Munde ihres Vaters war sie heute an der Tuberkulose elend verstorben, gestern hatte sie sich aus dem Fenster gestürzt, ein andermal mußte eine Eisenbahnkatastrophe herhalten, um ihr den Garaus zu machen. Jedesmal aber flössen die Tränen wahrhaftiger und tiefer Erregung über die Wangen des Erzäh- lers. Das wichtigste Charakteristikum Nejedlis jedoch lag in der Tatsache, daß er als achtjähriger Knabe an der Exhofhaltung Kaiser Ferdinands des Gütigen oben auf dem Hradschin »k. k. Titularwunderkind« gewesen war, wie er den außergewöhnlichen Rang selber bezeichnete. Im Hinblick auf solch strahlende Vergangenheit wurde er oft und gerne aufgezogen. Auch jetzt trat Doktor Schleißner, der es liebte, hier den Eingeweihten und Fremdenführer zu spielen, an das Klavier und stellte einen langen, düster-würdigen Menschen vor: »Darf ich die Herren bekannt machen? Unser großer Virtuose Nejedli! Herr Präsident More...« »Keine Namen, wenn ich bitten darf!« Der Düstere flüsterte das mit schmerzdurchzuckter Miene, als wäre ihm einer wuchtig auf den Fuß gestiegen. Schleißner bat um Entschuldigung: »Vergessen Sie den Namen, Nejedli! Aber vergessen Sie nicht, daß hier der Herr Präsident der Spinoza-Gesellschaft und Ordensmeister der >Söhne des Bundes< vor Ihnen steht.« Der alte Nejedli sprang auf: 18 »Habe die Ehre, Herr Präsident. Kenne schon den Herrn Präsidenten ergehenst. Habe die Auszeichnung gehabt, Herrn Präsidenten gestern beim Funus des Herrn Kaiserlichen Rates Habrda...« More schnitt die Begrüßung ab. Er liebte es nicht, an Leichenbegängnisse gemahnt zu werden, die mit seinem Lebenserwerb, dessen Art er gerne verbarg, in Beziehung standen. U m es rund heraus zu sagen, der Präsident der Spinoza-Gesellschaft war in die Listen der Handelswelt als »Grabsteinagent« eingetragen. Er vermittelte zwischen den Trauernd-Hinterbliebenen, der Denkmalsunternehmung und dem bürgerlichen Nachruhm der Verstorbenen. Es ist nicht weiter verwunderlich, daß die Fülle der Ehrenämter einerseits, der geschäftliche Umgang mit dem Tode andererseits den gehaltenen Ernst und den priesterlich langen Rock des Präsidenten auf dem Gewissen hatten. Hier an diesem Ort schien er das erstemal anwesend zu sein. Er führte langsam ein nicht entfaltetes Taschentuch an den Mund. Mit dieser ungenügenden, aber symbolischen Gebärde wollte er wohl andeuten, daß ein Mann wie er in solcher Umgebung gut daran tue, seine stadtbekannten Züge ein wenig zu verbergen. Doktor Schleißner aber wollte dem Präsidenten etwas bieten und wandte sich an den Klavierspieler: »Wie war das mit Kaiser Ferdinand dem Gütigen, Nejedli, und mit Ihren Konzerten?« Der Alte duckte sich ängstlich über die Tasten: 19 »Mir scheint, meine Herren, Sie wollen mich mit Hochverrat und Majestätsbeleidigung hereinlegen. Lauter Balmechomes sitzen im Salon...« More sandte einen finsteren Blick aus. Nejedli beeilte sich: »Balmechome, Herrn Präsidenten zu dienen, nennen die Herren Israeliten alle Mannschaften und Gagisten im aktiven Militärverhältnis.« Schleißner beruhigte: »Erstens kann Sie niemand hören und zweitens weiß doch kein Mensch, wer Kaiser Ferdinand war.« Nejedli erklärte eifrig: »Aber das ist doch der gottselige Onkel von unserm Kaiser. Sie haben ihn anno 48 in Olmütz abgesetzt. Noch wie heute denk ich ihn. In der Burg oben hat er residiert und mit einem Prachtzeugel Lipizzaner Schimmel natürlich — ist er täglich nach Baumgarten oder in den Canalischen Park spazieren gefahren.« Die tiefe Rednerstimme des Präsidenten More fragte: »Und war er wirklich gütig?« Bei diesen Worten nahm das feierliche Gesicht den geschmeichelten Ausdruck eines dynastisch empfindenden Mannes an, dessen Gedanken mit Rührung einer allerhöchsten Person nahen. Nejedli verdrehte geheimnisvoll die Augen: »Gütig war er nicht, aber narrisch war er.« Schleißner munterte auf: 20 »Sic haben doch als Wunderkind Konzerte in der Burg gegeben. Wie war denn das?« Nejedlis knotenreiche Finger versuchten sich in einem perlenden Lauf: »Sie können es mir ergebenst glauben, Herr Doktor, ich war ein gesuchtes Wunderkind. Konzertiert hab ich im spanischen Saal. Der ganze P. T. Hochadel war anwesend, Hof und Gesellschaft. Also hier ist Seine Erlaucht, der Herr Graf Kolowrat gesessen und dort Ihre Durchlaucht, die Fürstin Lobkowitz. Ich seh sie vor mir, als wär es heut. Eine Schönheit, auf mein Wort! Und dann Seine Exzellenz, der Herr Statthalter von Böhmen, und der Herr Korpskommandant Graf... Graf... Fixlaudon... Wie hat er nur geheißen?...« Doktor Schleißner drängte neugierig vorwärts. Nejedlis Finger perlten den Lauf zurück: »Damals, meine Herren, hab ich ein Gedächtnis gehabt und Fingerin, das kann ich untertänigst sagen. Mein ganzes Programm hab ich auswendig herunterkonzertiert: >Die Abendglocken«, >Mon souvenir<, >Ouverture zu Wilhelm Tell< und Arrangement aus der Oper Die Jüdin<. Ja, ja, heut kann ich nur wenig auswendig spielen und von Noten gar nichts mehr, wegen der maroden Augen. Ausgeweint hab ich mir die Augen. Herr Doktor wissen, seitdem ich das Unglück mit der Roserl gehabt hab...