Inhalt 1963 Aufzeichnungen von einer ersten Begegnung mit Rußland 9 1966 Gekritzelte Tagebuchnotizen von einer Reise durch die Sowjetunion und ihren Folgen 37 Prämissen 105 I967-J170 Erinnerungen an einen Tumult 109 1970 ff. Danach 243 Personenregister 281 doch gemütskrank, mit schrecklich reizbaren Stellen auf unserer Seelenhaut. Das zeigt sich, wann immer politische Wahnideen, Massenhysterie oder Kriegstreiberei wieder um sich greifen und uns erinnern an ihre braune Vorgeschichte. Das offenbart erst recht jede neue Welle der seit einem halben Jahrhundert durchgekämpften Diskurse über deutsche Schuld, Mitschuld, Unschuld. Auch die immer kräftiger mitstreitenden Nachgeborenen, belesen klug, so erfahrungs- wie garantiert schuldlos, und sogar die unschuldigsten aller Zeugen, die jüdischen Opfer der Schreckenszeit und ihre Erben, sie alle werden im Streit um diese Vergangenheit immer wieder von ihr kontaminiert. Das wird in diesen Aufzeichnungen ein böses und trauriges Leitmotiv bleiben. ''""»Ja, ihr wollt euch nun alle eure Jugend schönen«, hörte ich eine jüngere, erst nach Kriegsende geborene Jüdin quer über einen Geburtstagsfesttisch zu mir herübersagen im Sommer zooi. »Ihr«, damit waren die Generationsgenossen von Martin Walser gemeint, über den wir gerade gestritten hatten, und schuld daran war dort am Tisch vor allem ich, der ich seinen Kindheitsroman Ein springender Brunnen verteidigt hatte. »Ja, ihr« - ich konnte diesen zugleich nachsichtigen und vorwurfsvollen Satz und Ton nicht vergessen. So spricht, wer einen kolonialistischen Blick auf unsere Kindheit und Jugend wirft, sie erfaßt und richtet aus der Perspektive einer späteren Zeit und meint, sie genauer und schärfer zu kennen, als wir sie erinnern. Wer aber anschreibt gegen diesen Blick, wer dagegen seine eigene Lebensgeschichte aufbietet, der wird die Vorwurfsvollen und Nachsichtigen kaum überzeugen; er rettet nur seine subjektive Wahrheit, bestenfalls. Immerhin, mehr kann schließlich keine Autobiographie leisten, das hat uns die größte deutsche, Dichtung und Wahrheit, ein für allemal und schon mit ihrem Titel vorgeführt, j Auch Goethe stellt schon im Prolog die entscheidende Frage: was haben die »inneren Regungen«, was die »äußeren Einflüsse« in seinem Leben bewirkt, was »in seinen Zeitverhältnissen« hat ihm »widerstrebt«, was ihn »begünstigt«? Begünstigt hat diesen jungen Goethe, wie uns der alte nun behaglich vorführen wird, in seinen Zeitverhältnissen fast alles. Mir dagegen hat in meiner Jugend, wie ich nun zu erzählen habe, das allermeiste »widerstrebt«. Doch als ein »Duell zwischen einem überaus mächtigen Staat und einem kleinen Privatmann«, wie Haffner - Jahrgang 1907 - seine Geschichte in den dreißiger Jahren inszeniert, könnte ich meine nicht aufschreiben. Wie eindeutig, scharf und klar dieses Gegenüber, diese Gegnerschaft. Wie diffus dagegen die Spuren, die ich in meine Jugend zurückverfolgen muß. Wie schwierig zu entwickeln das Bild eines Kindes, das in Zeitverhältnisse gerät, die ihm nur undeutlich »widerstreben«, aber den Erwachsenen um ihn herum kaum oder gar nicht. Dieses Kind wächst auf unter Eltern, Nachbarn, Lehrern, deren Lebensgeschichte noch ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Man sieht diese Menschen der dreißiger und frühen vierziger Jahre des abgelaufenen Jahrhunderts zu schlicht, zu patent reduziert, wenn man sie nur begreift als Zeitgenossen der Nazizeit. Wie unbegreiflich kurz diese Schreckensepoche dauerte, zwölf Jahre nur und fast die Hälfte davon Weltkrieg! Es wird leicht vergessen, wie wenig Zeit (anders als später die DDR) diese auf tausend Wahnjahre angelegte Diktatur hatte, um das Bewußtsein ihrer Volksgenossen zu durchdringen. Der braune Firnis hat deutsche Mentalitäten zwar zugedeckt, verkleistert, auch benutzt, doch viele ihrer Tiefenstrukturen kaum erreicht und zerstört. Das alles, die tiefen Vergangenheitsschichten unter aller Gegenwart, das Mitleben so vieler Ungleichzeitiger in jener Zeit, sollte mitschwingen in dem beschwörenden Damals des Buchtitels. Aber rede ich nicht verdächtig viel von damals im Sinn von vorgestern und vorvorgestern? Denn Kindheit und Jugend, erst das trügerische Idyll, dann Terror, Krieg und Frieden, schließlich das Glück und das Elend, die neue Lebens- und Leselust zwischen Ruinen -, diese ersten gut zwei Jahrzehnte meines Lebens werden sich in der Nacherzählung breiter entfalten als alle folgenden, sicher weil der braune Schatten auf der Jugend mehr angerichtet hat als im späteren Leben das bald trübe, bald helle bundesrepublikanische Licht. Vielleicht auch, weil das Langzeitgedächtnis den alten Kopf erfrischt und er müder wird, je näher er sich selbst rückt. 10 11 Für mich allerdings, wie für meine Generation, war dieses Dritte Reich, aus dem ich nun befreit war, weder ein Glücksfall noch ein Unglücksfall, war kein Ausnahmezustand gewesen, sondern der Normalzustand. Wir kannten keinen anderen Staat, keine andere Gesellschaft, waren da hineingeboren, aufgewachsen fast ohne Kontakt zu einer ganz anderen Welt jenseits der Reichsgrenzen. Anders als später die Untertanen im sozialistischen Erziehungsstaat DDR, die immer den Westen, die Alternative vor Augen hatten, zu ihrem Glück und Unglück. Auch das versuche ich den Nachgeborenen immer wieder zu erklären, doch sie bleibt ihnen fremd, exotisch, diese Kindheit und Jugend in einer abgeschotteten Welt, in einer geschlossenen Gesellschaft, der man sich anzupassen hatte oder bestenfalls entziehen konnte, mit den egozentrischen, privatistischen Rückzugsversuchen, von denen ich so viel schon erzählt habe. J Aber nun war ich ja im Westen, im Westen, der panische Wunschtraum hatte sich erfüllt. Mit hohen Unkosten allerdings, mit dem Verlust der bürgerlichen Existenz unserer Familie, dem Verlust der Heimat in Schlesien und der Ersatzheimat in Ostoberschlesien, ja dem Verlust jeden Heimatgefühls, wie sich langsam herausstellen sollte. Die Stunde Null, von der wir längst wissen, daß es sie so nicht gab, weil unzählige Fäden und Stränge die Strukturen und Mentalitäten des Dritten Reichs fortleben ließen in der Nachkriegsgeschichte - diese Stunde Null hatte für mich und uns, die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen, eine andere, konkretere und bedrohlichere Bedeutung als für die Verschonteren im Westen. Sie erzeugte zunächst keinen oder nur einen kurzen Befreiungs- oder gar Begeisterungsrausch, sie zwang die pauperisierten Familien zu Notgemeinschaften zusammen, erzwang Solidarität und blockierte so auch I alle Konflikte zwischen den Generationen, den sogenannten schul-I digen Eltern und sogenannten unschuldigen Kindern. Diesen Ha-1 der, die Rebellion gegen die Familienbande konnten sich erst die \ Achtundsechziger leisten, die erste verschonte Nachkriegsgeneration, aufgewachsen und empfindlich geworden in der scheinbar heilen deutschen Welt nach der Währungsreform und Gründung der Bundesrepublik. iz8 Wir dagegen bewegten uns damals zwischen Trümmern, den sichtbaren in den Städten, den unsichtbaren im Bewußtsein der Erwachsenen, die nun wie Kinder, wie Schüler noch einmal anfangen sollten in dieser freien neuen Welt, mit ihren zerschlagenen Familien, Lebensläufen, Sinnkonstruktionen oder, fast schlimmer noch, bewußtlos weitermachend, als wäre nichts gewesen. Trümmer schaffen Leerräume, Freiräume, für Erinnerungen, aber auch für Neues. Doch dieses Neue kam nicht über Nacht und nicht in Gestalt einer perfekten Neukonstruktion, sondern wuchs nur langsam und auch nur fragmentarisch, trümmerhaft in das offene Gelände. Was alles gewaltiger, pathetischer klingt, als die tägliche, lächerliche und prosaische Wirklichkeit der ersten Nachkriegsmonate zunächst war. In diesem Tussenhausen etwa, vierzig Kilometer südlich von Augsburg, auf der Strecke zwischen München und Memmingen, wo wir im Mai 45 untergekommen waren im Haushalt des sehr entfernten Vetters Luis Schmid. Die erste Zeit schlief ich in einem Dachbodenverschlag, zwischen alten Büchern, Teppichen, Möbeln, und arbeitete bis zum späten Sommer in der Landwirtschaft des Schmid Luis, mit Weideland für zehn, elf Kühe, zusammen mit einem alten, hinkenden und viel fluchenden Knecht und einer um so fröhlicheren, Jungverheirateten Kusine, Theologiestudentin aus Berlin. Ein Bauer war auch der Schmid Luis nicht, er hatte sich Vieh und Stall und Land im Krieg als Selbstversorgerbetrieb zugelegt, denn eigentlich war er Ingenieur, Erfinder, und hielt sich für ein Genie. Genialisch schien mindestens sein flackerndes, bald strahlend gewinnendes, bald mürrisches und tobsüchtiges Temperament. Für ihn war ausgemacht, daß sein Entwurf für einen großdeutschen Volkswagen dem unbegreiflicherweise dann ausgewählten Käfer des Österreichers Porsche weit überlegen war, und das hatte seine Laune in Haus und Hof und Dorf nicht verbessert. Auch weil er als Bürgermeister mit seiner Reformwut fast alle Bauern gegen sich aufgebracht hatte: zu Maisanbau wollte er sie zwingen, weil Torfboden dafür gut wäre! Das mußten nun wir büßen, die fröhliche Kusine und ich, die tagelang im heißen Juni auf Knien durch das erste Expe- 129 Nur für mich sichtbar trug sie unter ihrem eigenen einen geklauten Pullover oder eine Bluse mit eingeschlagenem Kragen. In anderen Fällen gab sie der Verkäuferin, damit die Zahl der aus der Umkleidekabine zurückgebrachten Kleidungsstücke stimmte, eine mitgebrachte Jacke zurück, die sie mit einem Preisschild der Boutique versehen hatte. Oder sie vertauschte das Preisschild eines billigen Kleids gegen das eines sündhaft teuren Exemplars, das ich dann an der Kasse eilig bezahlte. Manchmal fanden sich, nachdem wir eine Boutique verlassen hatten, in meiner Umhängetasche zwei oder drei Kleider, ohne daß ich hätte sagen können, wie sie dort hineingekommen waren. L. trug die edlen Sachen selten, sie bevorzugte das Understatement: die auf dem Wochenmarkt für fünf Mark erstandenen Bluejeans und das auf zwei Mark heruntergehandelte Polohemd. Ihr und bald auch mir gefiel es, daß sie auf einer Party mit den bestangezogenen Frauen Berlins konkurrieren konnte, ohne mehr als ein paar Pfennige oder nichts für ihre Garderobe bezahlt zu haben. Das Wichtigste für einen Fünfundzwanzigjährigen: Mit L. zu schlafen war ein Fest. »Im Bett waren wir ein Kunstwerk«, schrieb ich unter tausend späteren Notaten meines Unglücks. L. war großzügig und bedenkenlos in ihrer Lust und verströmte sie in Katarakten. Und sie nahm mich, wo und wann es ihr gefiel. Im Kino, auf der Pärkbank, im Treppenaufgang, im Fahrstuhl, im VW-Cabrio bei 120 auf der Autobahn, Wenn ich sie an der richtigen Stelle berührte, belohnte sie mich mit einer Arie, die ich, der Opernkundige, noch nie gehört hatte. Der Stellen waren viele, darunter ein bestimmter Punkt in ihrem Rücken. Falls ich diesen Punkt mit meinem Finger ertasten und in der richtigen Weise streicheln würde, komme sie zum Orgasmus, behauptete sie. Ich hatte meine Aufgabe gefunden. I Meine Erinnerungen an meine akademischen Bemühungen an der FU sind eher blaß. Bestimmend bleibt die Erinnerung an den Flüsterton im Lesesaal, an das Rascheln von umgeschlagenen Buchseiten, an das vergebliche Warten auf einen Augenaufschlag einer gegenübersitzenden, in ihr Buch vertieften Mitstudentin und an den störenden, zum Lesen und langen Sitzen nicht erziehbaren Lümmel in der Hose, der ohne irgendeinen Anlaß, ja selbst bei Hegel-Lektüre, plötzlich steif wurde und Beschäftigung verlangte. Der einzige Anarchist, den die jungen Männer der FU in jenen Jahren kannten, war der Bengel in der Hose. Der mit Abstand geselligste Ort der FU war ein Stehcafe in der Garderobe des Henry-Ford-Baus. Am langen Ende des Garderobentresens dicht vor der Damentoilette betrieb eine ältere Wirtin eine Art Cafeteria. Ich habe an diesem dunklen Ort, der auch tagsüber durch Neonlicht erhellt wurde, weil nur wenig Tageslicht durch die verschatteten Fenstertüren drang, wahrscheinlich mehr Zeit verbracht als in der Bibliothek. Fast alle, die sich später als Anführer oder Mitstreiter der Rebellion einen Namen machten, und unzählbare Neugierige, Sympathisanten, Zauderer und Spötter habe ich auf der kleinen Stehfläche der Cafeteria im Henry-Ford-Bau kennengelernt. Die Damentoilette wurde kaum benutzt, weil jede Studentin, die auf die Toilettentür zuging oder aus ihr hervortrat, sich ihren Weg durch eine Traube von meist männlichen Cafeteria-Gästen bahnen mußte, die bei diesem Anlaß automatisch ein Spalier bildeten und in ein kurzes Schweigen verfielen. 