MARSCHALL Aktionsanalyse, Selbstdarstellung und Erinnerungsarbeit: Otto Mühls Kommune Friedrichshof und Paul-Julien Roberts Film Meine keine Familie „Inspiriert durch Freud und vor allem Wilhelm Reich, hatten wir das Ziel, neue, freiere Menschen zu werden“, schreibt eine Kommunardin der Berliner Kommune 2[1]. Die Attraktivität des Kommunenmodells wurde durch die politisierte Psychoanalyse erhöht, die als politische Arbeit am Individuum in der Gruppe verstanden wurde. Die persönliche bürgerliche Lebensgeschichte, die die Mitglieder der Kommune 2 in ihrer politischen Arbeit behinderte, sollte wie eine Neurose verstanden und im Gruppengespräch und der Gruppenanalyse aufgelöst werden. Die Psychoanalyse konnte sich als Methode jedoch nicht lange halten, sie war mit ihrer Struktur Vater, Mutter, Kind den Kulturrevolutionären zu bürgerlich. Die politischen Zielvorstellungen führten in der Folge zu einer Radikalisierung der Kommune 2 und zur aktiven Teilnahme einiger ihrer Mitglieder am Kampf der RAF. Auch in Österreich entstand – wie in zahlreichen europäischen und amerikanischen Großstädten in den 1960er Jahren – eine Lebens- und Gesinnungsgemeinschaft: die Kommune um den Wiener Aktionisten Otto Mühl, der mit seiner (kleinen) Wiener Kommune ins Burgenland, nach Zurndorf übersiedelte. 1972 kaufte Mühl den verfallenen Musterhof des Habsburger Erzherzog Friedrich, den Friedrichshof, um 60 km südöstlich von Wien und wenige km vom Eisernen Vorhang entfernt eine Gegengesellschaft zur bestehenden bürgerlich-kapitalistischen zu errichten. Programmatisch verfolgte Mühl die Idee eines gelebten sozialen Gesamtkunstwerkes, um das Verhältnis des Menschen zur Sexualität, zum Eigentum, zur Erziehung und Kultur in ein neues Verhältnis zu setzen. Die Komplexität psychischer Befindlichkeiten sollte in der Gruppe als direkte Erfahrung gelebt und zur Schau gestellt werden. Obgleich lose Kontakte zur Kommune 2 bestanden, ist Mühls Gesellschaftsmodell im Kunstkontext des Wiener Aktionismus zu sehen. Pläne einer politischen Revolution, die Schaffung einer außerparlamentarischen Opposition, linkes Theoretisieren fehlen ebenso wie die Beschäftigung mit Zeitthemen, mit Vietnam, der atomaren Aufrüstung, dem Verschulden der Vätergeneration im Nationalsozialismus. Bereits 1975 wurde von der Mühl Kommune verstärkt Außenarbeit und Propaganda für die neue Gesellschaftsform betrieben, Stadtgruppen in allen großen Metropolen (Genf, Berlin, Amsterdam, Paris u.a.) wurden gegründet, Lehrgänge veranstaltet, Gäste eingeladen, Öffentlichkeitsarbeit betrieben. Intensiv und genau muss die Entwicklung und der Verlauf der Kommune Friedrichshof betrachtet werden, die nach der Wiedereinführung des Gemeinschaftseigentums durch ihre Finanzerfolge[2] und mit ihrer neoliberalen Gesinnung eine Weltmacht anstrebte, wie aus programmatischen Schriften hervorgeht. Führerprinzip, der Größenwahn von Otto Mühl, Sexualdarwinismus und faschistische Leistungs- und Kontrollstrukturen, zu denen jahrelanger sexueller Missbrauch von Minderjährigen durch Mühl hinzukam, ließ den Versuch eines sozialutopischen Gesamtkunstwerkes, das alle Ebenen gesellschaftlicher Strukturen beinhalten sollte, 1990 zusammenbrechen. Die Parallelität zum Ende der kommunistischen Staatsideologien und den weltweit einsetzenden historischen Veränderungen mag Zufall sein, bricht Grenzen als Zeit(en)mauer auf, macht das Subjekt Mensch zum Objekt der Geschichte. Das kommunitäre Gesamtkunstwerk war gescheitert, die Mühl Kommune wurde aufgelöst. Otto Mühl wurde im Juni 1991 verhaftet und wegen Beischlafs mit Minderjährigen zu sieben Jahren Haft verurteilt. Nach Jahren der Konsultierung und privater Initiativen wird heute der Friedrichshof von der Friedrichshof Genossenschaft als Wohnsiedlung geführt. Eine parkähnliche Landschaft mit Schwimmbiotop, Pferdekoppeln, Wiesen und Feldern vereint Wohnungen, Künstlerateliers, Sozialprojekte, ein Seminarhotel und ein Restaurant. Die Sammlung Friedrichshof zeigt in den vom Architekten Adolf Krischanitz gestalteten Ausstellungsräumen die Bestände, die seit den 1980er Jahren in der Aktions-Analytischen-Kommune Otto Mühls aufgebaut wurden. Die Sammlung Friedrichshof (in Zusammenarbeit mit dem MUMOK Wien) gibt Einblick in die Entwicklungsgeschichte des Wiener Aktionismus, versteht sich aber auch als Aktionsraum für Ausstellungen und Projekte mit dem Schwerpunkt auf experimentelle zeitgenössische Kunstproduktionen.