« Doktor Schleißner brachte den Erzähler schnell und behutsam wieder auf sein Thema zurück. Ne- 21 jedlis Hände zerklopften ein Musikstück, während er weiter berichtete: »Also, meine Herren, ich hab damals wirklich gut gespielt. Hof und Gesellschaft applaudieren und verlangen da capo. Die Damen schauen mich ganz gerührt durchs Lorgnett an. Auch Seine Majestät der Kaiser kommt applaudierend auf mich zu: Bravo, bravo, ruft er dabei und ich kleiner Bub will mein Buckerl machen und ihm die Hand küssen. Er fangt auch wirklich sehr lieb an, mich zu streicheln. Aber so wahr ich hier bin, auf einmal reißt es ihm in der Hand und er haut mir eine Watschen herunter...« In des Präsidenten Augen zuckte es dunkel. Nejedli aber fuhr milde-verstehend fort: »Ich will nichts gegen Seine Majestät gesagt haben. Der Kaiser hat ja nichts dafür können. Ich hab genau gespürt, wie er sich gegen die Watschen gewehrt hat, die ihm in der Hand saß. Das Watschen war halt eine Eigenartigkeit von ihm. Sein Adjutant, der Herr Feldzeugmeister Graf Kinsky, hat ihm bei der Ausfahrt immer die Händ' festgehalten, denn man konnte ja nicht wissen. Sie fahren über die Steinerne Brücke. Dort steht der goldene Herrgott, den ein Jud hat bezahlen müssen, weil er vor dem Allerheiligsten nicht den Hut gezogen hat. - Ich will damit ergebenst nichts gegen die Herren Israeliten vorbringen. — >Laß mich aus, Exzellenz<, sagt Seine Majestät zum Adjutanten. Der aber hält nur noch fester des Kaisers Hände zusamm'. Seine Majestät bittet immer schöner: >Laß mich aus, Exzellenz, ich 22 muß michja bekreuzigen!« Da kann der General vorschriftsmäßig laut Exerzierreglement nicht anders und muß die allerhöchsten Händ' loslassen. Und schon hat er eine sitzen!« Doktor Schleißner war über diese Geschichten hochentzückt. Sein Freund hingegen, der Grabsteinagent und Präsident More, schien weniger erbaut. Unter der Maske harmloser Anekdoten verbarg sich insgeheim subversive Gesinnung und tschechoslawischer Hochverrat gegen das Kaiserhaus, dem er treu anhing. Nejedli verjagte jetzt Anita und Manja vom Kla- vier. »Gehts weg, Madeln! Gleich werd ich euch etwas zum Tanzen spielen.« Dann wandte er sich an Schleißner: »Kennen Herr Doktor die Volkshymne, die man zu Zeiten des gottseligen Kaisers Ferdinand in Wien gespielt hat?« Und er sang ganz leise, sich nur mit dem Baß begleitend : »In Schönbrunn Sagt er, Lebt ein Ä f f Sagt er, Hat ein G'sicht Sagt er, Wiar a Pfaff Sagt er, 23 Frißt kan Zucker Sagt er, Trinkt kan Wein Sagt er, Welcher Äff Sagt er, Kann das sein?« Der Klavierspieler schaute dem Präsidenten More mit traurigem Kopfschütteln in die Augen: »Ein freches Volk das, die Wiener! Überhaupt Kaisertreue, die findet man ergebenst nur bei uns.« »Was singen Sie da? Lauter, bitte!« rief Leutnant Kohout Nejedli an. Der aber nahm stramm Stellung: »Herr Leutnant, melde gehorsamst, ein alter Schlager, der Herrn Leutnant nicht interessieren wird.« Der Leutnant bestätigte das: »Ich hab nur die allerneuesten Schlager gern. Also, Nejedli, spielen Sie etwas Fesches!« Daraufhin begann Nejedli mit seinen Gichtfingern einen Walzer aufs Klavier zu dreschen, der schon mindestens zehn Jahre alt war. Die Damen tanzten, zumeist miteinander. Nur Grete hielt Doktor Schleißner, den sie hoch überragte, schwelgerisch im Arm. Ludmilla stand in der Tür und wandte allen den Rücken zu. I V Mit einem Mal waren die Mädchen aus dem Großen Salon verschwunden. Man konnte Fräulein Edith eine Meisterin in solch unauffälligen Truppen-Verschiebungen nennen. Es schienen illustre Gäste angekommen zu sein, Gäste, die in einen noch abgeschiedeneren Raum, als es der Blaue Salon war, geführt zu werden pflegten. Dieses Gesellschaftszimmer, dessen Existenz wir noch nicht verraten haben, wurde das Japanische Séparée genannt und lag zwei Türen weit rechts vom Hauseingang im Flur. Es war dafür gesorgt, daß dieser Flur des Hauses würdig sei und die Wünsche des Gastes nicht etwa erkälte, sondern steigere. Dem Eintretenden schlug auch, sowie ihm die Türhüterin geöffnet hatte, eine überhitzte Wärmewelle entgegen und ein Duft, dessen Eigenart er sein Lebtag nicht wieder vergessen sollte. Nach heißem Badewasser roch es, in das man Parfüm geschüttet hatte, nach Seifenschaum, nach Vaseline, Hautcreme, Schminke, Schweiß, Alkohol und scharfgewürzten Speisen... Nicht lange konnte es verborgen bleiben, daß hochgestellte Persönlichkeiten das japanische Séparée bezogen hatten. Herr Doktor Schleißner war mit scharfen Ohren begabt, denen nicht nur der Donner 25 von Fiakern in den engen Gassen, sondern auch selbstbewußtes Sporenklirren unten im Flur aufgefallen war. Zudem sagte das Verschwinden der Mädchen alles. Schleißner kombinierte sicher: »Fürstlichkeiten von den Brandeiser Dragonern!