1 Der mit Abstand bekannteste und beliebteste Dauergast war Fred Riedl. Wegen seiner verblüffenden Ähnlichkeit mit Charles Aznavour, dem Star des Kultfilms »Schießen Sie 69 Prägung im Übergang der vierziger in die fünfziger und dann in die sechziger Jahre, an so einem, meinem Einzelfall ablesen?fwaren wir Generationsgenossen, besonders auffallend die des Jahrgangs 1929, also Enzensberger etwa, Roehler, Rühmkorf, Dahrendorf, Kempow-ski und sogar Habermas, nicht deutlich genug gezeichnet als späte, verspätete Jünglinge und würden das auch bis ins Alter bleiben, also uns nie auswachsen zu Musterexemplaren normaler deutscher Männlichkeit? Aber wie unterschieden sich denn meine Erfahrungen von den Liebes- und Eheverhältnissen in benachbarten Autorenleben? Die man freilich nur von außen, als Zuschauer miterlebte, ohne zu wissen oder auch nur zu ahnen, was alles sich hinter den Kulissen abspielen mochte. Da hatte einer die schöne norwegische Frau ausgetauscht gegen eine reizvoll russische, um schließlich mit einer tüchtigen und vitalen deutschen spät ein letztes Kind zu zeugen und offenbar seinen Frieden und seine Zufriedenheit zu finden. Da taumelte ein anderer durch immer neue Affären und dachte doch nicht daran, seine frühe Liebesehe aufzugeben, hatte sogar immer wieder gewagt, dieses Paradox vollkommener Libertinage und ewiger Verführbarkeit trofy vollkommen fester Bindung Roman auf Roman als zeittypisches Gesellschaftsbild zu erzählen. Da durchlief auch ein dritter drei Ehen, zwei lange, eine kurze, unbefangen eine Schar Kinder zeugend, auch außerhalb seiner Ehen, um alle schließlich als stolzer Patriarch um sich zu versammeln. Da hatten zwei andere, wie wir, über Jahrzehnte miteinander durchgehalten, aber ihre Ehen, anders als wir, als Arbeits- und Kampfbündnisse bis zur Symbiose gesteigert. Da waren vor meinen Augen selbst Klaus Roehler und Gisela Eisner, zwei bekennende und überzeugte Monaden der neuen Boheme und als Autoren auch Konkurrenten, nolens volens in eine Ehe samt Kind hineingeraten, um folgerichtig zu dritt zu scheitern und sich nie mehr einzulassen auf diese verbindlich bürgerliche Institution./ Auch zwei andere eigensinnig auf sich konzentrierte Schriftsteller, Ingeborg Bachmann und Max Frisch, hatte ich zusammenkommen und auseinandergeraten sehen und hatte später in ihren Werken und nachgelassenen Fragmenten gelesen, wie sie beide diese gemeinsame Katastrophe erzählerisch quittierten, teils streng chiffriert, teils kaum verschlüsselt. Und hatte wieder später erlebt, wie Literaturstudenten der übernächsten Generation in diesen peinlich privaten und doch souveränen literarischen Dokumenten die privaten Schmerz- und Wutspuren gar nicht mehr erkennen mochten. Weil das für sie reine Sprach- und Erzählspiele geworden waren, nur noch mit sich beschäftigt und aus sich zu verstehen. Denn das Dogma der strikten Trennung zwischen Autorenwerk und Autorenleben hatte sich wieder einmal unbefragt an den Universitäten durchgesetzt, und wer auf sich hielt, mußte daran glauben. Ich dagegen, der ich ein Kapitel meiner Jugenderinnerungen unter den Titel »Lieben und Lesen« gestellt habe, stehe nun unter Zugzwang: müßte ich nicht meine Geständnisse und Erkenntnisse fortsetzen unter dem Stichwort »Lieben und Schreiben«? Daß da ein Zusammenhang gesehen und erzählt werden kann, meinten wir aus unserer Literaturgeschichte zu wissen, seit Goethe nicht nur sein Werk, sondern auch sein Leben der Nachwelt als Monument und Denkmal hinterlassen hat, mitsamt der blühenden Folge seiner Liebschaften und Lieben, vom Leipziger Gretchen über die Sesenheimer Friederike bis hin zur allerletzten Ottilie, die auch noch seine Schwiegertochter und Sterbehilfe war. Und wenn wir wollen - und über ein Jahrhundert lang wollte man durchaus -, so können wir diesen Namen und irdischen weiblichen Wesen auch lauter unsterbliche Werke oder doch Inspirationsschübe zu diesen Werken zuordnen, quer und längs durch das ganze Feld der lyrischen, epischen, dramatischen Produktion dieses Genies auch der Lebensverwertung. Mit Klaus Roehler und seiner Gisela Eisner war ich Anfang der sechziger Jahre von Baden-Baden ins Elsaß gefahren und hatte sie mühsam zu einem Umweg über Sesenheim überredet, das dann, zugegeben, ziemlich kahl und unattraktiv in einer harten Junimittag-soiine vor sich hin brütete. Aber die mißmutig geistesabwesenden Wicke, die Roehler dann im Dorfmuseum über die Vitrinen mit den spärlichen Devotionalien aus Goethes Straßburger Zeit mit Friederike schweifen ließ, sie taten doch weh, mir weh. Auch weil ich mir als koehlers Jahrgangs- und Mitzeitgenosse nun lächerlich vorkam z68 sten und genauesten Ausdruck fand sie in den selbstgemachten provokativen Slogans des Anfangs: »Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren«, »Mein Papi möchte wieder Blockwart werden«, »Befreit die Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen«; in den frühen Flugblättern der Kommune I, in dem Protest gegen falsche und überflüssige Autorität, in der Forderung nach direkter Demokratie, im Protest gegen den Vietnamkrieg der USA und in der emotionalen Solidarität mit den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Mit dieser Ausstattung ließ sich keine Revolution bewerkstelligen, sehr wohl aber eine nachhaltige kulturelle Erneuerung der Gesellschaft. Die wichtigste Errungenschaft der 68er-Bewegung in Deutschland bleibt, daß sie massenhaft - und vielleicht für immer - mit der Kultur des Gehorsams gebrochen hat. Ihre größte Sünde war, daß ihre Anführer nach einem basisdemokratischen und freiheitlichen Aufbruch am Ende einer im Kern antidemokratischen Doktrin erlagen und vor den Verbrechen ihrer revolutionären Vorbilder - in Kuba, in Vietnam, in Kambodscha und in China - die Augen schlossen. Ich glaube nicht, daß sich der spezifisch deutsche Wahn einer Weltrc-j volution unter der Rubrik »notwendige Kosten« abbuchen und rechtfertigen läßt. Aber ich würde lügen, wenn ich nicht hinzufügte, daß es ohne eine gewisse Portion Wahnsinn und Selbstüberhebung diese Rebellion nicht gegeben hätte. Ohne Wahn keine Rebellion. I Man kann der Gesellschaft und uns nur dazu gratulieren, /daß wir nie eine reale Chance hatten, die Macht zu ergreifen. Zum Glück haben die neuen Lebens- und Kommunikations-formen, die die Bewegung sozusagen nebenbei und hinter dem Rücken ihrer Ideologen hervorbrachte, eine unendlich folgenreichere Ansteckungskraft bewiesen als die bombastischen Programme ihrer Wortführer. Aus dem Zusamnicn-i stoß einer importierten, personell mit dem Nazireich tief ver-\ strickten und nur formal existierenden Demokratie mit einer { radikalen, am Ende ins Totalitäre überschwappenden Protestbewegung ist die bei weitem lebendigste zivile Gesellschaft in der Geschichte Deutschlands entstanden. I Man möchte meinen, daß der Tagebuchschreiber durch das Attentat auf Rudi Dutschke und die nachfolgenden Tumu)te wenigstens für ein paar Tage aus seinen selbstmitleidigen Grübeleien gerissen worden wäre, sie zumindest nicht mehr einer Aufzeichnung für wert erachtet hätte. Aber schon am 16.4.68, fünf Tage nach dem Attentat, fährt er fort. Ich bin jetzt achtundzwanzig und habe alles, was ich liebe, verlassen müssen. Durch meine selbstanklagen und durch meine selbstzerstörungen (die nicht erfunden sind) versuche ich, mir die liebe und anteilnahme zu verschaffen, die ich auf normalem weg nicht mehr zu erlangen fürchte. Ich weiß, daß ich zusammenzucke, wenn Christian heute auf einen entsprechenden satz unerwartet »mensch, Peter« zu mir sagt. Ich weiß, daß meine vorbehalte gegen Gaston schmelzen, als er den Arm um mich legt. Jede kleine berührung, jedes harmlose antippen elektrisiert mich, es ist, als ob ich rot werde. Ich habe dieses bedürfnis damals bei L. nicht verstanden, weil ich es bei mir zu unterdrücken versuchte. Aber ich fühlte, daß sie wie eine blume war, die nur begossen werden musste, um nach allen seiten aufzugehen, Ich war dazu nicht imstande, weil mein Zärtlichkeitsbedürfnis von früh an derart verhöhnt worden ist, daß ich mich nur noch zu rächen suchte. Denn dieser leistungszwang, diese autoritätsfixierung, dieses bedürfnis, perfekt und tadellos zu sein, sind alles formen der räche für ein unbefriedigtes liebesbe-dürfnis. Und am 20.4.68, einen Tag vor Semlers und meinem Geburtstag: Vorgestern treffe ich Christian, er ist sauer über die resignation in der außerparlamentarischen Opposition, er lacht auf seine kaputte weise und hat lust, mit mir ins kino zu gehen. Ich gehe mit-in einen scheißfilm am Stuttgarter platz. Ich weiß es eigentlich 278 279 schon vorher, daß ich keine lust habe und daß ich es wieder ausbaden muß, wenn ich dann allein und trostlos in meinem bett liege. Aber ich gehe mit, weil ich gerne in seiner nähe bin ... weil ich angst habe vor der schärfe, die entsteht, wenn ich mich weigere. Ich hasse dieses lachen über filmszenen, aus denen nur die Verzweiflung irgend etwas komisches heraussaugen kann, weil es eben nirgendwo etwas zu lachen gibt und man ab und zu lachen muß, wie man eben pissen muß. Ich suche in meiner kindheit nach erlebnissen, die dieses muster ausgebildet haben. Alles, was ich sehe, ist eine kette von heimlichen und höflichen verboten, die ich immer befolgte. Ich habe sehr früh diese innerlichkeit beim geigenspiel, diese uneigentlich-keit beim essen, diese Umgangsformen, diese küsse meines vaters beim ins-bett-gehen durchschaut. Aber mein bedürfnis nach nähe und anerkennung war immer stärker als mein Unabhängigkeitsbedürfnis, als die durchsetzung meines eigenen ich. Ich habe es vorgezogen, einen scheitel zu tragen und für die freunde meiner eitern ein begabter und hübscher junge zu sein, statt ihnen nadeln in die kissen zu stecken. Genug. Man, genauer ich, der Nachleser und Herausgeber der Aufzeichnungen, kann und will es nicht mehr hören. Selten hat es ein mißglückteres Beispiel für eine »Selbstanaly.se« durch unbegleitete Sigmund-Freud- und Wilhelm-Reich-Lektüre gegeben. Erstens hast du nie einen Scheitel getragen, zweitens bist du selbst schuld, wenn du die Anweisungen deiner Eltern beim »uneigentlichen Essen«, genauer beim I Iin-unterschlingen der Mahlzeiten, nicht befolgt hast, und drittens: Was war denn an den Gutenachtküssen deines Vaters auszusetzen? Den vielleicht heftigsten Einfluß bei deinen Übungen in Anklage und Selbstanklage verschweigst du, weil er nicht in dein Selbst- und Weltbild paßt: den Einfluß einer, zugegeben, hinreißend schönen und energischen Frau, der du sexuell verfallen warst; einer Frau, die von dir die Erfüllung aller durch ihr Schicksal und ihre eigene Fehlentscheidungen entstandenen »unaufschiebbaren« Bedürfnisse erwartete; einer labilen Frau, die dich betrog und belog und dich, »weil du dich nie entscheiden konntest«, für ihre Eskapaden mit diesem oder jenem berühmten Schriftsteller, Verleger oder Beatle verantwortlich machte - du und niemand anderer hattest sie ja zu diesen »Verzweiflungstaten« getrieben,- einer Frau, die sich nie zu einem eigenen Versagen, einer eigenen Schuld bekannte und dich, den ewigen Selbstbezichtiger, dazu brachte, dich, deine Kindheit, deinen Vater und die unmenschliche kapitalistische Gesellschaft für das Scheitern eurer Liebe schuldig zu sprechen; einer Frau, die sich in der Wahl ihres Partners offensichtlich vergriffen hatte und ihn für diesen ihren Irrtum büßen ließ. Es tut mir leid, Tagebuchschreiber: Ich lese die Geschichte eines Weicheis, das sich, um seiner angebeteten und tief enttäuschten Geliebten zu imponieren, in einen furchterregenden Revolutionär verwandelte. Was hattest du noch am 15.3.68, kurz vor eurer endgültigen Trennung, notiert^ Der Schlüssel für L.s geschichte: es ist das Schicksal eines ghetto-negers, der inmitten von New York aufgewachsen ist. Deine erste Gehirnwäsche, mein Lieber, verdankst du nicht einem Schulungskurs in einer ML-Partei, sondern deiner Vergötterung einer Frau namens L. Und du, fragt eine Stimme zurück, was ist aus dir geworden? Du sitzt da im Fett und in der Dürre deiner Jahre und verteilst Noten über einen, den du hinter dir gelassen hast -hinter dir verbrannt hast. Nicht umsonst haben wir gesagt: Trau keinem über dreißig. Woher nimmst du das Recht zu urteilen, was hast du zu bieten? Vergiß für einen Augenblick deine Erklärungen »meines Wahnsinns« und beantworte eine Frage: Waren die zwei Jahre - die Zeit, in der es dich und dein Abwägen noch nicht gab - mit all ihren Schrecken nicht doch die wichtigste Zeit in deinem Leben? Warum sprichst du ständig über sie, wozu diese Tonnen von Papier in den Büchereien, diese Wochen teurer Fernsehzeit, diese endlosen Filmkilometer über eine kleine - und »verfehlte« - Studentenrebellion? Kannst du mir irgendein Ziel, irgendeine Leidenschaft nennen, für die du dein Leben riskieren würdest? Wir haben da- 280 281 als Frau verkleidet. Es war ein denkwürdiger Anblick: Unter der orangefarbenen Perücke wirkte seine große Nase noch größer, die sechs Tage alten schwarzen Bartstoppeln in seinem bleichen Gesicht straften seine Verkleidung Lügen. Er trug einen Rock von Gretchen, seine stark behaarten Beine steckten in Fußballschuhen. Hosea Che fing sofort an zu schreien, als er seinen Vater in dieser Aufmachung sah, wir schrien nach Kräften mit. Ich spürte, daß es mit Rudi aufwärts ging; es war unmöglich, von seinem Lebensmut nicht angesteckt zu werden. Tagsüber drehte sich alles um Rudis Fortschritte; abends, wenn ich mich in meinem Luxuszimmer an den englischen Sekretär setzte, suchten mich andere Gedanken heim. Auf dem blaßblauen, durchsichtigen Briefpapier der Villa La Le-prara verfaßte ich ein halbes Dutzend Heiratsanträge an L., die ich allesamt nicht abschickte. f Rudi hatte das Attentat überlebt, und ich traute ihm durchaus zu, daß er durch seine ungeheure Disziplin und seinen Lerneifer einen Großteil seiner verlorenen Fähigkeiten zurückerlangte. Dennoch war mit dem Attentat für ihn und für uns etwas Unwiderrufliches geschehen. Selbst bei einer optimistischen Prognose würde es lange dauern, bis er seine Rolle als Führer der Bewegung wieder übernehmen könnte, und ich glaubte nicht eine Sekunde daran, daß er ersetzbar sei. Sein verwüstetes Gedächtnis war für mich ein Bild für den hohlen, hoffnungsleeren Zustand der Bewegung. Spätestens, wenn ich im Bett lag, gewannen die Berliner Alpträume wieder die Oberhand über meine Hoffnungen. Ich schämte mich dieser Träume, ich war wütend auf diese Träume, aber sie scherten sich nicht um meine Scham und meine Wut. Gestern brief an L. geschrieben, den ganzen vormittag lang, die nacht habe ich mich dann mit alpträumen herumgeschlagen. Ich träumte, daß L. auf dem schoß eines mannes saß, ich weiß nicht mehr, von wem. Sie hatte ihr blaues kordkostüm an, und als ich sie sah, ging ich nah vor sie hin, um sie aufzufordern, mitzukommen. Sie seufzte tief und schmerzhaft (das letzte mal, als ich sie mit einem anderen mann im republikanischen club traf, war es so gewesen) und gab mir ein zeichen, ich solle verschwinden. Wie soll ich mit solchen nachten fertig werden? Ich müßte ja wie Kafka schreiben, um damit arbeiten zu können. Alle kraft, die ich habe, verwende ich seit zwei jähren darauf, die gefährlichen wünsche niederzuhalten, und es kommt mir manchmal ziemlich lächerlich vor, daß ich für die revolution arbeiten will. Manchmal ist mir, als könnte ich nichts mehr ändern, nur noch beschreiben, (undatiert) In meiner nur wenig später entstandenen »Rede an die deutschen Leser und ihre Schriftsteller«, die im Kursbuch 16, auf braunes Packpapier gedruckt, als Faltplakat eingelegt war und dann auf viele Wohngemeinschaftswände geklebt wurde, steht das genaue Gegenteil: »Was wir da um uns herum sehen und erleben, ist überhaupt nicht mehr zu beschreiben, nur noch zu ändern.