[3] Die Erinnerung an die und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Kommune fokussieren verstärkt auf Fragen der sexuellen Freizügigkeit und den Missbrauch sexuell Minderjähriger. Weniger präsent als diese Seite der Geschichte des Friedrichshofs ist der Umstand, dass die Kommune ihren Anspruch der allumfassenden, persönlichkeitsbildenden Kreativität im Alltag lebte, um durch das kreative, künstlerische Potential auch das soziale, mitmenschliche Verhalten zu verändern. Nicht nur in der Bildenden Kunst und in Filmproduktionen[4], sondern im Alltag sollte ein „emotionaler Aktionismus“ gelebt werden. Vom Leben der bürgerlichen Gesellschaft abgeschottet, praktizierten die KommunardInnen am Friedrichshof neue Lebenstechniken, die zu einer Heilung des Menschen durch Erweckung seines kreativen Potentials im Kommunenkollektiv führen sollten. Die Strukturen des Subjekts wurden mit Aktions-Analytischen Versuchsanordnungen bloßgelegt. Kunst wurde dabei zum Vorbild für den gesamten Alltag. Waren die sprachlichen Exerzitien, theoretischen Begründungen und persönlichen Geständnisse in der Kommune 2 die beherrschenden Ausdrucksmittel, standen diesen in der Aktionsanalytischen Kommune um Otto Mühl der körperliche Ausdruck, die emotionale Erregung, der Schrei, die Ekstase gegenüber. Im Vertrauen auf eine bessere Gesellschaftsstruktur wurden Frei / Räume geschaffen, Situationen zwischen Zweckentfremdung und Wirklichkeitsaneignung konstruiert. Künstlerische Verfahren sollten die emotionalen Ängste und verdrängten Begierden in Lebensenergie transformieren. Ausgehend von der Aktions-Analytischen Selbstdarstellung am Friedrichshof sollen Fragen zum Kreativsubjekt, das Akte sozialer Beziehungen als künstlerische Ausdrucksformen versteht, in den Blick genommen werden. Der Filmemacher Paul-Julien Robert, Kommunarde der 2. Generation, nützt den Erzählmodus der ersten Person in seinem Film Meine keine Familie (2012) zur Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit den unterdrückten contre-mémoires und führt die Selbstdarstellung als Selbstbefragung in die Ebene der filmischen Erinnerungsarbeit und zum filmischen Beichtgespräch. Übertragungsphänomene unterstützen und begleiten den Aufdeckungsprozeß, der die psychischen Fehlhaltungen offen legt. In den 1950er und 1960er Jahren wurde die österreichische Kunstszene durch eine restriktive Kunst- und Kulturpolitik bestimmt. Eine Aufarbeitung des Austrofaschismus fand nicht statt. Die Pläne der Amerikaner "belastete" Personen auszutauschen und einen Neubeginn zu versuchen, wurden durch den Ausbruch des Kalten Krieges rasch obsolet. Österreich war selbst im Jahr der Studentenunruhen weit davon entfernt eine politische Revolte zu erleben. Eine ästhetische Revolte wurde aber sehr wohl durch die Wiener Aktionisten Otto Mühl, Günter Brus, Rudolf Schwarzkogler und Hermann Nitsch vollzogen[5]. Die traditionellen Darstellungs- und Abbildungsprozesse im Bereich des Theaters, des Films und der bildenden Kunst wurden abgelehnt. In seinen Materialaktionen integrierte Mühl tabuisierte, aber elementare Vorgänge wie Sexualität, Geburt und das Eindringen in den menschlichen Körper, die er symbolhaft inszenierte. Durch „schrankenlose Enthemmung, Befreiung von aller Brunst via Kunstproduktion, d.h. durch Transponierung derselben in Blech, Schrott, verwesenden Abfällen, Fleisch, Blut, Gerümpel“[6] sollte eine kathartische Reinigung erfahren werden. Die angestrebte Regression, das Hinabsteigen in die Tiefen menschlicher Psyche führte in der Metapher des Kellers, den Mühl als „uterine Brutanstalt“[7] bezeichnete, zur räumliche Entsprechung. Mühl: „Unter einem Künstler verstehe ich einen Menschen, der sich unter die Erde begibt, dort Stollen treibt, alles kreuz und quer unterminiert bis plötzlich sich irgendwo ein Erdrutsch ergibt.“[8] 1966 entstand aus der engen Zusammenarbeit zwischen Otto Mühl und Günther Brus das Konzept der Totalaktion. In der Totalaktion wurde eine Synthese der Materialaktion von Mühl und der Thematik der Selbstverstümmelung von Brus angestrebt. Die in der Totalaktion erfolgte Reduktion und Zerstörung der Sprache auf einzelne Laute, auf Stammeln, Gurgeln, Zischen, Röcheln, Schreien und Brüllen, sind als Folge der Materialisierung des Menschen und seiner Ausdrucksmittel, seiner Verbal- und Körpersprache zu verstehen. Radikal wurde das Material thematisiert: der Körper in all seinen Funktionen. Unter Ausschaltung jeglicher Bewusstseinskontrolle und unter Missachtung sittlicher und moralischer Forderungen erfolgte die Destruktion ohne ideologischen Hintergedanken. Die Kultur- und Zivilisationsentwicklung durch Intellekt, Scham und Bewusstsein bedingte die Unterdrückung der Grundtriebe und förderte die Anpassung an die bestehende soziale und ökonomische Realität des Menschen. Die aktionistische Konzentration auf den menschlichen Körper sollte die biologische und sozial konditionierte Sexualität aus der Erstarrung und Unterdrückung lösen und in den aktionistischen Environments zum Exzess führen. Die Totalaktion richtete sich gegen alle „Opernhäuser, theater, museen und bibliotheken, die dem erdboden gleichgemacht werden sollen und gegen alle, die am wichtelweltbild herumbasteln.