6-990 Valeria Hellberger UNTER DEM DOPPEL ADLER Die Nationalitäten der Habsburger Monarchie 1848-1918 Verlag Christian Brandstätter isb\ .+47-685-x "im 9r= -TOVä?6 Valeria Heuberger UNTER DEM DOPPEL ADLER Die Nationalitäten der Habsburger Monarchie 1848-1918 Verlag Christian Brandstätter Valeria Hellberger UNTER DEM DOPPEL ADLER Die Nationalitäten der Habsburger Monarchie 1848-1918 Mit 322 Abbildungen, davon 196 in Farbe Verlag Christian Brandstätter, Wien - München I \-11 \ I I Mdadfykova Univerzita FllOZOtiC^a iaklllla l'l«t*«rim knihwriB Pfirc 10- 1l$0S-lY Sign Syst.cS SilTth Die Nationu.itaten 25 Die Deutschen 45 Die Italii \i r 55 Die Juden 65 Die Kroaten 73 Die \! \<;y\ren 9/ Die Polen 70/ Die Rum vnen 117 Die Ruthenen/Ukrainer 757 Die Serben Hi Die Slowaken 7J5 Die Slowenen 765 Die Tschechen 185 Die kleinen Völker 199 FlNIS austriae 205 Anhang -■n Xtnrti,, i i ) kalin ="tJT-riiiM(í. li «> VajrtluhiU r Knihovna FF MU Brno 2570712803 5*« PIV'« ^»---> « °V*A»*VÓ«/*\ Übersichtskarte ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHEN MONARCHIE mit den Grenzen für den politischen und gerichtlichen Verwaltungsdienst. Maßstab 1 : 4,000.000. kim »1s Ztt/gttm Zeichenerklärung: sszlionarchiegrenzt *•• Oberlandageriehlt-(/reu ze (In CMmkIm] XsLandesgrenze ... GericMstufelijrenze * Stgtthalteni- oder laniiexgerichfes v£> Landesregierung*- x Amttsttt der Gerichn-tafel In Witit, Bmtnptit, A gl tun Ojiihrigen Re\fierun\!sjubiläums Kaiser Franz Josephs I. Farblithographie von Beitold Loffler. 1908 Im Jahre 1908 beging Kaiser Franz Joseph sein sechzigjähriges Regierungsjubiläum. Am 12. Juni, einem Freitag, fand aus diesem Anlaß ein pompös inszenierter Festzug statt, bei dem die Völker des Reichs ihrem Monarchen huldigten. Historische Szenen aus der Geschichte des Hauses Habsburg wurden von Teilnehmern an dem prunkvollen Defdee nachgestellt, vor allem aber hatten sich Hunderte Menschen aus den Kronländern eingefunden, um auf kunstvoll aufgeputzten Pferdewagen, in den buntesten Trachten an ihrem Kaiser vorbeizuziehen, ihm Lieder darzubringen, Tänze vorzufuhren und den in die Tausende gehenden Zuschauern des Spektakels einen „Einblick in das Volksleben" zu gewähren. Die ganze ethnische Vielfalt der Monarchie fand dabei Berücksichtigung. Von Dalmatien im Süden, das mit dreihundert Teilnehmern vertreten war, bis Galizien und der ethnisch besonders vielfältigen Bukowina im Osten des Reichs war alles aufgeboten worden, um die Mannigfaltigkeit der Völker in den Kronländern aufzuzeigen. Für Mähren traten etwa Deutsche und Slowaken auf, für die Küstenlande - Triest, Istrien, Görz und Gradi-sca - Italiener, Deutsche, Slowenen, Kroaten und Furlaner, für Tirol Deutsche, Italiener und La-diner. Die Tschechen fehlten freilich, hatten sie sich doch durch die zuvor erfolgte deutschnationale Polemik verärgern lassen und deshalb auf ihre Teilnahme verzichtet. Ein Blick auf die Karte von S. 8/9 zeigt, daß die Habsburgermonarchie ein gewaltiges Territorium umfaßte und einen großen Teil der „Landmasse östlich von Triest" ausmachte. Dieses Konglomerat von Ländern, Königreichen, Herzogtümern und Grafschaften hatte sich in einem jahrhundertelangen historischen Entwicklungsprozeß herausgebildet: vergrößert durch Heiraten, verkleinert durch verlorene Schlachten. Obwohl nach dem Ausgleich von 1867 Deutsche und Magyaren in der österreichischen beziehungsweise der ungarischen Reichshälfte nicht die absolute Bevölkerungsmehrheit stellten, hatten beide Bevölkerungsgruppen aufgrund der vorangegangenen historischen Entwicklung die politische, wirtschaftliche und kulturelle Vormachtstellung inne. Die Deutschen der 1 labsburger-monarchie spielten dabei bis 1866 auch im gesamteuropäischen „Konzert der Mächte", im Rahmen des Deutschen Bundes, eine führende Rolle, der sie erst nach Dik Nationalitäten der Katastrophe von Königgrätz (Hradec Krälove) entsagen mußten. In der cisleithanischen Reichshälfte war Deutsch die führende Sprache in der Verwaltung und im öffentlichen Leben; im inneren und äußeren Amtsverkehr war es ebenso vorrangig. Neben der deutschen Sprache kam aber auch etwa dem Italienischen - jeweils bis zum Verlust der oberitalienischen Provinzen - in der Lombardei, in Venetien, im Trentino, in Dalmatien und im ehemals venezianischen Teil Istriens eine ähnliche Vormachtstellung zu. Vielfältig war also das I labsburgerreich: von den Sprachen her, die seine Bewohner beherrschten, über die unterschiedlichsten Landscharts- und Klimazonen, die Bekleidung, das Brauchtum, die Eßgewohnheiten und letztlich die Mentalität seiner Bürger. Von der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien ausgehend, erstreckte sich das Reich nach Westen über die sanften Hügel des Wienerwalds, die Berge und Seen Oberösterreichs und der Steiermark, das verspielt-barocke Salzburg, die hohen Gipfel Tirols, die grünen Wälder und Almmatten Krains, verlief dann südwestlich über den Karst nach Triest, von dessen Hafen aus Schiffe in alle Welt in See stachen, und erreichte schließlich die Adria. Verließ man Wien in nördliche Richtung, so gelangte man zuerst nach Mähren, dann weiter nach Böhmen, das eine eigene Welt in sich war: mittelalterliche Märchenburgen, fruchtbares Ackerland, Fischteiche, Städte mit engen, kleinen Gäßchen, die schließlich in weite Marktplätze mit prachtvollen Renaissancearkaden mündeten, berstend vor geschäftigem Treiben; weiter dann in das „goldene Prag", durch die Gebirgstäler Schlesiens bis nach Krakau und hinein in die galizische Ebene. Die Ausläufer der Karpaten mit dichten, urwaldgleichen Wäldern reichen hier bis ins Tiefland; urwüchsig ist die Vegetation, archaisch muten auch die menschlichen Siedlungsspuren in dieser Wildnis aus Bäumen und Felsen an. Die Bukowina mit ihrem Zentrum Czernowitz (Cernivci) schloß sich an; hier mischten sich, wie wohl sonst kaum auf so kleinem Raum, Religionen und Kulturen, lebten Rumänen und Ruthenen, Huzulen und Polen, Armenier, Deutsche und Juden. Letztere hielten hier ganz besonders die deutsche Sprache und Kultur in Ehren. Dieses kleine Kronland am Rande des Russischen Reichs verkörperte ein Europa en minia-ture, einen lebendigen Mikrokosmos, der stets Landkarte der Habsburger Monarchie: Nationalitäten- mit! Sprachenkarte zun (Memkb-ÜMgtru 1896. Ans: Ptvf.Anton Leo Hichnanns geographisch-statistischer Taschen-Attas von Österreich - L ii qarn. Wim 1900 Die Nationalitäten Die Nationalitäten Jiibtlänms-Hnldigtin^s-Festzng anläßlich des 60jährigen Regierungsjuhiläiims Kaiser Franz Josephs t. im Juni 1908 auf der Wiener Ringstraße. Photographien von J. Limy. 1908 Oben: Sationalitäten Gruppe l brarlberg: Die l brarlherger präsentierten sich unter dem nationalen Symbol der Christophorus-Statue vom Hospiz in St. Christoph am Arlherg. Unten: In bunten Trachten würdigten die l blksgruppen den Kaiser. Im Bild die deutsch-mährische Nationalitäten Gruppe" aus Stkolsburg und Znarm bei diesem Umzug. Fotographie und i erlag Hofkunstanstalt J. Lowy Gegenüber: Auch zahlenmäßig reliitiv kleine l blksgruppen WÜ du Huzulen, hier mit einem traditionellen Hochzeitszug als Ausdruck nationaler Identität, ii-aren beim Jubiläumsumzug 1908 