« Ich bin ziemlich sicher, daß ich diesen Widerspruch zwischen öffentlicher Rede und Tagebucheintragung nicht bemerkt habe. / 292 293 zusammen als das blasse muddle, das harmlose pele-mele und das kapriziöse guazzabuglio. Laß mich mit deinen Fremdwörtern zufrieden! Ich begreife nicht gana^ wie in tausend Tagen überhaupt so viel passieren konnte. Es ist so, als wäre der Regisseur dauernd von einer taumelnden Bewegung mitgeschleift worden. Die Bilder springen zwischen Zeit und Raum hin und her. Und doch muß an den Klebstellen dieses Films etwas entstanden sein, es wurde gehandelt, intrigiert, Erfindungen wurden gemacht, Gedichte sind aufgetaucht, Resolutionen, Verbrechen ... Es gibt Leute, die das alles säuberlich in Flaschen abfüllen und Memoiren daraus machen. Mir ist dieses Verfahren schleierhaft, f Das Beste wird sein, wir fangen mit deinem russischen Roman an. Wie ging es weiter mit dir und Mascha? Das ist privat, Warum erkundigst du dich so eingehend nach meinen Liebesgeschichten, die kaum von Interesse sind, wo es um ganz andere Dinge geht? Weil niemand ohne deine Russin versteht, wo du ptysisch undpolitisch gelandet bist. Auch ich nicht. Muß das sein? Mon cceur mis ä nu - das ist doch keine Sehenswürdigkeit. Aber gut. Wenn du darauf bestehst. Das war so: Ich konnte Maria Alexandrowna nicht widerstehen. Und sie war bereit, mir zuliebe alles aufzugeben, woran sie gewöhnt war; ihre Ehe zu brechen, die ohnehin längst gestrandet war; das Haus ihrer Mutter zu verlassen; und mir, einem Mann, den sie erst seit ein paar Monaten kannte, in ein Land zu folgen, von dem sie kaum etwas wußte und dessen Sprache ihr fremd war. Zwar liebte sie wie alle Russen die Gegend, in der sie aufgewachsen war; aber in jedem aus ihrer Generation steckt, gleichgültig, wie er politisch denkt, auch ein Sowjetmensch. Den wollte Mascha loswerden, weil sie das Regime, dem sie unterworfen war, nicht länger ertragen konnte. Die Unbe-dingtheit, mit der sie ihre Ziele verfolgte, bezauberte und erschreckte mich. Sie wollte mit mir »ein neues Leben« beginnen. Zwar wußten wir beide nicht, was das bedeutete. Doch die Schikanen, mit denen sie rechnen mußte, schreckten Mascha nicht ab, Sie beflügelten ihre Energie. Um das Land zu verlassen, brauchte sie zunächst die Erlaubnis der sowjetischen Behörden. Genehmigen konnte das nur der Owir. J Oivir? Nie gehört. Du weißt nicht mehr, wie es damals zuging? Das war die berüchtigte »Abteilung für Visa und Registrierung«, die dem Innenministerium, und das heißt natürlich dem KGB, unterstand. Nur dort konnte Mascha einen Paß und ein Ausreisevisum bekommen. Eigentlich hätte ich das wissen müssen; denn jeder Ausländer war verpflichtet, sich spätestens am dritten Tag seines Aufenthalts bei den Behörden anzumelden. Ohne diesen Stempel im Paß konnte man allerhand Scherereien bekommen. Ich war dieser Vorschrift nie nachgekommen, ich wußte gar nichts von ihr. Weiß der Teufel, wer sich für mich verbürgt haben mag. Ohne es zu wissen, habe ich mich in Moskau stets in einet Schattenzone bewegt. Natürlich haben alle diese Schwierigkeiten unser fieberhaftes Verlangen noch gesteigert. Ein Mensch in meinem Alter wird nie bereit sein, einer Macht zu gehorchen, die es ihm verbieten will, mit der Frau, die er liebt, zu leben. Das war schon immer so und wird immer so bleiben. Bald stellte sich heraus, daß es für Mascha keine Möglichkeit III t sehen Verfasser waren da, löffelten ihr Irish Stew und tranken, was das Zeug hielt. Ich weiß nicht, wann Neruda geboren ist. Er hatte zwar behauptet, er hätte gerade an diesem Tag Geburtstag. Aber das tat er öfter; er hatte nichts dagegen, daß sich alles um ihn drehte. Nach einer Weile fragte jemand, wo der Ehrengast geblieben war. Erst nach längerer Suche fand man ihn in einem dunklen Winkel am Heck, das Ohr an ein Radio gepreßt. Er hatte auf die Botschaft aus Stockholm gewartet. Sic war gekommen, aber sie hatte nicht ihn ereilt, sondern Miguel Asturias, einen Romancier, der nicht nur aus Lateinamerika kam, sondern noch dazu ein Guatemalteke war. Das mußte jeden Chilenen kränken. Aber viel schlimmer war, daß die Mitglieder der Schwedischen Akademie damit für lange Zeit ihre iberoamerikanische Quote ausgeschöpft hatten. Alle bemühten sich, den Dichter zu trösten, doch am Ende mußte ein Notarzt herbeigerufen werden, um den Ohnmächtigen zu versorgen. Mit der munteren Party-Stimmung war es aus und vorbei. Alle griffen zu ihren Mänteln und gingen nach Hause. Was soll diese Geschiebte? Mit dir, mit Mascha und mit euren Plänen hat sie nichts igt tun. Das mag sein, Du hättest gern alles ordentlich wie ein Buchhalter. Aber so war es nicht. Aber meinetwegenl Im Oktober 1967 sind wir in Connecticut angekommen. Das habe ich schwarz auf weiß. Sie kam aus Moskau, ich aus Berlin. Wir gingen in Bremen an Bord eines Überseedampfers. Am Abend gab es Tanz in der ersten Klasse, die Bordkapelle spielte alte Standards von Glenn Miller, und ein Gigolo stand bereit für die Witwen der Brauereibesitzer von Minneapolis, Am zweiten Tag der Überfahrt erreichte uns per Funk die Nachricht vom Tod Che Guevaras in Bolivien. Kaum waren wir in Connecticut angekommen, da zogen die ersten Demonstranten in Washington vor das Pentagon. Es waren nicht wie später Hunderttausende, doch an einigen Universitäten nahm die Unruhe zu. InMiddletown war davon nichts zu spüren. Außer an der Main Street, wo es Schnapsläden und Geldautomaten, einen Diner und einen Immobilienmakler gab, war die Stadt am Abend menschenleer. Unsere Adresse lautete: Home Avenue. Unsere Villa verfügte über 14 Zimmer, drei Bäder und drei Garagen, einen Vorgarten und eine Veranda. Ihr letzter Bewohner war ein Politologe gewesen, der Reden für den Präsidenten der Vereinigten Staaten schrieb. Ich durfte sein Arbeitszimmer benutzen, das den genannt wurde, was soviel wie Fuchsbau bedeutet und in einer Art Mezzanin lag. Man konnte, sooft man wollte, ä Ja carte im Faculty Club essen, und es gab reizende Einladungen in den Häusern der Professoren. Wir haben es in Middletown vier Monate lang ausgehalten. Ich war die totale Windstille auf dem Höhepunkt des Krieges nicht gewöhnt. Ich kam doch aus Berlin. Was hatte ich in dieser Idylle verloren? Es war zu schön, um wahr zu sein. Und auch Mascha war nicht glücklich in Middletown. Sie kam mit ihrer Arbeit nicht voran. Welcher Arbeit? Sie wollte etwas über die russische Avantgarde der zwanziger Jahre schreiben. Mehr hat sie mir nicht verraten. Gab es denn überhaupt einen Ort, wo sie hingehörte? Weder Moskau noch Berlin kamenßr sie in Frage. Mascha war eine displaced persoft. Aber eine, die in einem wattierten Paradies lebte. Auch in den Vereinigten Staaten ge- 134 135 fiel es ihr nicht, und wir verfielen in eine neue Runde unserer Zwistigkeiten. Im trüben Januar 1968 kam in der Home Avenue ein offizieller Brief mit einer cubanischen Marke an. Der Absender war ein Ministerium in Habana. Schon wieder eine dieser wunderbaren Botschaften! Einst war es der /mysteriöse Signor Wgorelli, der dich nach Leningrad befördert hat; dann, behauptest du, kam eine Einladung nach Moskau und Baku, die %u einem russischen Roman führte, und nun erzählst du von einem unerklärlichen Brief aus Cuba. Reiner Zufall, ob du es glaubst oder nicht Was stand denn in diesem sagenhaften Brief? Es war die Einladung zu einem Kulturkongreß. Der Titel war so nichtssagend, daß ich ihn sofort vergessen habe. Zwar wußte ich aus Erfahrung, daß man als Gast eines Festivals oder als Mitglied einer Delegation so gut wie nichts kapiert. Aber ich war neugierig, und Mascha wollte unbedingt mitkommen. Du hast selbstverständlich totgesagt. Warum grinst du so?Jbie Hinreise war umständlich. Flugzeuge von New York nach Cuba gab es nicht; die Regierung der USA hatte ein Handelsembargo verhängt. Man mußte sich ein Visum in Mexico besorgen. Von dort aus gab es eine einzige Verbindung ?uf die Insel mit einer alten Iljuschin~Ma-schine der Cubana de Aviaciönjl Und was hattet ihr dort %ti suchen? Eine allerletzte linke Utopie? In Villa San Cristobal de La Habana - 50 heißt die Stadt seit ihrer Gründung im Jahr 1519 - herrschte eine ausgelassene, euphorische Atmosphäre, ein anderer Luftdruck als in Moskau, Ost-Berlin oder Warschau. Das hatte viel Charme, Immerhin war die eubanische Revolution nicht mit Hilfe so- 136 wjetischer Panzer importiert worden, Sie hatte unabhängig von den Russen gesiegt. Ich hatte den Eindruck, daß eine Mehrheit der Leute, die auf den Straßen der Stadt unterwegs waren, sie nicht nur hinnahmen; sie freuten sich. Castro hatte nicht weniger als fünfhundert Autoren, Wissenschaftler und Künstler eingeladen. Manchen wurde von ihren Regierungen der Paß oder das Ausreisevisum verweigert, Sartre hatte sich krankheitshalber entschuldigen lassen, aber ansonsten trafen sich im Habana Libre, das früher einmal Hilton hieß, die alten Bekannten aus der europäischen Linken wieder: Eric Hobsbawm, Michel Leiris, Luigi Nono, Julio Cortázar, die Verleger Giulio Einaudi und Giangiacomo Feltrinelli. Nicht als hätten die Debatten viel Neues zutage gefördert. Aus dem Ostblock lieferten die Linientreuen ihre Pflichtübungen ab, und die Chinesen waren gar nicht erst erschienen. Doch ein Hauch von Kontroverse war nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht. Die Franzosen inszenierten sofort einen kleinen Skandal, als der mexikanische Maler David Siqueiros auf einer Ver~ nissage erschien. Dieser alte Stalinist hatte 1940 Leo Trotz-kis Haus in Mexico mit Maschinengewehren überfallen. Er wollte ihn töten, aber Trotzki überlebte. Obwohl Siqueiros später das Attentat bereute, war man im Quartier Latin auf Rache bedacht. Eine surrealistische Dichterin versetzte ihm einen Tritt in den Hintern und rief »Schöne Grüße von André Breton«, Das PubEkum von Habana war anderweitig beschäftigt. Es tanzte zu Rumba-Klängen an der Rampa oder strebte zu einem Baseballmatch. Castro spielte Simultanschach auf zehn Brettern und ärgerte sich, wenn er geschlagen wurde. Alle feierten einen politischen Karneval, 137 ster Augenblick. Die Mischung von Rebellion und Reklame, links Guevara und rechts die Brillantine, die damals normal war, wirkt heute verstörend. Übrigens wimmelt es auf den Seiten der Bobemia von Gesichtern, die verschwunden sind: von Abtrünnigen, Ausgestoßenen und Toten. Klar geht aus ihnen auch hervor, daß ohne die Dummheit und die Gier der Amerikaner diese Revolution spurlos untergegangen wäre wie ein Dutzend anderer in Lateinamefika, überdauert von dem herzigen Coca-Cola-Girl, das alle, die vom Umsturz träumen, auffordert: Mach mal Pause. Gut, Nur geht aus deinem Altpapier kider nicht hervor, was das alles mit euch %u tun hatte. Nichts. I Was hattet ihr vor? Die Cubaner behaupteten, Leute wie wir würden hier als teetticos estranjeros dringend gebraucht. Einer der olivgrünen Comandantes fragte mich, ob wir nicht längere Zeit in Cuba bleiben wollten. Um was für Techniken es sich in unsetem Fall handeln sollte, wußte er nicht zu sagen. Ich jedenfalls sah in dieser Einladung eine Chance für uns beide, vielleicht sogar die letzte. Keiner von uns kannte die Insel. Sie war Neuland. Keine störenden Vergangenheiten, keine Sprache, die nur einer sprach und der andere nicht verstand, keine familiären Komplikationen. Außerdem sprachen wir beide leidlich gut Spanisch, War das nicht einen Versuch wert? 4' Bin reich/ich unpolitisches Plädoyer! Ihr wolltet einfach die Flucht ans Middietom ergreifen, deine Russin und du. Mit einem Eklatj Anders ging es nicht. Gegen das Wohlwollen und die Gast- freundschaft war kein anderes Kraut gewachsen als die große Politik. Hatten sie euch in Neuengland nicht gut behandelt? Sie haben euch eine Zuflucht fürein ganzesJahrgeboten, eine Felkwship, einen Haufen Geld, ein viel %u großes Haus und ein klimatisiertes Büro mit einer Sekretärin, die nichts %t tun hatte. Anden hätten sich glücklich gepriesen! Aber ihr wart undankbar. Goldener Käfig, habt ihr gemurmelt, über den Krieg auf der anderen Seite des Globus habt ihr euch beschwert, eure Wohltäter habt ihr brüskiert und einen öffentlichen Skandal angebettelt, der es bis auf die erste Seite der New York Times gebracht hat. Ursprünglich war das gar kein offener Brief. Da sich der gute Mr Butterfield auf sein Altenteil zurückgezogen hatte, mußte ich mich an seinen Nachfolger Edwin Etherington wenden, um mich zu verabschieden. Der war übrigens zu allem Überfluß auch noch Präsident der New York Stock Exchange. Soll ich dir den Brief vorlesen? Nein. Ichweiß, was darin steht. »Warum ich Amerika verließ«, hast du trompetet. Ich dachte, Mr Etherington werde stillschweigend zur Kenntnis nehmen, was ich ihm schrieb, und uns ziehen lassen. Doch dann gab ein eifriger Professor, der ganz auf meiner Seite zu sein glaubte, das Schreiben an die Presse, Elegant war das nicht gerade! Eine Peinlichkeit nach der andern! Die hat dir Owe Johnson in seinen Jahrestagen ausführlich unter die Nase gerieben. Zum Zeichen seiner Mißbilligung nennt er dich dort Herrn En^ensberger, Auch gefiel es ihm gar nicht, daß ihr nach Cuba gegangen seid. Johnson war boshaft, aber nicht in allen Punkten hat er unrecht behalten. Das muß ich ihm lassen. Was ihm entgangen ist, war die unfreiwillige Komik unseres eubanischen Abenteuers. 