“[9] Diesem Wichtelweltbild wollte Otto Mühl eine alternative Lebensform, eine Gegengesellschaft bieten. Ab 1970/71 übte er verstärkt Kritik an der Aktionskunst in einer von ihm abgelehnten Gesellschaftsform. Im November 1970 führte Mühl in der Kunsthalle Köln gemeinsam mit der amerikanischen Fluxus-Künstlerin Charlotte Moorman die Aktion Manopsychotik 2 durch. Gleichzeitig distanzierte er sich im Programm des in Wien gegründeten Institutes für Manopsychotik von repräsentativer Kunst. „Wir vom Institut sehen im Happening eine durchaus bürgerliche Kunst, eben Kunst. Wir wollen diese blödsinnige Kunst überwinden. […] Wir sind der Ansicht, dass dieser Staat und alle seine Insassen Manopsychoten sind, nur haben sie einen Fehler, sie wissen es nicht. Wir wollen es diesem Gesindel bewusst machen. Dann erst wird dieses Gerümpel weg und ausgeräumt sein, dann wird es überhaupt möglich sein, als freier Mensch zu existieren.“[10] Vor diesem Hintergrund sind seine Experimente mit den Mittel der Totalaktion gruppendynamische Übungen durchzuführen, zu verstehen. Die Realisation einer Gegengesellschaft wurde Mühl zunehmend wichtiger. In einem Brief an Oswald Wiener schreibt er Ende 1971 „[…] natürlich habe ich keinen Spaß mehr, Kunst zu produzieren. Aktionen will ich auch keine mehr machen. Ich finde es einfach blöd, Leuten etwas vorzuführen. Ich will nicht aufhören, sondern alles ins Leben überlaufen lassen.“[11] Otto Mühl vollzog einen Neuanfang seiner künstlerischen Existenz, reflektierte sein Künstlerdasein und weist in seiner Katastrophenvermessung auf seinen zukünftigen Weg, auf die Aktionsanalyse hin: „zwischen 1961 und 1971 vermaß ich meine katastrophe. Zehn jahre. Ich fand einen unauffälligen namen dafür. MATERIALAKTION. Ich war ein großer künstler, weil ich alles tat, den künstler gesellschaftlich unmöglich zu machen. Mir ist es heute ausgesprochen peinlich, mich an diese alte materialaktionszeit zu erinnern.“[12] Den (überwundenden) theoretischen Aktionismus stellte Mühl den praktischen Aktionismus, den er im gelebten Kommuneprojekt verwirklichen wollte, gegenüber. „ich hatte inzwischen den kunstaktionismus, den ich hinfort theoretischen aktionismus nennen möchte, zum praktischen aktionismus weiterentwickelt. PRAKTISCHER AKTIONSIMUS ist über vorführungsraum und vorführungszeit hinausgewachsene Aktion.“[13] Das Projekt der Kommune wurde zunächst noch unter dem Begriff fortschreitendes Environment und dem Arbeitstitel „Futexko“ (futurologische ExperimentierKommune)[14] umgesetzt. „Futexko versteht sich nicht nur als ein environment der katastrophenvermessung, im environment werden vielmehr die privaten katastrophen der beteiligten eingeschmolzen und gleichzeitig die öffentliche katastrophe, die katastrophe, die die kleinfamilie darstellt.“[15] Antiautoritär und als sexuelle Lebens / Arbeits / Kunstgemeinschaft sollte die gelebte freie heterosexuelle Sexualität Lebenslust und Arbeitskraft verschaffen, die Bürden der bürgerlichen Gesellschaft und die Schädigung durch die Erziehung in der Kleinfamilie hinwegfegen. Im Zustand der Nacktheit, des Rausches sollten alle Standesunterschiede beseitigt, eine klassenlos kollektive, nicht-patriarchalische Gesellschaft errichtet werden. Ausstieg aus dem bürgerlichen Berufsrollen, Überwindung der Kunst durch aktionistische Lebenspraxis in der Gruppe, kein Fernsehen, keine Kino- und Theaterbesuche, Gemeinschaftseigentum und sexuelle Beziehungen auf Basis eines freien Marktes des Begehrens waren die programmatischen Grundregeln dieser Gegengesellschaft, die auch im Umfeld der sich ab den 1960er Jahren entwickelnden sozialen Bewegungen, selbstverwalteten Bürgerkollektiven und autonomen Kulturzentren[16] zu verorten sind. 1972 begann Otto Mühl mit einigen KommunardInnen analytische Einzelsitzungen zu machen, bot therapeutische Gruppenanalysen an, in denen es um die Befreiung von sexuellen Zwängen ging. Mühl war damals 47 Jahre alt, die KommunardInnen waren allesamt junge Menschen, keiner von ihnen hatte wie Mühl den Krieg[17] mitgemacht oder verfügte über die Erfahrung unterschiedlicher Lebensphasen. Die analytischen Sitzungen ergaben sich aus Mühls eigenen Erfahrungen mit der Psychoanalyse, insbesondere seiner Lehranalyse bei Josef Dvorak. Waren die Analysen zunächst noch der Lehre Sigmund Freuds verpflichtet, wurde die Körpertherapie nach Wilhelm Reich maßgebend. Mühl entwickelte unter dem Einfluss der Schriften von Reich[18], dessen Arbeiten die vegetativ-organische Natur der libidinösen Prozesse und ihrer Enthemmung des mittels autoritärer Erziehung erworbener „Charakterpanzer“ erforschten, die Verbalanalyse weiter zur Aktionsanalyse. „Die aktionsanalyse stützt sich auf die ideen von wilhelm reich, besonders auf seine entdeckung des körperpanzers und auf verschiedene darstellungselemente des wiener aktionsimus. […] die durch die körperbehandlung hervorgerufenen erregungszustände werden dargestellt durch schreien, jammern, weinen, brüllen, lachen, […] heftiges atmen, gebärdensprache des körpers usw. der behandelte gerät in exstatische zustände.