« More machte ein undurchdringliches Gesicht. Er sah drein, als hätte er es nicht nötig zu kombinieren, da ihm der Name jener Persönlichkeiten, die eben eingekehrt waren, längst bewußt sei; Indiskretion aber wäre seine Sache nicht. In damaliger Zeit gab es noch nicht die riesigen Tanzpaläste, welche heute die Nacht der Großstädte beherrschen. Sehr beschränkt war die Zahl der >Tabarin<, >Maxim< und >Alhambra<. Daher kam es vielleicht, daß der Besuch dieses Hauses in der Gamsgasse wenig Diffamierendes hatte. Offiziere konnten ruhig in voller Uniform erscheinen, öffentliche Funktionäre mußten, wenn sie sich zeigten, keines Tadels gewärtig sein, hohe Gäste bedeuteten keine Außergewöhnlichkeit. Historische Gemüter erklärten diesen Freimut damit, daß im Kriegsjahr 1866 die preußische Generalität im Blauen Salon einige Siegesfeiern abgehalten und damit dem ganzen Hause eine besondere Weihe gegeben hatte. Die Damen kehrten sehr bald in den Salon zurück. Nur Anita, Valeska und der Polin Jadwiga war das Glück zuteil geworden, von den eleganten Kommlingen ins Vertrauen gezogen zu werden. Grete schimpfte: 26 »Ungezogene Bengels!« Sie warf sich wieder in die bereitwilligen Arme ihres Doktor Schleißner. Erstaunlich aber war es, daß Ludmilla zurückkehrte, sie, die Krone, die kindliche Schönheit des Hauses. Hoffentlich hatte es keine der Kolleginnen bemerkt, daß sie von Edith, die aus eigener Erfahrung ihren Roman nachfühlen konnte, an einem intimen Ort versteckt und gegen die Herren verleugnet worden war. Ludmilla ging mit ihren stechend-entschlossenen Schritten durch den Raum und machte Miene, sich wieder an den ungefährlichen Tisch der Artilleristen zu setzen, als der Baalboth, jener dröhnende Gast mit Bauch, Uhrkette und Organisation, sich schwer erhebend, zu ihr trat und die ungeschickte Tanzkränzchenverbeugung eines angejahrten Kleinstädters vollführte: »Mein Fräulein, darf ich mich nach dem werten Befinden erkundigen?« Er sagte das und auf seiner Stirn stand Schweiß der Gier, der Selbstüberwindung und die säuerliche Verlegenheit eines schlechten Gewissens. Ludmilla maß ihn von oben bis unten, wie etwa eine treue Ehefrau den Mann, der sie auf der Straße anspricht, abblitzen läßt, machte »Pah« und setzte sich an ihren früheren Platz. Der Gedemütigte lastete schwer und einsam auf dem spiegelnden Tanzparkett. Dann trat er mit großen Füßen, die sich ihres Knarrens schämten, zurück, aber in seinen erstarrten Augen war nicht allein Betretenheit zu lesen. 27 Niemand hatte diese Szene bemerkt, denn von der Tür her krähte eine hohe und schleppende Stimme: »Ihr seid mir ein traut's Kind, ihr alle miteinan- der!« Der Besitzer dieser schleppenden Stimme und eines noch weit schleppenderen Körpers wurde mit Händeklatschen und lebhaftem Zuspruch begrüßt. Es war niemand anderer als der Herr und Chef dieses Hauses, Max Stein, eine merkwürdige und beliebte Erscheinung, von allen Freunden des Ortes >Maxl< genannt. Man behauptet allgemein, daß >Decadence< das Zeichen der späten Sprößlinge überzüchteter Familien und Adelsgeschlechter sei. Maxi entstammte wohl einer alten Familie, doch ein Adelsgeschlecht konnte man sie kaum nennen. Was aber die Decadence anbetrifft, darin gab er den Spätlingen fürstlichster Rassen in nichts nach. War das Haus in der Gamsgasse auch kein Ritterschloß, so besaß es doch eine uralte Geschichte und mehr als das, eine eigene Sagenwelt. Hieß nicht heute noch ein Gäßchen der Neustadt »die unbefohlene Gasse«? Karl der Vierte, ein Städtebauer höchsten Ranges, hatte im Zorn die Gasse also getauft, weil sie in seinem Stadtplan nicht vorgesehn und eingezeichnet war. Aber den Auftrag zum Bau eines Lupanars soll er höchstselbst erteilt und den Platz eigenhändig im Entwurf vermerkt haben. Nicht genug rühmenswert ist die politische Umsicht dieses großen Herrschers, hatte er doch, 28 um der beginnenden Ketzerei und der neuen puritanischen Bewegung einen Riegel vorzuschieben, den Buhldirnen und Nachtlokalen einen der reizvollsten Bezirke der Kleinseite eingeräumt und ihn nach der Venusstadt »Venedig« genannt. Der wahre Herd der wachsenden Häresie war aber nirgend anders zu suchen als in der neugegründeten Universität, welche, die erste auf dem Boden des heilig-römischdeutschen Reiches, weithin strahlte. Es ist kein unziemender Schluß, wenn wir annehmen, daß des Kaisers fromme Majestät den Großen Salon in nächster Nachbarschaft der Universität zu keinem andern Zwecke erdacht hatte, als um hochmütige und asketische Ketzer zu Fall und damit zur Besinnung zu bringen. - Es führten ja, wie