140 141 I Der Frühling 1967 verging mir wie im Rausch. Unfaßbar, was in diesen Tagen alles passierte, genauer gesagt, was wir alles passieren ließen. Die Geschichte ging im Sauseschritt, und wir, davon war ich überzeugt, zeigten ihr den Weg. Wie bei einem Film, dessen Plot man längst vergessen hat, sind es eher die Bilder als die Inhalte der Kampagnen, die im Gedächtnis haften: Mein Freund Eckhard Siepmann, der (bei einer Demonstration gegen die Notstandsgesetze vor dem Reichstagsgelände) ein mantellanges Plakat vor sich herträgt mit der Aufschrift: »Mein Papi möchte wieder Blockwart werden«; die mit roter Tinte gefüllten Farbbeutel, die nach einer Abschweifung von einer Ostermarsch-Demonstration gegen die Scheiben des Amerikahauses klatschen und dort blutige Rinnsale hinterlassen; die Geste des Schriftstellers Reinhard Lettau, der am Ende einer fulminanten Agitationsrede im Audimax der FU einige Ausgaben der Springerzeitungen in die Hand nimmt und mit den Worten schließt: »Verzeihen Sie, wenn ich das Resultat meiner Berliner Presseanalyse dadurch mitteile, daß ich hier jetzt die Berliner Zeitungen zerreiße«; die erste, von der Kulturrevolution in China inspirierte Wandzeitung, die während derselben Veranstaltung von der Kommune I gezeigt wird. Oder das Spektakel während einer Demonstration vor dem Gerichtsgebäude in Moabit. Zwei berittene Polizisten stürmen auf Pferden in die vordere Reihe der Demonstranten und hauen mit langen Stöcken auf sie los. Die Demonstranten stieben und stürzen auseinander, Angst- und Protestgeschrei. Einer, ein untersetzter Kerl mit rabenschwarzen Haaren, löst sich aus der Gruppe der Flüchtenden, geht den beiden Reitern unerschrocken entgegen, weicht ihren Schlägen wie ein Boxer mit gelassenen Schwüngen seines Körpers aus und krallt sich nach einem Sprung am Schweif eines Polizeipferdes fest. Der Reiter gibt dem Pferd die Sporen, aber der Angreifer läßt sich nicht abschütteln. Halb mitrennend, halb sich schleifen lassend, hält er sich an dem Schweif fest und läßt erst ab, als das Pferd steigt und den Reiter abwirft. Danach geht er lässig zur Seite, als wäre nichts geschehen. Erst im Weggehen, kurz bevor er von Demonstranten schützend umringt wird, erkenne ich in dem tollkühnen Kerl Rudi Dutschke. Der große Redner und Stratege - gleichzeitig ein Draufgänger mit Stuntman-Qualitäten? Das Bild des in Panik steigenden Pferdes, des zur Seite abstürzenden Reiters und des zwischen den Hinterbeinen hin-und hergerissenen Rudi Dutschke setzte sich in meinem Gedächtnis fest. Meine Bewunderung war grenzenlos. So etwas würde ich nie und nimmer schaffen - oder am Ende doch, wenn ich meine Angst durch Schulung überwunden hätte? / I Wenig später stand ich unter einer Gruppe von Aktivisten, von denen einige auf dem Boden knieten und mit Taschenmessern Pflastersteine aus dem Trottoir wühlten. Als ich genauer hinschaute, entdeckte ich mehrere quadratische Aussparungen im Kopfsteinpflaster, in denen nur noch schwarze Erde zu sehen war. Eine schmalschultrige Blondine mit Kurzhaarschnitt blickte zu mir hoch und bot mir einen Pflasterstein an. Unschlüssig blieb ich mit dem Stein in der Hand stehen. Als wolle sie mir ein Beispiel geben, richtete sie sich auf und schleuderte einen Wacker in die Kette der Polizisten. Im Gedränge konnte ich nicht verfolgen, wo ihr Geschoß landete, aber ihrem Fluch entnahm ich, daß der Wurf zu kurz gewesen war. Ich blickte auf die Polizisten - in der Mehrzahl schlecht ausgerüstete Zwanzigjährige mit Schirmmützen auf dem Kopf und kurzen Knüppeln, Die Vorstellung, daß der scharfkantige Stein in meiner Hand das Gesicht eines Menschen treffen könnte, bereitete mir Unbehagen. Die Werferin drehte sich zu mir um. »Was ist los mit dir, Ladehemmung?« Ich ließ den Stein fallen und ging weiter. »Feigling!« rief sie mir nach.' Das Blut schoß mir in die Stirn: Bei meiner er- 128 129 Auch von den Würmern möchte ich dir berichten. So heißen im offiziellen Sprachgebrauch diejenigen, die das Land verlassen wollen, solange das noch möglich ist. Es sind nicht nur die Reichen, die enteigneten Gutsbesitzer, Freiberufler und Funktionäre einer gestürzten Diktatur; auch Bauern sind dabei, Pfarrer und kleine Händler, deren Läden verstaatlicht wurden. Sie stehen Schlange vor dem Außenministerium und vor den Botschaften Spaniens und der Schweiz. Sie sind leicht an ihrer Absonderung, ihrer Angst und ihrem Habitus zu erkennen. Vor dem Abflug nach Madrid warten sie, an die Glaswände der Halle gepreßt, in der Hoffnung, noch einen Platz zu bekommen, während wir, Mascha und ich, schon unsere Bordkarten in der Hand haben. Plötzlich stehen sie als die Opfer und wir als virtuelle Sieger da. Sie glauben, daß wir mit den Wachen im olivgrünen Battiedress sympathisieren. Das verleiht ihrem Schweigen einen lauernden Sinn. Der Sinn für Freund und Feind ist in Cuba außerordentlich geschärft. Auf beiden Seiten überkamen uns unangenehme, mulmige Gefühle. Endlich hob das Flugzeug ab. Drei alte Bauern waren mit an Bord. Einer von ihnen kam mit Meßbuch und Brevier in der Hand in die Kabine. »Hier habe ich sie, meine Papiere«, sagte er zum Steward. »Die brauchen Sie nicht mehr, Seňor, Die können Sie wegstecken,« Eine ungewohnte, berauschende Sache, mit diesem Wort angesprochen zu werden! Die Damen waren in ihren besten Kleidern gereist, mit dem teuren Samtenen, mit bestickten Handtäschchen, mit Hüten und Schleiern. Backfische kritzelten aufgeregt in ihre Poesiealben. »jAh la buona comidak rief der betrunkene, ausgemergelte Bauer aus, als das Essen serviert wurde. In Madrid empfing sie ein unförmiger Dominikaner- 218 mönch bei minus vier Grad Celsius. Die Hand an die Gurgel, Taschentücher an den Mund gepreßt, betraten die Emigranten die Fremde. t~Binmal hast du mir von den schweren eisernen Läden vor den Türen und Fenstern der Prager Altstadt erzählt, von verrosteten Schlösser-» und riesigen Schlüsseln, dunklen Kirchen, Fassaden, von denen der Mörtel fiel, und von den Ausländerhotels am Wen^elsplat\ Dort gab es Mädchen, die nur für Devisen igt haben waren, Geheimpolizisten, konspirative Gespräche ... Oder war das früher? Wann? 1964? 1967? Die Prager Bilder sind schwer zu datieren. Ich müßte in alren Postkarten wühlen, Zeitungsausschnitte sammeln, Biographien rekonstruieren. Das lasse ich lieber. Nur die eisernen Läden sind dieselben geblieben, die Kneipen des unbezähmbaren Erzählers Hrabal, aus denen schon am Vormittag Betrunkene stolpern, die Korridore, auf denen der staünisti-schc Kadaver vor sich hin fault, die Steine auf dem jüdischen Friedhof, die rasselnden Straßenbahnen aus der Vorkriegszeit, die Villen der Kollaborateure von damals und von heute. Aber wann genau, das weiß ich nicht. Erst später sind die verbotenen Sätze auf die Straße gegangen. Zweitausend, zwanzigtausend, zweihunderttausend Worte. Umzüge, Resolutionen auch hier, Machtkämpfe, Manifeste, Gerüchte, elementare Forderungen, erwartungsvolles Fieber. Was hatte diese rasende Bewegung mit den anderen rasenden Bewegungen zu tun, mit den Scharaden von Paris und Berlin, der gefährdeten Idylle von Peredelkino, der Irrfahrt der bolivianischen Guerrilleros rund um die Welt, dem Feuersturm am Mekong-Fluß? Alles und nichts, Wie soll ich das alles gleichzeitig »verstehen«, mir »einen Vers darauf machen«, es »auf den Begriff bringen«? I 219 Einiges aus Cuba wirst du doch mit nach Hause gebracht haben? Zeig mir deine Souvenirs! Einejvfachete, Marke Krähender-Hahn, mit Griff 60 cm lang, aus chinesischer Produktion. Längst vergilbte Polaroids. Ein Gchrock, vor dem Ersten Wütkrieg geschneidert von Franz Winter, Braunau i. B. Filmrollen in einer Blechschachtel. Ein Album vom Conscjo Nacional de Cultuia mit graphischen Wunderwerken, auf denen Allegorien des Genusses und des Reichtums zu sehen sind, golden geprägte Aufkleber für Zigarrenkisten mit Kronen, Medaillen und vollbusigen Damen mit rosigen Metzgerinnenwangen, die Ceres und Industria verkörpern, die Göttinnen des Feldes und der Manufaktur. Qualite somptueuse! In einer Blechschachtel ruht der Panzerkreuzer Aurora en miniature. Dann gibt es noch eine indische Hausjacke aus Seide mit Paisley-Muster, nie getragen, auf deren Etikett steht; »Burlington's Ashoka Hotel, New Delhi«. Kambodschanische Münzen, Rubdschemc, Hongkong-Dollars. Eine braune, zerbröselnde Zwei-Peso-Banknote, die nie viel wert war, unterschrieben von Ernesto Guevara de la Serna, Chef der eubanischen Nationalbank - ausgerechnet von ihm, der mit Geld nie umgehen konnte! Diese Restposten gleichen einem Sargasso-Meer auf dem Trockenen. Hast du manchmal von Cuba geträumt? Sicher. Ich weiß nur nicht, warum es mir so schwergefallen ist, von dieser kleinen, unbedeutenden, verrückten Insel loszukommen. Mehr hast du mir nicht t$i sagen? Nein. 1968, das ist inzwischen nichts weiter als eine imaginäre Jahreszahl, ein Gewimmel von Reminiszenzen, Selbsttäuschungen, Verallgemeinerungen und Projektionen, das 236 sich an die Stelle dessen gesetzt hat, was in diesen paar Jahren passiert ist. Die Erfahrungen liegen begraben unter dem Misthaufen der Medien, des Archivmaterials, der Podiumsdiskussionen, der veteranenhaften Stilisierung von Erfahrungen, die unterderhand unvorstellbar geworden sind. Mit einem Resümee kannst du wohl nicht dienen? Mein lieber Alter, du weißt so gut wie ich, daß der Tumult nie ein Ende nimmt. Er findet nur anderswo statt, in Mogadischu, in Damaskus, in Lagos oder in Kiew, überall dort, wo wir das Glück haben, nicht zu leben. Das ist nur eine Frage der Perspektive. Das klingt versöhnlich. Hoffentlich nicht. So wie du wollte ich nie werden. Zum Glück sind wir einander ziemlich unähnlich. Wenigstens darauf können wir uns einigen. I Die Trümmer Der Gleichmut, mit dem die Deutschen gleich nach dem Krieg durch ihre zu Steinwüsten bombardierten Städte trotteten, mit dem sie hungerten und hamsterten, den Verlust ihrer Ämter, ihres Eigentums, ihrer Überzeugungen ertrugen, wie willig und demütig sie mit den Besatzungsbehörden kooperierten - das alles hat ausländische Beobachter schon damals bis zur schieren Fassungslosigkeit erstaunt, weniger die Deutschen selbst. Was war mit ihnen geschehen? Fühlten sie sich bestraft und zu Recht, waren sie über Nacht einsichtig, verantwortungsbewußt, schuldbewußt geworden? Und bekehrt durch was? Etwa durch ein plötzlich erwachtes Gewissen, durch eine sofort in Ost und West einsetzende re-education? Oder nur durch die Wucht einer totalen Niederlage? Wenig oder nichts deutet hin auf eine solche millionenfache innere Revolution. Aber daß sich außer ein paar versprengten Banden von Werwölfen nichts gegen die Niederlage, die Sieger und Besatzer regte, kein Par-tisanentum, kein passiver Widerstand, kaum dumpfer Stolz oder bloßer Widerwille - das war unerwartet nach fünfeinhalb Jahren, in denen dieses gleiche Volk der Deutschen die ganze Welt in Schrecken, in Staunen oder sogar in eine widerwillige Bewunderung versetzt hatte: Europa von Narvik bis Kreta, von Bordeaux bis Stalingrad hatten sie überrollt und unter der Knute gehalten, in Afrika und auf dem Atlantik gekämpft, schon plante ihre Führung, vom Kaukasus über Afghanistan nach Indien zu marschieren, der Weltherrschaftswahn schien an keine Grenzen zu stoßen - und nun dieser stille, unhörbare innere Zusammenbruch. Die Städte in Schutt, die Seelen offenbar auch. I Das alles wird vollständig nicht zu erklären sein, weder der Tau- mel und die Energie vorher noch diese passive, ja schlaffe Schicksalsergebenheit danach. Denn auch, daß wir Restdeutschen zunächst mit nichts weiter beschäftigt waren als mit Überleben und Improvisieren, keine Zeit hatten aufzuwachen, auch dieses »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral« liefert zwar