vertreten. neue, befruchtende Einflüsse von außen erhielt und diese dann auf ganz spezifische Weise umwandelte und zu etwas Eigenem, Einzigartigem machte. Nach Wien zurückgekehrt, wendet sich der Weg nach Osten, in das Königreich Ungarn. Hügelig noch zunächst, läuft die Landschaft dann in sanft wogenden Wellen in die Steppe aus, in die Tiefebene, in der sich dem Auge als einzige Erhebung dann und wann ein Ziehbrunnen bietet. Doch auch in dieser Weite, in der Puszta, sind neben winzigen Ansiedlungen und großen Gutshöfen auch Städte zu finden, die wie Debrecen den Ruf calvinischer Gottesfurcht und abendländischer Gelehrsamkeit über Siebenbürgen bis weit in den Osten getragen haben. Große Flüsse teilen das Land, neben der Donau ist die Theiß ein wahrhafter Schicksalsfluß der Magyaren. An den Ufern der Donau liegt auch Buda, das alte Ofen, 1686 in blutigem Sturm den Türken entrissen. Uber das Gemetzel, das die christlichen Befreier an der muslimischen Zivilbevölkerung angerichtet haben, schweigt die Geschichte, erzählen dafür aber Genregemälde des 19. Jahrhunderts. Als Folge des Rückzugs der osmanischen Heeres-macht entstand in Jen bevölkerungsleeren Gebieten ein buntes ethnisches Alosaik, kamen Kolonisten aus dem Flickenteppich der kleinen Fürstentümer und Königreiche des Deutschen Reichs, ja sogar aus Flandern, Frankreich, Italien und Spanien. Banat und Batschka wurden auf diese Weise nicht nur urbar gemacht, sondern zählten bis weit in das 20. Jahrhundert zu den Regionen des südöstlichen Europas mit der vielfältigsten BevölkerungsZusammensetzung. Das Königreich Ungarn umfaßte aber auch südslawische Provinzen: Kroatien und Slawonien mit der bis 1881 bestehenden Militärgrenze, deren Festungsgürtel - beginnend an der Adria - sich bis Siebenbürgen und die Bukowina hinzog. Siebenbürgen ist eine der wohl faszinierendsten Landschaften in diesem Länder- und Völkerreigen: reich an Bodenschätzen, mit einer fast dramatisch schönen Landschaft, alten Städten mit gotischen Domen, die - wie das architektonische Juwel der „Schwarzen Kirche" in Kronstadt (Brassö, Bra^ov)-reich mit herrlichen Orientteppichen geschmückt sind; ein Gemisch aus Magyaren, Szeklern, Deutschen - den „Siebenbürger Sachsen" -, Rumänen, Juden, Armeniern und Zigeunern bevölkerte Trans-sylvanien und verlieh dieser Region einen eigen- Jßieulenftccbze/fczaej Bukowina. tümlichen, archaischen Charakter. Und schließlich, nach 1878, kam noch Bosnien-Herzegowina in den Kreis der Monarchie, mit Moscheen und verschleierten Frauen, ein wahres Stück Orient, unergründlich auf den ersten Blick für den aus Budapest, Prag oder Wien hierher versetzten Bahnbeamten oder Lehrer, mit kaum zu durchschauenden Verhältnis-Mi, wer wem Freund oder Feind war. Dieses Imperium, geeint unter dem Zepter der Habsburger, war flächenmäßig nach dem Russischen Reich das zweitgrößte Staatengebilde Euro- pas; und nach Rußland und dem Deutschen Reich lag der Habsburgerstaat mit 52 Millionen Einwohnern im Jahre 1910 an dritter Stelle hinsichtlich der Bevölkerungszahl, vereinigte in sich - nicht immer harmonisch, aber doch auch dem anderen Würde und Lebensraum lassend - Tiroler und Ladiner, Kärntner und Slowenen, Italiener und Kroaten, Serben und Magyaren, Rumänen, Ruthenen. Polen. Slowaken sowie eine Fülle von zahlenmäßig oft kleinen Volks- und Religionsgruppen wie Huzulen, Lippowaner oder Armenier. 10 I I Dit: Nation vli i vi en Die Nationalitäten Oben: Synagoge in Zolkiez; Galizien. Photographie. Cm}900 Rechts: Moscheen in Sarajrvo. Photographie. 1910 Den Juden kam im wirtschaftlichen und kulturellen Gefüge des Habsburgerreichs eine besondere Rolle zu. Sie waren vielfach die wahre Antriebskraft, wenn es um den ökonomischen und geistigen Fortschritt ging, wenn kühne Ideen beim Entwickeln neuer Techniken und Risikobereitschaft bei der Gründung neuer Industrieanlagen gefragt waren, oder wenn Provokantes, nie zuvor Erdachtes oder gar Gesagtes im I lörsaal der Universität, auf der Bühne, in den Buchhandlungen und - nicht zu vergessen - im Kaffeehaus verbreitet wurde. Die Juden galten als die wahren Kosmopoliten, sie waren weltgewandt, polyglott, geschäftstüchtig und pflegten Verwandtschaftsbeziehungen auch außerhalb der Monarchie, die einen Blick in die „große Weh" vermitteln halfen. Zwischen den Juden in der Monarchie waren die sozialen und mentalitätsmäßigen Unterschiede beinahe so groß wie zwischen einem rumänisch-orthodoxen Popen in einem kleinen Dorf in Siebenbürgen, einem magyarischen calvinistischen Advokaten in Kaschau (Kassa, Kosice), einem slowenischen Forstarbeiter aus Krain, einem polnischen Adeligen, der in Wien im Reichsrat die Interessen seiner Landsleute vehement vertrat, einem wohlhabenden deutschen Kaufmann aus Prag und einem bitterarmen Zigeuner aus der Zips (Szepes, Spis), der mit seinem Tanzbären zum Ergötzen der Dörfler durch die Karpaten zog. Die Juden der 1 labsburgcnium-archie hingen an Kaiserhaus und I lerrscherthron, fielen doch vom Glanz des Monarchen auch einige mildleuchtende Strahlen der Toleranz und .Akzeptanz, der .Anerkennung als gleichwertige Staatsbürger auf sie. 1867, im Zuge der Ausgleichsverhanil-lungen mit L ngarn, waren die Juden dann als gleichberechtigte Staatsbürger anerkannt worden, und sie sollten dem Hause Habsburg bis zum Zerfall der Monarchie als Beamte, Universitätslehrer und Offiziere treu dienen. Diese Vielfalt an Völkern, Sprachen und Religionen war ein stetes Ziel der Forschung für Historiker, Volkskundler und Gelehrte anderer Disziplinen. Die Weiträumigkeit der Donaumonarchie er- Links: Religionskarte von Osterreich-Ungarn. Ans: Geographischer . \tlas zur i titahiiids-lc taute m Jen österreichischen Mittelschulen, beurl'eitet von Dr. Rudolf Rothaug. Wien, tun 1910 Unten: „Die nangeli-sche Kirche A. B. zu Kronstadt" (Siebenbürgen). Holzschnitt von Julius Hary- Aus: Die osterreichtsch-iingarische Monarchie in Wort und Bild: Ungarn (VI. Band). Wien 1902 laubte es, Forschungsreisen, ja wahre Expeditionen zu unternehmen und die entlegensten Täler, die unzugänglichsten Gipfel aufzusuchen; von diesen Reisen wurde dann reiches Untersuchungsmaterial zurückgebracht, nicht nur allerlei ausgestopftes Getier und archäologische Artefakte, sondern auch Erkenntnisse über die oft zahlenmäßig kleinen Bevölkerungsgruppen, die in den Wäldern der Karpaten oder in den Sümpfen der Theiß zuhause waren: schriftliche Aufzeichnungen ihrer Lieder und Balladen, Skizzen ihrer Häuser, Ackergeräte und sonstiger Gebrauchsgegenstände, Porträtzeichnungen und Photographien. Um diese Forschungstätigkeit zu systematisieren, entstand der Plan, ein mehrbändiges Werk über die österreichisch-ungarische Monarchie herauszugeben, in der die einzelnen Kronländer mit ihrer Bevölkerung dem interessierten Leser vorgestellt werden sollten. Die bekanntesten Wissenschaftler der Monarchie waren es denn auch, die von 1882 bis 1902 in 24 Bänden einen ausfuhrlichen Überblick über die Volksstämme des Reichs, über die Geschichte, Wirtschaft und Kultur Osterreich-L^garns erarbeiteten und auf diese Weise ein wahrhaft monumentales Werk schufen. Im März 18S4 schrieb Kronprinz Rudolf, der Initiator dieses nach ihm benannten „Kronprinzenwerks", seinem kaiserlichen Vater: „Eure Majestät! Das Studium der innerhalb der Grenzen dieses Reiches lebenden Völker ist wohl nicht nur für den Gelehrten ein hochwichtiges Feld der Thätigkeit, sondern auch von praktischem Nutzen für die Hebung des Gesammt-Patriotismus. Durch den Einblick in die Vorzüge und I i-genthümlichkeiten der einzelnen ethnographischen Gruppen und in ihre gegenseitige und materielle Abhängigkeit von einander, muß das Gefühl der Soli- Die N vtion \i.itäten Die Nationalitäten Links: Kaiser Franz Joseph I. mit geistlichen ii 'iirdentrd-MTü in Pressbitrg Juni 1909. Photographie Rechts: Kaiser Franz Joseph I. mit muslimische ti in',,! orthodoxen Ii 'iirdeiiträgem in Sa-rajno.Jiim 1910. Photographie darität, welches alle Völker unseres Vaterlandes verbinden soll, wesentlich gekräftigt werden. Jene Volksgruppen, welche durch Sprache, Sitte und durch theilweise abweichende geschichtliche Knt-wicklung sich von den übrigen \blksbestandtheilen abgesondert fühlen, werden durch die Thatsache, daß ihre Individualität in der wissenschaftlichen Literatur des Reiches ihr gebührendes Verständniß und somit gewissermaßen ihre .Anerkennung findet, wohlthätig berührt werden; dieselben werden dadurch aufgemuntert, ihren geistigen Schwerpunkt in Österreich zu suchen. [...] »Österreich-Ungarn in Wort und Bild* kann in wissenschaftlicher und künstlerischer Beziehung und zugleich als wahres Volksbuch ernste, patriotische Bedeutung gewinnen. Die literarischen und künstlerischen Kreise aller Völker dieses Reiches würden zur gemeinsamen .Arbeit vereinigt; die bekannten Namen müßten zum Glänze des Werkes dienen und jüngeren autstrebenden Kräften Gelegenheit geboten werde, sich bekannt zu machen, ihre Talente zu verwert-hen und Manchen könnte hinübergeholten werden über die schweren .Anfänge des oft jahrelangen har- ten Kampfes, den sie führen müssen, um aus ihrer kümmerlichen Existenz hervorzutreten in die Reihen der gesammten und geschätzten Gelehrten- und Künstlerwelt. Dem In- und Auslande soll dieses Werk aber zeigen, welch reiche Summe an geistiger Kraft diese Monarchie in allen ihren Ländern und Völkern besitzt und wie sie da vereinigt schaffen an einer schönen Leistung, die dem Selbst- und Machtgefühle des großen gemeinsamen Vaterlandes Aller dienen muß." Neben den unbestreitbar wichtigen historischen und ethnographischen Forschungen über die Völker des Reichs war die Rechtsprechung für die Nationalitäten von allergrößter staatspolitischer Bedeutung. Die Vertretung in Verwaltung und bei den Behörden mußte schließlich geregelt, der Schulunterricht in der jeweiligen Muttersprache organisiert werden. Und gerade um deren Verwendung im öffentlichen Leben entbrannte in den meisten Fällen Streit und Hader. Den slawischen Sprachen etwa, die vielfach zu Beginn des 19. Jahrhunderts erst in eine standardisierte, schriftsprachliche Form gebracht werden mußten, wurde die Anerkennung oftmals versagt, sie galten gegenüber der deutschen oder ungarischen Sprache als unterlegen, zweitrangig- Die Lösung der Nationalitätenfrage sollte sich als das entscheidende politische Thema, als Uberlebensfaktor der Monarchie erweisen. Die dabei zutage tretenden Schwierigkeiten waren in der unterschiedlichen politischen und sozialen Struktur der Monarchie zu suchen. War Österreich eine historisch gewachsene, von der Dynastie geprägte Union Ständestaaten, ein Konglomerat von Königreichen und Ländern, so repräsentierte L'ngarn im Selbstverständnis der Magyaren - als der politisch führenden Nation - eine Einheit, obwohl die multinationale Zusammensetzung der Bevölkerung diesem Wunschbild in der Realität entgegenstand. Der Rut nach Gleichberechtigung der Nationalitäten ertönte im Revolutionsjahr 1848 unüberhör-bar laut. Gesetzliche .Anerkennung und Garantie der Gleichstellung der böhmischen mit der deutschen Nationalität wurden am 20. März 1S48 in einer Petition der Bürger Prags an Kaiser Ferdinand gefordert. Und schon damals stellte die auswei- chende Antwort aus Wien die Petenten nicht zufrieden, ein Zustand, der - in der gesamten Monarchie - bis 1918 andauern sollte. Und schon in dieser Märzpetition waren es die Fragen des Unterrichts- und Erziehungswesens in der Muttersprache, die besonders am Herzen lagen. Obwohl der Wiener Hof dann doch einzulenken schien und in einem äußerst verschwommen formulierten und allgemein gehaltenen kaiserlichen Handschreiben vom 8. April 1848 die „vollkommene Gleichstellung der böhmischen Sprache mit der deutschen in allen Zweigen der Staats-Verwaltung und des öffentlichen Unterrichtes" postuliert wurde, sprang der nun einmal entfachte Funke von Prag aus auch auf andere Teile des Reichs über, stellten nunmehr auch andere Völker ihre Forderungen. Die Revolution, deren Niederschlagung und die darauffolgende Zeit des Neoabsolutismus prägten die politische Entwicklung des nächsten Jahrzehnts. In der Außenpolitik - mit all ihren gravierenden Folgen für die Lage im Innern - mußte Österreich eine Reihe schwerer Niederlagen auf dem Schlachtfeld hinnehmen. Die Lombardei ging dem Haus Traditionelle Fronleich-namsprozession am Wiener Graben - ein gesellschaftlicher Höhepunkt im Wiener Jah-rcslaiif. Photographie. 1900 14 15 Die Nation u.itatex Du- Nationali i \ i i n Habsburg verloren. In Osterreich beherrschten die Debatten über die Ver-InssuiiL! den politischen \lltag dieser Jahre. Die Polarisierung zwischen den slawischen Völkern der Monarchie und den Interessen der Deutschen und Magyaren - die einmal im Wechselspiel gemeinsamer Interessen kooperierten, dann wieder in Opposition zueinander standen - war schon zu diesem Zeitpunkt deutlich zu spüren und sollte sich in den nächsten Jahren noch verstärken. Um den Magyaren entgegenzukommen, eröffnete der Kaiser 1865 wieder den vier Jahre zuvor geschlossenen Reichstag in Budapest. Bereits ein Jahr später, bedingt durch die Niederlage gegen Preußen, sah sich Wien gezwungen, den Forderungen Budapests mehr und mehr nachzugeben, die schließlich in den Ausgleich des Jahres 1867 mündeten. Dieser schuf einen neuen staatlichen Rahmen für die Monarchie, die künftig in zwei eigenständige Staaten, Osterreich und Ungarn, geteilt war. Drei Bereiche, die Außenpolitik, das Finanz- und Heereswesen, blieben freilich „gemeinsame .Angelegenheiten". Für die Nationalitäten in der Doppelmonarchie sollte der Ausgleich ebenfalls Neuerungen mit sich bringen. Im Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867 wurde durch den Reichsrat in Wien in Artikel 19 die Gleichberechtigung der Yolksstämme festgelegt: Jeder \blksstamm hatte demnach das unverletzliche Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache; alle „landesüblichen Sprachen" wurden durch den Staat im Schulwesen, im Behördenverkehr und im öffentlichen Leben anerkannt. In den Ländern, in denen mehrere Nationalitäten lebten, sollten die Schulen dergestalt eingerichtet werden, daß „ohne Anwendung eines Zwanges zur Erlernung einer zweiten Landessprache jeder dieser Volksstämme die erforderlichen Mittel zur Ausbildung in seiner Sprache erhält". Für Ungarn galt diesbezüglich der Gesetzesartikel XLIY aus dem Jahre 1868, demzufolge es - aufgrund