eine Baukommission feststellen konnte, unterirdische Gänge von der Gamsgasse ins Karolin-Gebäude. Hier hatten schon Studenten in Wams und Koller gezecht. Und selbst ein Wallenstein war während seiner Hofhaltung in der Hauptstadt des öfteren im Großen Salon - man darf den Quellen trauen - zu flüchtigem Genüsse ein- gekehrt. Alte Unternehmungen besitzen denselben geheimnisvollen Wert wie alte Weine und alte Geigen. Da konnte die Konkurrenz ihren Firmen die schönsten Titel geben, was nützte es ihr, daß sie sich >Napoleon< nannte, sie durfte doch nur Pofel und Pöbel beherbergen. Seit langen Zeiten war dieses Haus, diese Erbschaft schon in Besitz und Verwaltung der Familie 29 Stein. Die Großmutter, gebürtige Busch, eine ortsbekannte Wohltäterin, hatte das Etablissement als Heiratsgut in die Ehe mitgebracht; aber Maxis Urgroßvater schon hatte, von einer hohen Polizei privilegiert, den Charakter eines öffentlichen Wirtes geführt. Nun konnte Herr Maxi in der Tat als ein >Letzter< gelten. Seine Eltern waren gestorben. Seinen Bruder, den Herrn Adolf, hatte man vor ein paarJahren hier noch wirtschaften sehn. Das aber war ein trockener, unleidlicher Patron, der, wenn es im Großen Salon lustig und resultatlos zuging, verdrossen erklärte: »Machts keine Theaters und gehts auf die Zimmer!« Ein derart nüchterner Ton konnte sich in diesen romantischen Räumen nicht halten. Adolf mußte erfreulicherweise aus äußerst zwingenden Gründen nach Amerika abwandern. Und nun hatte Maxi niemand andern als Edith. Aber Edith war eine feste Frau, hielt das Ganze prachtvoll zusammen und konnte auch, was die Ehrlichkeit anlangt, als Juwel gelten. Maxi nahm den Applaus, der ihn empfing, gleichgültig entgegen. Sein kindisch-vergreistes Gesicht, dessen Alter niemand hätte bestimmen können, war ganz gelb. Auf einer knolligen Stupsnase saß der schiefe Zwicker, und eine willenlose Unterlippe hing wie ein Lappen übers Kinn. Der Mensch war so schwach und abgezehrt, daß ein Fremder nicht begriffen hätte, warum ihm soviel Heiterkeit und so wenig Mitleid entgegenscholl. Denn als er mit erbar- 30 mungswürdigen, knieweichen Schritten zum Klavier schob, um sich auf seinen Lieblingsplatz, die Bank neben Nejedli zu setzen, bekam er von allen Seiten die boshafte Aufforderung zu hören: »Maxi, erzähl uns einen neuen Witz!« Maxi wehrte sich: »Laßts mich aus! Heut erzähl ich nichts. Ich bin so müd. Ich bin müd vom Schlafen...« Das wäre Künstlereitelkeit. Man ließ sie nicht gelten. Maxi wandte sich an seinen Freund, den Kla- vierspieler: »Nejedli, sie sollen mich heut nicht würzen. Ich bin wirklich müd. Falsch geschlafen hab ich...« Aber er fand auch an Nejedli keine Unterstützung. So begann er denn mit seiner kranken und trägen Stimme: »Zwei Juden gehen auf der Gasse. Da kommt ein fesches Weib daher. Sagt der eine, die möcht ich wieder haben. Der andre...« Maxi unterbrach seine Anekdote und sah angestrengt in die Luft. Dann schloß er: »Die Pointe hab ich vergessen.« Und er meckerte in das Gelächter der Korona hinein: »Gut?! W-a-a-s?« Ihm ward aber keine Ruhe gegönnt. Denn, von Doktor Schleißner aufgestachelt, stand jetzt der düstere Präsident More auf und begab sich mit nickenden Würdeschritten zum Klavier: »Ich habe die Ehre, mein Herr! Wollen Sie uns nicht gütigst ein Lied zum besten geben?« 3i Maxi starrte entsetzt die schwarze Erscheinung an: »Sie schauen aus, Herr Präsident, wie Melech ha mowes, der Todesengel!« Der Todesengel ließ sich nicht abschrecken. Maxi, der eine eitle Künstlerseele sein nannte, wand sich: »Du weißt, Nejedli, daß ich nicht bei Stimme bin. Ganz indisponiert bin ich...« Der Präsident ermutigte: »Sie müssen ja nicht >Holde Aida< singen!« Der Herr des Hauses wurde schwach: »Was also soll ich singen?« Die Schlagernamen jener Zeiten tönten durcheinander: >Am Manzanares<, >Die Dessous<, Sigismund^ >Da könnt' man weinen wie ein kleines Kind<. Maxi wählte gerade jenes Couplet, dessen dickflüssige Musik ein kräftiges Organ und leidenschaftlichen Vortrag beanspruchte. Er verständigte Nejedli, räusperte sich minutenlang und aus seinem faltigen Hälschen, das sich spannte, stieg eine leise und quäkende Stimme empor. In dieser Stimme schwang uraltes Mißbehagen, zur weinerlichen Gleichgültigkeit ermüdet. Und die weinerliche Gleichgültigkeit sang, sich immer wieder verha- spelnd: »Er wühlt in der Flut ihres goldblonden Haares, Ihm lächelt ihr Auge, ihr klares, 32 Komm mit mir, du Weib wunderbares Zum Manzanares, zum Manza...« Da begann der große Kopf auf dem dünnen Halse plötzlich zu schwanken und von der knolligen Nase fiel der Zwicker klirrend zur Erde. Maxi kroch zum Gaudium aller wütend unters Klavier und kam erst nach langem Suchen, jammervoll echauffiert, zum Vorschein. Sein gelbes Gesicht war schweißübergossen. Er zeterte: »Jetzt aber hab ich genug! Weil ihr stier seids, soll ich roboten. Da will ich lieber ein schlechtes Geschäft machen. Edith, eine Runde Kognak! Und du, Nejedli, spiel...