“[19] Der Analysand wurde zum Aktionisten. Die Kommunikation mit dem Künstler-Therapeuten Mühl wurde zu einem Rollenspiel mit aktionistischen Elementen. Regression als Antwort auf die gesellschaftliche Repression ließ die Kommunemitglieder Geburtserlebnisse, prä- und postnatale Zustände erleben. Die Aktionsanalyse gab der Kommune auch den Namen AA Kommune. Die Aktionsanalyse wurde als Methode für die Aufarbeitung und Bewusstwerdung der verdrängten und vergessenen infantilen Schädigungen eingesetzt. Aus den erzählten Passagen, aus den Gesprächen zwischen Analysand und Analysierenden entwickelte sich die Selbstdarstellung, in der heftige Emotionen in Aktion erfahren und dargestellt wurden, um Kontakt zu finden zu „seiner frühesten Kindheit […] zu seinen verschütteten, unmanipulierten biologischen und emotionellen bedürfnissen.“[20] Die Institution der Familie wurde als Überträger der Schädigung angegriffen. Das Wiedererleben des Vorgangs der Geburt war das Zentralereignis der Aktionsanalyse, erst nach diesem Erlebnis konnte mit der Aufarbeitung der Schädigung begonnen werden. Der Rückfall in den pränatalen Zustand wurde von allen Gruppenmitgliedern mit aufputschenden Schreien, Klatschen begleitet und forderte in der Selbstdarstellung Körpereinsatz mit ekstatischen Bewegungen und Lauten bis zur totalen Verausgabung. Die Selbstdarstellung wurde als Kommunikationsmittel verstanden, in der die Schädigung der Kleinfamilie in einen ekstatischen Zustand des außer sich Geratens übertragen wurde. Diese existenziellen Grenzüberschreitungen wurden von Otto Mühl in einen psychophysischen Ausdruck gelenkt. Alle Mitglieder waren aufgefordert zu agieren und von einer kollektiven Transfersituation zu profitieren. Nur wer sich ausgehend vom Zustand der Kleinfamilienschädigung weiterentwickelte und seine biologische Energie in Arbeit, Sexualität und Kommunikation umsetzte, galt als gesundes Mitglied der Kommune. Die Abende am Friedrichshof gestalteten sich immer mehr als Gruppenveranstaltungen, die aus Malaktionen, Tanzperformances, Rollenspiele und Psychodrama bestanden, begleitet von Musik und dem Dauereinsatz der U-matic Kamera[21]. Die Aktionsanalyse hatte sich zur (kollektiven) Selbstdarstellung vor den Kommunenmitgliedern und vor Gästen entwickelt. Der aktionistische Kommunikationsstil sollte in der Selbstdarstellung die eigenen Emotionen in Form von Tanz, Gesang, performance spontan, hier und jetzt zum Ausdruck bringen. Selbstdarstellung ist für Mühl eine Methode der psycho-physischen Entäußerung. Das Ziel ist „Selbstdarstellung ist die ausbildung zum selbstdarstellungskünstler durch einen SDL (Sebstdarstellungsleiter). […] der selbstdarstellungskünstler ist in der lage, sich sozial und genital im leben zu verwirklichen, er ist zum lebenskünstler geworden.“[22] Der Leiter der AAO (Aktions-Analytischen-Organisation) war Otto Mühl, der selbst vorzeigte, wie psychische und physische Fehlentwicklungen in der Selbstdarstellung mit kreativen Strategien in die angewandten Spielsituationen übertragen werden konnten, in einen tranceartigen Körperausdruck führten. Mühl hatte der Übertragungsbeziehung die Rolle als Förderer und Vermittler zugewiesen, Widerständen wurde mit Aggression und Provokation, mit Liebesentzug begegnet. Die Emanzipation der KommunardInnen durfte nur im Rahmen der AAO erfolgen. Mühl verstand es, Menschen für seine Bedürfnisse zu manipulieren und lenkte die psychischen Vorgänge nach seinem erwünschten Ziel. Er war der Gruppe Vorbild sowohl in seiner sexuellen Potenz, als auch im Bereich künstlerischer Tätigkeiten. Über Jahre hinweg wurden seine Praktiken widerspruchslos akzeptiert, die KommunardInnen eiferten ihm nach, fügten sich Repressalien und den psychisch erlittenen Verletzungen. Mühl (miß)brauchte diese Übertragungsliebe und bedingungslose Akzeptanz für seine Auf- und Abwertungssysteme. In der AA Parabel postulierte Mühl die 12 Parabelstufen, die den Verlauf der Aktionsanalyse kennzeichnen. Aufgrund der emotionalen Stufe der jeweiligen Mitglieder wurde die Persönlichkeit und ihre Entwicklung eingeteilt, eine hierarchische Reihung, eine Leistungsklasse für den sozialen Bewusstseinszustand des