Dort wurde es durch Filtern und Erhitzen verfeinert und in Flaschen abgefüllt, die sich Engelhardt von der allgegenwärtigen Forsayth & Compagnie geliehen hatte. Ab und an ankerte draußen, vor dem weil', bebrandeten Bogen des Riffs, ein Frachtschiff und nahm die unverarbeitete Kopra an Bord. Seine Arbeiter be ■ zahlte Engelhardt wie versprochen pünktlich. Anfangs verlangten sie, daß er ihren Lohn in Muschelgeld oder Tabak ausbezahle, später, als sie erfuhren, was man sich in Herbertshöhe alles anschaffen konnte, mußte es die Mark sein. Um kein deutsches Geld auf seinem Eiland verstecken zu müssen, stellte er ihnen einfache Schuldscheine aus, die er signierte und ihnen zur Einlösung in der Hauptstadt anempfahl. Und alle zwei Monate fuhr er im Wickelrock selbst hinüber und bezahlte, unter den mißbilligenden Blicken der weißgekleideten Pflanzer und ihrer Gattinnen, die Schulden seiner Arbeiter. IV Wann tauchte unser Freund eigentlich das erste Mal an die Oberfläche der Weltenwahrnehmung? Allzu wenig ist über ihn bekannt, doch blinken im Erzählstrom, hell unter Wasser blitzenden, flinken Fischen gleich, Personen und Ereignisse auf, deren Existenz er sozusagen flankiert, als sei Engelhardt eines jener kleinen Wesen, die man Labrichthyini nennt, die anderen, größeren Raubfischen die Haut putzen, indem sie sie von Parasiten und Schmutz befreien. Wir sehen ihn, abermals in einem Zuge etwa, nun aber von - Augenblick — von Nürnberg nach München reisend, dort hinten ist er doch, stehend, dritter Klasse, die schmale, für sein junges Alter schon recht sehnige Hand auf einen Wanderstock gestützt. Das alte Jahrhundert neigt sich unwirklich rasch seinem Ende zu (eventuell hat das neue Jahrhundert auch schon begonnen), es ist fast Herbst, Engelhardt trägt, wie allerorten in Deutschland, wenn er nicht nackt ist, -76- -77- ein langes, helles, baumwollenes Gewand und römisch anmutendes, geflochtenes, nicht aus Tierleder gefertigtes Schuhwerk. Seine Haare, beiderseits des Antlitzes offen getragen, reichen hinunter bis zum Sternum, über den Arm trägt er einen Weidenkorb mit Äpfeln und Pamphleten darin. Kinder, die in der Eisenbahn mitfahren, ängstigen sich erst vor ihm, verstecken sich, ihn beobachtend, auf der Plattform zwischen den Waggons der zweiten und dritten Klasse, dann lachen sie ihn aus. Ein Mutiger bewirft ihn mit einem Stück Wurst, verfehlt ihn aber. Engelhardt liest geistesabwesend murmelnd in einem Fahrplan die ihm noch aus Kindertagen vertrauten Namen der Provinzstädte und blickt dann wieder geradeaus auf die vorbeisausende bayerische Landschaft, irgendein Feiertag ist heute, die durchschnellten Landbahnhöfe sind sämtlich mit schwarzweißroten Wimpeln fidel beflaggt, dazwischen hängt das weniger martialische, helle Blau seiner Heimat. Engelhardt ist kein politisch interessierter Mensch, die großen Umwälzungen, die das Deutsche Reich in diesen Monaten durchmißt, lassen ihn völlig kalt. Zu weit entfernt schon hat er sich von der Gesellschaft und ihren kapriziösen Launen und politischen Moden. Nicht er ist der Weltfremde, sondern die Welt ist ihm fremd geworden. Im vormittäglichen München angekommen, besucht er in Schwabing seinen Genossen Gustaf Nagel, langhaarig wandeln sie, in Leinentücher gewickelt, unter dem lauten Spott