« Nejedli erhob sich und kündigte an: »Ich werde den Herrschaften die herrliche Arie aus der herrlichen Oper >DieJüdin< zum besten geben.« Ludmilla, die für »traurige Musik« immer zu haben war, trat ans Klavier. Maxi, mit dieser Klientin zufrieden, lallte: »Setz dich mir auf den Schoß, Miltschi!« Ludmilla aber gab die solide Frage zurück: »Warum, Herr Maxi?« Da prüfte sie der Kenner mit Zärtlichkeit von Kopf zu Füßen und stellte den prophetischen Be- fund: »Dir, Schickse, wird man auch noch einmal gnä' Frau sagen müssen!« Nun aber donnerte Nejedli los und sang dazu: »Großer Gott, hör mein Flehn, 33 Hör mein Flehn, großer Gott, Gib mein Kind mir zurück, Gib mir Recha, mein Kind!« »Rosa, Rosa«, korrigierten die Eingeweihten. Nejedli aber schielte giftig über seine Brillen hinweg, ehe er auf verbotenen Umwegen zu Offenbachs Barcarole hinüber modulierte: »Süße Nacht, du Liebesnacht, O stille mein Verlangen!« Maxi begann unruhig zu werden, rutschte auf seinem Sitz, hielt sich die Ohren zu und plärrte auf: »Aufhören, Nejedli! Das kann ich nicht aushalten. Da muß ich weinen wie ein kleines Kind.« Die nun auch von andern Spendern mehrfach wiederholte Kognakrunde hatte ihre Wirkung getan. Die stumpfe Begeisterung und rhythmische Konfusion solcher Stunden fuhr in den Salon. Die meisten Damen hatten sich der dezenten Umwürfe entledigt und tanzten im Hemd. Der Lärm steigerte sich, von einem literarischen Zwist, der plötzlich ausgebrochen war, wesentlich genährt. Zu dem Tisch der Ganzgescheiten, an dem Grete, Schleißner und More saßen, war ein neuer Mann gestoßen, der Statthaltereikonzipist und Dichter Eduard von Peppler. Dem Unglücklichen war das schwere Lebensschicksal zugeteilt worden, die geregelten Pflichten der neunten Rangsklasse mit den verruchten Pflichten eines satanistischen Poeten zu verbinden. Man 34 konnte ihn am besten einen dem k. k. Statthaltereipräsidium detachierten Baudelaire nennen. Herrn von Pepplers Blut geriet durch die Anwesenheit eines jüngeren Schriftstellers am Tisch der Jugend in Siedehitze. Der strebsame Knabe nämlich hatte schon einige Erfolge zu verzeichnen. Peppler schrie, seine Generation hätte das Leben machtvoll gesucht und die Syphilis gefunden, diese neue feige Jugend suche das Leben nicht machtvoll, finde aber Verleger. Er parierte blutrot das ironische Gelächter der jungen Generation: »Ihr seid Bürger! Ihr seid Gemüselyriker! Ihr seid Schiffbrüchige am häuslichen Herd! Pfui, Hausmannskost!« Der Wütende ergriff rechts und links Mores und Schleißners Kognakglas und trank beide leer. Nun aber wollte Doktor Schleißner seinerseits nicht zurückbleiben. Auch er sprang auf und behauptete, daß andere Zeiten kommen müßten, daß die Menschheit zum größten Teil aus »Verdrängern« bestehe und daß im Verdrängen, in der schlechten sexuellen Verdauung das Weltübel liege. Es gäbe nur ein Ziel, die erotische Befreiung! U m gleichsam mit dieser Befreiung den Anfang zu machen, begann er, ungeachtet der Entsetzensblicke des Präsidenten, jenes Lied anzustimmen, das er die >Bundeshymne< nannte und das leider mehr obszön als witzig war: 35 »Solang der Arsch in die Hosen paßt, Wird keine Arbeit angefaßt... « Es muß gesagt werden, daß diese Behauptung im Munde des Sängers Lüge und blanke Renommage bedeutete. Denn der Teilhaber einer stadtbekannten Anwaltskanzlei, Doktor Julius Schleißner, war ein pünktlicher und fleißiger Arbeiter, der außer seinem juristischen auch noch politischen und schöngeistigen Ehrgeiz nährte. Während des laufenden Jahres hielt er sogar in den Ausstellungsräumen des Klubs freier Künstlerinnen einen Vortragszyklus unter dem anregenden Titel: >Der französische Immoralismus von Stendhal bis André Gide.< Nach den Vorträgen pflegte in denselben Räumlichkeiten stets ein Tango-Kursus stattzufinden, und der Künder des Immoralismus beteiligte sich mit feierlichem Ernste an den schmachtenden Verrenkungen dieses Tanzes. Präsident Morè hingegen war weder ein Freund des Tango, noch auch des französischen Immoralismus, und am allerwenigsten ein Freund von nackten Zoten. Er war ein bewährter Goetheaner. Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen bestand darin, in den verschiedensten Ausgaben von >Faust< I und II Druckfehler, Stilvergehungen, Versschlampereien und Gedankenwidersprüche zu erbeuten. - Jetzt aber, durch das schamlose Lied Schleißners verletzt, hielt er verlegen den Kopf gesenkt. Während alles schwankte und lärmte, saß Herr Maxi still und verfallen neben Nejedli, dessen ge- 36 lenkstarre Finger bewußtlos und ohne Erbarmen die Tänze zerhackten. Der Klavierspieler lauschte während seiner Arbeit der knautschenden Rede des Brotherrn. »Du, Nejedli, du mußt wissen, ich schlaf nämlich sehr schnell...