eine, aber keine vollkommene Erklärung. Wenn ich von dieser Nachkriegsbetäubung und ihrer Vorgeschichte zu erzählen versuche, nämlich der Generation meiner Kinder, ein oder zwei Jahrzehnte nach dem Krieg geboren, versuche ich immer wieder ihnen und auch mir in Erinnerung zu rufen, wie unvorstellbar kurz diese NS-Zeit war, gut sechs Jahre nur von der sogenannten Machtergreifung bis zum Ausbruch eines neuen Weltkriegs - der letzte lag erst zwanzig Jahre zurück - und noch kürzer die Zeitspanne bis zur neuen und diesmal totalen Niederlage. Zwölf Jahre rasend beschleunigte Geschichte, zuviel in zu kurzer Zeit, um in einem normalen Bewußtsein erfahrbar und verarbeitet zu werden. Denn der deutsche Alltag ging ja, wie ich versucht habe zu erzählen, auch im totalitären Staat, sogar im totalen Krieg für viele seinen gewohnten, trägen, durch tausenderlei Routinen eingeschliffenen Gang und bot einen Schutzraum, eine Art Heimat gegen die große, rasende Zeit, in die Hitlers »Bewegung« Volk und Reich hineingerissen hattej Ganz bei sich, hellwach und zurechnungsfähig, dürfte die Mehrzahl der Deutschen diese auf wenige Jahre zusammengeballte Epoche nicht erlebt haben, ganz gleich, ob sie außer sich waren vor Begeisterung oder gelähmt vor Schrecken oder abgetaucht in eine innere Emigration oder sich nur blind durchwurstelten in den Routinen ihres Alltags. Genau diese Benommenheit setzte sich offenbar unter anderem Vorzeichen fort, als im Frühjahr 45 der Traum oder Alptraum zerstoben war. Er konnte sich nicht vorstellen, was er angestellt hatte, so hat später Hannah Arendt den monströsesten Fall von Unzurechnungsfähigkeit, den Fall Eichmann, auf eine Formel gebracht. Ich fürchte, das gilt modifiziert auch für die meisten seiner Volksgenossen. Sie hatten sich nicht vorstellen wollen und können, in was sie da hineingeraten waren, und nun auch nicht, daß es so jäh zu Ende war. 126 127 bleiben könnten, was auch immer geschehen möge. Ihr Vater, Generaloberst Kurt von Hammerstein-Equord, war bald nach der nationalsozialistischen Machtübernahme aus seiner hohen aktiven Stellung entfernt worden, hielt aber mit seinen Generalskameraden das Geschehen genau im Auge und war von tiefstem Mißtrauen gegen Hiders Kriegspläne erfüllt. Das waren aufregende Aspekte. Als Grete [Helga] sich von mir verabschiedete, ahnten wir beide, daß dies für lange Zeit sein werde, wenn wir überhaupt die kommende Epoche überleben würden.« Helgas Mann galt wegen eines Lungenleidens als kriegsuntauglich; er entging der Einberufung. Das erlaubte ihm, während des Zweiten Weltkriegs in Stahnsdorf im Südwesten von Berlin eine Gärtnerei auf biodynamischer Basis zu gründen. Das war eine Nische, in der sie überleben konnten und die sich für die ganze Hammerstein-Familie und ihren Freundeskreis als segensreich erwies. Die Rossows konnten sie mit Obst und Gemüse versorgen. Fünfte Glosse. Über den Skandal der Gleichzeitigkeit »Zu den schockierendsten und zugleich wichtigsten Erfahrungen bei dem Sichhineinarbeiten in eine uns,,den Nachgeborenen, fremde Zeit, gehört die von der Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit, die vom Nebeneinander von Terror und Normalität, von Gewöhnlichem und Sensationellem, von Schlagzeile und Kleingedrucktem, von politischem Leitartikel und Anzeigenprosa, von retuschiertem Propagandafolo und belangloser Reklame, wie sie einem bei der Lektüre von Zeitungen entgegentreten.« Soweit der Historiker Karl SchlögeL und er fährt fort: »Hier stehen neben der Verkündung der Todesurteile die Ankündigung eines Klavierwettbewerbs; Berichte über die Ausweitung des Netzes von Friseursalons und chemischen Reinigungen neben den Meldungen über wachsende Kriegsgefahr. Im Kinotheater laufen Kinokomödien a la Hollywood, während sich die Wohnungen im benachbarten >Haus der Regierung< infolge der Verhaftungen leeren. Die Gefängnisse sind in Sichtweite neu errichteter Schulen und jeder weiß, was die schwarzen Lieferwagen transportieren.« Schlögel zitiert aus der Prawda und aus der Moskauer Abendzeitung Wjetschernaja Moskwa des Jahres 1936. Aber was er beschreibt, gilt auch für die Münchener Abendzeitung des Jahrgangs 1938. In ein und derselben Nummer des Blattes kann man folgendes lesen: »Bonbonniere: Der Erfolg steigert sich! Täglich 8 Uhr Die Humorsprit^e... Die alte Synagoge und der letzte Betsaal der Juden in München ist beseitigt... Man wälzt Probleme und übersieht dabei die nächstliegenden Dinge. Versuchen Sie einmal Schivai\ Weiß, dann wird Ihnen urplötzlich Idar, wie unwahrscheinlich gut und vorteilhaft man rauchen kann... Alle Angebote mit diesem Stern sind mit der gut bekannten Immerglatt-Einlage verarbeitet... Für den Vertrieb meiner erstklassigen Korselett-Hüftformer u.s.w. suche ich tüchtige Vertreterinnen. Korsetten Kleeberg seit 1933 rein arisches Geschäft... Gauleiter Wagner rechnet mit dem Judentum ab... Letzte Wiederholung: Das Weib bei fernen Völkern. Spätvorstellung Diskretion Ehrensache... Die Judengeschäfte sind nicht bloß zeitweilig, sondern dauernd geschlossen... .Welche ältere Frau, sich einsam fühlend, möchte mit mir son- 242 243 Straßenbild. Moskau 1935/36 nigen Lebensabend verbringen. Habe Frohsinn und suche Glück... Große Hubertusfeier des Jagdgaues Oberbayern... Mit dem kürzlich erfolgten Übergang der Firma Felsenthal & Co, Zigarren- und Tabakfabriken, in deutschen Besitz kann der Arisierungsprozeß in der deutschen Zigarrenindustrie im großen und ganzen als abgeschlossen angesehen werden... Sekt ist billig, Haus Trimborn Cabinet mit Zusatz von Kohlensäure Vi Fl. 1.50... Bis jetzt sind in München etwa 1000 Juden verhaftet worden und zwar deshalb, um für alle Fälle Faustpfänder in der Hand zu haben. Dabei hat sich gezeigt, daß jeder von ihnen irgend etwas bereits auf dem Kerbholz hat.« Allerdings stellen die weithin sichtbaren Pogrome vom November 1938 eher die Ausnahme als die Regel dar. Im Gegensatz zu den Stalinisten haben die Nazis ihre Verbrechen gewöhnlich nicht offen zur Schau gestellt, sondern als »Geheime Reichssache« getarnt. Gemeinsam sind beiden Regimes jedoch die Ungleichzeitigkeiten, von denen Schlögel spricht. Sie haben mit der unbesiegbaren Zähigkeit des Alltags zu tun. Wenn es um Wohnungsnot, Liebschaften, Geldsorgen, um das tägliche Mittagessen und um das Waschen der Windeln geht, stoßen Ideologie und Propaganda irgendwann an ihre Grenzen. In diesem Sinn kann nur von totalitären, nicht aber von totalen Gesellschaften die Rede sein. Selbst unter den exjr\ tremen Bedingungen der Konzentrationslager ist es den Be- \ wachern nie gelungen, die Alltäglichkeit vollständig auszulöschen; selbst dort wurde noch getauscht, geflüstert, gestlitten und geholfen. v Um so mehr gilt das für die Überreste der Zivilgesellschaft im Reiche Hitlers. Zahlreiche Nischen haben dort bis in die letzten Jahre des Krieges überlebt. In den Sommern waren die 245 Badestrände überfüllt, man widmete sich der Bienenzucht, spielte Fußball, sammelte Briefmarken oder ging segeln. Die Volksgemeinschaft blieb Fiktion. Während die einen nach Feierabend ihren Schrebergarten kultivierten, gingen andere zum Tanztee ins Adlon oder trafen sich im Jockeyclub. Trotzdem hat es natürlich nicht an Versuchen gefehlt, auch die residuale Lebenswelt zu kontrollieren und nutzbar zu machen. Die Massenunterhaltung genoß hohe Priorität. Während die Nürnberger Gesetze verkündet wurden, produzierte die UFA Filme wie Immer wenn ich glücklich bin und Zwei mal s>wei im Himmelbett, Auf dem Höhepunkt der Aufrüstung wurden unter dem Motto »Kraft durch Freude«, das jede heutige Werbeagentur vor Neid erblassen ließe, Urlaubsreisen und Kreuzfahrten für die »Arbeiter der Stirn und der Faust« organisiert. Im übrigen stieß die totale Herrschaft in den dreißiger und vierziger Jahren auch auf technische Grenzen. An Überwachungsmöglichkeiten, wie sie heute auch in demokratisch verfaßten Gesellschaften zum Alltag gehören, war damals noch nicht zu denken. Das erldärt vielleicht, wie erstaunlich offenherzig und unvorsichtig viele Tagebücher und Briefe aus jenen Jahren anmuten und wie folgenlos das allgegenwärtige »Meckern« gewöhnlich blieb. Die Hauptquelle der Gestapo war nicht ein allgegenwärtiger Abhör- und Uberwachungs-apparat, sondern die grassierende Denunziation. Daß es unter den Bedingungen eines solchen Regimes Zonen scheinbarer Normalität gegeben hat, ist allerdings kein Trost; im Gegenteil, es mutet eher unheimlich an. Den Nachgeborenen muß es schwerfallen zu verstehen, wie ungerührt »unpolitische« Lebenswelten im Angesicht des Terrors überwintern konnten. Dem Skandal der Gleichzeitigkeit ist jedoch mit rasch gefällten moralischen Urteilen nicht beizukommen; denn er läßt sich nicht einfach auf die Vergangenheit zurückdatieren. Seine Virulenz ist auch unter heutigen, weit komfortableren historischen Bedingungen nicht erloschen. Besuche auf dem Lande Seine Kontakte mit Gleichgesinnten hat Hammerstein, mit der gebotenen Vorsicht, immer aufrechterhalten. Zu ihnen gehörte die Familie der Grafen zu Lynar, die ein Gut im Spreewald besaßen. (Der Graf war in den vierziger Jahren der Adjutant des Generalfeldmarschalls Erwin von Witzleben, der nach dem 20. Juli 1944 hingerichtet wurde.) In seinem Tagebuch notiert Ulrich von Hassell, was ihm bei einem Besuch im Dezember 1937 auffiel: »Bei Kurt Hammerstein. Er ist so ungefähr das Negativste gegenüber dem Regime der >Verbrecher und Narren<, das man sich vorstellen kann, hat auch wenig Hoffnung auf die geköpfte und entmannte Armee.« Bei Carl-Hans Graf von Hardenberg kann man in einem Erlebnisbericht, den er zu Silvester 1945 niederschrieb, ebenfalls einiges über die Ansichten seines Freundes nachlesen: »Der sehr lduge Generaloberst Freiherr von Hammerstein, der trotz seiner schweren Erkrankung - er starb noch vor dem 20. Juli 44 - eng mit Generaloberst Beck zusammenarbeitete, vertrat die Auffassung, daß unbedingt von einem Attentat abgesehen werden müßte, da der Deutsche politisch derart wenig begabt sei, daß er die Notwendigkeit nie einsehen werde, wenn er nicht den bitteren Kelch bis zur Neige tränke. Er würde vielmehr immer behaupten, daß der Ehrgeiz das Genie 246 247 Freiburg präsentierte sich schon in den fünfziger Jahren als eine idyllische, kulturbeflissene Stadt, die von der Hitlerei halbwegs verschont geblieben war. Obwohl meine Geschwister und ich in Ruinen aufgewachsen sind - Hitlers Luftwaffe hatte bei einem ihrer ersten Angriffsflüge gegen Frankreich das Freiburger Münster mit dem Straßburger Münster verwechselt und mehrere Stadtteile in Schutt und Asche gelegt -, hatte ich das Gefühl, daß der Krieg in Freiburg eigentlich nie stattgefunden hatte. Mein Geigenlehrer, ein Professor der Musikhochschule, war ein Anthroposoph mit Missionsdrang und hatte in seinem Unterrichtszimmer einen bilder- und mineralsteinreichen Altar für Rudolf Steiner aufgebaut. Ich war ratlos, wenn sich der bewegliche, tänzerisch begabte Mann mit dem weißen Haarkranz nach einem falschen oder gekratzten Ton auf der Geige mir näherte und, mit der Hand von meinem Hals über meinen Bogenarm abwärts streifend, meinen »Astralleib« zu erspüren suchte. Totale Entspannung, Hingabe an das Fluidum, an die Vibrationen zwischen mir und dem Unendlichen versuchte er mir nahezubringen. Aber ich konnte und wollte mich nicht entspannen, wollte und konnte nicht »locker« sein. »Lockerkeit« - ein Konzept, das unter anderen Vorzeichen erst in den sechziger und siebziger Jahren eine Weltkarriere machte - war mir zutiefst suspekt: eine Anweisung zum Abschlaffen, zum Augenschließen, zur Unterwerfung. Und schon gar nicht konnte ich die Abneigung meines Lehrers gegen alles Eckige und Kantige in mir und seiner näheren Umgebung nachvollziehen. Bücher, Notenständer und auch Partituren waren und blieben gottlob eckig; ich selbst fühlte mich über alle Maßen eckig. Nervös und gespannt wie ein Flitzebogen, war ich allergisch gegen alles Runde. Im weiteren Umkreis meiner Familie wimmelte es von lächelnden, bis zum Exzeß entspannten Anhängern Rudolf Steiners. Freiburg war schon damals ein Biotop für Anthro-posophen, Hobbyphilosophen und Heilkundige aller Sorten. Schnupfen, Grippe, Asthma, Blasenbeschwerden in der Familie wurden von Dr. Reps und seinen weißen Kügelchen geheilt. Undenkbar, daß einer von diesen liebenswürdigen, leicht spin-nerten, aber nie wirklich komischen Harmonikern jemals in einem Weltkrieg gewesen war oder Hitler zugejubelt hatte. Im übrigen paßte ich mit meinen Neigungen und Interessen in das kulturbeflissene Idyll, das ich später gern als Spießerparadies bespöttelte. Schon als Zehn- oder Elfjähriger holte ich meinen Vater auf dem Heimweg von der Schule oft von der Orchesterprobe im Freiburger Stadttheater ab. Nachdem ich den Bühneneingang passiert hatte, gelangte ich durch ein Labyrinth von Gängen und Treppen nach oben. Auf Zehenspitzen betrat ich den dunklen, vollkommen leeren Zuschauersaal und nahm auf einem gepolsterten Sitz in einer der hinteren Reihen Platz. Von dort sah ich den heftig bewegten Hinterkopf meines Vaters und seine ausgebreiteten, gleichsam schwebenden Arme über dem nur von Lichtpunkten erhellten Orchestergraben. Das einzige, was in dem riesigen dunklen Raum deutlich zu erkennen war, waren die Hände meines Vaters. Schauer liefen über meinen Rücken, wenn er mit einem fast unmerklichen