der Bürger über den spätsommerlichen Odeonsplatz. Ein besäbelter Gendarm überlegt kurz, ob er sie festnehmen soll, entscheidet sich dann aber rasch dagegen, er will sein Glas Feierabendbier nicht durch zusätzliche Schreibarbeit schal werden lassen. Die Feldherrnhalle, jene florentinische Parodie dort drüben, kaum eines Blickes gewürdigt, steht mahnend, ja beinahe lauernd im spektralen Münchner Sommerlicht. Nur ein paar kurze Jährchen noch, dann wird endlich auch ihre Zeit gekommen sein, eine tragende Rolle im großen Finsternistheater zu spielen. Mit dem indischen Sonnenkreuze eindrücklich beflaggt, wird alsdann ein Meiner Vegetarier, eine absurde schwarze Zahnbürste unter der Nase, die drei, vier Stufen zur Bühne ... ach, warten wir doch einfach ab, bis sie in äolischem Moll düster anhebt, die Todessymphonie der Deutschen. Komödiantisch wäre es wohl anzusehen, wenn da nicht unvorstellbare Grausamkeit folgen würde: Gebeine, Excreta, Rauch. Nichtsahnend sonnen sich Nagel und Engelhardt Beine und Schenkel, die Gewänder hochgerafft, eine Weile von müden Bienen umsummt, im Englischen Garten, hernach fahren sie gemeinsam nach Murnau hinaus, südlich der Tore Münchens gelegen, und suchen dort, es wird Abend, einen befreundeten Land- es - -79- wirt auf, der es sich in den vierschrötigen Kopf gesetzt hat, den ganzen lieben Sommer lang die bäuerlichen Arbeiten nackend zu verrichten. Mahagonibraun steht er vor ihnen am Gatter, hutlos, vor Muskelkraft strotzend, schon reicht er den beiden schmächtigen Studierten zum Gruß die kräftige Pranke. Obgleich bereits September, zieht man sich die Gewänder aus, nimmt Platz am einfachen Holztisch vor dem Hof, die brave Ehefrau des Bauern bringt ihrem Mann Brot, Fett und Schinken und den beiden Besuchern Äpfel und Trauben, beim Aufdecken pendeln ihre nackten Brüste wie schwere Kürbisse über dem Tisch. Eine Magd, ebenfalls nackt, tritt auf Einladung des Bauern hinzu. Unser Freund legt ein paar Pamphlete hin, man erfreut sich an der Gemeinsamkeit der Sonnenfreunde, ißt von den Früchten, im Baum über ihnen singt fröhlich ein Pirol. Sogleich spricht Engelhardt von der Kokosnuß, die freilich weder der Landmann, seine Frau noch die Magd jemals gekostet oder gesehen haben. Er kündet von der Idee, den Erdenball mit Kokos-Kolonien zu umringen, spricht, sich von seinem Sitz erhebend (denn seine fast pathologische Schüchternheit verfliegt, wenn er als Rhetor vor offenen Ohren seine Sache vertritt), von der heiligen Pflicht, dereinst im Palmentempel nackend der Sonne zu huldigen. Nur hier — und er weist mit ausgestreckten Armen um sich — ginge es lei- der nicht, zu lang der menschenfeindliche Winter, zu eng die Stirnen der Philister, zu laut die Maschinen der Fabriken. Engelhardt steigt von der Bank auf den Tisch und wieder herab, sein Credo hinausrufend, daß lediglich die Länder unter ewiger Sonne überleben werden und dort nur diejenigen Menschen, die die heilsamen und segensreichen Strahlen des Zentralgestirns vom Bekleidungsstoff ungehindert über Haut und Haupt streicheln lassen. Einen guten Anfang hätten die Brüder und Schwestern gemacht, aber sie müßten doch bitte ihren Hof verkaufen und ihm nachfolgen, aus dem Bayernland wie weiland Moses aus Ägypten, und Schiffspassagen buchen zum Äquator