URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 27. Mai 2014(*) „Vorabentscheidungsersuchen – Eilvorlageverfahren – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 und 52 – Grundsatz ne bis in idem – Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen – Art. 54 – Begriff der Sanktion, die ‚bereits vollstreckt worden ist‘ oder ‚gerade vollstreckt wird‘“ In der Rechtssache C‑129/14 PPU betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Nürnberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 19. März 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 20. März 2014, in dem Strafverfahren gegen Zoran Spasic erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen, M. Safjan und C. G. Fernlund, des Richters A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) sowie der Richter D. Šváby, E. Jarašiūnas, S. Rodin und F. Biltgen, Generalanwalt: N. Jääskinen, Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat, aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts vom 19. März 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 20. März 2014, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Eilverfahren zu unterwerfen, aufgrund der Entscheidung der Dritten Kammer des Gerichtshofs vom 31. März 2014, diesem Antrag stattzugeben, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. April 2014, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von Herrn Spasic, vertreten durch Rechtsanwalt A. Schwarzer, – der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte, – der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und F.‑X. Bréchot als Bevollmächtigte, – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. Ventrella, avvocato dello Stato, – des Rates der Europäischen Union, vertreten durch P. Plaza und Z. Kupčová als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Bogensberger und R. Troosters als Bevollmächtigte, nach Anhörung des Generalanwalts folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19, im Folgenden: SDÜ), der das Verbot der Doppelbestrafung zum Gegenstand hat, sowie die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines in Deutschland anhängigen Strafverfahrens gegen Herrn Spasic, dem ein in Italien begangener Betrug zur Last gelegt wird. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Charta 3 Art. 50 („Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden“) der Charta gehört zu deren Titel VI („Justizielle Rechte“). Er lautet: „Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“ 4 Die in der Charta niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze werden nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV gemäß den allgemeinen Bestimmungen des Titels VII der Charta, der ihre Auslegung und Anwendung regelt, und unter gebührender Berücksichtigung der in der Charta angeführten Erläuterungen, in denen die Quellen dieser Bestimmungen angegeben sind, ausgelegt. 5 Art. 52 („Tragweite der [garantierten] Rechte …“) der Charta, der zu Titel VII („Allgemeine Bestimmungen“) gehört, sieht vor: „(1) Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. … (3) Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt. … (7) Die Erläuterungen, die als Anleitung für die Auslegung dieser Charta verfasst wurden, sind von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen.“ 6 In den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17, im Folgenden: Erläuterungen zur Charta) heißt es zu ihrem Art. 50, dass die Regel ne bis in idem nicht nur innerhalb der Gerichtsbarkeit eines Staates, sondern auch zwischen den Gerichtsbarkeiten mehrerer Mitgliedstaaten Anwendung findet, was dem Rechtsbesitzstand der Union entspricht. In den Erläuterungen zu Art. 50 wird überdies ausdrücklich auf die Art. 54 bis 58 SDÜ Bezug genommen und ausgeführt, dass die klar eingegrenzten Ausnahmen, in denen die Mitgliedstaaten nach diesen Artikeln von der Regel ne bis in idem abweichen können, von der horizontalen Klausel des Art. 52 Abs. 1 über die Einschränkungen abgedeckt sind. SDÜ 7 Das SDÜ wurde zur Gewährleistung der Durchführung des am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 13) geschlossen. 