Einzelnen festgelegt. Mechanismen der Bewertung, Kontrolle und Konkurrenzdenken lenkten fortan den erweiterten Kunstbegriff, alle sozialen und kunstpädagogischen environments. An der Spitze der Macht-Struktur stand Otto Mühl, gefolgt von einem kleinen Kreis an KommunardInnen, die unter seiner Aufsicht die sozialen Rangordnungen bestimmten, die über die abendlichen „Palaver“ und über sämtliche Verhaltensweisen und Maßnahmen verfügten. Abweichlertum galt Mühl als Bedrohung und Konkurrenz. Die Kreisform und das Eintreten in die Kreismitte machten für alle KommunardInnen (in der Hochzeit bis zu 300 Personen alleine am Friedrichshof) die Selbstdarstellung für die Gruppe erfahrbar. Spontaneität, parodistische Elemente kombiniert mit einem Set an gleichbleibenden Bewegungsmustern, die Mühl im Training perfektionierte, waren die allabendlichen Programmpunkte der Unterhaltung und Bewertung. Auch die am Friedrichshof geborenen Kinder waren dieser AA Organisationsstruktur unterstellt. In der Materialselbstdarstellung griff Mühl Strategien des Aktionismus wieder auf, verband ab 1976 Materialaktionen mit der Selbstdarstellung und Aktionsanalyse. Aktionistische Elemente wie psychomotorische Geräuschkulissen, Atem- und Schreiaktionen, musikalische und gestische Elemente, das Hantieren mit zweckentfremdeten Flüssigkeiten „versumpften“ das Material und den Körper zu Brei. Die Körperaktion, in der das Geburtserlebnis und die Überwindung der Eltern und die Sexualschädigungen (so wurde u.a. auch Homosexualität als Krankheit verstanden) in der Spielsituation erfahren wurden, stand an der Spitze der AA Parabel. Die Gesundung der krankhaften Haltungen und Einschränkungen führte über den Weg der Übertragung der sexuellen Konflikte in die Selbstdarstellung, deren Anspruch die Erlangung der genitalen und sozialen Identität war. Die von den KommunardInnen betriebene kollektive Erinnerungsarbeit bestand aus festgelegten Schemata und Strukturen, folgte Zeiterscheinungen der 1960er und 1970er Jahre, da es um nichts anderes ging, als „Erinnerung zur Befreiung zu nutzen.“[23] Die Methode und das Instrumentarium der Aktions-Analytischen Selbstdarstellung setzte sich allerdings von der Erinnerungsarbeit des politischen Aktivismus ab, wurde als ontologische, autobiographische, evolutionäre Praxis verstanden, in der die Trennung zwischen Subjekt und Objekt aufgelöst wurde. Die makrologische Vorgangsweise, die den KommunardInnen gewisserweise eine Zeitmarke gab, wie sie sich in der Welt bewegen sollten, deckte ihre emotionalen Defizite auf. Kulturtheorien, Ideologiekritik und Geschichtsbewusstsein waren dem alleinigen Kampf gegen die Schädigung durch die Kleinfamilienstruktur unterworfen. Das Potential der wiedergewonnenen (sexuellen) Freiheit als Subjekt wurde im System der AA Struktur in eine hierarchisch gebundene Leistungsklasse überführt, zum Objekt und Material einer Gesellschaft, die imaginierte psychische Ereignisse als inszenierte Reenactment-Strategien einsetzte. So galt es nicht, die Realität zu performen, sondern die Strategien der Verfremdung, der Übertreibung mit den eigenen Erfahrungen zu kombinieren und soziale Rollen als kreative Rollengestaltung zu präsentieren. Die Idealisierung und Selbsterhöhung stilisierte Mühl zum Übervater des Kollektivs. Mühl beharrte auf der Selbstreferenzialität des Materials, ignorierte die unterschiedlichen (Un)möglichkeiten von Körpern und Körperbildern und normierte die Mechanismen der Bedeutungsreproduktion. Die Wiederherstellung der ästhetischen Erfahrung im alltäglichen Lebensprozess ging von der Aktion und Selbstdarstellung der psychischen Verfasstheit aus, führte aber nicht zur Emanzipation des Individuums, sondern in die Evolution und in den Sexualdarwinismus. In der AA Analyse werden „Selbsttechniken“ als Technologien des Selbst verwertet, das Subjekt wurde unterworfen und durch Kontrolle und Machtausübung zu Mühls Subjekt, zu seinem Objekt gemacht. Der Begriff Selbsttechnik hat sich über Foucaults Verwendung hinaus, verselbständigt. Ich meine damit alle Praktiken, in denen das Subjekt seinen Körper mittels unterschiedlicher Medien nach außen stilisiert und präsentiert. Mit Subjekt verstehe ich im kultursoziologischen Sinn ein zeitlich bedingtes und veränderliches Produkt symbolischer Ordnungen „Das Wort Subjekt hat einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemanden unterworfen sein und durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet zu sein. Beide Bedeutungen unterstellen eine Form von Macht, die einen unterwirft und zu Jemandes Subjekt macht“, schreibt Foucault[24]. Der Körper tritt in der AA Selbstdarstellung als eine vom Kollektiv sinnlich wahrnehmbare Darstellung hervor, er ist vorgangsbezogen