der Fiktion vom ungarischen Nationalstaat-nur „verschiedensprachige" Staatsbürger im Lande gab; auch war nur das L'ngarische als Staatssprache vorgesehen. Obwohl - zumindest dem Wortlaut des Gesetzes nach - den Nationalitäten gewisse Rechte im sprachlichen und konfessionellen Bereich auf lo- kaler Ebene zugestanden wurden, sah die Praxis vielfach ganz anders aus, wurde die nicht-magyarische Bevölkerung durch behördliche Schikanen unnötig gereizt und verbittert. Die magyarische Vormachtstellung erfuhr nach 1867 eine Ausdehnung auf Kroatien, dem im „Kleinen Ausgleich" vom 25. Juni 1868 eine gewisse Verwaltungsautonomie eingeräumt wurde. Seit die Denker und Literaten der Aufklärung und Romantik die „Wiedererweckung des Volks- tums", das „Aufleben des Nationalbewußtseins" propagiert und dadurch zur nationalen Emanzipation der Völkerschaften in der Monarchie beigetragen hatten, forderten vor allem die slawischen Völksstamme immer vehementer das Ende der von ihnen zunehmend als Unterdrückung empfundenen 1 lerrschaft des Deutsch- beziehungsweise Magya-rentuins. Die Magyaren wiederum beklagten sich bitter über die „Unterjochung" durch die Habsburger, während Rumänen, Serben, Kroaten und Slowaken sich von den Magyaren zurückgesetzt fühlten und dies in vielen Bereichen ja tatsächlich auch waren. Das Nationalbewußtsein befand sich bei den verschiedenen Nationalitäten, etwa bei Tschechen, Ruthenen, Polen oder Slowaken, auf jeweils unterschiedlichem Niveau - je nach der historischen und sozialen Entwicklung, die diese Völker durchgemacht hatten. Ein weiteres Phänomen in Zusammenhang mit dem aufkeimenden Nationalismus in der Hahsbur-germonarchie, der zahlreiche Völker erfaßte, war die Rückblende auf eine verklärt gesehene Vergangenheit. Brachte die Gegenwart nur „nationale Demütigung, Erniedrigung und Fremdbestimmimg", so wurde durch den Rückgriff auf eine -oftmals ja nur vermeintlich - ruhmreichere Vergangenheit die Gegenwart mehr oder minder erfolgreich ausgeblendet und ein wenig mittelalterlichhöfischer Glanz in das Leben gezaubert. Die Bezugnahme auf das Mittelalter spielte hierbei eine große Rolle. Für die Slowenen beispielsweise verkörperte das I lerzogtum Karantanien, für die Slowaken das Großmährische Reich eine glorreiche Vergangenheit, in der sie, mächtig und geachtet, ihr Schicksal selbst in der Hand gehabt hatten. Politische Anliegen, territoriale Forderungen und der Anspruch auf das Beherrschen anderer Völker, mit denen man zusammenlebte, wurden nunmehr mit dieser Rückbesinnung auf die Vergangenheit zu rechtfertigen gesucht. Der Zusammenprall solch einer Vielzahl von I lerrschaftsansprüchen mußte Turbulenzen, Erschütterungen im Gefüge der Völker auslösen. Selbst vor dem vermeintlichen Hort des übernationalen Prinzips, dem Beamtentum, das - neben Militär und Kirche - zu den „Stützen des Staates" zählte, und dessen Angehörige gleich ins Maskuline verwandelten Karyatiden die Last der Verwaltung auf den Schultern trugen, machte der N'ationalis- Oben: „Gruss aus der Bukowina". Korrespondenzkarte mit Darstellung der Nationalitäten aus der Bukowina (Ruthenen. Huzulen und Rumänen). 1902 Gegenüber: Links oben und unten: Werbe-Konespondenzkarteii des Ii teuer SiilSzaren-Unternehmens i letor Schmidt C Söhne mit Darstellungen nationaler Symbole (Trachten, Wappen) und Lriidkartcn von Galizien und Böhmen. Faii'lithogiaphieu. Um 1900 Rechts: Ostetreich-Lngam mit Wappen und Trachteiidarstellnngen. I'almin-Sammelbild aus der Serie 107. Jiaiiptländer Europas". Bild >. Farblitbogiaphie. im 1900 Unten: „Die Bauerntrachten: Walachen Ungarn Slaven Deutsche". Aus: Gabriel von Priinay. Skizzen aus dem l olksieben in Ungarn. Farblithographie von II. Heber. Pesth (Budapest) 1955 i" Die National] i \ i i \ Die Nationalitäten Oben: „Glitt erhalte tnisem Kaiser und be. Bildpostkarte. Um 1910 bätze unser Laad!" Unten: „Ehrenpforte" anläßlich des Bestiehs von Kaiser Franz Joseph I. in Bistritz (Besztercze) in Siebenbürgen. September 1991. Photographie Gegenüber: Trittmphpforte anläßlieh der Kaisertage in Binhets. September 1895. Photographie mus nicht Halt. War erst ein einzelner Beamter einer bestimmten Nationalität in eine höhere Position gelangt, dann trachtete er danach, möglichst bald viele Landsleute nachzuholen und daran anschließend die Verwaltungsbestimmungen stets zugunsten seiner eigenen Nationalität auszulegen. Manche .Ministerien konnten nach und nach geradezu einzelnen Volksstämmen, etwa den Polen, zugeordnet werden; viel Verbitterung, böses Blut und Mißtrauen gegen den Staat als Ganzes sollte diese Entwicklung heraufbeschwören. Eduard von Bauernfelds Wort „Zittre, du großes Osterreich, vor deinen kleinen Beamten!" erlangte auf diese Weise traurige Realität. Dabei waren gerade die letzten Jahre der Donaumonarchie vor ihrem Untergang durch den großen europäischen Krieg von bedeutenden Leistungen in Wissenschaft, Kunst und Kultur geprägt. L nter der glänzenden Oberfläche des imperialen Wien waren aber bereits die nationalen Spannungen zu spüren, die einstweilen noch hinter der glitzernden Fassade von Hofball und „feiner Gesellschaft" verdeckt waren. Allein die lange Regierungszeit von Franz Joseph - von 1848 bis 1916 - schien ein Garant dafür zu sein, daß sich nichts ändern, daß dieses Osterreich in all seiner Macht und Größe auch weiterhin existieren würde. Es war allerdings allen klar, daß das Weiterbestehen des Staates an die Person des Monarchen gebunden war, daß nach seinem Hinscheiden sich alles ändern, der Zerfall drohen würde. Die zarte Pflanze des polirischen Liberalismus, die im Revolutionsjahr 1848 gerade erst zu keimen begonnen hatte, vermochte in Osterreich auf Dauer keine Wurzeln zu schlagen und konnte die verstärkte Hinwendung zum Nationalismus nicht verhindern. Hatte der „große Kampf der politischen Ideen" jahrelang der Frage gegolten, ob die Monarchie zentralistisch oder föderalistisch sein sollte - zen-tralistisch mit einer deutsch-mag\ arischen 1 lege-monie, föderalistisch mit den anderen, gleichberechtigten Nationalitäten -, so spitzte sich die Auseinandersetzung zunehmend auf das nationale Element zu. Auch Bereiche wie Beamtentum und Heer, die sich bisher weitgehend der kleinlichen nationalistischen Hetze zu entziehen versucht hatten, konnten diesem aufkeimenden Gedankengut immer weniger entkommen. Franz Theodor Cso-kor hat in seinem Werk „Dritter November 1918" deutlich aufgezeigt, wie sehr auch das übernationale Bollwerk des Militärs letztlich vom Nationalismus zerfressen und ausgehöhlt war. Die innenpolitische Lage in Österreich konnte man hingegen bereits Jahre bevor 1914 der Krieg dann tatsächlich ausbrach nur als angespannt bezeichnen. Das parlamentarische Leben funktionierte schon lange nicht mehr, es wurde lediglich mit dem berüchtigten Paragraphen 14, dem Notstandsparagraphen, regiert. Die scheinbare Walzerseligkeit und Heurigengemütlichkeit, die das Bild Österreichs und vor allem Wiens nach außen hin prägte, sollte sich denn auch als Schimäre entpuppen. Die Magyaren etwa hielten hinsichtlich ihrer Selbstmord rate einen traurigen Rekord in Europa; so widmete sich auch die 1881 veröffentlichte Habilitationsschrift von