hin. Ob es denn Mexiko oder gar Afrika sein soll, will Nagel wissen, während das Bauernpaar sich andächtig lauschend weitere Brote schmiert. Engelhardt ist, bemerkt Nagel, besessen von seinen Ideen; sie sind wie ein kleiner, mit spitzer Zahnreihe reißender Dämon, der von ihm Besitz ergriffen hat. Er fragt sich kurz, ob Engelhardt wohl noch ganz bei Trost ist. Mexiko — nein, nein, die Südsee muß es sein, nur dort kann, nur dort wird ein Anfang gemacht werden. Hoch in den weiß-blauen Himmel stechend schnellt der Zeigefinger, hinab auf den Holztisch hämmert Engelhardts schmales Fäustchen. Obwohl das blendende Sfumato seiner Ideenwelt mit großem demagogischen Können aufgetragen wird, bleibt, so scheint es, wenig hängen -80- -81 - beim braven Bauernpaar, zu wild winden sich die Serpentinen der Engelhardtschen Phantasie. Später dann, des Nachts, im Heuschober, in dem es nach dem Staub des langen Sommers duftet, liegen Nagel und Engelhardt nebeneinander, im Flüsterton diskutierend, Pläne schmiedend und wieder verwerfend, und Nagel merkt, wie sehr er den Nürnberger schätzt und um wieviel radikaler als seine eigenen doch dessen Gedanken in die Welt hineindrängen. Eine Katze mault droben in der Dunkelheit des Gebälks. Nagel überlegt ernsthaft, seinem Freund in die Kolonien nachzufolgen, dafür spräche, daß der jahrelang ertragene Spott, der täglich über ihm ausgegossen wird, ihm langsam das Gemüt zu zerdrücken droht, er zu zweifeln begonnen hat an der Richtigkeit seines Handelns und Engelhardt ihm mitsamt seiner Besessenheit wie ein Führer erscheint, der kraft seines Leuchtens ihn, Nagel, aus der düsteren Wüstenei Deutschlands in ein lichtes, sittliches, reines Land zu leiten verstünde, nicht nur metaphorisch, sondern in realitas — aber andererseits, und Nagels Anima erblickt schon die Pforten des Schlummerlandes, ist er auch schlicht und einfach zu faul, sich einmal rund um den Erdenball zu begeben, um am anderen Ende der Welt ein neues Deutschland zu erschaffen. Nein, er wird, sinniert er, kurz bevor das Schattenreich ihn empfängt, fortan seinen Namen klein schreiben, überhaupt auf Groß- und Kleinschreibung verzichten, alles immer klein schreiben, so: gustaf nagel. Das soll seine Revolution sein, dann kommt der Schlaf. August Engelhardt wird nun weit im Norden wiedergesehen, Berlinwärts reisend, er hat sich von Gustaf Nagel in inniger Verbundenheit am Münchner Hauptbahnhof getrennt, beide haben jeweils die Unterarme des Gegenübers ergriffen. Nagel rät ihm noch, die Reise nach Preußen doch aus ideologischen Gründen per pedes zu unternehmen, doch Engelhardt erwidert, er müsse Zeit sparen, da er in der Südsee noch so viel vorhabe, und sollte sein Freund es sich doch noch anders überlegen, er ihm immer und aufs Allerherzlich-ste willkommen sei. Engelhardt, der nun das Kaiserreich mit Schnellzügen durchmißt, überlegt es sich kurz vor Berlin ebenfalls anders, umfährt links jenen gigantischen, monströsen Ameisenhügel und besteigt eine Bahn nach Danzig, auf Holzbänken schlafend, geduldig Verbindungen abwartend, abermals umsteigend, immer wieder, erreicht dann Königsberg, Tilsit, fährt nun wieder nordwestlich, Richtung Kleinlitauen. Dort, vom Zug im ostpreußischen Memel ausgespuckt, Stab und Beutel geschultert, spaziert er, das trübe