Heben des Stabes in der rechten, dann mit einem Wink der linken Hand die unsichtbaren Instrumentengruppen in der Tiefe des Orchestergrabens aufrief oder sie mit einem knappen Querstrich zum Verstummen brachte. In der Sexta und Quinta kritzelte ich - in Anlehnung an Eichendorff und Heine - Landschaftsgedichte und Balladen in ein Heft. Als ich einem Schulfreund, einem langen und kräftigen Bauernsohn, auf dem Heimweg davon erzählte, forderte er auf der Stelle eine Probe meiner Kunst. Auswendig trug ich ihm drei Strophen eines eben verfaßten Herbstgedichtes vor. Als ich geendet hatte, sah ich ihn, meinen ersten Zuhörer, unsicher an. Ohne Vorwarnung verpaßte er mir eine Ohrfeige, die ich lange auf der Wange spürte - er wollte nicht glauben, daß das Gedicht von mir war. Mit zwölf, dreizehn Jahren schrieb ich dann Märchen der Gebrüder Grimm - darunter »Schneewittchen« und »Das tapfere Schneiderlein« -in fünfaktige Dramen mit gereimten Versen um. Unser Lateinlehrer, der wegen einer Kriegsverletzung den Spitznamen Humpelmüller trug, machte sich die Mühe, die Stücke auf der Schreibmaschine abzuschreiben und zu inszenieren. Seine Schwäche für meine Märchendramen hat mich mindestens einmal vor einer versetzungsgefährdenden Abschlußnote »fünf« im Fach Latein bewahrt. Nach einem kurzen Abstecher in die Kategorie »Abenteuerroman« im Karl-May-Stil versuchte ich mich mit Hörspielen in der Nachfolge von Ingeborg Bachmann und Wolfgang Borchert. In einem Lesekreis trug ich das eine oder andere vor. Nach der Lektüre wurde dann über Fragen wie die Existenz Gottes, den Nihilismus und den Sinn des Lebens diskutiert - Politik gehörte nicht zu unseren Themen. In meiner Familie wurde hin und wieder über den Krieg gesprochen, aber eigentlich nur über das Kriegsende, genauer, über die Flucht meines Vaters aus dem Gefangenenlager in Südfrankreich, j Er war nur verhältnismäßig kurz im Krieg gewesen und hatte in dieser Zeit keinen Schuß abgegeben. Propagandaminister Goebbels hatte die deutschen Opernhäuser und Theater bis zum September 1943 in Betrieb gehalten - mit der Folge, daß mein Vater seinen Beruf als Dirigent bis zu diesem Zeitpunkt ausüben konnte. Danach war er dank seiner trainierten Pianistenfinger als Funker hinter der Westfront eingesetzt worden und bei Kriegsende in französische Gefangenschaft geraten. Seine Flucht wurde zu einem Familienmythos - aber nicht etwa wegen ihrer perfekten Planung, sondern wegen der seltsamen Mischung aus Kühnheit, Naivität, Leichtsinn und Optimismus, die mein Vater dabei an den Tag legte. Aus irgendeinem Grund besaß er noch etwas Geld, das er als Nichtraucher durch den Verkauf seiner gehorteten Zigarettenrationen zielstrebig vermehrte. Es war ihm klar, daß eigentlich nur eine Flucht in ziviler Kleidung Erfolg versprach. Da es ihm nicht gelang, sich einen Anzug oder auch nur einen Mantel zu beschaffen, begnügte er sich mit einer Baskenmütze, die ihm ein Wachmann für mehrere Zigarettenpäckchen abtrat. An Allerheiligen 1945 entschloß er sich zur Flucht und überwand den Lagerzaun. In seiner Häftlingskleidung und mit der Baskenmütze auf dem Kopf erreichte er unbehelligt den nächsten Bahnhof und löste dort eine Fahrkarte erster Klasse nach Lyon. Seine Hoffnung war, daß ein Fahrgast in der ersten Klasse, der seinen Rücken mit dem Aufdruck »POW« (Prisoner of war) fest gegen die Rückenlehne preßte und eine Baskenmütze auf dem Kopf hatte, praktisch unsichtbar wäre und nicht überprüft werden würde. Seine Rechnung ging auf - der Schaffner fragte lediglich nach seinem Fahrschein. In Lyon angekommen, hinderte ihn ein Plakat daran, seine Flucht nach Norden fortzusetzen. Auf dem Plakat war für diesen Feiertag der Auftritt eines berühmten Dirigenten angekündigt, dessen Name mir entfallen ist. Auf dem Programm standen klassische französische und auch deutsche Werke, darunter ein oder zwei Lieblingsstücke meines Vaters. Nichts hatte der POW während der Gefangenschaft so sehr entbehrt wie Musik. Da erst am Abend ein Anschlußzug nach Straßburg fuhr, wurde die Anziehung, die das Plakat auf ihn ausübte, unwiderstehlich. Er fand in die Stadthalle oder in das Theater in Lyon und besuchte das Konzert. An dieser Stelle verliert sich die Geschichte für eine Weile im Gestrüpp der widersprüchlichen Erinnerungen derer, die sie gehört haben. Ich halte es aber auch für möglich, daß mein Vater uns Kindern und seiner jungen zweiten Frau, die er erst nach dem Tod unserer Mutter in den ersten Nachkriegsjahren kennengelernt hatte, unterschiedliche Versionen erzählt hat. Nach meiner Erinnerung schummelte er sich in Lyon ohne Eintrittskarte in das Konzert hinein. Mit dem Rücken immer an der Wand blieb er in der Nähe einer Einlaßtür stehen. Seine Angst, entdeckt zu werden, schwand, als das Licht ausging und die ersten Akkorde des Orchesters erklangen; er habe sich zurückhalten müssen, nicht mit den Händen mit-zudirigieren. In der Pause zwischen Rameau und Beethoven 24 25 um die Welt ging und noch in Afrika und Lateinamerika zu Eruptionen führte. Es gab einen weltweit agierenden revolutionären Rattenfänger, dessen Ruf alle jungen Ratten auf der Welt verstanden. Der Protest hatte in den USA begonnen und griff von dort zeitversetzt und mit unterschiedlicher Intensität auf Westeuropa über. In meiner Erinnerung tauchen die Schockbilder aus dem Vietnamkrieg auf, die mich und tausend andere auf die Straße trieben und sich inzwischen ins Gedächtnis der Menschheit eingeprägt haben: das Foto von zwei lachenden GIs auf einer Landstraße, die als Trophäe den abgeschnittenen Kopf eines Vietcong an den Haaren halten; das Bild von dem südvietnamesischen Offizier, der seine Pistole am Kopf eines jungenhaften Gefangenen im karierten Hemd abdrückt; das weltberühmte, mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete Foto, das eine Gruppe von fliehenden Kindern nach einem Napalm-Bombenabwurf zeigt, darunter die nackte Kim Phiic. Aber den Angaben bei Google-Bilder entnehme ich, daß meine Erinnerung mich trügt. Die meisten dieser Fotos stammen aus den frühen siebziger Jahren. Und ich lese bei Google auch, was ich zur Zeit der Veröffentlichung des Kim-Phüc-Fotos in meiner Empörung überlesen hatte: daß es sich keineswegs um nordvietnamesische Kinder gehandelt hatte, die von amerikanischen Flugzeugen bombardiert worden waren, sondern um südvietnamesische Kinder, die in das »friendly fire« der südvietnamesischen Luftwaffe geraten waren - und die Katastrophe alle überlebten. Die westdeutsche Protestbewegung hat den Umstand nie verleugnen können, daß sie ihre wichtigsten Impulse der Bürgerrechtsbewegung und den Vietnamprotesten in den USA verdankte. So gut wie alles, was nach den braven, noch von den ordentlichen Plakaten der Arbeiterbewegung geprägten Umzügen der Ostermarschierer und der Notstandsgegner neu und aufregend war, stammte aus dem Land des großen Feindes: die Sit-ins und Teach-ins, die Kleidung - die wir im PX-Laden in Dahlem ertrödelten -, die Rockmusik, die Protestsongs (Joan Baez, Bob Dylan und Woodie Guthrie) und der Begriff des »zivilen Ungehorsams«. Nur die Smoke-ins konnten - jedenfalls im Umkreis des kopflastigen Berliner SDS - lange Zeit nicht Fuß fassen und wurden erst zur Zeit der »umherschweifenden Haschrebellen« populär. Die heitere Formel eines amerikanischen Musikers: »Wer sich an die 60er Jahre erinnern kann, ist nicht dabeigewesen« trifft auf die Berliner Szene nicht zu. Nie habe ich einen unserer Führer mit einem Joint in der Hand gesehen, schon der Gedanke an ein solches Bild wäre einem Sakrileg gleichgekommen. Und doch war die Berliner Protest-kultur in viel höherem Maße amerikanisiert als der Rest der Gesellschaft. Den meisten 68ern ist diese Prägung in der Anfangszeit bewußt gewesen. Schon aus diesem Grund geht der Vorwurf des Antiamerikanismus in die Irre. In den meisten Flugblättern und Reden gegen den Vietnamkrieg wurde Wert auf die Unterscheidung zwischen der amerikanischen Regierung und ihren Bürgern gelegt oder, wie es später - in einer bereits ideologisierten Sprache - hieß, zwischen dem »US-Imperialismus« und dem »amerikanischen Volk«. Aber es läßt sich auch nicht leugnen, daß im Haßrausch des Protestes auch genuin antiamerikanische Parolen gerufen wurden, Parolen wie »USA-SA-SS«. Ich kann nicht die Hand ins Feuer dafür legen, daß ich diesen Buchstabenzauber, der die Befreier von einst als die neuen Nazis identifizierte und uns, den Nazisöhnen und -töchtern, eine billige Entlastung anbot, nicht mitgebrüllt habe. Damals jedoch zeigten uns die Passanten, die kopfschüttelnd auf den Trottoirs standen, den Vogel und forderten uns auf, doch »nach drüben zu gehen«. Nach vierzig Jahren ist ein historischer Stimmungswandel zu verzeichnen. Der amerikakritische bis -feindliche Konsens, der in den sechziger und siebziger Jahren von der bekannten »kleinen, radikalen Minderheit« getragen wurde, hat eine erstaunliche Karriere hinter sich. Er ist inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das Stichwort »USA« löst bei Taxifahrern, Polizisten, Moderatoren, Politikern und Kirchenmännern das fdeiche vorwurfsvolle Kopfschütteln aus, das damals den protestierenden Studenten galt. Seltsamerweise haben viele die- 108 109 Der Frühling 1967 verging mir wie im Rausch. Unfaßbar was in diesen Tagen alles passierte, genauer gesagt, was wir alles passieren ließen. Die Geschichte ging im Sauseschritt und wir, davon war ich überzeugt, zeigten ihr den Weg. Wie i bei einem Film, dessen Plot man längst vergessen hat, sind es eher die Bilder als die Inhalte der Kampagnen, die i m Gedächtnis haften: Mein Freund Eckhard Siepmann, der (hei einer Demonstration gegen die Notstandsgesetze vor dem Reichstagsgelände) ein mantellanges Plakat vor sich beiträgt 1 mit der Aufschrift: »Mein Papi möchte wieder Blockwart werden«; die mit roter Tinte gefüllten Farbbeutel, die nach einer 1 Abschweifung von einer Ostermarsch-Demonstration gegen die Scheiben des Amerikahauses klatschen und dort blutige I Rinnsale hinterlassen; die Geste des Schriftstellers Reinhard Lettau, der am Ende einer fulminanten Agitationsrede im Au-1 dimax der FU einige Ausgaben der Springerzeitungen in die Hand nimmt und mit den Worten schließt: »Verzeihen Sic, wenn ich das Resultat meiner Berliner Presseanalyse dadurch mitteile, daß ich hier jetzt die Berliner Zeitungen zerreiße«; die erste, von der Kulturrevolution in China inspiriert»; Wandzeitung, die während derselben Veranstaltung von der Kommune I gezeigt wird. Oder das Spektakel während einer Demonstration vor dem Gerichtsgebäude in Moabit. Zwei berittene Polizisten stürmen auf Pferden in die vordere Reihe der Demonstranten und hauen mit langen Stöcken auf sie los. Die Demonstranten stieben und stürzen auseinander, Angst- und Protestgeschrei. Einer, ein untersetzter Kerl mit rabenschwarzen Haaren, löst sich aus der Gruppe der Flüchtenden, geht den beiden Reitern unerschrocken entgegen, weicht ihren Schlägen wie ein Boxer mit gelassenen Schwüngen seines Körpers aus und krallt r'ch nach einem Sprung am Schweif eines Polizeipferdes fest. Der Reiter gibt dem Pferd die Sporen, aber der Angreifer läßt ich nicht abschütteln. Halb mitrennend, halb sich schleifen lassend, hält er sich an dem Schweif fest und läßt erst ab, als das Pfei'd steigt und den Reiter abwirft. Danach geht er lässig -ur Slmic, als wäre nichts geschehen. Erst im Weggehen, kurz bevor er von Demonstranten schützend umringt wird, erkenne i-h in dem tollkühnen Kerl Rudi Dutschke. Der große Redner und Stratege - gleichzeitig ein Draufgänger mit Stuntman ijualitäten? Das Bild des in Panik steigenden Pferdes, des zur Seite abstürzenden Reiters und des zwischen den Hinterbeinen hin-und hergerissenen Rudi Dutschke setzte sich in meinem Gedächtnis fest. Meine Bewunderung war grenzenlos. So etwas würde ich nie und nimmer schaffen - oder am Ende doch, wenn ich meine Angst durch Schulung überwunden hätte? /"Wenig später stand ich unter einer Gruppe von Aktivisten, von denen einige auf dem Boden knieten und mit Taschenmessern Pflastersteine aus dem Trottoir wühlten. Als ich genauer hinschaute, entdeckte ich mehrere quadratische Aussparungen im Kopfsteinpflaster, in denen nur noch schwarze Erde zu sehen war. Eine schmalschultrige Blondine mit Kurzhaarschnitt blickte zu mir hoch und bot mir cnun Pflasterstein an. Unschlüssig blieb ich mit dem Stein in der Hand stehen. Als wolle sie mir ein Beispiel gehen richtete sie sich auf und schleuderte einen Wacker in die Kette der Polizisten. Im Gedränge konnte ich nicht verfolgen, wo ihr Geschoß landete, aber ihrem Fluch entnahm ich, dah der Wurf zu kurz gewesen war. Ich blickte auf die Polizisten - in der Mehrzahl schlecht ausgerüstete Zwanzigjährige mit Schirmmützen auf dem Kopf und kurzen Knüppeln. Die Vorstellung, daß der scharfkantige Stein in meiner Hand das Gesicht eines Menschen treffen könnte, bereitete mir Unbehagen. Die Werferin drehte sich zu mir um. »Was ist los mit dir, Ladehemmung?« Ich ließ den Stein fallen und ging weiter. »Feigling!