in seinem Fühlen, in seinem Sich-Zeigen. Die in der Kommune gelebte Subjektkultur ist ausschließlich auf die Konstruktionsweise und das Modell eines kollektiven Kreativsubjekts zentriert, das die sexualorientierten Empfindungen des Körpers aufbricht, in ästhetisierte Rollenmuster zwingt und undifferenzierte Subjekttypen nach Mühls Beurteilungsschema produziert. „Die Aktion des praktischen Aktionsimus [...] läuft praktisch tag und nacht, niemand kann nach hause gehen, und hat sich inzwischen zu einem einmaligen lebendigen kunstwerk entwickelt. Es ist nicht erstaunlich, wenn die daran beteiligten aktionisten und aktionistinnen, die aktion mit dem leben zu verwechseln beginnen. Aber ich als begründer und regisseur des praktischen aktionismus muss darauf bestehen: ES IST KUNST.“[25] Die Konstellation eines Kreativdispositivs[26] machte den Aktionisten, Maler und Filmemacher Otto Mühl zum Leitsubjekt der Kommunengesellschaft. Diese Veralltäglichung der Kunst ist eigentlich eine Steigerung dessen, was im Marxismus immer schon gefordert wurde: die KünstlerIn als ProduzentIn der Revolution zu begreifen. Mühl blieb der geniale Künstler und die KommunardInnen waren seine ästhetischen ArbeiterInnen, die die Codierung der Selbstexpression und die Transgression exerzierten. In den Selbstpraktiken der AA Darstellung stilisierte sich das Ich zum ästhetischen Material, Projekt und Ausdrucksfeld der kommunitären Sozialstruktur. Mühls fortschreitender Alkohol- und Kokainkonsum ließ ihn zunehmend die soziale Kompetenz in der Begegnung mit den KommunardInnen und den Blick für Grenzziehungen verlieren. Mit körperbezogener Erinnerungsarbeit und der Wiedererlangung des Subjektstatus beschäftigt sich das „Gemeinschaftskind“ Paul-Julien Robert in seinem Dokumentarfilm Meine keine Familie[27] und zeigt die Ambivalenz des Kommunenprojekts. Die in der außerfilmischen Welt gemachten Erfahrungen am Friedrichshof werden aus der Perspektive des Ich-Erzählers Paul-Julien Robert erzählt. Der Rückgriff auf Zeitzeugen, Interviews und die Montage von archival footage[28] aus der Kommune sind Erinnerungsstücke für die Visualisierung von Vergangenheit. Alle Bilder sind imprägniert von Roberts eigener Wahrnehmung und seiner Sinn- und Vatersuche[29] und dokumentieren eine innere und äußere Reise. Seine Auftritte vor der Kamera, seine Voiceoverstimme stilisieren ihn als leidgeprüften Fragesteller. Roberts Film erscheint wie eine Umkehrung und pessimistischer Kommentar der Folgegeneration auf die Aufbruchsstimmung der KommunardInnen. Im visualisierten Archivmaterial aus der Kommunenzeit sind die Sedimentierungen von Geschlechternormen zu lesen, die als Körperstile verdinglicht werden. Die Archivbilder stimulieren Roberts emotionales Gedächtnis, zeigen den Kommunenalltag, der permanent mit der Kamera gefilmt wurde. Die Gespräche mit der Mutter und anderen Zeitzeugen sollen das gezeigte Filmmaterial befragen, Verschwiegenes zur Sprache bringen. Die verwendeten Materialien untermauern und legitimieren die expositorischen Voiceover, akzentuieren aber zusätzlich Gegensätze und Widersprüche durch die Befragung der Mutter und machen den Sohn / Filmemacher zu einer moralischen Instanz. Aus der Beobachterperspektive konfrontiert er sich im Film mit dem filmischen Archivmaterial, das ihn als kleinen Jungen am Friedrichshof in der erzwungenen Teilnehmerposition zeigt. Der Filmemacher lässt seine Mutter in die Mitte, ins Zentrum treten, um sie zu beurteilen und nimmt die praktizierte Strategie des Friedrichhofs wieder auf. Anstelle der Aktion tritt aber der verbale Dialog, der wie in einem Beichtstuhl der Mutter vor der Kamera Fragen stellt und Geständnisse über ihr Kommunenleben und ihre Vergehen erwartet. Das Beichtgespräch[30], das zum therapeutischen Diskurs gehört, hat eine lange Tradition. Die Psychoanalyse ist nur die aktuellste Weiterentwicklung dieses Apparatus. Der Beichtvater und Filmemacher ist nur Filter dieser Bekenntnisse. Der Seelenstriptease der Mutter wird vom Sohn gesteuert, der nachforscht, wie weit die eigene Persönlichkeit durch die Bürde und das Erbe Friedrichshof konditioniert ist. Die Einschränkung der Wahrnehmung und das Schweigen stellen die Notwendigkeit des Erinnerns, des Redens und (Nach)Denkens über vergangene Situationen und Ereignisse vor der Kamera in eine Metaebene der filmischen (Nicht)Kommunikation. Die Übergangsmomente, die Homi Bhabha[31] als „Ästhetik der Zwischenräume“, als In-Between-Ness beschreibt, führen zu den Lücken und Leerstellen in den Erinnerungen und generieren den „Third Space“. Die Kamera ist das Werkzeug, um jene Situation des Dialogs in Gang zu bringen, in der die Mutter in ihrer stockenden Erzählweise, in ihrer körperlichen