backsteinerne Städtchen verlassend, durch vom Nordwind durchpustete Birkenhaine, kauft Johannisbeeren und Pilze von einem sich bekreuzenden rus- -82- -83- sischen Mütterlein, das ihn in seinem Büßergewand für einen der Orthodoxie abtrünnigen Molokanen hält, nimmt die schlanke, milchig-weiße Holzkirche, die drüben den Anfang des Haffs markiert, in Augenschein, marschiert südlicherweise auf die Nehrung, weiter wandernd sich fragend, ob vielleicht hier des Deutschen Seele herstamme, hier, von jenem unendlich melancholischen, einhundert Kilometer langen, sonnenbeschienenen Dünenstrand, an dem er sich, etwas scheu zuerst, dann zunehmend selbstsicher auszieht, sein Gewand und seine Sandalen in eine Sandmulde legt (es ist nun früher Abend) und, sich und seine Nacktheit vor einem in einiger Entfernung schlendernden, in feines weißes Tuch gekleideten Sommerfrischlerpaar verbergend (er Redakteur des Simplicissimus, leicht ironischer Zug am Munde unterm Schnauzbart, gestikulierend, sie freigeistige, ihm nickend zustimmende Mathematikerstochter in selbstentworfenem Kleide), nun bis lange nach Verschwinden des Paares und dem Herabsinken der Dunkelheit hinaus aufs baltische Meer starrt, den Plan, für immer und alle Zeiten in die Deutschen Überseegebiete im Stillen Ozean zu reisen, langsam in sich reifen lassend wie ein Kindlein, das aus farbigen Holzklötzchen ein immenses Schloß zu bauen sich angeschickt hat. Niemals zurückzukehren, nimmermehr. Eine traurige litauische Melodie verweht noch über der Nehrung, un- nahbar wie die am Firmament blaß blinkenden Sterne und doch unermeßlich vertraut, lieblich und heimelig: Wuchsen einst fünf junge Mädchen schlank und schön am Memelstrand. Sing, sing was geschah? Keines den Brautkranz wand. Keines den Brautkranz wand. Des Morgens kommen drei Polizisten mit Säbeln und zementieren Engelhardts Entschluß. In Memel hat noch am Abend der Redakteur, der den Nudisten am Strand sehr wohl gesehen, Anzeige erstattet. Da liege ein langhaariger Vagabund in den Nehrungen herum, splitterfasernackt, kaum drei Kilometer südwärts den Dünenstrand hinunter. Der Redakteur habe seine Verlobte geschickt in einiger Entfernung um den Delinquenten herummanövriert, sie im entscheidenden Moment abgelenkt, indem er ihr eine Schar Zugvögel oder dergleichen am Horizont gezeigt habe, und es wäre doch ein Ding der Unmöglichkeit, man müsse ihn festnehmen, nein, betrunken sei er nicht erschienen. Engelhardt erwacht, lugt aus der windgeschützten Kuhle, die er sich am Abend noch gegraben, und sieht drei Stiefelpaare vor sich stehen, in denen Uniformho-sen stecken, leicht fröstelt in ihm noch die Sommernacht, man wirft eine zerlumpte Decke hin und befiehlt in barschestem, litauisch gefärbten Kommandeurston, ihnen nach Memel zu folgen, der Lorbas sei unter Arrest gestellt, Erregung öffentlichen Ärgernisses sei noch das Geringste, weswegen man ihn anzuklagen gedenke. -84- -85- Einer der Gendarmen, er ist nicht der Hellste, stellt Engelhardt, kaum hat sich dieser berappelt, die kratzende Armeedecke umgewickelt und ist aufgestanden, ein bestiefeltes Bein, so daß er stolpert und erneut nach vorne in den Sand fällt. Boshaftes Gelächter. Im Grunde sind alle drei nicht die Hellsten. Als er so vor ihnen am Boden liegt, steigt ihnen