Tomas G. Masaryk, dem späteren Gründungsvater der Tschechoslowakischen Republik, dem Thema des Selbstmords. Karl Kraus war mit seiner von ^ 1899 bis 1936 erscheinenden „Fackel" der unerbittliche Chronist seiner Zeit. Aus den Kronländern kamen Studen-mk ten und Schriftsteller in die Kaiser-/I Stadt, die neben dem Bohemienleben M oft auch das harte Los mühsamen Kampfes gegen sozialen Abstieg er- IS Dl i- N \ tion \ i i i a i i \ Die Nationalitäten wartete; sie waren es vielfach, die Elend und Not der tschechischen Ziegelarbeiter, der „Ziegelböhm'", beschrieben und, wie der Slowene Ivo Cankar oder der Ukrainer Ivan Franko, die düstere Seite des großstädtischen Lebens zeichneten. Wie das Leben außerhalb des angenehmen Wiener Garnisonslebens aussah, davon konnte sich wiederum ein junger Offizier ein Bild machen, der zu seinem ersten Kommando nach Galizien, an die russische Grenze, aufbrach. Anregendes gesellschaftliches Leben, Teilnahme am glanzvollen Pra-terkorso, atemberaubendes Finish auf einem edlen Vollblüter beim Steeplechase in der Freudenau, dies war dem jungen Mann bisher bekannt gewesen. Nach seiner Versetzung in die Weite Galiziens lernte er nun eine andere Facette des Ilabsburger-reichs kennen. In der kleinen Garnison an der russischen Grenze, wohin er nun abkommandiert war, gab es keine elektrisch beleuchteten Prachtstraßen wie in Wien i»der Budapest, Den am Bahnhot neu ankommenden jungen Offizier erwartete der „Mö-beljud", das Regimentsfaktotum, mit einer verschmutzten Kutsche, vor die ein armseliger Gaul gespannt war. Schlamin und der Eindruck von düsterer Armut überfielen den Neuankömmling geradezu, als der Wagen durch die Straßen des Städtchens Richtung Kaserne holperte. In Wien hatte sich die Finanzaristokratie nach dem Schleifen der mittelalterlichen Stadtmauern ab 1857 prunkvolle Palais erbauen lassen; Bankiers und Großkaufleute machten diese Schicht des neuen Geldadels aus, viele von ihnen entstammten den kleineren Nationalitäten des Reichs, waren griechischer oder armenischer I lerkunft. Der Aufstieg Wiens war unaufhaltsam, trotz politischer Krisen, verlorener Kriege und Börsenkrach. Die Entwicklung zur modernen Großstadt war dabei eine Folge der industriellen Entwicklung. Neue Wohngebiete entstanden durch den vermehrten Zuzug aus den Kronländern. Hatte Wien um 1850 an die 440000 Einwohner, so zählte die Stadt um 1880 bereits 726000 Menschen. Prag wies um 1850 118 000 Einwohner auf, 1880 waren es 162 000. Die Bevölkerung von Buda und Pest nahm innerhalb von drei Jahrzehnten, von den 1850er zu den 1880er Jahren, von 178000 auf 371 000 zu. Die Ringstraße in Wien stellte das architektonische Vorbild für andere Städte der Monarchie dar. Die Reichshaupt- und Residenzstadt war das Ziel Hunderttausender Zuw anderer, die auf der Suche nach einer Verbesserung ihrer Lebenssituation in die Metropole strömten. 1908, im sechzigsten Regierungsjahr von Franz Joseph, wies Wien zwei Millionen Einwohner auf. Um 1890 hatte man bereits die zweite Stadterweiterung - nach dem Niederreißen der alten Festungsmauern, 1857 - begonnen, 1904 dann die dritte Stadterweiterung, die mit Eingemeindungen verbunden war. 1896 wurde das allgemeine Wahlrecht durchgesetzt, jeder eigenberechtigte männliche Staatsbürger ab 24 durfte, solange er sechs Monate an einem Ort gelebt hatte, wählen. Im selben Jahr erfolgte die Kommunalisierung der großen Versorgungsbetriebe, 1903 war die Straßenbahn vollelektrifiziert. Die Industrialisierung wiederum veränderte das urbane Erscheinungsbild auch in der Provinz, vor allem im mährisch-schlesischen Raum; Beispiele hierfür sind Städte wie Reichenberg (Liberec), Pilsen (Plzeň), Brünn (Brno) und Mährisch-Ostrau (Ostrava). Der Habsburgerstaat sollte trotzdem Iiis zu seinem Zerfall ein „industrialisierter Agrarstaat" bleiben, lebte doch insbesondere in den östlichen 1 Reichsteilen ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung von der Landwirtschaft. Bei aller möglichen und notwendigen Kritik an der Politik bot der „österreichische Kadaver", wie Karl Kraus mit unerbittlicher Schärfe den Staat bezeichnete, seinen Bewohnern doch ein - etwa im Vergleich mit Rußland - hohes Ausmaß an persönlicher Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten. Fri-eves Karinthy, ein Budapester Zeitgenosse Kraus", hat die gesellschaftlichen Zustände der Epoche daher zwar auch kritisch, aber ohne dessen Radikalität beschrieben. Wien hatte seit Jahrhunderten bei den slawischen Völkern eine bedeutende Rolle für die geistige Entwicklung gespielt. Die I lofbibliothek war ein wichtiges Zentrum gewesen, an der etwa der Slowake Adam František Kollár (1720-1783) als Kustos tätig war und historische Forschungen über die Geschichte seines Volkes anstellte. Der Slowene Jernej Kopitar (1780-1844) war ebenfalls Kustos an der I lofbibliothek und spielte eine bedeutende Rolle für die Entwicklung der slowenischen Schriftsprache; mit dem Tschechen Josef Dobrovský' (1753-1829) war er der Begründer des Wissenschaftszweiges der Slawistik. Vuk Stefanovič Karadzic (1787-1864), ein Serbe, erhielt Koptiars Hilfe, als er nach dem gescheiterten Aufstand der Serben gegen die Türken 1813 als Flüchtling in Wien eintraf. Karadzic verfaßte eine Grammatik und ein Wörterbuch des Serbischen und bereitete auf diese Weise die Grundlagen der serbischen Schriftsprache. Auch der polnische Adel wußte Wien zu schätzen. Adam Mickiewicz (1798-1855) hielt sich in Wien auf, Graf Ossolinski besaß in seinem Palais in Favoriten eine wertvolle Bibliothek, die für Kultur und Geistesleben der Polen, auch in den nicht-habsburgischen Gebieten, wichtig war. Der Mechitharistenorden in Wien, armenische Benediktiner, stellte wiederum in seiner Druckerei 1833 die erste Grammatik für die Ruthenen, die ukrainischen Bewohner der Monarchie, her. In Wien trafen Ostjudentum und Westjudentum aufeinander, erdachte und entwarf Theodor Herzl seinen ,Judenstaat". Im sogenannten „Griechenviertel" beim Stephansdom lebten Levantiner, ihrer Abstammung nach Armenier, Serben oder Bulgaren, orthodox der Religion nach und dem Sultan unterstellt. Sie unterstützten ihre Glaubensbrüder in Smyrna oder Triest, es bestand auch eine Druckerei, die eine griechische Zeitung herausgab. J \Aijr»-*»o.-~flL . kí*-* Vvk "V^vj . (^rUSS feiner Exerzierplatz neben der JCaserne- aus r\awa ruska. im. ^ j<|ol XLk-c :JÜ ~*ít • -ta-. Oben: „Grass uns Ritza rttska'. Korrespondenzkarte NM BnM rttska, Galizien: Kleiner Exerzierplatz neben der Kaserne. L'r/t 1 900 Unten: Grenzübergang an der österreiihisch-mssisehen Grenze an der luind-straße z-or der Stadt Brodv. Galizien. Photographie. Um 1900 Gegentiber: Lianen beim Kiiisermauöver im Raum von Jaslo. Galizien. Soxember 1900. Photographie 21 Die Nationamt Vit \ Dil N \ i ion mit \ 1 i \ Karikatur uns der Zeitschrift „Hans Jörgl" zur Migration der Tschechen nach Wien. Furhlithographie von 1 inzenz Kitzler. 