Aus der Werkstatt Mein Freund erzählte: Während ich als zweiter Lehrling in der mechanischen Werkstatt war, gab es einmal einen merkwürdigen Tag in unsrer Bude. Es war gegen Anfang des Winters, an einem Montag, und wir hatten alle drei schwere Köpfe, denn am Sonntag hatte ein Kollege aus der Gießerei seinen Abschied gefeiert, und es war spät geworden und hoch hergegangen mit Bier und Wurst und Kuchen. Jetzt am Montag standen wir schläfrig und verdrossen an unsern Schraubstöcken, und ich weiß noch, wie ich den zweiten Gesellen beneidete, der eine große Schraubenstange auf der englischen Drehbank laufen hatte; ich sah oft zu ihm hinüber, wie er an der Schiene lehnte und blinzelte und so halb im Schlaf die bequeme Arbeit tat. Zu meiner Qual hatte ich eine heikle Beschäftigung, das Nachfeilen von blanken Maschinenteilen, wobei ich jede Minute den Kaliber brauchte und beständig mit ganzer Aufmerksamkeit dabei sein mußte. Die Augen taten mir weh, und meine Beine waren so unausgeschlafen und weich, daß ich fortwährend den Stand wechselte und mich oft mit der Brust an den oberen Knopf des Schraubstockhcbels lehnte. Und den andern ging es nicht besser. Einer hieb an einem Eisensägenblatt schon dreiviertel Stunden, und Fritz, der Jüngste, hatte soeben den Meißel, den er schärfen wollte, in den Schleifsteintrog fallen lassen und sich die Finger dabei aufgerissen. Wir hatten ihn ausgelacht, aber nur schwächlich; wir waren alle zu müd und verstimmt. Aber der kleine Katzenjammer war das wenigste, das wußten oder spürten wir alle, wenn auch keiner etwas davon sagte. Oft genug war es grade am Morgen nach einer Zecherei in der Werkstatt extra lustig zugegangen. Diesmal hörte man, auch wenn der Meister einmal weg war, nicht einmal die üblichen Anspielungen auf gestrige Heldentaten und Witze. Alle hielten sich still und fühlten, daß etwas Peinliches im Anzug war. Wir waren wie die Schafe, wenn der Himmel schwarz wird und es zu donnern anfängt. Und das Gefühl von Bangigkeit und Gefahr galt unsrem ältesten Gesellen, dem Hannes. Er hatte schon seit acht Tagen auf Schritt und Tritt Reibereien mit dem Meister gehabt, mit dem jungen nämlich, dem Meisterssohn, der neuerdings das Regiment beinah allein führte. Und seit ein paar Tagen konnte man spüren, daß ein Unwetter drohte; die Stimmung in der Werkstatt war schwül und bedrückt, der Meister redete nichts, und die Lehrlinge schlichen scheu und ängstlich herum, als schwebe immer eine ausgestreckte Hand ihnen über den Ohren. Dieser Hans war einer der tüchtigsten Mechaniker, die ich gekannt habe, er stand seit etwa einem Jahr bei uns in Arbeit. In dieser Zeit hatte er, namentlich solang noch der alte Meister das Heft in der Hand hatte, nicht bloß meisterlich gearbeitet, sondern auch in jedem schwierigen Fall Rat gewußt und sich richtig unentbehrlich gemacht. Mit dem jungen Meister, der ihm anfangs oft widersprach und sich keinen Gesellen über den Kopf wachsen lassen wollte, hatte es anfangs häufige Zerwürfnisse gegeben, namentlich da Hannes sich gelegentlich Freiheiten erlaubte und im Reden keineswegs vorsichtig war. Dann aber hatten die zwei Männer, die beide in ihrem Beruf mehr als das Gewöhnliche leisteten, einander einigermaßen zu verstehen begonnen. Der Jungmeister arbeitete nämlich insgeheim an einer Erfindung, es handelte sich um einen kleinen Apparat zum automatischen Abstellen der großen Chemnitzer Strickmaschinen, von denen viele in unsrer Stadt arbeiteten, ich glaube es war eine praktische und gute Sache. Daran experimentierte er nun schon eine Weile herum und war oft halbe Nächte damit allein in der Werkstatt. Hannes aber hatte ihn belauscht und war, da ihn das Ding interessierte, zu einer anderen Lösung gekommen, die er dem Meister zeigte. Seither hatten die beiden viel miteinander gearbeitet und verkehrt, beinah wie Freunde. Dann traten wieder Verstimmungen ein, denn der Geselle erlaubte sich gelegentlich manche Freiheiten, blieb Stunden oder auch einen halben Tag aus, kam mit der Zigarre ins Geschäft und dergleichen, lauter Kleinigkeiten, in welchen unser Meister sonst äußerst