Paläographie der Neuzeit (traditionellerweise oft „Schriftenkunde der Neuzeit“) Früher typisch im Kanon der archivischen Fächer situiert als reines Hilfsmittel (Vermittlung von Lesefähigkeiten für die Lektüre frühneuzeitlicher Archivalien) Späte Verwissenschaftlichung nach dem Vorbild der Paläographie des Mittelalters erst im 20. Jahrhundert, zuvor polemische metawissenschaftliche Diskussion etwa zur Fraktur-Antiqua-Debatte („Zweischriftigkeit“ des deutschen Sprachraums) Grundlegendes Problem der Literatur: es existieren zwar viele Überblicke zu „nationalen“ Schriftentwicklungen in den europäischen Ländern, aber kaum eine Übersicht über die Gesamtperspektive Gedenkinschrift auf die Neutrassierung der Fernpaßstraße, 1543: Kapitalis für den lateinischen Text zu Karl V. und und Gotische Minuskel für den deutschen Text zu Ferdinand I. Gotische Schriften unterschiedlicher Stilisierung bzw. Kursivierung Humanistische Schriften unterschiedlicher Stilisierung bzw. Kursivierung 15. Jh. 16. Jh. 17. Jh. 18. Jh. 19. Jh. 20. Jh. Mischschriften Schriften auf gotischem Substrat (Deutsche Schreibschrift, financière, secretary hand, novogotické písmo etc.) Deutsch- sprachige Länder Nord- und Ostmittel- europa Romanische Länder (außer Italien) England Kurie Hum. Minuskel (Antiqua, Minuskelantiqua) Hum. Kursive Cancelleresca corsiva/italica (Ältere Humanistenkursive) Cancelleresca corrente (Italian Hand, Lettre bâtarde italienne etc.) Rundschriften (Round Hand, Bâtarde, Coulée, Lettre ronde) Lateinschrift Einflussfaktoren auf die Entwicklung von einheitlichen Schriftstilen: Im Mittelalter Dom- und Kloster- bzw. Pfarrschulen, Skriptorien, „höfische“ Schriftmuster, städtische, landesfürstliche und andere Kanzleien (Reichskanzlei, Kurie), einzelne Schreibmeister; Reichweite von Innovationen daher oft nur regional oder auf lange Phasen der Verbreitung angewiesen In der Frühen Neuzeit zunehmend dichte Publikation von gedruckten Schreibmeisterbüchern; diese ermöglichen internationalen Austausch von vorbildhaften Schriftmustern Grundsätzlich gilt: Potential für Entwicklung steckt in den kursiven Schriften, kaum in den kalligraphisch anspruchsvollen hochstilisierten Schriften Textualis formata, (Textus quadratus), 1446/47 Spätgotische Kursive, 1489 (Siegelbittbrief) Aufrecht, abwechselnde Rechts- und Linksneigung von Langschäften (Anschwünge von links an v und w; Versalien auch nach links geneigt) Brief an Bürgermeister, Richter und Rat der Stadt Krems, 1485 Wiener Handwerksordnungsbuch, Nachtrag von 1530 Bastardeske Kursive, um 1500 Kurrent/Deutsche Schreibschrift, 1530 Bastarda der Lehrbücher Maximilians I., „Vorfraktur“ Determinationsanküdnigung, Stiftsbibliothek Klosterneuburg, 1474 Urkunde König Maximilians I., 1496 Titelblatt der Lutherbibel von 1534: Schwabacher, Fraktur und Gotico-Antiqua. Wolfgang Fugger, Ein nutzlich und wolgegründt formular manicherlei […] schriften, Nürnberg 1553: Vier Arten der Kurrentschrift Kurrent (Deutsche Schreibschrift, 1530) Starke Residuen der Bastarda (weite Schleifen an Langschäften, komplizierte Versalien), aufrechtstehend, teilweise Linksneigung Hochstilisierte Kurrent (Deutsche Schreibschrift, 1538) höchsten kalligraphischen Niveaus: Einzelformen der Bastarda/Fraktur (bastardeskes g, d ohne Schleife etc.) Übergang der Kurrent zur Kanzlei (Frakturkursive/Halbkurrent), 1530er Jahre Moderne Deutsche Schreibschrift (Kurrent), 1530er Jahre: zunehmende Kursivierung Kurrent, 1567: Mischung aus konservativen und modernen Elementen Entwicklung im 16./17. Jahrhundert: spitzere Feder, stärkere Rechtsneigung, Parallelisierung der Schäfte (etwa ff, ss, tt etc.), e wird zum ein- bzw. zweischaftigen Buchstaben, generell kursivere Formen (etwa g), auch bei Versalien Zierliche Schriften zwischen ca. 1575 und 1625 werden als Frühbarockschriften bezeichnet Schrifthierarchie (1597): Fraktur (Auszeichnungsschrift höchsten Ranges) Kanzlei (Frakturkursive/Halbkurrent) Hervorhebung von Rubriken, Zwischenüberschriften etc.; als Reinschrift für Mandate und Urkunden der Reichskanzlei Karls V. und der landesfürstlichen Kanzlei Ferdinands I. zwischen ca. 1530 und 1560 Kurrent (Deutsche Schreibschrift) Standardschrift aller Schreiber und Kanzleien (Schreibmeisterbuch Kaspar Neff) Deutsche Schreibschrift (Kurrent), 1662 (Reichsregister Leopolds I.) Konservative Kurrent, 1678 Michael Baurenfeind, Vollkommene Wieder-Herstellung der […] Schreib-Kunst […], Nürnberg 1716 (u. ö.) Rückgriff auf die Terminologie des 16. Jahrhunderts (z. B. Fugger) Deutsche Schreibschrift E. 18. Jh. Sütterlin-Kurrent, 2. Jz. 20. Jh. Lettre bâtarde, Mitte 15. Jh. Financière, 1529 Financière als Drucktype: Civilité-Type des Robert Granjon Übergang Financière/Lettre courante, 1614 LeGangneur: lettre courante Gottlieb Siegemund Münch, Ordre d‘écriture, Dresden 1740 Secretary Hand, 1588 Legal Hand, 1554 Chancery Hand, 1760 Letra cortesana Humanistische Minuskel, A. 15. Jh. Cancelleresca (Cancellaresca) eines Breve, 1473 Ältere Humanistenkursive bzw. frühe Cancelleresca, 1496 Frühe Umsetzung der Cancelleresca in der Kanzlei Maximilians I., 1504 Cancelleresca formatella, 1513 Ludovico degli Arrighi, gen. Vicentino, La operina, Rom 1522 Cancelleresca formatella aus der polnischen Königskanzlei, 1546 Italics: Schreiben der späteren Königin Elizabeth an ihre Schwester Maria, 1555 Cancelleresca formatella, 1558 Cancelleresca corrente, 1610 Englische Rundschrift (Round Hand) aus dem Schreibmeisterbuch des George Bickham, 1740 Rundschrift aus der Mainzer Kanzlei, 1744 Individualschrift der Maria Theresia, 1769 Engl Englische Rundschrift, 1815 bzw. Spencerian, 1884)