Epigraphik (Inschriftenkunde) des Mittelalters und der Neuzeit: Die nachantike Epigraphik ist (ähnlich wie die Paläographie der Neuzeit) eine der jüngsten im Kanon der Hilfswissenschaften etablierten Disziplinen. Die Epigraphik des griechisch-römischen Altertums dagegen ist eine der ältesten Hilfswissenschaften überhaupt (humanistische Inschriftensammler des 15. Jh.). Grund: antike Inschriften (original und kopial überliefert) sind in der Regel die einzigen schriftlichen Quellen zu Rechts-und Alltagsgeschichte des Altertums. Mittelalterliche und neuzeitliche Inschriften dagegen sind nur eine Quellengruppe neben vielen anderen. Spezifikum ist aber die bei ihnen gegenüber anderen texttlichen Quellen die wesentlich größere Bedeutung des Anbringungszusammenhangs: Handschriften und Urkunden sind mobil, Inschriften dagegen oft zumindest ursprünglich für einen ganz bestimmten Anbringungsort vorgesehen. Daher haben mediale und kommunikationstheoretische Aspekte besondere Bedeutung. Während die Humanisten des 15. Jh. zunächst fast ausschließlich an antiken Inschriften als historischen Quellen interessiert waren, benützen (adelige) Genealogen nachantike Inschriften ab dem ausgehenden 15. Jh. häufig als Quelle für faktische (biographische) Daten (z. B. Jakob Mennel für die Genealogie Maximilians I.). Naheliegenderweise konzentrieren sich diese Recherchen hauptsächlich auf Grabdenkmäler, die auch aus poetologisch-literarischen Gründen bald humanistisches Interesse finden. Metrische (Grab-)Inschriften des Mittelalters wurden schon parallel zu den antiken Inschriften von den Humanisten gesammelt, jedoch nicht als historische Quelle, sondern als Vorbild und Anregung für zeitgenössische (epigrammatische) Dichtung. Systematische Zusammenstellungen nachantiker Inschriften von konkreten Standorten (ähnlich wie die topographisch aufgebauten Sammlungen) nehmen erst mit dem Antiquarismus des späten 17. Jahrhunderts in stadtgeschichtlichen Darstellungen und in Publikationen zu einzelnen (kirchlichen) Institutionen zu, parallel dazu entstehen Sammlungen von Grabdenkmälern adeliger Familien. Einzelne späthumanistische Grabdenkmalsammlungen sind auch gelehrten viri illustres oder z. B. den Reformatoren gewidmet. Bei all diesen Sammlungen lässt sich grundsätzlich zwischen solchen ohne bildliche Überlieferung und solchen mit Holzschnitten und Kupferstichen unterscheiden. Letztere interessieren sich wenigstens dem Anspruch nach auch für die Materialität der Inschriftenträger (Achtung: es kann sich dennoch auch um „fiktive“ Denkmäler handeln!) Innerhalb der patriotischen „vaterländischen“ Geschichtsschreibung des frühen 19. Jahrhunderts im „österreichischen Kaiserstaat“ wurden Inschriften verstärkt als topographische Quellen gesammelt. Der Plan eines „Corpus Inscriptionum Imperii Austriaci“, in den 1830er Jahren in Wien am Münzkabinett entworfen, meinte eigentlich antike Inschriften, gesammelt wurden aber (ausschließlich in Mähren) nachantike Denkmäler (Die zurückgeschickten Fragebögen sind heute im MZA Brno aufbewahrt). Editionsreihen mittelalterlicher und neuzeitlicher Inschriften wurden – deutlich nach dem Corpus Inscriptionum Latinarum – erst im 20. Jahrhundert begründet. Die älteste sind die „Deutschen Inschriften“, 1937 vor dem Hintergrund der Volkstumsforschung begründet (Titel!). Aus den Inschriften der deutschsprachigen Länder (und z. B. der Ablöse des Lateinischen durch das Deutsche als Sprache der Inschriften) sollte deutsches „Wesen“ ersichtlich werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg Wiederbegründung als Kooperation der deutschen Akademien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Bis heute das produktivste epigraphische Editionsunternehmen weltweit: erschienen sind dzt. ca. 100 Bände, parallel in den letzten Jahren auch Online-Angebot (DIO). Gesammelt werden original erhaltene und kopial überlieferte Inschriften vom Frühmittelalter bis ca. 1650 mit Anspruch auf Vollständigkeit. Die angewendeten Editionsrichtlinien