streng war, und die er ihm nicht immer unge-scholten hingehen ließ. Doch kam es nie mehr zu ernstlichem Zank, und eine ganze Weile war völliger Friede im Haus gewesen, bis kürzlich wieder eine Spannung anfing, die uns alle besorgt machte. Einige behaupteten, es gehe um ein Mädchen, wir andern meinten, vermutlich habe Hannes ein Anrecht auf den Mitbesitz der Erfindung erhoben, und der Meister wehre sich dagegen. Sicher wußten wir nur, daß Hannes seit Monaten einen übertrieben hohen Wochenlohn bezog, daß er vor acht Tagen im ModeHierraum einen sehr lauten, zornigen Wortwechsel mit dem Jungmeister gehabt hat- 114 "5 te, daß seither die beiden einander grimmig nachblickten und einander mit einem bösartigen Schweigen auswichen. Und nun hatte es Hannes gewagt, heute Blauen zu machen! Es war bei ihm schon lang nicht mehr vorgekommen, und bei uns Jüngeren überhaupt nie; von uns wäre jeder ohne Sang und Klang entlassen worden, wenn er einmal Blauen gemacht hätte. Wie gesagt, es war kein guter Tag. Der Meister wußte, daß wir die Nacht gefestet hatten, und sah uns scharf auf die Finger. Seine Wut über das Ausbleiben des Gesellen mußte nicht klein sein, außerdem lag wichtige Arbeit da. Er sagte nichts und ließ sich nichts anmerken, aber er war bleich und sein Schritt war unruhig, auch schaute er öfter als nötig auf die Uhr. »Du, das gibt eine Sauerei«, flüsterte der zweite Geselle mir zu, als er an meinem Platz vorbei zur Esse ging. »Und keine kleine«, sagte ich. Schon schrie der Meister herüber, was es da zu schwätzen gebe. Seine Stimme war bös. »Man wird wohl einander noch etwas fragen dürfen«, meinte Karl. Aber als der Meister einen Schritt näher trat und ihn anfunkelte, duckte er sich und ging zum Feuer. Die Mittagsstunde war vorbei, und allmählich verging auch der lange Nachmittag, freilich entsetzlich langsam, denn die verhaltene Wut machte den Meister zu einem unerträglichen Arbeitsnachbarn. Er gab sich, obwohl er unsre Arbeiten immer kontrollierte, nicht mit uns ab; er schmiedete sogar ein größeres Stück, statt einen von uns an den Vorschlaghammer zu kommandieren, allein, und dabei lief ihm der Schweiß übers Gesicht und tropfte zischend auf den Amboß. Uns war zumut wie im Theater vor einer Schreckensszene, oder wie vor einem Erdbeben. Um vier Uhr, während wir unser Vesperbrot aßen, tat der Meister etwas Sonderbares. Er ging an den leeren Platz des Hannes an der Werkbank, nahm zwei Schraubenschlüssel und machte mit vieler Mühe den schweren Schraubstock los, der seit vielen Jahren dort seine Stelle gehabt hatte und gewiß so alt war wie die Werkbank, vielleicht so alt wie die Werkstatt. Was dachte sich der Mann bei dieser seltsamen, unnützen Arbeit? Es sah so aus, als wolle er den Gesellen überhaupt nicht mehr in die Werkstatt lassen, aber jetzt bei der vielen Arbeit war das kaum möglich. Mir machte es einen beinah schauerlichen Eindruck, zu sehen, wie dieser praktische, jeder Spie- lerei abgeneigte Mann in seinem stillen Grimm auf eine solche symbolische Handlung verfiel. Abends um fünf Uhr fuhren wir ordentlich zusammen, als die Werkstatt-Tür aufging und der Hannes ganz behaglich hereintrat, noch in Sonntagskleidern und den Hut im Genick, die linke Hand im Hosensack und leise pfeifend. Wir erwarteten mit Angst, daß der Meister ihn nun anreden, ausschelten und anbrüllen, ja vielleicht schlagen werde. Er tat aber nichts davon, sondern blieb stehen, wo er war, sah sich nicht weiter nach dem Eintretenden um und biß sich bloß, wie ich deutlich sah, krampfhaft auf die Lippen. Ich begriff beide nicht, am wenigsten den Hannes, bis ich bemerkte, daß dieser ein wenig angetrunken war. Den Hut auf dem Kopf und die linke Hand im Sack, bummelte er herein und bis vor seinen Platz. Da blieb er stehen und sah, daß sein Schraubstock weggenommen war. »Der ist ein Lump, der das getan hat«, sagte er laut. Aber niemand gab Antwort. Darauf redete er einen von uns an, erzählte ihm einen Witz, aber der hütete sich natürlich und wagte nicht aufzusehen oder gar zu lachen. Da ging Hannes in die freigehaltene Ecke der Werkstatt, wo die kleine