eine animalische Lust an der Unterdrückung zu Kopfe (denn es sind beflissentliche deutsche Untertanen), sie beginnen ihn zu treten und mit Fäusten zu bearbeiten, der Anführer schlägt ihm mit dem Säbelknauf auf den Rücken, da Engelhardt sich zu einem Knäuel zusammengerollt hat, um den Schlägen zu entgehen. Er flüchtet sich in eine weiß schäumende, surrende Ohnmacht. Nachdem sie ihn ins säubernde Meer getaucht haben, da ihnen mit einem Mal bewußt wird, daß sie Unrechtes begehen und Engelhardt sich nicht mehr rührt, kämmen sie ihm die zerzausten Haare, wischen das immer noch austretende Blut von Mund und Nasenlöchern, ziehen ihm Kittel und Sandalen an, die sie unweit der Sandkuhle entdecken, und verbringen ihn (halb wird er getragen, halb läuft er selbst) auf die Wache nach Me-mel, wo er, der Landstreicherei und der Unsittlichkeit angeklagt, eine durchaus qualvoll zu nennende Nacht auf einer harten Holzbank verbringt, mit einem Auge stundenlang die hintersten Deckenwinkel der Arrestzelle vermessend (das andere Auge ist zugeschwollen). Der Redakteur und seine Braut sind noch tagsüber Richtung München abgereist, der Vorfall ist schon fast vergessen, man sitzt sich im Speisewagen des angrenzenden wagon-lit gegenüber, die eisenbahnbedingten Flecken einer in leichtem Ubermut bestellten, ganzen Flasche Trollinger färben das Tischtuch violett, die Konversation verläuft nicht eben fließend, sei es aus Müdigkeit oder gar aus bereits jetzt antizipierter, nach Jahren der Ehe einsetzender Langeweile. Der Blick des Redakteurs fällt leicht unenthusiasmiert nach links, durch die sich verdunkelnde, von Minute zu Minute spiegelähnlicher werdende Zugscheibe hinaus, auf die verblassende ostpreußische Ebene, und er wird plötzlich der fast knabenhaft schmalen Schultern des gestern am Strande liegenden, nackten jungen Mannes gewahr, und er erkennt in diesem Augenblick den eigentlichen Grund, weswegen er Anzeige erstattet hat, und daß sein gesamtes zukünftiges Leben von einer schmerzhaften Selbstlüge überlagert sein wird, sein muß, deren Gewaltigkeit alles verfärben wird bis zu seinem Todestag — die noch ungeborenen Kinder, die Arbeit (denn in ihm reifen mehrere Romane), das jetzt noch amüsierte Verhältnis zum Ideal seiner eigenen Bürgerlichkeit und die nun schon einsetzende Abscheu vor den auf dem Speisewagentisch gefalteten, in eleganter Ruhe liegenden Händen seiner geduldig lächelnden Verlobten, die ihrerseits in jahrzehntelanger -86- -87- Ahnungslosigkeit verharren wird, obgleich natürlich ihr eigener Hang, sich mit einer gewissen Unweiblich-keit zu geben und zu kleiden, der jungen Frau vielleicht jetzt schon, am Anbeginn ihrer Beziehung, einen Anhaltspunkt vis-ä-vis den tatsächlichen Neigungen ihres Anversprochenen hätte geben können. August Engelhardt kommt am Nachmittag des nächsten Tages frei; eine Abordnung von Bürgerrechtlern hat den weiten Weg aus Danzig nicht gescheut, unter ihnen befindet sich ein am Leipziger Reichsgericht zugelassener Advokat, der, sich zur Arrestzelle Zugang verschaffend, lediglich einen kurzen Blick auf Engelhardt und seine Blessuren wirft und sofort den Memeler Schutzmännern eine mit erboster Donnerstimme vorgetragene Philippika um die Ohren dröhnt: Sie könnten froh sein, wenn sie sich am Abend noch im