunst. Moll, der Märtyrer. Moll ver-ucliU'l natürlich ihn, Molls alten Freund, weil er jetzt auf die l'lir