1S69 Zwei Kirchen befinden sich in diesem Stadtviertel: St. Barbara für die linierten, Rom unterstellten Ukrainer und St. (leorg für die griechisch-orthodoxen Gläubigen. Die Ungarn wiederum waren vielfach als .Mitglieder der Leibgarde Maria Theresias nach Wien gekommen, das für sie ja nicht die Kaiser-, sondern bloß die Königsstadt war. György Besseney (1747-1811), einer der bekanntesten Dichter und Denker der Aufklarung in Ungarn, verbrachte auf diese Weise auch Zeit in Wien. Diese „Welt der Sicherheit", wie Stefan Zweig die Donaumonarchie der Jahrhundertwende in „Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers" bezeichnete, war Heimat für eine Vielzahl von Völkern gewesen, mit unterschiedlichen Sprachen, Religionen, Kulturen, politischen Vorstellungen und sozialen Nonnen. Inmitten Europas hatte das Habsburgerreich jahrhundertelang den beinahe mystischen (Man/, des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation verkörpert, zeitweise die Geschicke der alten und neuen Welt gelenkt und in seinem Staatsverband eine Fülle von großen und kleinen Völkern vereint, deren Namen uns heute wie diejenigen exotischer Stämme anmuten, für unsere Urgroßeltern und Großeltern aber Teil ihres .Alltagslebens waren: „An die graue Mauer eines Hauses gelehnt, hockt mitten in der Stadt ein Hirte in gesticktem, weißem" Pelz. Er hat seinen Stab an die Wand gelehnt, sein Binkel liegt neben ihm. Eine Lammfellmütze hat er auf dem Kopf. Ruhig schneidet er hier mitten in der fremden Stadt Schnitten von seinem Speck und ißt Brot dazu, schaut ruhig mit ernsten Augen um sich - die große Stadt hat keinen Schrecken für ihn: 22 er ist weit gegangen, es ist Mittag, er ißt. .Ein Kro-wot', sagen die Leute, denn die Wiener nennen alles einen Krowoten, was weiß angezogen ist und wie ein Bauer aussieht. Ein Offizier geht vorbei und spricht ihn in seiner Sprache an. Der Mann ist gar nicht erstaunt, denn es versteht sich doch von selber, daß ein vernünftiger Mann seine Sprache kann. Er antwortet freundlich mit vollem Mund und bleibt sitzen und ißt weiter. Gleich bleibt eine Menge Menschen stehen. So ist das in Wien: erst gehen die Leute an allem vorbei, wenn aber einer stehenbleibt und schaut, dann bleibt gleich ein Dutzend stehen und schaut mit. Der Offizier erklärt: ,Das ist ein Huzule. Er kommt zu Fuß aus den Karpaten; seit zwanzig Tagen ist er unterwegs. Er besucht seinen Sohn, der in Wien beim Militär dient.' (Fragen Sie einen Berliner, was Huzulen oder Goralen sind, so wird er sagen: ,Huzulen sind ein Volksstamm in Afrika, und Goralen wachsen im Meer und man schreibt sie mit hartem K - Kappa.') Ja, so ein Land ist das und solche Leute trifft man in Wien alle Tage." (Otto Friedländer, Letzter Glanz der Märchenstadt. Das war Wien um 1900). Links: Austria mit slairischer und magyarischer Amme. Satirisches Blatt auf die Nationalitäten -konflikte und Aus-gletchsierhandlntigen. Farldithogtaphie von i 'inzenz Katzler. IS69 Unten: Die Wiener Ringstraße vni! der Bellaria, im l ardergriind das Parlament, das noch unvollendete Rathaus. Universität und ibtkkir-che. Photographie. Um Dil 1 i \ l 11 \ i k Die napoleonischen Kriege hatten ganz Europa in Aufruhr versetzt. Landesgrenzen waren willkürlich verändert worden, neue Königreiche und Fürstentümer entstan den, den europaischen Völkern die Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vermittelt worden. Um nach der Niederlage Napoleons die bisher gewohnte Staatsund Weltordnung erneut zu errichten, tagte in Wien 1815 ein Kongreß, der die Landkarte Europas -wenngleich unter den alten dynastischen Auspizien - neu zeichnen sollte. In der Schlußakte dieses Wiener Kongresses fand sich in Artikel 93 und 94 folgendes vermerkt: „ ... erkennen die Signatarmachte des gegenwärtigen Vertrages Se.Al. den Kaiser von Osterreich, seine Erben und Nachfolger als rechtmäßigen Souverän der Provinzen und Gebiete an. [...] das österreichische und ehemals venetianische Istrien, Dal-matien, die ehemals venetianischen Inseln im adria-tischen Meer, die Bucht von Cattaro, die Stadt Venedig, die Lagunen sowie die anderen Provinzen und Distrikte des Festlandes der ehemaligen venetianischen Staaten am rechten Ufer der Etsch, die Herzogtümer Mailand und Mantua, die Fürstentümer Brixen und Trient, die Grafschaft Tirol, Vorarlberg, das österreichische Friaul, das ehemals venetianische Friaul, das Gebiet von Monfalcone, Stadt und Gebiet von Triest, Krain, Oberkärnten, Kroatien am rechten Ufer der Save, Fiume und das ungarische Küstenland, und den Bezirk von Castua. [—) 1) Außer den Teilen des Festlandes der venetianischen Staaten, welche im vorgehenden .Artikel genannt wurden, die anderen Teile dieses Staates, ebenso das ganze übrige Gebiet zwischen dem Tes-sin, dem Po und dem adriatischen Aleer, 2) das VeltlinerTal, Bormio und Chiavenna, 3) das Gebiet der ehemaligen Republik Ragusa." Oben: „Italiener". Aus: „TreutsaiskyS i ölkertrachten". Kolorierte Lithographien nach Ennviiifen ion Moritz ron Schwind und Matthaus Loder. Um 1822/25 Gegenüber: „Salauiutsebi-Mtinn"; Italienischer Wurst- und Käsreerkäufer in Wien. Bi/dpostkarte aus einer Serie mit-Wiener Typen". Um 19(K) Das Haus Habsburg besaß umfangreiche Besitzungen in den von Italienern bewohnten Territorien im Süden und Südwesten des Reichs, die sich, wie etwa Triest, schon seit Jahrhunderten im Verband Österreichs befanden; manche Regionen - wie etwa Venetien seit dem Frieden * von Campoformio, 1797, oder die Lombardei seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts - gehörten erst kürzere Zeit zu Osterreich. Zwischen 1815 und 1859 stellten die Italiener mit beinahe fünf .Millionen eine der größten nichtdeutschen Bevölkerungsgruppen der .Monarchie dar, und bis 1859 beziehungsweise 1866 siedelten sie in einem beinahe geschlossenen Gebiet. Dies sollte sich mit dem Verlust von Venetien ändern, tue Italiener waren nunmehr in voneinander geographisch getrennten Regionen zu finden, die sie mit anderen Völkern - Slowenen, Kroaten, Deutschen, Ladinern und Furlanern - teilten. Der Prozeß des „Risorgimento", des Verlangens nach Vereinigung aller Italiener in einem unabhängigen Staat, machte auch vor der italienischen Bevölkerung Österreichs nicht halt. Für Österreich war es daher immer schwieriger geworden, der von Piemont ausgehenden nationalen Einigungsbewegung Einhalt zu gebieten; Piemont hatte es verstanden, sich durch die Teilnahme am Krimkrieg auf Seiten der siegreichen Briten und Franzosen die Dankbarkeit der europäischen Mächte zu erwerben. Es erschien daher als der geradezu logische Anführer im Kampf um die Einigung Italiens und der Italiener. Österreich sollte im Zug der außenpolitischen Entwicklung nach 1856 daraufhin nicht nur Schlachten, sondern auch Territorien verlieren: 1859 die Lombardei. 