Präsenz gezeigt wird. Im Bewusstsein, dass der Film auch eine gewisse Öffentlichkeit generiert, werden Angebote an das Publikum gemacht, durch die Erzeugung intimer Nähe an den Gefühlen und Erfahrungen teilhaben zu können. Am Ende des Films sitzen Robert und seine Mutter in einem Screening Room um den fertigen Film zu schauen. Die Kamera ist nicht auf die Leinwand, sondern auf ihre Gesichter gerichtet. Das Neugesehene lässt Mutter und Sohn emotional bewegt zurück. Die medientechnische Komponente der Selbstpraxis macht den Film zum einzigen Ort, an dem die kommunitären Ereignisse zur Sprache kommen. Selbstreflexivität als Arrangement von Zeit- und Lebensgeschichte, bis das Kino sich selbst im Kino spiegelt. Bibliographie: Das AA Model. Hrsg. vom AA-Verlag. Bd.1, Neusiedl/See 1976. Aktionismus – Aktionsmalerei. Hrsg. von Museum moderner Kunst. Wien 1989. Aktionsmalerei, Aktionismus. Wien 1960-1965. Eine Chronologie von Dieter Schwarz. Zürich 1988. Anxionnaz, Christian: Mehr als eine Therapie. Aktionsanalyse & Selbstdarstellung in der AAO. Nürnberg 1977. Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. New York 1994. Die Blutorgel. Originalmaquette. In: Von der Aktionsmalerei zum Aktionismus. Wien 1960-1965. Hrsg. vom Museum Fridericianum Kassel. Klagenfurt 1988, S. 218-221. Bruzzi, Stella: The Event: Archives and Imagination. In: New Challenges for Documentary. Edited by Alan Rosenthal and John Corner. Manchester/New York 2005. Die Drossel. Hrsg. von Günter Brus. Bozen 1969-1975, Ausgabe 13, 1975. Foucault, Michel: Das Subjekt und die Macht. In: Dreyfus, Hubert: Michel Foucault. Jenseits der Strukturen und Hermeneutik. Weinheim 1994. Haug, Frigga: Erinnerungsarbeit. Hamburg 1990. Kaprow, Alan: Stockroom. Hrsg. von der Sammlung Friedrichshof. Köln 2013. Kommune 2 [Christel Bookhagen, Eike Hemmer, Jan Raspe, Eberhard Schultz, Marion Stergar]. Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums. Berlin 1969. Manifest zur Teilnahme an Happening und Fluxus. Köln 1970. Mühl, Otto: Katastrophenvermessung. In: Die Drossel. Hrsg. von Günter Brus. Bozen 1975, Ausgabe 13, S. 39. Mühl, Otto: Tagebuch. Typoskript. O.O., 1962/63. Renov, Michael: The Subject of Documentary. Minneapolis 2004. Wiener Aktionismus. 1960-1971. Der zertrümmerte Spiegel. Hrsg. von Hubert Klocker. Bd. 1, Klagenfurt 1989. Filmographie: Meine Keine Familie. Ein Dokumentarfilm von Paul-Julien Robert. DVD Edition Stadtkino, Wien 2013. ________________________________ [1] Kommune 2 [Christel Bookhagen, Eike Hemmer, Jan Raspe, Eberhard Schultz, Marion Stergar]. Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums. Berlin 1969, S. 176. [2] Durch Aktien- und Immobiliengeschäfte und eine geschickt betriebene Art von Telephonmarketing wurden finanzielle Überschüsse produziert, die sich in einem materiellen Wohlstand der Kommune niederschlugen. 1987 wurde aus dem erwirtschafteten Kapital der Stadtgruppen die Ferienanlage El Cabrito im Südosten der Insel La Gomera gekauft. Heute ein exklusives, umweltbewusstes Hotel, das von der Friedrichshof Genossenschaft geführt wird. [3]Vgl. Kaprow, Alan: Stockroom. Hrsg. von der Sammlung Friedrichshof. Köln 2013. Activities: Reinvention Stockroom by the Kaprow_Istinnen. Sammlung Friedrichshof, Zurndorf 5. 5. 2012, www.sammlungfriedrichshof.at/de/ausstellungen. [4] Der daraus entstandene Film-Aktionismus brachte zwischen 1983 und 1988 vier Spiel-, fünf Kurz- und fünf Kinderfilme als Teil des Projektunterrichts hervor. Als Regisseurin trat dabei Terese Panoutopoulos-Schulmeister auf, während Mühl als Drehbuchautor fungierte. Ästhetisch wie thematisch unterscheiden sich die Kurz- und Kinderfilme grundlegend von den Spielfilmen. Mit ihren auf den ersten Blick überraschend narrativen, beinahe konventionell inszenierten Spielfilmen, begaben sich die KommunardInnen bewusst auf das Feld des klassischen Hollywoodkinos. Für die zahlreichen Rollen wurde ein guter Teil der damaligen österreichischen Avantgarde gewonnen – von Hermann Nitsch über Günter Brus bis Maria Lassnig. Eingebunden in eine narrative Handlung, wird die Ideologie des individuellen Künstlertums entlarvt. Den Geschichten sind erzählerische Lücken, das Zufallsprinzip und Improvisation eingeschrieben. So ergibt sich ein Set an Merkmalen, das auch den Alltag am Friedrichshof spiegelt: Selbstdarstellung in den Aktionsanalysen, freie Sexualität, unkontrollierte Assoziations- und Rollenspiele, die subtilen Formen der gewalttätigen und psychischen Unterdrückungsmechanismen, exzessive Mal- und Materialaktionen. Zugleich zeigen die Filme auch die Tendenz Mühls, sich von der Kunstproduktion hin zur direkten Gesellschaftsveränderung zu bewegen. "Vorstellungen sind sehr schön, aber die