« Nejedli nickte, daß er begriffen habe. Maxis Miene aber zeigte den leisen Schmerz eines Mannes, der eine besondere Feinheit nicht deutlich zu machen vermag: »Das mußt du richtig verstehn, Nejedli. Man kann langsam schlafen, man kann gewöhnlich schlafen, man kann schnell schlafen und man kann sehr schnell schlafen. Weißt du, mein Lieber, w a s man in einer Viertelstunde alles zusammenschlafen kann...« Nejedli grunzte zustimmend, aber der Ausdruck seines Verständnisses war nicht überzeugend. Da ging über Maxis Erscheinung ein Schauder hin, ein Fieberschleier, wie eine kaum merkliche Bewegung über trübe Wasserspiegel geht. Seine Augen stierten: »Du wirst es mir nicht glauben, Nejedli. Aber so wahr ich lebe, vorhin hab ich in einer Stunde zehn Jahre zusammengeschlafen, und davon bin ich so müd...« In diesem Augenblick verließ der Baalboth mit knarrenden Stiefeln den Raum. Die Stimmung behauptete noch immer rauschend ihre Höhe. Eine Minute später trat Fräulein Edith in den Salon und begann eifrig mit Ludmilla zu verhandeln. V Es gehörte im Gegensatz zu einem vulgären Etablissement wie >Napoleon< zu den guten Gepflogenheiten des Hauses, daß die Liebesverabredungen nicht schamlos vor allen Augen erfolgten. Die Herren empfahlen sich zum Schein von ihrer Gesellschaft, gaben unbemerkter Weise Edith die Dame ihrer Wahl kund, und die Wirtschafterin vermittelte unauffällig die Schäferstunde, nicht ohne vorher bei zweifelhaften oder unbekannten Gästen die übliche Geldsumme einverlangt zu haben. Doch muß sogleich gesagt werden, daß letzteres nur höchst selten vorkam, denn hier verkehrte ja ausschließlich erste Gesellschaft. Fremde tauchten fast niemals auf, und vor allem war Fräulein Edith Menschenkennerin, die sich auf ihren sicheren Blick verlassen konnte. Ebenso selten, - auch diese Tatsache steht im lebhaften Gegensatz zur niedrigeren Klasse >Napoleon<, ebenso selten gab es Skandal. Natürlich herrschte unter den Pensionärinnen Parteiung, Zwistigkeit, Haß, aber ein ungeschriebenes Gesetz forderte, daß zumindest während der nächtlichen Amtsstunden Freundschaft und Frieden gehalten werden müsse. U m so unerhörter war's, was sich jetzt ereignete. Vor der offenen Tür des Großen Salons erhob sich mit einem Mal ein widerwärtiger Lärm. Die hohle 38 Bierstimme des schwerfälligen Kleinstädters dröhnte, und immer ungemäßer, immer lauter wurde sie für das alte und schon gebrechliche Haus. Zuerst blieb ihr aufbegehrender Schall allein, aber die guten Manieren der Mädchen durften nicht endlos ermüdet werden, denn schon nach kurzer Weile peitschten kreischende Weiberstimmen in den schimpfenden Baß hinein. Wer den sensationslüsternen Auflauf gesehen hat, der sich auf der Straße zusammenrottet, wenn ein altes, todmüdes Pferd niederstürzt, wird ermessen, mit welch süchtiger Neugier hier, an solchem Ort, zu solcher Stunde, alles zusammenlief, um einen schamlosen Krach zu genießen. Selbst die Insassen des Blauen Salons steckten schadenfroh erregte Grimassen durch die Portiere. Die Sache war die: Der alte Agrarier mit der Riesenuhrkette hatte nach Brauch und Fug Ludmilla bei Fräulein Edith zum Dienst bestellt. Vergebens gebrauchte Edith die besten Ausreden, machte die schönsten Gründe geltend, ihre junge Freundin vor der unerwünschten, ja verhaßten Episode zu bewahren. Im stillen verwünschte die Wirtschafterin Oskars Untreue. Unglückliche Liebe allein brachte die Damen auf Abwege, war der Anlaß aller Disziplinlosigkeit und Pflichtversäumnis. All ihr Scharfsinn aber half nichts. Der Baalboth war nicht nur gerieben, sondern höchst verstockt und boshaft. Trotz des Beleidigten regierte ihn. Edith sah keinen Ausweg mehr und mußte Ludmilla stellig machen. Die 39 aber sagte dem Baalboth mit ihrer kältesten Gleichgültigkeit rundheraus ins Gesicht, daß es ihr nicht einfallen werde, seinen Wünschen Folge zu leisten. Damit war der Skandal ausgebrochen. Der wütende Kleinstädter hatte sich bis zum Treppenabsatz zurückgezogen und hielt sich mit der rechten Hand an der goldbronzierten Venus fest, die als Wahrzeichen des Hauses dort postiert war. (Eine halbe Treppe tiefer stand, nicht minder vergoldet, der Trompeter von Säckingen, hatte aber nicht als Wahrzeichen zu gelten.) Die Mädchen keiften durcheinander, die Gäste lachten und die Stimme des Erniedrigten rief unausgesetzt, durch keine Vorhaltung Ediths zu beschwichtigen, nach dem Besitzer. Endlich schleppte sich, von Nejedli gefolgt, Herr Maxi herbei, und es muß gesagt werden, daß er trotz Totenblässe, Körperschwäche und Zungenschlags sich nicht allein geistesgegenwärtig, sondern als ein ritterlicher Vorstand seiner Damen be- nahm. Der Baalboth schrie ihm entgegen: »Herr Besitzer! In was für einem Haus bin ich hier?