vom Meister und ihm konstruierte neue Maschine stand; sie war bis auf Kleinigkeiten fertig und provisorisch an eine Eisenschiene angeschraubt. Er nahm die darüber gebreitete Leinwand ab und betrachtete das Werklein eine Weile, spielte mit den zwei zierlichen Hebeln und fingerte an den paar Schrauben herum. Dann wurde es ihm langweilig, er ließ die Maschine unbedeckt stehen, ging an die Esse, ließ einen Hobelspan aufflackern und zündete sich eine Zigarette an. Die behielt er qualmend im Munde und verließ die Werkstatt mit demselben behaglichen Bummlerschritt, mit dem er gekommen war. Als er draußen war, ging der Meister hin und breitete das Tuch wieder sorgfältig über die Maschine. Er sagte kein Wort und war mir an diesem Abend ein Rätsel. Daß die Angelegenheit nun damit erledigt sei, wagte keiner von uns zu hoffen. Mir aber passierte vor lauter Erregung ein Ungeschick; es brach mir ein feiner Gewindebohrer im Eisen ab, und von diesem Augenblick an fürchtete ich nur noch für meine eigene Haut und dachte an nichts anderes mehr. Es war eine Qual, wie trag die Zeit bis zum Feierabend verging, und sooft der Meister an dem Regal vorüberkam, in dem die Gewindebohrer sauber nach den Nummern geordnet lagen, wurde\mir heiß. Andern Tags, obwohl ich um den zerbrochenen Bohrer noch ein schlechtes Gewissen hatte, überwog auch bei mir wieder der ängstliche Gedanke, wie es mit Hannes gehen würde. Ein wenig frischer und besser ausgeruht als gestern kamen wir ins Geschäft, aber die Schwüle war nicht gewichen, und die sonst üblichen Morgengespräche und Scherze blieben uns in der Kehle stecken. Hannes war zur gewohnten Stunde gekommen, nüchtern und im blauen Schlosserkleid, wie sich's gehörte. Seinen Schraubstock hatte er unter der Werkbank gefunden und ruhig wieder auf dem alten Platz befestigt. Er zog die Muttern an, klopfte und rüttelte, bis alles wieder richtig saß, dann holte er Schmiere und salbte die Schraube gut ein, ließ sie zur Probe ein paarmal spielen und begann alsdann seine Arbeit. Es dauerte keine halbe Stunde, so kam der junge Meister. »Morgen«, sagten wir, und er nickte. Nur Hannes hatte nicht gegrüßt. Zu diesem trat er nun, schaute ihm eine Weile zu, während er ruhig weiter feilte, und sagte dann langsam: »Seit wann ist denn der Schraubstock wieder da?« »Seit einer halben Stunde«, lachte der Geselle. Aber es war künstlich gelacht, voll Trotz und vielleicht auch Besorgnis. »So«, sagte der Meister. »Und wer hat denn dich geheißen, ihn wieder hinzutun?« »Niemand. Ich weiß allein, was ich zu tun habe.« »In dieser Werkstatt hast du nichts zu tun«, rief der Meister nun etwas lauter, »von heute an nichts mehr. Verstanden?« Hannes lachte. »Meinst, du kannst mich rausschmeißen?« Der Meister wurde bleich und ballte die Fäuste. »Seit wann sagst du denn Du zu mir, du Lump?« »Selber Lump —* Der Meister vergaß sich. Ein Schlag und ein kurzer Schrei war zu hören, dann wurde es totenstill in der ganzen Werkstatt, denn nun ließen wir alle die Arbeit liegen und hörten mit Entsetzen zu. Der Meister hatte dem Hannes einen Faustschlag ins Gesicht gegeben. Nun standen sie dicht voreinander, minutenlang regungslos, und dem Geschlagenen schwoll die Haut ums Auge bläulich an. Beide hatten die Fäuste ein wenig vorgestreckt, und beide zitterten ein wenig, der Meister am sichtbarsten. Wir rissen die Augen auf, und keinem fiel es ein, ein Wort zu sagen. Da geschah es wie ein Blitz, daß Hannes, am Meister vorbei, zur Esse stürzte und mit beiden Händen einen von den schweren Vorschlag- 118 hämmern an sich riß. Noch im selben Augenblick stand er wieder vor dem Meister, den Hammer hoch geschwungen, und blickte ihn auf eine Art an, daß uns todesbang wurde. »Schlag doch zu, wenn du Courage hast«, sagte der Meister. Es klang aber nicht ganz echt, und als jetzt Hannes Miene machte, zuzuhauen, wich der Bedrängte vor ihm zurück, Schrittum Schritt, undHan-nes immer hinter ihm her, mit dem riesigen Schmiedehammer zielend. Der Meister war totenblaß, man hörte ihn laut keuchen, Hannes trieb ihn so langsam weiter bis in die Ecke, da stand er an die Wand