Wirklichkeit ist besser", lautet das Resümee des gealterten Picasso im Kinderfilm – der klare Ausdruck der Kunst- und Weltsicht Mühls in den 1980er Jahren. Die meist zeitlich vor den Spielfilmen entstandenen Kurzfilme zeigen hingegen deutlicher den Rückbezug auf die Materialaktionen Mühls aus den 1960er Jahren, sind experimenteller geschnitten. [5] Mit der Aktionskünstlerin Valie Export standen die Wiener Aktionisten in losem Kontakt, Valie Export performte ihre Aktionen vorwiegend alleine, wie z.b. auch Susanne Widl. Künstlerinnen dienten den Aktionisten sehr oft als Modelle für eigene Aktionen. [6] Die Blutorgel. Originalmaquette. In: Von der Aktionsmalerei zum Aktionismus. Wien 1960-1965. Hrsg. vom Museum Fridericianum Kassel. Klagenfurt 1988, S. 218-221, hier S. 221. [7] Mühl, Otto: Tagebuch. Typoskript. O.O. 1962/63, S. 34. [8] Aktionsmalerei, Aktionismus. Wien 1960-1965. Eine Chronologie von Dieter Schwarz. Zürich 1988, S. 41. [9] Aktionismus – Aktionsmalerei. Hrsg. von Museum moderner Kunst. Wien 1989, S. 219. [10] Manifest zur Teilnahme an Happening und Fluxus. Köln 1970. o.S. [11] Otto Mühl in einem Brief an Oswald Wiener. Wien 1971. Zitiert nach: Wiener Aktionismus. 1960-1971. Der zertrümmerte Spiegel. Hrsg. von Hubert Klocker. Bd.1, Klagenfurt 1989, S. 214f. [12] Mühl, Otto: Katastrophenvermessung. In: Die Drossel. Hrsg. von Günter Brus. Bozen 1975, Ausgabe 13, S. 39. [13] Ebd., S. 39. [14] Ebd., S. 41. [15] Ebd., S. 41. [16] So wurde auch die Kommune Friedrichshof in der SPÖ-Alleinregierung unter Bruno Kreisky als innovatives Modell geschätzt und finanziell gefördert, ohne zu diesem Zeitpunkt die reaktionäre Entwicklung der Folgejahre vorauszuahnen. [17] Mühl wurde 1925 in Grodnau im Burgenland geboren. Sein Vater (Volksschullehrer) und sein Bruder starben in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Mühl selbst war 1944 an der Front, nach dem Krieg absolvierte er das Lehramt in Deutsch und Geschichte und studierte ab 1952 an der Akademie der Bildenden Künste in Wien Kunstpädagogik. Schon während des Studiums war er als Zeichentherapeut in einem Heim für entwicklungsgeschädigte Kinder tätig. Otto Mühl starb am 26. 5. 2013 in Südportugal nahe bei Faro, wo Mühl nach seiner Haftentlassung in einem kleinen Rahmen das Kommunen-Experiment weitergeführt hatte. [18] Der Freud Schüler Wilhelm Reich starb 1957 vollkommen geächtet in einem amerikanischen Gefängnis. Reich wollte die biologische Existenz der Libido nachweisen und stellte Messungen in eigens konstruierten Kabinen an, selbst im Sonnensystem und zwischen den Sternen vermutete er das Fließen der universellen Lebensenergie. Im Zuge der Neubelebung der freudomarxistischen Konzepte wurde Reich als politischer Denker, als Vater der Bewusstseinsrevolution von den Vertretern der 1968er Revolution entdeckt. Sie lasen seine Schriften aus den 1930er Jahren: Die Massenpsychologie des Faschismus; Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral; Die sexuelle Revolution. Reich hatte in seiner Frühphase die Libidotheorie mit dem Marxismus verbunden und die Psychoanalyse mit Sozialökonomie ergänzt. Doch wurde er in den 1920er Jahren von Seiten der Marxisten heftig kritisiert, die seine Theorie zu biologistisch hielten und das Fehlen sozialer und ökonomischer Aspekte bemängelten. [19] Das AA Model. Hrsg. vom AA-Verlag. Bd.1, Neusiedl/See 1976, S. 23. [20] Anxionnaz, Christian: Mehr als eine Therapie. Aktionsanalyse & Selbstdarstellung in der AAO. Nürnberg 1977, S. 15. [21] Die U-matic ist ein japanisches Videoformat der frühen Generation zur elektromagnetischen Aufnahme und Wiedergabe für Bild und Ton. [22] AA Model, S. 37. [23]Haug, Frigga: Erinnerungsarbeit. Hamburg 1990, S. 16 [24] Foucault, Michel: Das Subjekt und die Macht. In: Dreyfus, Hubert: Michel Foucault. Jenseits der Strukturen und Hermeneutik. Weinheim 1994, S. 243-261, hier S. 246. [25] Die Drossel. Hrsg. von Günter Brus. Bozen 1975, Ausgabe 13, S. 40. [26] Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Berlin 2012. [27]Der Film erhielt zahlreiche Preise: 2012: Bester Dokumentarfilm; 2013: Grierson Award; 2014: Österreichischer Filmpreis. [28] Der autobiografische Dokumentarfilm ersetzt die scheinbar objektive dritte Person „Das ist die Wahrheit“ durch die erste Person „Ich zeige dir meine Wahrheit“. Vgl. Bruzzi, Stella: The Event: Archives and Imagination. In: New Challenges for Documentary. Ed. by Alan Rosenthal and John Corner. Manchester/New York 2005. [29]Die Vatersuche ist ein dramaturgischer Trick, da der Filmemacher von Anbeginn seinen Vater bereits kennt. [30]Renov, Michael: The Subject of Documentary. Minneapolis 2004. [31] Vgl. Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. New York 1994.