« Maxi lallte: »Edith, geh hinunter und bring die Hausnummer mit!« Damit ließ der Wütende sich nicht irre machen: »Wenn ich in einen Bäckerladen gehe und eine Semmel kaufen will...« 40 Maxis mattes Quäken unterbrach ihn: »Gehen Sie in einen Bäckerladen und kaufen Sie eine Semmel!« »Wie meinen Sie?« »Wie soll ich meinen?« Der Baalboth zwang jetzt seinem bellenden Baß die milde Ruhe überlegener Dialektik ab: »Herr Besitzer! Nehmen wir an, ein Käufer geht in ein Kaufhaus, und man bedient ihn nicht mit einer Ware, die auf Lager liegt...« Maxi sah den Querulanten schwermütig an und wiederholte seufzend: »AufLager...« Die Geduld war verbraucht. Ein Gebrüll erhob sich jetzt: »Himmelherrgott, länger laß ich mich nicht zum Narren halten! So behandelt man keine anständige Kundschaft. Glauben Sie, es gibt keine andern renommierten Häuser? Es gibt bessere Häuser. Die Tante Pohl in Aussig ist auch nicht ohne. Dort gibt's noch Organisation. Ich mache Sie zum letztenmal darauf aufmerksam: Mein Zug geht um 7 Uhr 35 in der Früh. Ich habe die Absicht, hier in diesem Hause den Rest der Nacht zu verbringen, und zwar mit dem Mädel, das ich bestimme und bezahle!« Maxi wurde auf das Geschrei hin ganz demütig: »Pardon... Herr... Herr... Forstrat... lassen Sie sich dienen! Sind Sie ein Mensch? Natürlich sind Sie ein Mensch. Und ist die Ludmilla ein Mensch? Ein Mensch ist sie! Pardon... Herr... Herr... Weg- 4i inspektor... ein Mensch muß doch begreifen, daß ein Mensch nicht mit ihm gehn will...« Großes Gelächter. Triumphierend wandte sich Maxi zu den Lachenden um: »Gut?! W-a-a-s!?« Ludmilla stand die ganze Zeit über da, als ginge sie die Sache nichts an. Aber jetzt begann die Stimmung umzuschlagen. Die Mädchen erregten sich immer bissiger: Zu viel nahm sich diese Hochmütige heraus. Edith sah ängstlich umher und überlegte, wie dem drohenden Sturme zu begegnen sei. Die Parteien begannen sich zu trennen, Haß und Neid waren nicht länger zu bändigen, alle Selbstbeherrschung schien abgekämpft. Plötzlich pflanzte sich Ilonka, die dicke Ungarin, breit vor Ludmilla hin: »Sag, wozu bist du eigentlich eine Hur?« Grete fuhr ekstatisch dazwischen: »Laß sie! Haben wir nicht auch Menschenrechte?« »Menschenrechte«, replizierte eine Stimme. Ilonka wurde immer gehässiger: »Wenn das jede täte!? Ein Geschäft wär das! Noch besser! Sich die Gäst' aussuchen. Für mich ist es auch nicht immer ein Vergnügen!« Ludmilla sagte still: »Für dich ist es immer ein Vergnügen.« Grete, mit ihren überspannten Ideen, verschlimmerte zum Entsetzen Ediths die Situation: »Schämt ihr euch nicht!? Ludmilla hat recht. Wir müssen uns die Freiheit erobern...« 42 Dieser hochtrabende Satz, mehr als die Widerspenstigkeit Ludmillas, erbitterte die Damen aufs höchste. Sie haßten in der Berlinerin die hochfahrendste aller Überheblichkeiten, die der Bildung. Ilonka schrie: »Auf dich haben wir gewartet, du Meschuggene!« Grete machte ihr zimperlichstes Gesicht: »Ich kann nichts dafür, daß ich lesen gelernt habe. Jeder kann nicht im Schweinestall aufgewachsen sein.« Und nun geschah das Unglück. Denn Ilonka stürzte sich auf Grete und schlug mit ihrer kleinen, fetten Faust der Langen ins Gesicht. Sogleich war die Schlacht im Gange. Schon wälzten sich einige Ringerinnen auf der Erde. Die seidenen Hemden rissen an vielen Stellen und das pralle Fleisch fürwitziger Weiblichkeiten wölbte sich vor. Manja, das plumpe Mädchen aus Rokycan streifte kurzerhand das Hemd vom Leibe, ehe sie sich mit freudigem Aufschrei unter die Raufenden warf. Auch im Zorne blieb sie eine gute Wirtin. Dann erst schlug sie wie eine Furie nach allen Seiten, gleichviel wen sie traf. Die Rache der Totengräberstochter galt der ganzen Bande. Gewissenlos schürten ein paar rohe Wüstlinge um dieses Anblicks willen das Feuer des Kampfes. Der Urheber des Streites aber, der Baalboth, suchte keuchend in Ludmillas Nähe zu gelangen, um sie mit Gewalt sich zu unterwerfen. Der Geschickten jedoch war es gelungen, unversehens zu entwischen. Das unbezahlbare Schauspiel, das auf dem Trep- 43 pengang zwischen dem Großen und Blauen Salon hin und her wogte, regte die Herren äußerst an. Doktor Schleißner wieherte beseligt. Der Statthaltereibeamte und Satanist Peppler trug Weltuntergangsentzücken in den aufgerissenen Augen und hußte derangierte Kämpferinnen zu neuen Taten auf. Einzig der Leutnant Kohout und Präsident More verließen die Walstatt. Der Leutnant gedachte der Vorschrift, die Offizieren befahl, ihre Person ehrlosen Vorgängen tunlichst zu entziehn, und auch More hatte eine Berufsehre zu wahren. Beide Herren zogen sich stumm zum Klavier zurück. Nejedli hingegen war einer der wenigen, die sich bemühten, die ineinander verbissenen Weiber zu trennen. Er keuchte vor Anstrengung, sein Katerl hatte sich verschoben