« rief sie mir nach. Das Blut schoß mir in die Stirn: Bei meiner er- 128 129 sten Bewährungsprobe als Straßenkämpfer war ich durchgefallen! Aber war es nicht Konsens, daß Gewalt gegen Sachen legitim sei, Gewalt gegen Personen jedoch verboten? Nur: Was waren Sachen? Sachen waren nach Rudi Dutschkes Definition »unmenschliche Maschinerien«: die Rotationsmaschinen der Springerpresse etwa, die Filialen der Deutschen Bank, die Schiffe, die US-Waffen aus deutschen Häfen nach Südvietnam transportierten, Gerichtsgebäude, in denen ein Prozeß gegen Genossen stattfand. Wie aber, wenn ein Mensch zufällig oder von Berufs wegen vor einer solchen »Sache« stand? Wurde ein Wachmann oder Polizist, der ein Gerichtsgebäude bewachte, dadurch selbst zu einer Sache? Dazu befragt, hätte Rudi Dutschke mit einem energischen Nein geantwortet. Aber die Unterscheidung zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen blieb schwammig und offen für »Interpretationen«^ /jeder, der sich dem Protest anschloß, sah sich irgendwann mit der Mutfrage konfrontiert. Zuckte er vor einem Steinwurf gegen Polizisten zurück, weil er dafür gute, verteidigens-werte Gründe hatte oder weil er feige war? Theoretisch ließ sich die Mutfrage kaum beantworten. Da mir das Werfen von Steinen zuwider war, verordnete ich mir eine andere Bewährungsprobe. Bisher hatte ich mich bei Demonstrationen vor allem durch die Verfertigung von Slogans und rechtzeitiges Wegrennen hervorgetan. Wenn andere in der Kneipe nach getaner Demonstrationsarbeit von ihren Heldentaten berichteten, verfiel ich in Schweigen: Ich hatte noch nie einen Polizeiknüppel zu spüren bekommen und konnte mich des Verdachts nicht mehr erwehren, daß mit mir etwas nicht stimmte. Bei einer Demonstration - ich weiß beim besten Willen nicht mehr, worum es dabei ging - arbeitete ich mich wider meine Gewohnheit bis nach vorne durch. Als sich das Gros der Demonstranten bereits auf dem Rückzug befand, hakte ich mich in die erste Reihe ein, riß sie mit Ho-Ho-Ho-Ghi-Minh-Geschrei mit und stürmte auf die vorrückenden Polizisten los. Zusammen mit drei oder vier Mitkämpfern durch- brach ich die Polizeikette und fand mich plötzlich hinter der Linie des Feindes. Dutzende von Polizeiknüppeln nagelten auf uns nieder. Irgendwie gelang es uns dann doch noch, aus dem Ring von Uniformierten, der sich um uns schloß, herauszukommen. Anschließend wurden wir wegen unseres Vorpreschens kritisiert. Es fielen Vorwürfe wie »Abenteurertum« und »putschistisches Vorgehen«. Ich nickte, aber fühlte mich geadelt. Meine blauen Flecken konnte mir niemand mehr nehmen. »Anfangs waren wir alle feige«, erinnert sich einer der Mutigsten von damals, Christian Semler. »Aber dann hat man eben seine Angst überwunden.« i 130 131 Berlin oder Zürich traf und die Rechnung bestellte, stets vergeblich darauf wartete, daß Grass sein Portemonnaie zog. Eines Abends habe er, Frisch, es darauf ankommen lassen und den spontanen Griff zur Hosentasche verweigert. Wie im Western hätten sich die beiden Männer mit der Rechnung auf dem Tisch schweigend gegenübergesessen und sich belauert, wer als erster die erlösende Bewegung in Richtung Hüfte vollführen würde. Grass habe länger durchgehalten, und am Ende sei es wieder er, Frisch, gewesen, der die Zeche bezahlte. Aber diese Geschichte wird Grass' Umgang mit seinem Ruhm und Reichtum nicht gerecht. Ich habe viele, vor allem ausländische Schriftsteller getroffen, die mir davon berichteten, wie großzügig Grass sie bei ihrer Ankunft in Berlin mit Geld und dem Angebot, in seinem Haus zu wohnen, unterstützt hat. Spätestens nach der Verabschiedung der Notstandsgesetze (es handelte sich um ein Gesetzespaket, das die Regierung im Fall eines nationalen Notstands mit Sondervollmachten ausstattete) war es mit unserem Flirt mit der SPD vorbei. Die Notstandsgesetze wurden mit den Stimmen der SPD verabschiedet, was die meisten Mitglieder des Wahlkontors sogleich mit einem zornigen Protestbrief an den SPD-Vorstand quittierten. Wir wurden prompt zu einem Gespräch mit dem SPD-Vorstand empfangen, das zu unserem maßlosen Erstaunen nicht zu einem sofortigen Kurswechsel der Partei führte. Im Frühjahr 1966 zogen L. und ich in einer Hinterhofwohnung in Schöneberg zusammen. Die Wohnung bestand aus zwei großen Zimmern ohne Küche und Bad. Wir bauten eine Dusche ein, die Küche blieb ein Provisorium. L. hatte ihren Job an der FU aufgegeben und durch die Vermittlung von Freunden, die ich nicht kannte, eine Arbeit in einem Antiquitätengeschäft angenommen. Eines Abends, als sie von der Arbeit zurückkam, fragte sie mich, ob ich etwas dagegen hätte, wenn sie die Einladung eines ihrer Kunden zum Abendessen annähme. Ich erfuhr, daß dieser Kunde, ein distinguierter Mann im Blazer und mit Schnallenschuhen, sich einige Minuten vor dem Schaufenster herumgedrückt und die englischen Möbel und wohl auch die Verkäuferin inspiziert hatte, bevor er sich entschloß, das Geschäft zu betreten. Dann allerdings habe er den halben Laden leergekauft und L. in seine Villa irgendwo am Wannsee eingeladen. »Und deine Antwort?« fragte ich. Sie zuckte die Schultern. Der Kunde entstamme natürlich einer anderen Welt, genauer gesagt sei er ein Kapitalistenschwein, aber er habe erstaunlich gute Manieren an den Tag gelegt bilde sich nichts auf seinen Reichtum ein und sei überhaupt ganz anders, als man ihn sich vorstelle. Wieso sie bereits eine Vorstellung von diesem Kunden gehabt habe, wollte ich wissen. Weil ihn jeder kenne! Sie wundere sich, daß ich es immer noch nicht begriff: Der Kunde sei niemand anderer als der Besitzer des Hauses Springer, ja, ich hätte richtig gehört -wir redeten über Axel Springer. Und sie frage mich, ob sie seiner Einladung nun folgen solle oder nicht. Es sei meine Entscheidung. 96 97 Axel Springer war damals noch nicht zum Hauptfeind der Studentenbewegung, ich noch nicht zum Organisator eines »Springertribunals« ernannt worden. Aber daß ich diesem Menschen keinesfalls erlauben durfte, seinen verlegerischen Untaten die weitere hinzufügen, meine Freundin zu verführen, war mir schon damals klar. Und was riet ich meiner unschlüssigen Geliebten, die wieder einmal unter ihrer klassen- und generationenübergreifenden Anziehungskraft sichtbar zu leiden schien und mich ausdrücklich um Rat fragte? Statt ihr das Rendezvous auszureden, statt ihr bei Zuwiderhandlung mit sofortiger Trennung zu drohen, sagte ich etwas wie: »Das mußt du schon selber wissen!« Es war der erste Anfall jener trotzigen und verquälten Toleranz, die wenig später unter dem hochtrabenden Titel »Kampf gegen die sexuellen Besitzverhältnisse« Karriere machte^ Natürlich folgte L. der Einladung, schon um mich für meine Antwort zu strafen. Womöglich hatte sie auch andere, wichtigere Gründe, die in meinem damaligen Weltbild keinen Platz fanden. Als ein Flüchtling, der sich zweimal, sozusagen nach einem wiederholten, in erster Person erlittenen Test, vom »real existierenden Sozialismus« abgewandt hatte, sah sie ihre Lebenserfahrungen durch die antikommunistischen Berichte der Springerpresse womöglich hesser vertreten als durch die Ja-aber-Haltung meiner Skatfreunde. Trotz aller sogenannten »Fehler« oder »Defizite« galten die Staaten des Warschauer Paktes vielen westlichen Linken als das »kleinere Übel«; die DDR wurde als das »bessere Deutschland« angesehen. Aus L.s Sicht verteidigten die Springerblätter, wenn auch mit zugegeben demagogischen Mitteln, L.s »Wahrheit« besser als die Linken mit ihrer damals üblichen anti-antikommunistischen Haltung. An dem Abend, an dem L. zu Axel Springer ging, blieb ich zu Hause. Ich hätte mich mit Freunden verabreden, vielleicht einen Skatabend organisieren oder ins Kino gehen können -es war mir unmöglich, auch nur einen Fuß vor die Tür setzen. Ich vertrieb mir die Stunden, indem ich ohne Glück an meinem »Deutschland-Essay« weiterbastelte, in Neuerschei- nungen junger Autoren blätterte, die ich nach wenigen Absätzen angeekelt weglegte, mich zu beruhigen suchte, indem ich immer wieder meine Lieblingsplatte auflegte und den Lautstärkeregler bis zum Anschlag drehte: »Paint it black« von den Rolling Stones. Es war spät, als ich das Schlüsselgeräusch in der Tür hörte. Auf Zehenspitzen betrat L. die Wohnung. Sie schien unangenehm überrascht zu sein, als sie mich wach fand, hellwach. Es sei »interessant« gewesen, beschied sie meine Frage nach dem Verlauf des Abends. Aber sie sei jetzt nicht in der Stimmung, mir Rapport zu erstatten, sie sei müde. Und falls dies der Punkt sei, auf den ich mit meiner Frage abzielte - es sei »nichts passiert«. Auch am nächsten Morgen, als sie ausgeschlafen war, brachte ich nicht viel mehr aus ihr heraus. Man habe Champagner getrunken, Diener hätten ein Abendessen serviert, Axel Springer habe ihr seine eindrucksvolle Gemäldesammlung gezeigt - und übrigens, er stehe keineswegs hinter jeder Schlagzeile, die seine Zeitungen veröffentlichten. Er sei eben nur der Besitzer, nicht der Chefredakteur seiner Zeitungen. Was diese Ausfragerei überhaupt solle, dieses Verhör, das ich mit ihr anstelle? Natürlich habe er etwas von ihr »gewollt« -wenn es das sei, was ich meinte. Aber sie habe ihm von Anfang an die Grenzen ihrer Bereitschaft genannt. Und ihr Gastgeber, der Gentleman mit den guten Manieren, habe sich an die Verabredung gehalten. Damit hätte es sein Bewenden haben können. Wenn wir nicht ein paar Tage später von der Post aus dem Bett geklingelt worden wären. Zwei Austräger schleppten ein kubikmetergroßes Paket in die Wohnung, das auf allen Seiten mit »Zerbrechlich«-Aufklebern versehen war. Das Paket war an L. adressiert, als Absender firmierte eine Firma, deren Name mir nichts sagte. L. jedoch schien sofort eine Ahnung vom Inhalt des Ungetüms zu haben und schlug vor, es postwendend an den Absender zurückgehen zu lassen. Aber die Postleute waren schon gegangen, und ich - ich konnte meine Neugier nicht bezähmen. Mit einem Brotmesser machte ich mich über das Paket her, durchschnitt die Klebestreifen und schlug Diskret ersparte er mir jeden Hinweis auf gewisse Übereinstimmungen. Ihm hatte wohl vor allem der freche erste Absatz meines Essays gefallen: »Allerdings! Ich reiße Zitate aus ihrem Zusammenhang, was ich beschimpfe, das beschreibe ich unvollständig, und ich denke nicht daran, mich auf gewisse Voraussetzungen einzulassen. Mit einem Wort: Ich bin einseitig. Aber das hindert mich nicht daran, recht zu haben.« I Man kann sich nicht leicht vorstellen, was ein Anruf von Enzensberger für einen Anfänger wie mich bedeutete - nur ein Anruf von Albert Camus oder Jean-Paul Sartre hätte mich noch mehr beeindruckt. Von den Autoren der Flakhelfer-Generation war Enzensberger der einzige, der in seinen Gedichten und Essays den neuen Ton der Ungeduld, des Zorns und der Anklage gegen die Nachkriegsgesellschaft angeschlagen hatte. In der heldenarmen Generation der damals Fünfunddreißig- und Vierzigjährigen war er der einzige Held. Der Einfluß von Enzensberger auf die zehn bis zwölf Jahre jüngeren Führer der Revolte kann gar nicht überschätzt werden. Nicht zufällig kamen Rudi Dutschke, Gaston Salvatore, Christian Semler, Bernd Rabehl, Bahman Nirumand, Horst Mahler, Wolfgang Lefevre - ebenso wie wohl neunzig Prozent der frühen Aktivisten - aus den sogenannten »Geisteswissenschaften«. Sie alle kannten Enzensbergers frühe Protestgedichte »Verteidigung der Wölfe« und »Landessprache«, seine polemischen Essays über die FAZ und den Spiegel aus dem Essayband »Einzelheiten« und seine Übersetzungen von Dichtern und Theoretikern aus der Dritten Welt in der von ihm gegründeten Zeitschrift Kursbuch. Hätte man die 68er, die ja zum Teil wandelnde Lexikons der revolutionären Weltbewegung waren, nach einem lebenden deutschen Autor gefragt, auf den sich alle einigen könnten, sie hätten im Chor den Namen Hans Magnus Enzensberger gerufen. Tatsächlich haben sich dann alle irgendwann in seinem Haus in der Fregestraße getroffen. Auch weniger literaturkundige Aktivisten wie Horst Mahler, ja, erklärte Literaturverächter wie Dieter Kunzelmann haben in sein Haus gefun- den, einige auch dann noch, als sie von der Polizei gesucht wurden. Ich bin vor dem Haus in der Fregestraße wohl ein paarmal auf- und abgegangen, bevor ich mich entschließen konnte zu klingeln. Unter den mir bekannten Schriftstellern seiner Generation gab es kaum einen, der sich vom Ertrag seiner Arbeit ein eigenes Haus leisten konnte. Während ich den kleinen Vorgarten durchquerte, suchte ich nach einem Einführungssatz, der der Einleitung in meinem Aufsatz ebenbürtig wäre. Meine Vorbereitung erwies sich als überflüssig. Entgegen dem Ondit war der Hausbesitzer überhaupt nicht arrogant; einschüchternd waren allenfalls die Schnelligkeit seiner Gedanken und die Makellosigkeit seiner Sätze. Das Haus strahlte Helligkeit und Eleganz aus wie der Hausbesitzer. Da war der Büchertisch, auf dem sich die Neuerscheinungen des Frühjahrs stapelten; die IBM-Maschine auf dem Schreibtisch; ein nagelneuer weißer Braun-Farbfernseher auf dem Teppich. Hier war ein Schriftsteller, der keine Angst vor den Segnungen der Technik hatte, übrigens auch nicht vor blütenweißen Hemden, karierten Markenjackets und italienischen Schuhen. Die einzigen Kleidungsstücke, in denen ich Enzensberger trotz eines gewissen Abenteurertums in Sachen Kleidung nie gesehen habe, waren T-Shirt und Bluejeans. In dieser Hinsicht war er ebenso unerbittlich wie der gleichaltrige, allerdings weit förmlicher aufgelegte Otto Schily. Ich weiß nicht mehr, worüber wir bei jener ersten Begegnung gesprochen haben, wahrscheinlich über eine Mitwirkung an seiner Zeitschrift Kursbuch, die inzwischen zum wichtigsten