unterscheiden sich klar von denen des CIL (Leidener Klammersystem), sind komplexer und stärker von diplomatischen Editionen beeeinflusst. Andere nationale Editionsreihen zur nachantiken Epigraphik wurden teilweise deutlich später eingerichtet. Meist liegen die Aufnahmegrenzen jedoch bei diesen noch im Mittelalter (in Frankreich – Corpus des inscriptions de la France médiévale – und in der Schweiz – Corpus inscriptionum medii aevi Hevetiae – ca. bei 1300). In England und – trotz mehrerer Anläufe – auch in Italien fehlen entsprechende Unternehmen, während in Ostmitteleuropa Reihen begründet wurden, die in der Konzeption den „Deutschen Inschriften“ sehr ähnlich sind (Tschechische Republik, Polen). Zur Definition des Inschriften-Begriffs existieren Zwei verschiedene Zugangsweisen in den deutschsprachigen Ländern bzw. in Frankreich: In der stark diplomatisch-hilfswissenschaftlichen Tradition Deutschlands und Österreichs ist eine „technische“ Definition von Inschriften üblich geworden: Inschriften sind Texte auf unterschiedlichen Materialen (Stein, Holz, Glas, Metall, Textil etc.), die mit Mitteln und von Kräften ausgeführt wurden, die nicht dem zeitgenössischen Kanzlei-und Schreibschulbetrieb angehörten (Rudolf M. Kloos). In der Forschung daher starke Betonung der Inschriftenpaläographie. In Frankreich interessiert sich die epigraphische Forschung stärker für Textgeschichte und Kulturgeschichte. Die französische Definition des Inschriftenbegriffs unterscheidet epigraphische Texte von anderen daher durch kommunikationstheoretische Aspekte: wesentliche Merkmale von Inschriften seien daher „publicité“ und „longue durée“. Jüngere Epigraphiker im deutschsprachigen Raum tendieren zu einer Synthese beider Sichtweisen. Entsprechend der Begrifflichkeit der Diplomatik ließe sich auch für Inschriften die Forderung nach Berücksichtigung äußerer und innerer Merkmale aufstellen. Äußere Merkmale: Form und Anbringungszusammenhang des Inschriftenträgers Gestaltung des Denkmals (Layout), Ikonographie, heraldische Aspekte Inschriftenpaläographische Analyse Innere Merkmale: Sprache, Formular, Textsorte, Metrum Inhalt Es ergeben sich damit starke Berührungen epigraphischer Forschung u. a. zu Kunstgeschichte, Philologie(n), Theologie, deren Fragestellungen, Instrumentarien bzw. Terminologie der Epigraphiker wenigstens teilweise berücksichtigen muss. Die Quellengattungen der Epigraphik sind ernorm vielfältig. Einen wichtigen Teil der epigraphischen Überlieferung machen in ganz Europa Denkmäler des Totengedenkens aus. Terminologie: Grabplatte (Wappengrabplatte, Priestergrabplatte); Steinplatte von ca. 80-130 x 160-240 cm; bedeckt die eigentliche Grabstelle (Grabschacht) im (Kirchen-)Boden Epitaph: zusätzliches Erinnerungsmal, typischerweise an der Mauer angebracht, Ausführungstechnik und formaler Aufbau sehr variantenreich Totenschild: hölzerner Tondo, ergänzt mit Sterbevermerk Gruftplatte: dient der Abdeckung des Zugangs zu einer Gruftanlage, oft erkennbar an den metallenen Heberingen. Vor allem die Auswahl des Bestattungsortes kann sehr aufschlußreich für die Repräsentation von Adel und Bürgertum sein: in Residenzstädten etwa sind jene Kirchen am prestigesträchtigsten, die sich am nächsten beim Sitz des Hofs befinden. Inhaber von Hofämtern verweisen in ihren Grabinschriften gerne auf solche auszeichnenden Funktionen. Vor allem im deutschsprachigen Raum und im Umfeld der „Deutschen Inschriften“ haben inschriftenpaläographischen Studien besondere Bedeutung: ein erheblicher Teil der epigraphischen Gesamtüberlieferung ist nicht datiert; paläographische Anhaltspunkte müssen also für Datierung und regionale Einordnung herangezogen werden. (Zur Übersicht über die epigraphischen Schriftarten siehe Pdf!). An viele Phänomene der Schriftgestaltung knüpfen sich wichtige Forschungsfragen an. So z. B. gilt den nordalpinen Humanisten die möglichst „klassische“ Gestaltung von Renaissance-Kapitalis als Zeichen der Gelehrsamkeit bzw. als „cultural code“.