1866 Venetien mit den Stallten Alantua und Peschiera. Obwohl die Lombardei mit ihrer starken irredentistischen Bewegung nicht 4^ Die Italiener Die Italiener Zeichen-Erklärung: Städte mit 10—50°/o . Deutschen Italienern TIROL UND VORARLBERG. Farben-Erklärung: __*l_ebiete mit Uber 50% , Deutschen [_i Italienern ;_i Lailinmi u. Rhiito-Koman Nationalitäten- und Sprachen-Karte von Tirol und Vorarlberg. Aus: Prof. Anton Leo Hickmanns geographisch-statistischer Taschen-Atlas von Osterreich- Ungarn. Wien 1900 einfach zu verwalten gewesen war, hatte sie doch eine reiche Provinz dargestellt, von der sich zu trennen dem Kaiserhaus - auch aus dynastischem Prestigegefühl - schwerfiel. Das Nationalbewußtsein der Italiener des Habsburgerreichs befand sich, je nachdem, wie lange sie ihm zugehörig gewesen waren, auf einer unterschiedlichen Entwicklungsstufe. Die Ziele der italienischen Nationalbewegung waren demgemäß auch nicht immer einheitlich, sie reichten von der Forderung nach völliger Unabhängigkeit bis zur Ver-waltungsautonomie. Im Fall von Triest und dem östlichen Trentino kam ein historisch bedingtes, jahrhundertealtes Regionalbew ußtsein hinzu. In rein italienisch besiedelten Gebieten, wie dem Trentino, lagen die öffentliche Verwaltung und das Schulwesen in den Händen der Italiener, nur Polizeiangehörige und Militärs gehörten vielfach ande- ren Nationalitäten an. In den ethnisch und sprachlich gemischteren Gebieten hatte das Beamtenkorps stets auch .Angehörige, die die jeweils regionale Sprache beherrschten - ein charakteristischer Zug des Verwaltungssystems der Monarchie. Im Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 hieß es demgemäß auch, daß die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen im Schulwesen, im .Amtsverkehr und öffentlichen Leben vom Staat anerkannt werde. Den Italienern wurde also nichts in den Weg gelegt, dem Staat als Beamte, Universitätslehrer und im Heer zu dienen. Obwohl die Italiener in ihren Siedlungsgebieten fast durchwegs die politisch, ökonomisch und kulturell führende Schicht darstellten, wachten sie doch stets besorgt über die Beibehaltung ihrer privilegierten Stellung. Sie glaubten generell, sich gegen verschiedene Seiten verteidigen zu müssen: gegen das Slawentum im Küstenland und gegen das Deutschtum in Südtirol. Hermann Bahr beschreiht in seinen Tagebüchern die Krawalle in Innsbruck vom 3. November 1904, als an der dortigen Universität eine italienische juridische Fakultät hätte eröffnet werden sollen: Italienische Geschäfte wurden denn iliert, deutsche und italienische Studenten lieferten einander wüste Prügeleien. Dabei waren die Italiener, ging es um die nationalen .Anliegen anderer, etwa der Slowenen, keineswegs entgegenkommend. In den mehrheitlich italienisch bewohnten Gebieten Westistriens. in und um Capodistria (Köper), Parenzo (Porec) und Mitterburg (Pisino, Pa-zin) stellten etwa Slowenen und Kroaten voll Ingrimm massive italienische Beeinflußungsversuche bei Volkszählungen fest. Die italienischen Zählorgane, so hieß es in einer Beschwerde, fragten nicht: „Welche Sprache sprechen Sie, sondern er fragt: Paria lei italiano? Oder er stellt ihm überhaupt die eine oder andere Frage in italienischer Sprache, und wenn er sie auch nur mit ,si* oder ,no' beantwortet, ist er schon mit italienischer Umgangssprache eingetragen, er ist Italiener, der italienische Schulen, italienische Kirchen und italienische Sprache in den .Ämtern haben muß." In Dalmatien stellten die Italiener im politischen Bezirk Zara (Zadar) - in der gleichnamigen dalmatinischen Hauptstadt beinahe ausschließlich - die Bevölkerungsmehrheit. Im Königreich Ungarn machten die Italiener nach den Polen und Slowenen die zahlenmäßig kleinste Bevölkerungsgruppe aus. Um 1910 waren dies an die 240000 Personen, die vor allem in Fi-ume (Rijeka, St. Veit am Pflaum) siedelten. Fiume hatte bis zum Ende des 15. Jahrhunderts zum Herzogtum Krain gehört und war dann als eigene Ver-waltungseinheit mit dem österreichischen Teil Istri-ens - der größere Teil Istriens blieb venezianisch -zu Triest gekommen. Erst 1776 war Fiume wieder von Triest getrennt worden und fiel an Kroatien, dann 1779 an Ungarn, das hiermit einen Seehafen Oben: Riva am Gardn-see. Photographie. Um 1900 Unten: Arco. Photographie. Um 1900 46 4" Die I t \ i i i \ i r Rechts: „Osterreichische Riviera". Bildpostkarte. Um 1910 Unten: Triest: Piazza Grande mit dem Gebäude des Österreichischen Lloyd. Farbautocbrom. Um Í910 Gegen uber (von oben nach untenI: Garz (Gorizia), l la Kastello. Photographie. Um 1910 Capodistria (Kopa), Rathaus. Um 1905 Fiume (Rijeka). l "ta dei Rozzo. Photographie. Österreichische Riviera. Buchhandlung .Mandna" *t>08íia erhielt. Es wurde zum corpus separatum erklärt und blieb bis 1809 bei Ungarn, wurde dann dem von den Franzosen geschaffenen Königreich Illyrien zugeschlagen, fiel 1815 erneut an Ungarn, war von 1848 bis 1868 Teil Kroatiens und kam dann wieder zu Ungarn, in dessen staatlichem Rahmen es von einem Gouverneur regiert wurde. Fiume hatte eine beinahe rein italienische Bevölkerung, zu der erst im 19. Jahrhundert auch Kroaten aus dein die Stadt umgebenden Umland kamen. Nach der ungarischen Volkszählung von 1910 hatte Fiume mehr als 46000 Einwohner, davon waren an die 24000 Italiener, mehr als 15 000 Kroaten und mehr als 6000 Magyaren, zumeist Beamte oder Kaufleute. Dazu kamen noch rund 2 000 Deutsche. Das kroatische Wahlgesetz vom 3. Jänner 1883 räumte Fiume das Recht ein, zwei Abgeordnete in den kroatischen Landtag nach Agram zu entsenden, obwohl davon kein Gebrauch gemacht wurde. Im Reichstag in Budapest waren jedenfalls keine Italiener zu finden. Das lag auch daran, daß das passive Wahlrecht an die Kenntnis des Ungarischen gebunden war, und die Italiener beherrschten diese Sprache eher selten. Dafür besaßen sie eine gewisse Territorialauto-nomie: Ungarisch war zwar die .Amtssprache, das Italienische aber aufgrund des ungarischen Gesetzesartikels XL\TI vom 6. Dezember 1868 bei den Gemeindebehörden als innere und äußere .Amtssprache zugelassen. Neben den Siebenbürger Sach- D11 Itali ener sen waren die Italiener in Fiume die zweite seit dem Mittelalter auf ungarischem Territorium lebende Bevölkerungsgruppe mit Sonderrechten. Sie besaßen eigene - sogar höhere - Schulen mit italienischer Unterrichtssprache, weiters ein eigenes Pressewesen. Im kroatischen Küstengebiet einschließlich der bis 1881 bestehenden .Militärgrenze, die in diesem |ahr Kroatien eingegliedert und somit Teil der kroatischen Autonomie wurde, lebten in den Orten Buccari (Bakar) und Carlopago (Karlopag) ebenfalls Italiener, weiters gab es um Zengg (Senj) eine kleine italienische Bevölkerungsgruppe. Hier waren die Italiener allerdings ohne Italienischunterricht oder eigene Zeitungen, Kroatisch galt als Amtssprache. Nach Bosnien-Herzegowina waren Italiener seit den 1880er Jahren als .Arbeitsmigranten, vor allem als Steinmetze und Arbeiter beim Eisenbahnbau gekommen. Für die bosnische Bevölkerung, die bisher nur wenig mit Italienern zu tun gehabt hatte, galten diese dann auch als etwas besonders Auffälliges und Fremdes. Ivo Andric schildert in seinem Roman „Die Brücke über die Drina" solch einen italienischen Maurer, der von der Msegrader Bevölkerung nach dem Mord an Kaiserin Elisabeth, 1898, nur mehr „Luccheni" - nach dem Attentäter - genannt wurde. Neben diesen .Arbeitsmigranten fanden sich in Bosnien aber auch italienische .Ansiedler. Einige Gemeinden im Trentino befanden sich nämlich in einer derart schlechten wirtschaftlichen Lage, daß die österreichischen Behörden als Ausweg die Ubersiedlung nach Bosnien anregten; an die 300 Familien, um die 1 500 Personen, zogen auf diese Weise nach Bosnien, wo sie bis in unser Jahrhundert - erst im Mai 1940 erfolgte ihre Rücksiedlung nach Italien - leben sollten. Die wohl am deutlichsten erkennbare Sprachgrenze der Monarchie fand man in Tirol, zwischen „Welschtirol" und „Deutschtirol". Beide Bevölkerungsgruppen lagen dabei in einem permanenten Kampf um die Feststellung ihrer zahlenmäßigen Größe. Bei den Volkszählungen kam es regelmäßig zu Protesten von Seiten der Deutschen, da die La-diner nicht gesondert erfaßt, sondern zu den Italienern gezählt wurden. Die Deutschtiroler sahen darin eine Verfälschung des tatsächlichen Zustands. W ie hoch die Anzahl der Ladiner, die eine rätoromanische Sprache sprechen, nun aber tatsächlich war, ließ sich schwer sagen. Schätzungen gingen 49 Die Itai. i i \ i r Oben: Traditionelle AmfOtoam Tracht aus ihr Umgebung von Cartimi d'Atitpezzo. Kolorierte Photographie. 