Verständigungsmittel der 68er geworden war. Geblieben von jener ersten Begegnung ist der Eindruck von einer atemberaubenden Geschwindigkeit des Ideen-Outputs bei minimalem Energieverbrauch. In einer Mischung aus Ehrfurcht und Nörgelei, mit der ich damals gerade die Begegnungen, die mich besonders beeindruckten, festhielt, notierte ich: Nach einem abend bei Hans Magnus Enzensberger: schmal, helläugig, mit akrobatischen, vom geist zensierten bewegungen in einem viel zu großen Sessel. Sein lachen etwas zu schnell, es fehlt gries darin. Seine gedankliche reaktion in hunderstelsekunden, 194 195 sein gehirn brandneu, seine formulierungen leider schlackenrein. Ich dachte an eine Stradivari-geige, die ich einmal in der hand hatte: das holz dieser geige war so bearbeitet, daß es nur noch in der form des klanges vorhanden war, das holz war, als ich die geige spielte, nicht mitzuhören, es hatte sich restlos in klang aufgelöst. Darin sah ich den nachteil dieser geige. (28.4.67) Danach haben wir uns öfter und ohne besondere Anlässe in seinem Haus getroffen. Enzensberger lebte in Trennung von seiner norwegischen Frau Dagrun, der Mutter seines ersten Kindes. Manchmal rief er mich an, nachdem er von einem seiner Besuche bei seiner neuen Liebe Maria Makarova aus Moskau zurückkehrte. Ich war perplex, als er mir erklärte, er habe in den ersten Tagen nach seiner Rückkehr kaum aus dem Bett aufstehen können und keinen Telefonanruf beantwortet - so furchtbar habe ihm die geliebte »Mascha« in Moskau mit ihren Ansprüchen zugesetzt. Diese Art Zerschlagenheit kam mir bekannt vor. Daß der große Mann auch Schwäche und Verletzbarkeit zeigen konnte, riß mich hin - zu meinem Respekt gesellte sich Empathie und Freundesliebe. Übrigens besaß er eine wunderbare und befreiende Art, Schimpfarien zu erfinden und sie, auf der Treppe auf- und abgehend, zu zelebrieren. ^Es war Enzensbergers Pech, daß jedes, auch jedes unbedachte Wort von ihm kraft seiner enormen Autorität Folgen hatte. Man würde gern einen glitzernden Essay von Enzensberger über seine Einlassungen in der Spät- und Verfallszeil der antiautoritären Bewegung lesen, eine Abrechnung mit sei -nen eigenen ideologischen Verrennungen. Er fand nie etwas dabei, eine alte, inzwischen überlebte Erkenntnis durch eine jneuc zu ersetzen. Rückbesinnung und Selbsterforschung ge-jShören nicht zu seinen Stärken. Sobald eine alte Überzeugung I Risse zeigte, ist er, ohne sich noch einmal umzudrehen, zu neuen Ufern aufgebrochen. Im Nouvel Obsetvateur hat Enzensberger sich kürzlich - am 26. September 2007 - als ein »Beobachter« der revolutionären Wirren jener Jahre bezeichnet. Ich halte diese Selbsteinschätzung - mit Verlaub - für ein Understatement. Nein, ein Beobachter ist Enzensberger nicht gewesen, sondern ein mutiger, manchmal tollkühner Antizipator der revolutionären Ideen jener Zeit. Wie andere, weniger berühmte Intellektuelle hat er sich dabei verirrt und Konzepte vertreten, die nicht mehr in sein Selbstbild passen. Aber was ist eigentlich so schlimm an seinen Irrungen und Wirrungen? Nächst den Erkenntnissen gehören eingestandene und intelligent analysierte Irrtümer zum Besten, was Intellektuelle zum Fortschritt beizutragen haben, / 196 197 Mannes untergebracht war, ihre Wohnung in Stuttgart und einen Bauernhof bei Ravensburg, den ihr Mann erworben hatte und der nach anthroposophischen Gesichtspunkten bewirtschaftet wurde. Später häuften sich ihre gesundheitlichen Probleme. Sie litt an Diabetes und kam mit ihrer Medikation nicht mehr allein zurecht. Als ihr Mann Anfang 1992 ganz plötzlich starb, lag sie in einem Krankenhaus, das den ominösen Namen Waldfrieden trug. Helga blieb allein in Berlin und verfiel in eine tiefe Depression. Sie zog in ein Altersheim in Eßlingen. Später mußte sie bis zu ihrem Tod im Jahr 200 5, zunehmend verwirrt, in St. Vincent, einem gerontopsychiatrischen Pflegeheim in Plattenhardt, versorgt werden. Sie phantasierte viel. Einmal erzählte sie, sie sei mit der Transsibirischen Eisenbahn über Moskau (!) zu ihrer Schwester Maria Therese nach Japan gefahren. 2004, in ihrem letzten Lebensjahr, hat ihr Neffe Gottfried Paasche sie besucht. Sie konnte sich nicht mehr bewegen und sprach kaum mehr. Sie saß im Rollstuhl und hat ihn, als er von ihrem Freund Leo Roth sprach, einen Augenblick lang angestarrt; dann hat sie gesagt, Leo Roth, ein guter Mensch, sei der wichtigste Mann in ihrem Leben gewesen. Siebente Glosse. Das Schweigen der Hammersteins I Es ist nicht so, als verschlössen sich die Überlebenden der Famiüe den Fragen eines Nachgeborenen. Sie haben ihn mit ausgesuchter Höflichkeit und Geduld empfangen, vicllcichi auch, wie Hildur Zorn, die jüngste Tochter des Generals, eine vierundachtzig Jahre alte Dame, mit einem Anflug von Ironie. Sie bezweifelt nämlich, daß sich die Geschichte überhaupt und die ihrer Familie im besonderen von einem Außenstehenden darstellen läßt. Nicht nur, weil das Gedächtnis trügt, weil jeder Zeuge sich auf seine Weise erinnert und weil es von Versionen und Widersprüchen in jeder Überlieferung wimmelt. Ihre Skepsis ist nicht allein erkenntnistheoretisch begründet. Und es geht auch nicht nur um jene Diskretion, die in einer preußischen Familie zum Komment gehört. Man hat nicht den Eindruck, daß sie darauf bedacht wäre, unliebsame Ereignisse zu verschweigen. Die Tatsachen, soweit sie klar sind, werden mit nüchternen Worten mitgeteilt. Aber es bleibt der Zweifel, ob die Nachgeborenen über genügend Vorstellungskraft verfügen, um dem, was vor vielen Jahrzehnten geschah, gerecht zu werden. »Das können die Heutigen sowieso nicht mehr verstehen, weil sie glauben, sie wüßten, wo es langgeht«, sagt Hildur Zorn in ihrer trockenen Art. Wie dem auch sei, jedenfalls herrscht bei den Hammersteins ein Schweigen besonderer Art. Wer in Zeiten der Diktatur lernen mußte, daß es gefährlich sein kann, alles zu äußern, was einem durch den Kopf geht, dem mag ein solches Training zur zweiten Natur werden, und er wird nicht leicht davon ablassen. Dafür spricht übrigens auch das Verhalten vieler Überlebender des Völkermordes, die über ihre Erfahrungen oft jahrzehntelang geschwiegen haben. Doch im Fall der Hammersteins spielen wohl noch andere Momente eine Rolle. Schon vom Vater wissen die Geschwister übereinstimmend zu berichten, daß er bei Tisch kaum ein Wort sprach, und es steht fest, daß er die riskanten Eskapaden seiner Töchter mit Stillschweigen überging. »Er hat überhaupt 340 341 nicht viel gesagt, und so mußten wir alles erraten, was uns im Grunde auch lieber war.« Das ist Maria Thereses Kommentar, die es übrigens zeit ihres Lebens abgelehnt hat, von ihren Rettungsaktionen für die Verfolgten zu erzählen; und was Helga und Marie Luise angeht, so haben sie über ihre militante Vergangenheit nie gesprochen; mehr noch, sie sind jahrelang vor ihrem Ableben völlig verstummt. Auch von Kunrat heißt es, er habe sich von der Außenwelt völlig zurückgezogen. Uber ihr Engagement im Widerstand haben sich die Hammerstein-Brüder, wenn überhaupt, nur sehr wortkarg geäußert. Auf die Frage, ob die Verschwörer des 20. Juli mit ihm rechnen könnten, hat Ludwig nur geantwortet: »Ja, natürlich«, ohne weitere Begründung, »Keiner von denen wollte ein Held sein«, sagt Hildur. »Es ging I nur nicht anders. Sie haben einfach getan, was getan werden mußte.« Überhaupt herrscht bei den Hammersteins eine tiefverwur-zelte Abneigung dagegen, sich über die Prüfungen, denen sk-ausgesetzt waren, zu beldagen, geschweige denn, ihre eigenen Verdienste und Konflikte auszustellen. »Wir wollten nicht, daß das breitgetreten wird«, sagt Hildur, und ihre Mutter stellt in einem Brief schon 1946 fest: »Unser Itineraire gehört der Vergangenheit an und braucht nicht mehr erwähnt zu werden.« Die Entscheidungen jedes einzelnen wurden nicht in Frage gestellt, sondern akzeptiert, auch dann, wenn sie, wie im Falle Helgas und Marie Luises, schwer verständlich waren oder pc> ■ litische Gefahren mit sich brachten. Begründungen wurden nicht verlangt und nicht gegeben. Hildur Zorn sagt: »Warum sollten sie ihr Leben erldären?« Man kann in dieser Haluing wohl etwas von der Großzügigkeit des Generals wiederlin- den. Jedenfalls beruht das Schweigen der Hammersteins auf einem Emverständnis, das keinem Außenstehenden offensteht. Es bleibt ein ungesagter Rest, den keine Biographie auflosen kann; und vielleicht ist es dieser Rest, auf den es ankommt. ■ - 1 342 1 t ■■ r 1 nen derartigen Einfluß ausüben konnten. Geben Sie es zu, im Grunde war Papen nur Ihr Strohmann. S: Ein eitler Fatzke! Ich habe bald bereut, daß ich ihn zum Kandidaten gemacht habe. E: Warum haben Sie nicht selbst nach der Macht gegriffen? S: Ich wollte nie auf die Vorderbühne. Wissen Sie, im Grunde habe ich stets konspirativ gearbeitet. In Sachen der Abwehr kannte ich mich aus. Das kam mir in der Politik zugute. Heikle Sachen sollte man nie dem Papier anvertrauen. Merken Sie sich das! E: Immerhin sind Sie zuletzt doch noch aus dem Schatten getreten, haben Papen abgeräumt und wurden selber Reichskanzler. S: Aber nur für ein paar Wochen. E: Sie waren der erste und der einzige Kanzler, der seine Regierungserklärung nicht vor dem Reichstag abgab, sondern über den Rundfunk verlesen ließ. S: Das ist wahr. Aber da hatte der Reichstag schon nicht mehr viel zu sagen. Er hätte mich auch nicht stützen können. Hin-denburg hatte mir seine Auflösung zugesagt. Ich hätte dann ohne parlamentarische Mehrheit weiterregieren können. Aber am Ende hat er mich fallenlassen. Hinter meinem Rücken hat er sich mit Papen, dieser Null, arrangiert. Am 22. Januar war ich bereits erledigt, und am 28. bin ich zurückgetreten. E: Von all Ihren komplizierten Manövern wollte Hammerstein, glaube ich, nichts wissen. Er ließ sich ungern in solche politischen Kulissengeschichten verwickeln. »Während der 5 ötägigen Regierung des Reichskanzlers von Schleicher hatte ich als Chef der Heeresleitung keine Veranlassung, mich mit Politik zu befassen.« S: Hat er das wörtlich gesagt? ? E: Ich finde es rührend, Herr Schleicher, wie er sich auf Sie verlassen hat. Der Wehrminister Groener, der Sie protegiert hat und dem Sie sein Wohlwollen übel vergolten haben, pflegte zu sagen: »Hammerstein, der unpolitische Soldat und Jägersmann, folgt seinem Freund Schleicher wie ein gut geführter Jagdhund.« S: Das ist Blödsinn. Er war ein starker Charakter und wußte sehr genau, was er wollte. Aber es stimmt, daß ihn meine Aktivitäten auch endastet haben. Verschone mich mit deinen Winkelzügen, hat er oft gesagt. Aber das war natürlich in den letzten Jahren der Republik nicht mehr möglich. E: Er hat immer auf die Politiker geschimpft. Er taugte nicht dazu, die Fäden in der Kulisse zu ziehen. S: Nein. Hammerstein war alles andere als der klassische Intrigant. Nicht wie ich — das wollen Sie doch damit sagen? E-, Das kann ich nicht beurteilen. Ich wiederhole nur, was die Historiker sagen. Sie haben jahrelang versucht, die Destruktionskräfte, die da am Werk waren, gegeneinander auszuspielen. Sie dachten, Sie könnten Hitler und seine Leute einbinden, so nannten Sie es doch, und durch die Regierungsübernahme zähmen. Ihre Worte! S: Es macht Ihnen wohl Spaß, darauf herumzureiten? Ja, ich habe geglaubt, ich könnte den Nazis auf parlamentarischem Weg das Wasser abgraben. Aber man hätte sie nur mit Gewalt ausschalten können, und dazu fehlte mir die Kraft. E: Und vielleicht auch die Überzeugung? S: Sie haben leicht reden, mein Lieber! Ich habe versucht zu retten, was zu retten war. Eine aussichtslose Partie! In Wirklichkeit war Deutschland schon seit 1930 unregierbar. E: Stimmt es, daß Sie Ende Januar, ohne daß Hammerstein davon wußte, mit Hindenburg verhandelt haben?| Eine postume Unterhaltung mit Leo Roth R: Ich kann Ihnen leider nicht einmal einen Stuhl anbieten. Sie können sich ja aufs Bett setzen, wenn Sie möchten. Also? E: Was ich Sie immer fragen wollte, Herr Roth: Haben Sie es kommen sehen? R: Was? E: Die stalinistischen Säuberungen. Sie kannten die Partei und ihren Apparat doch aus eigener Erfahrung. R: Den Herrn Roth können Sie weglassen. Nennen Sie mich einfach Viktor. Wir waren ja nicht heikel, weder in Deutschland noch in Moskau. Jeder, der sich den Kommunisten anschloß, wußte genau, daß es dabei nicht ohne Rückschläge, ohne Fehler und ohne Opfer abging. Ich selbst wurde schon 1926 aus dem Verband ausgeschlossen. Linksabweichung, Trotzkismus-Verdacht und so weiter. Und daß es seit 1917 ungezählte Tote gab, wußten wir auch. Im Oktober, im Bürgerkrieg, in Kronstadt, bei der Kampagne gegen die Kulaken, bei den ersten Prozessen gegen die Saboteure... Sie wissen ja, f 1 oder Sie wissen es nicht, was passiert, wenn gehobelt wird. */ E: Haben Sie sich nie bedroht gefühlt von den eigenen Genossen? R: Es gab genügend andere Feinde.J E: Es wundert mich, daß Sie so ahnungslos waren. Hans Kippenberger, Ihr Chef, hat schon 1934 gemerkt, wohin die Reise ging. Ihr Kollege Franz Feuchtwanger - Sie erinnern sich doch an ihn? - fand ihn damals »niedergeschlagen wie nie zuvor. Die Emigration schien ihm nicht zu bekommen«, hat er gesagt, »vor allem aber war er tief verbittert über die Entwicklung in der Parteispitze, wo Ulbricht sich immer U U <".; K. }■ ttllru, fatlf -(?tU tli- a /f/i %tjt>, hUM Uk. 4ml, ■i« Mut ■ "■ftUtou. iO, 1 (f&Ht&»i4,J. % fax, y Jttm ./a lifo.- W (»Ja Iii* '■tot