und die genähte Krawatte hing zur Seite. Edith starrte verzweifelt, Maxi angedonnert auf den Kampf. Etwas Ähnliches hatte sich hierorts noch niemals begeben. Bisher waren sich die Damen trotz aller Zwischenfälle und Zwiste der Würde des erstklassigen Etablissements immer bewußt geblieben. Wer weiß, welches Ende der Aufruhr genommen, wenn nicht in derselben Minute der Blitz eines gewaltigen Ereignisses auch in dieses Haus geschlagen hätte. Plötzlich, wie aus der Erde gewachsen, stand der Bote da, eine Ordonnanz des sechsten Dragonerregiments. Wenn sonst aus irgend einem Grund ein Abgesandter der Staatsmacht hier erschien, ein Herr 44 von der Sanitätsbehörde etwa oder ein Polizeibeamter, wußte er seine Anwesenheit diskret zu verbergen. Dieser Soldat aber, ein blonder tschechischer Bauernjunge, trat groß und unvermittelt auf die wüste Szene. Mitten im Hexentanz stand er da und riß in die schweiß geschwängerte, rauchdicke Atmosphäre einen Wirbel von rotbäckig-frischer Luft. Wahrhaft feldmäßig wirkte der Soldat in Dienstmontur, mit Helm, Patronentasche, Pallasch und großen Sporenrädern ... Im Nu brach die Rauferei ab. Die Damen brachten sich eilig in Ordnung, als wäre nichts geschehn. Tiefe Stille klaffte plötzlich. Jeder fühlte Schicksal. Selbst in Maxis windverwehte Gestalt kam regeres Leben. Er führte persönlich den Boten, wohin er geführt zu werden forderte. Zwei Minuten später klirrten hastige Kavalleristenschritte über den unteren Flur und die Haustür schlug zu. Langsam, stier und ohne Atem klomm Maxi die Treppe hinan. Er greinte unverständliche Klagen. Nach und nach erst brachte man die Schreckensbotschaft aus ihm heraus: Der Thronfolger war in Sarajewo ermordet worden. Niemals noch hatte sich das angesehene Haus in der Gamsgasse schneller geleert als zu dieser Nachtstunde. Es zeigte sich, daß der dionysische Überschwang, der leichtsinnige Rausch des Großen Salons zu beträchtlichem Teil erlogen war, so schnell fanden die Herren in ihre Haut zurück. Herr Doktor Schleiß- 45 ner, der geistreiche Nachtkorsar, verwandelte sich in einen ernsthaften Menschen, der voll Besorgnis - er war Reserveoffizier-der Zukunft entgegensah. Herr Präsident More streifte die leichte Nachlässigkeit ab, die er in den letzten Stunden wie ein Stäubchen auf seinem R o c k geduldet hatte. Vorwurfsvoll murmelte er: »Das kommt davon, wenn man abends ausgeht.« Wie er das meinte, in welchen bitteren Zusammenhang er die Katastrophe mit dem leichtfertig verlebten A b e n d brachte, das blieb dunkel. Der B aalboth war es seinem Stolz nicht mehr schuldig, auf Ludmillas Diensten zu bestehn. Leutnant Kohout und die beiden Freiwilligen machten entschlossene Gesichter, als wäre es ihre Aufgabe, einem Kriegsgericht vorzusitzen. Herr von Peppler hüllte sich romantisch in seinen Regenmantel und schloß, eifrig kommende Dinge kündend, Frieden mit der jungen Generation. Alles drängte die Treppe hinab. Man wollte die Zeitungsredaktionen aufsuchen, um den wahren Hergang der Tragödie zu erfahren. Dem Hauptschwall der Gäste huschten, schattensuchend, noch einige verlegene Gestalten nach, die entweder eine zartere Reputation oder ein ausgesprochenes Eheglück zu verlieren hatten. Im verlassenen Salon saß der Chef des Hauses allein neben NTejedli. Ganz zusammengefallen hockte er auf der Klavierbank. Das Furchtbare schien er wieder vergessen zu haben, denn er lallte: »Soll ich schlafen gehn, Nejedli?« Der Klavierspieler gähnte: 46 »Gehn Sie nur schlafen, Herr Maxi, heut kommt eh' keiner mehr.« Ein entsetzter Blick traf den Alten: »Aber ich schlaf zu schnell, Nejedli, vorhin hab ich zehn Jahre zusammengeschlafen... Ich hab Angst vor dem Schlafen, Nejedli...« Nejedli gab keine Antwort mehr, denn er war damit beschäftigt, alle Kognakreste in ein Wasserglas zu schenken, das er mit sinnigem Bedacht leerte. Als er aber nichts Trinkbares mehr vorfand und den Chef mit geschlossenen Augen sitzen sah, strich er das Musikgeld vom Teller und schlich auf Zehenspitzen, stöhnend, davon. Er hörte nicht mehr die ängstliche Frage, die ihm nachlallte: »Soll ich schlafen gehn... Nejedli... ?« Der Große Salon war voller Umsturz. Zerbrochene Gläser bedeckten den Boden, umgefallene Stühle versperrten den Weg, überall dunstete vergossener Wein, Kaffee, Schnaps. Schmutziges Gewölk stand in der Luft. Maxi blinzelte in die Verwüstung. Er holte tief Atem, als wollte er Edith rufen und befehlen, daß die Ordnung wieder hergestellt werde. Ohnmächtige Zornfalten zerschnitten plötzlich seine Stirn. Aber er schnappte nur nach Luft und kein Ruf kam über seine schlaffen Lippen. Endlich stand er auf und schwankte aus dem Zimmer. Lange noch war sein tappender und scharrender Schritt zu hören, ehe er oben in der Mansarde verschwand. Als der Lärm der letzten Gäste draußen in der 47