gedrängt, neben seiner kleinen Maschine, von der das Tuch geglitten war. Hannes sah schauerlich aus in seiner Wut, und die Spuren des Faustschlags neben seinem Auge standen in dem weißen Gesicht und machten es noch wüster. Jetzt lüpfte er den Hammer noch ein klein wenig, biß die Zähne zusammen und hieb. - Wir schlossen alle einen Moment die Augen. Dann hörten wir den Gesellen laut und böse lachen. Sein Schlag hatte gedröhnt, als müsse das Haus einfallen, und jetzt schwang er den Hammer hoch und hieb noch einmal. Aber beide Schläge galten nicht dem Meister. Statt dessen war die Maschine, seine Erfindung, scheußlich zertrümmert und lag in geborstenen, verbogenen und plattgeschlagenen Stücken da. Jetzt warf Hannes den Hammer weg und ging ganz langsam in die Mitte der Werkstatt zurück; dort setzte er sich mit verschränkten Armen auf den Amboß, doch zitterte er noch in den Knien und Händen. Der Meister kam ebenso langsam ihm nach und stellte sich vor ihm auf. Es schien, als seien beide vollständig erschöpft und hätten zu nichts mehr Kraft. Hannes baumelte mit den Beinen, und so saß der eine und stand der andre, sie sahen einander nicht einmal mehr an, und der Meister fuhr sich immer wieder mit der Hand über die Stir-ne. Dann nahm er sich plötzlich zusammen und sagte leise und ernst: »Steh jetzt auf, Hannes, und geh, nicht wahr?« »Ja, ja, freilich«, sagte der Geselle. Und dann noch: »Also adieu denn.« »Adieu, Hannes.« Nun ging er hinaus mit dem verschwollenen'Axige, und die Hände noch schwarz von Schraubstockschmiere; und wir sahen ihn nicht wieder. 119 Ich hielt den Augenblick für günstig, ging zum Meister hin und sagte ihm, ich hätte einen von den Gewindebohrern zerbrochen, einen von den feinen. Ängstlich erwartete ich sein Strafgericht. Er sagte aber bloß: »Welche Nummer?« »Dreidreiviertel«, flüsterte ich. »Bestell einen neuen«, sagte er, und weiter kein Wort. (1.904) Die Marmorsäge Es war so ein Prachtsommer, 111 dem man das schöne Wetter nicht nach Tagen, sondern nach Wochen rechnete, und es war noch Juni, und man hatte gerade das Heu eingebracht. Für manche Leute gibt es nichts Schöneres als einen solchen Sommer, wo noch im feuchtesten Ried das Schilf verbrennt und einem die Hitze bis in die Knochen geht. Diese Leute saugen, sobald ihre Zeit gekommen ist, so viel Wärme und Behagen ein und werden ihres meist ohnehin nicht sehr betriebsamen Daseins so schlaraffisch froh, wie es andern Leuten nie zuteil wird. Zu dieser Menschenklasse gehöre auch ich; darum war mir m jenem Sommersanfang auch so mächtig wohl, freilich mit starken Unterbrechungen, von denen ich nachher erzählen werde. Es war vielleicht der üppigste Juni, den ich je erlebt habe, und es wäre bald Zeit, daß wieder so einer käme. Der kleine Blumengarten vor meines Vetters Haus an der Dorfstraße duftete und blühte ganz unbändig; die Georginen, die den schadhaften Zaun versteckten, standen dick und hoch und hatten feiste und runde Knospen angesetzt, aus deren Ritzen gelb und rot und lila die jungen Blütenblätter strebten. Der Goldlack brannte so überschwenglich honigbraun und duftete so ausgelassen und sehnlich, als wüßte er wohl, daß seine Zeit schon nahe war, da er verblühen und den dicht wuchernden Reseden Platz machen mußte. Still und brütend standen die steifen Balsaminen auf dicken, gläsernen Stengeln, schlank und träumerisch die Schwertlilien, fröhlich hellrot die verwildernden Rosenbüsche. Man sah kaum eine Handbreit Erde mehr, als sei der ganze Garten nur ein großer, bunter und fröhlicher Strauß, der aus einer zu scfupialen Vase hervorquoll, an dessen Rändern die Kapuziner in den Rosen fast erstickten und in dessen Mitte der prahlerisch emporflammende Türkenbund mit seinen großen geilen Blüten sich frech und gewalttätig breitmachte. Mir gefiel das ungemein, aber mein Vetter und die Bauersleute sahen es kaum. Denen fängt der Garten erst an, ein wenig Freude zu machen, wenn es dann herbstelt und in den Beeten nur noch letzte Spätrosen, Strohblumen und Astern übrig sind. Jetzt waren sie alle tagtäglich von früh bis spät im Feld und fielen am Abend müde und