Amt befanden und nicht schon in Ketten, entehrt und ihren Uniformen für immer entsagt, unterwegs in ein Verlies des speziellen Polizeipurgatoriums (wo auch immer sich dies befinden möge). Die vollends überforderten Gendarmen flattern aufgeregt durch die Amtsstube, verschiedenfarbige Papiere und Durchschläge wehen umher, jener Konstab-ler, der Engelhardt am Strand zuerst das Bein gestellt, salutiert gar dem Advokaten untertänigst, als sei der seine Majestät der Kaiser persönlich. Sie beeilen sich, Engelhardt sofort freizugeben, fast tragen ihn dann die Bürgerrechtler auf Händen aus der Memeler Wache, Vivat! rufend, Freiheit! und Nieder mit der Gewalt! Eine Ansammlung Bürger findet sich auf dem Marktplatz zusammen, fünfzig, sechzig sind es wohl, deren Zahl um einiges größer aussieht, als sie in Wirklichkeit ist, und während der Bericht von der Mißhandlung des Einsiedlers von Ohr zu Ohr weitergegeben und mit jedem neuen Erzählen minimal verändert wird, so daß schlußendlich die Nachricht geht, ein auf der Durchreise befindlicher katholischer Pfarrer aus Avignon sei in örtlicher Polizeigewalt gefoltert worden und daß der inzwischen herbeigeeilte Bürgermeister bereits tatsächlich in Tilsit um Ablösung und Ersatz für die inzwischen untragbar gewordene Memeler Gendarmerie ersucht habe. Engelhardt ist in ein Erster-Klasse-Abteil der Preußischen Staatsbahn manövriert worden, dort hat man ihn auf kühlende Laken gebettet, zwei Daunenkissen unter den Kopf geschoben und, nachdem er mit angewiderter Geste die frische Kuhmilch verweigert, die ihm der mitreisende Arzt fürsorglich gereicht, ihm einen Schoppen naturtrüben Apfelsaft zu trinken gegeben, während eine einnehmende und auf ihre Art durchaus auch anmutige, friesische Bürgerrecht-lerin (im sich über ihren gewaltigen Busen wölbenden, gestärkten Kittel) ihm den erschlafften Handrücken tätschelt. Sie riecht, so dünkt es Engelhardt, -88- -89- leicht säuerlich, vielleicht ist es aber auch nur das verschmähte, ruckelnde Glas Milch, drüben in der Ecke des Abteils, in dessen konvexer Opazität sich gar nichts spiegelt. Ich glaube nicht, daß er jemals einen Menschen wirklich geliebt hat. Berlin ächzt unter einem nun schon Wochen andauernden Hochdruckgebiet, das sich, vom Türkischen Reich kommend, durch Zentraleuropa hochschiebend dergestalt knebelnd über die Stadt gelegt hat, daß eine gegen das Hitzediktat meuternde Bevölkerung Eiswagen kapert, man nasse Handtücher auf dem Kopf trägt und Löschfahrzeuge zum Zoologischen Garten abkommandiert werden, um dort die vor Hitze und Durst heulenden Tiere mit Schläuchen zu beduschen. Als Engelhardts Danziger Zug jedoch im Schlesischen Bahnhof einfährt, ist es, als stecke man eine Nadel in einen Luftballon; binnen Minuten platzt die Hitzeblase, türmende Wolken ziehen herauf, stapeln sich über der Stadt, augenblicklich gießt und schüttet es in ungeahnten, schier unmöglichen Fluten. Wasserströme purzeln in Kaskaden herab, der Regen ist stellenweise so undurchdringlich, daß er wie eine aquatische, feste Wand die Häuserfronten an den Straßenecken miteinander vereint, ein Regenschirm aus leichtem Musselin nutzt da herzlich wenig, man hüllt sich in schwarz gummierte Regencapes (deren für die Lackierung benötigtes Kautschuk samt und sonders aus den