8 Art. 54 SDÜ gehört zu dessen Kapitel 3 („Verbot der Doppelbestrafung“). Er lautet: „Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“ Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Union 9 Das SDÜ wurde durch das Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union (ABl. 1997, C 340, S. 93, im Folgenden: Schengen-Protokoll), das dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft durch den Vertrag von Amsterdam beigefügt wurde, als „Schengen-Besitzstand“ im Sinne des Anhangs zu diesem Protokoll in das Unionsrecht einbezogen. Mit dem Schengen-Protokoll wurden 13 Mitgliedstaaten ermächtigt, untereinander eine verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen des Schengen-Besitzstands zu begründen. 10 Nach Art. 1 des Schengen-Protokolls gehört mittlerweile auch die Italienische Republik zu den Vertragsstaaten des SDÜ. 11 In Art. 2 Abs. 1 des Schengen-Protokolls heißt es: „… Der Rat [der Europäischen Union] legt … gemäß den einschlägigen Bestimmungen der Verträge die Rechtsgrundlage für jede Bestimmung und jeden Beschluss fest, die den Schengen-Besitzstand bilden. Hinsichtlich solcher Bestimmungen und Beschlüsse nimmt der Gerichtshof der Europäischen [Union] im Einklang mit dieser Festlegung die Zuständigkeit wahr, die ihm nach den einschlägigen geltenden Bestimmungen der Verträge zukommt. … Solange die genannten Maßnahmen nicht getroffen worden sind, gelten die Bestimmungen und Beschlüsse, die den Schengen-Besitzstand bilden, unbeschadet des Artikels 5 Absatz 2 als Rechtsakte, die auf Titel VI des Vertrags über die Europäische Union gestützt sind.“ 12 Der Beschluss 1999/436/EG des Rates vom 20. Mai 1999 zur Festlegung der Rechtsgrundlagen für die einzelnen Bestimmungen und Beschlüsse, die den Schengen-Besitzstand bilden, nach Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und des Vertrags über die Europäische Union (ABl. L 176, S. 17) wurde aufgrund von Art. 2 Abs. 1 des Schengen-Protokolls gefasst. Aus Art. 2 des Beschlusses 1999/436 und aus dessen Anhang A geht hervor, dass der Rat Art. 34 EU und Art. 31 EU als Rechtsgrundlagen der Art. 54 bis 58 SDÜ festgelegt hat. Protokoll (Nr. 19) über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand 13 Durch das dem AEU-Vertrag beigefügte Protokoll (Nr. 19) über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand (ABl. 2008, C 115, S. 290) wurden 25 Mitgliedstaaten ermächtigt, innerhalb des institutionellen und rechtlichen Rahmens der Union untereinander eine Verstärkte Zusammenarbeit in den zum Schengen-Besitzstand gehörenden Bereichen zu begründen. Art. 2 dieses Protokolls lautet daher: „Der Schengen-Besitzstand ist unbeschadet des Artikels 3 der Beitrittsakte vom 16. April 2003 und des Artikels 4 der Beitrittsakte vom 25. April 2005 für die in Artikel 1 aufgeführten Mitgliedstaaten anwendbar. Der Rat tritt an die Stelle des durch die Schengener Übereinkommen eingesetzten Exekutivausschusses.“ Protokoll (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen 14 Art. 9 des dem AEU-Vertrag beigefügten Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen (ABl. 2008, C 115, S. 322) lautet: „Die Rechtsakte der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, die vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auf der Grundlage des [EU-Vertrags] angenommen wurden, behalten so lange Rechtswirkung, bis sie in Anwendung der Verträge aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert werden. Dies gilt auch für Übereinkommen, die auf der Grundlage des [EU-Vertrags] zwischen Mitgliedstaaten geschlossen wurden.“ 15 Art. 10 Abs. 1 und 3 dieses Protokolls bestimmt: „(1) Als Übergangsmaßnahme gilt bezüglich der Befugnisse der Organe bei Rechtsakten der Union im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, die vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon angenommen wurden, bei Inkrafttreten des genannten Vertrags Folgendes: Die Befugnisse der Kommission nach Artikel 258 [AEUV] gelten nicht, und die Befugnisse des Gerichtshofs der Europäischen Union nach Titel VI des [EU-Vertrags] in der vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon geltenden Fassung bleiben unverändert, einschließlich in den Fällen, in denen sie nach Artikel 35 Absatz 2 [EU] anerkannt wurden. … (3) Die Übergangsmaßnahme nach Absatz 1 tritt auf jeden Fall fünf Jahre nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon außer Kraft.