bestiali- schen Sklavenpflanzungen Belgisch-Kongos importiert wird) und schreitet, schräg stolzierenden Krähen gleich, gegen den prasselnden Regen, der bald von seitwärts weht, bald von oben schüttet, bald von hinten anschiebt. Die Stadt ist eine einzige Baustelle, mannstiefe Löcher verhindern das geordnete Vorwärtskommen, nun laufen diese auch noch mit Brackwasser voll. Sibirische Händler bieten ihren durchnäßten Tand auf dem Alexanderplatz an, dort gibt es auch eine äußerst preiswerte, meist aus Abfällen und schimmligem Mehl bestehende Bratwurst, die im Regen sofort zerfällt. Die Elektrische schiebt sich ächzend und funkenschlagend an anständigen Bürgern vorbei, die, aufs Trittbrett springend, den allerheftigsten Schauern zu entkommen suchen; himmelwärts reckende, triefende, eiserne Kräne allerorten — so empfängt ihn Berlin, jene in den märkischen Sand eingerammte, Reichshauptstadt spielende Provinzmetropole. Nachdem er erfahren hat, daß Silvio Gesell, den er hier in Berlin um Rat zur Gründung einer geldfreien, vegetarischen Gemeinschaft angehen wollte, inzwischen nach Argentinien ausgewandert ist, entkommt Engelhardt der kleinen Schar seiner Befreier im Gewu-sel des Schlesischen Bahnhofs, springt in einen Pferdeomnibus und entledigt sich der Verbände, die ihm das halbe Augenlicht genommen. Er kann wieder sehen, sehr gut sogar, trotz des Regens. Und sein Entschluß -90- -91 - I steht fest: dieser vergifteten, vulgären, grausamen, vergnügungssüchtigen, von innen heraus verfaulenden Gesellschaft, die lediglich damit beschäftigt ist, nutzlose Dinge anzuhäufen, Tiere zu schlachten und des Menschen Seele zu zerstören, adieu zu sagen, für immer, das wird er tun. Ein paar Haltestellen weiter, am Alexanderplatz, lehnt ein durchnäßter Berliner an einer Hauswand und ißt, mesmerisiert kauend, eine jener labberigen Bratwürste. Das gesamte Elend seines Volkes steht ihm ins Gesicht geschrieben. Die überfettete, gleichgültige Trostlosigkeit, das graue Lamentat seiner borstig geschnittenen Haare, die öligen Wurstsprenkel zwischen seinen groben Fingern — eines Tages wird man ihn so malen, den Deutschen. Engelhardt, ebenso hypnotisiert, fixiert ihn, während der Omnibus durch die Wasserwand vorbeirattert. Für eine Sekunde ist es, als ob ein glühend heller Strahl die beiden verbindet, Erleuchteter und Untertan. V Da wir uns nun bemüht haben, von der Vergangenheit unseres armen Freundes zu erzählen, werden wir im Folgenden also, einem ausdauernden und stolzen Seevogel gleich, dem das Überfliegen der Zeitzonen unseres Erdenballs vollends konsequenzlos erscheint, ja diese weder wahrnimmt noch darüber reflektiert, einige Jähr-chen überspringen und August Engelhardt dort wieder aufsuchen, wo wir ihn vor einigen Seiten verlassen haben; splitternackt am Strande spazierend, an seinem eigenen Strand wohlgemerkt, sich hier und da bückend, ein besonders reizvolles Muschelexemplar auflesend und es in einen Sammelkorb aus Bast gleiten lassend, den er zu diesem Zweck über die Schulter geworfen hat. Das Zeitgesetz des Deutschen Reiches, vor einem guten Jahrzehnt in Berlin verabschiedet und sinnigerweise am 1. April, kurz vor Jahrhundertwechsel, in Kraft getreten, sorgte dafür, daß im ganzen Mutterland eine einheitliche Zeit von den Uhren der deut- -93