1906 Rechts: Tracht ans L'dine. Fnaul. Photographie. Um 1910 von 20000 aus, die diesbezüglichen Unterschiede sollten aber - je nachdem, von wem die Zählung durchgeführt wurde - stark differieren. Der deutsche „Tiroler Volksbund" nannte für das Jahr 1910 etwa eine Zahl von 80000. Der Streit um die Ladi-ner diente also primär dazu, der jeweils deutschen oder italienischen Seite neue Munition für die vielen Scharmützel im nationalen Kleinkrieg zu liefern. Xur einmal, 1851, waren die Ladiner zahlenmäßig extra ausgewiesen worden, wobei sich eine Zahl von 9000 ergab. Danach hatte man sich aber darauf geeinigt, die Angabe der Umgangssprache auf die anerkannten Nationalitäten zu beschränken und Ladinisch als - ebenfalls romanische Sprache -gemeinsam mit dem Italienischen zu erheben. Dabei bestanden etwa 1908 im Bezirk Bozen drei und im Bezirk Bruneck acht Volksschulen mit ladini-scher L nterrichtssprache. Trotzdem war nicht vorgesehen, dem Ladinischen das Kriterium der „Schriftsprache" zu gewähren, wie sie bei einer eigenen Erhebung im Falle einer Volkszählung nötig war. Ähnlich lag die Situation bei den Furlanern, den Bewohnern Friauls, für die die Deutschen ebenfalls eine gesonderte Feststellung forderten. Dagegen sprach, so die Antwort der Statistischen Zentralkommission in Wien an das Innenministerium, die Rücksichtnahme auf die Italiener; natürlich, so die Statistiker, erkenne man den eigenständigen Charakter der Sprachen der Ladiner und Furlaner an, die Italiener würden diese Änderung des bisherigen Zustands aber als politische Herausforderung auffassen. Diese Entscheidung fiele weiters umso leichter, als bei Ladinern und Furlanern ohnedies umstritten sei, in welchem Ausmaß sie ein eigenständiges Nationalbewußtsein hätten. In einem Erlaß vom 26. Juli 1910 beschloß das Innenministerium, die gemeinsame Erhebung der italienisch—ladinischen Umgangssprache weiterhin durchzuführen. Offiziell hieß es dazu, daß bei den Ladinern „das Selbstbewußtsein nicht einmal soweit gediehen [wäre], dass die Ladiner ihrerseits das Verlangen nach abgesonderter Erhebung, wenigstens der Behörde gegenüber, auch nur ausgespro- chen hätten". Der Ka Die Italiener Deutschen oder Italienischen prägte auch die kommenden Jahre. In den gemischtsprachigen Gebieten war die äußere Amtssprache Deutsch, daneben verwendete man noch die „landesübliche Sprache". Im Eisenbahnbetrieb rekrutierte sich beinahe das gesamte Personal aus Italienern, die Aufschriften waren zweisprachig; ähnliches galt auch für das Postwesen. Hinsichtlich des Bildungswesens befanden sich die Italiener in der Monarchie in einer guten Position, die Zahl der .Analphabeten war unter ihnen äußerst gering. Gab es für das Elementar- und höhere Schulwesen kaum Beschwerden, so sollte sich dies bei den Hochschulen ändern. Mit Vene-tien war Österreich zugleich auch der Universitätsstädte Padua und Pavia verlustig gegangen. Die unter dem Schlagwort „Trieste o nulla" beharrlich vorgebrachte Forderung der Italiener nach einer eigenen Universität in Triest verweigerte Wien allerdings, galten Universitäten doch als Hort von Obstruktion und Aufruhr. Man befürchtete, daß die ohnedies vorhandene irredentistische Bewegung durch eine eigene I lochschule noch mehr Elan gewinnen würde. .Am 14. Februar 1913 beschloß schließlich der Budgetausschuß des Reichsrats doch die Errichtung einer italienischen juridischen Fakultät in Triest, der Kriegsausbruch 1914 verhinderte dann aber die für das Wintersemester 1915/16 geplante Eröffnung. In Vorarlberg machten die Italiener um 1900 mit 6000 Personen an die fünf Prozent der Bevölkerung aus. Sie lebten zumeist in den Industrieorten, von denen einzelne durchaus als gemischtsprachig anzusehen waren; zu nationalen Auseinandersetzungen mit den Deutschen kam es auch nur dort, wo Italiener in größerer .Anzahl lebten. Bregenz war das Zentrum für den alljährlichen Strom der Wanderarbeiter, die von dort auch nach Konstanz und in die Schweiz weiterfuhren. Eine der italienischen Lieblingsspeisen, die berühmte Polenta, sowie Mais als deren Grundbestandteil fand durch die italienischen .Arbeiter Eingang in die Küche Vorarlbergs. „W'älschkorn" nannte man Mais im vorarlbergischen Dialekt, und heute wird - wie im 1983 erschienenen „Kochbuch für Vorarlberg" - Polenta als durchaus „einheimische" Speise beschrieben. Den Italienern in der Monarchie ging es in ökonomischer Hinsicht weitgehend gut; hinsichtlich der Zahl der Auswanderer nach Ubersee standen sie an letzter Stelle. Machten etwa 1913 ll,4Pro- Furianiscbe Tracht. Photographie. L'in 1900 zent der Auswanderer nach Amerika Ruthenen und 21,9 Prozent Polen aus, so betrug der Anteil der Italiener nur 0,4 Prozent. In den Städten Dalmati-ens, aber auch in Görz und Triest nahmen Italiener im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lehen führende Positionen ein, sie waren vielfach Angehörige des Adels, reiche Geschäftsleute oder Beamte. Auch in den Wiener Ministerien konnte man zahlreiche, durchaus hochrangige italienischstämmige Beamte finden. Im Reichsrat bestand ein „Club italiano", der bis zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1907 sieben Abgeordnete, danach neunzehn umfaßte. Das italienische Stadtbürgertum von Triest stellte innerhalb des sozialen Gefüges der italienischen Bevölkerung der Monarchie etwas ganz Besonderes, wahre Weltbürger, dar. Triest, seit 1718 Freihafen und 1819 mit dem Ehrentitel „Cittä fedelis-sima" ausgezeichnet, beherrschte für die Monarchie 50 51 Die Italiener Links und rechts: „Wiener Typen": „Zuckerbmann" und „SiiLimulsihi-Miitin " mit seinem typischen Kaufruf -Dum. dum. do bin i, Saiamutschi". Bildposthnrten. Im 1900 Wiener Typen. den Schiffsverkehr im Mittelmeer und war letztlich auf allen Weltmeeren vertreten. Dreimal wöchentlich konnte man sich nach Venedig einschiffen, einmal in der Woche nach Marseille, Korfu, Ancona, Konstantinopel und Alexandria. Zweimal im Monat stachen Schiffe des Osterreichischen Lloyd nach Bombay und Kalkutta in See, einmal monatlich nach Shanghai und Kobe. Die Werft von Monfal-cone in Görz-Gradisca war ebenfalls italienisch dominiert. Seit den späten [ Softer Jahren hatte sieh die italienische Zuwanderung nach Görz und Gra-disca erhöht, der letzte deutsche Abgeordnete der geforsteten Grafschaft Görz war bereits 1866 aus dem Reichsrat ausgeschieden, seither wurde sie nur mehr von slowenischen und italienischen Abgeordneten vertreten. Im I .andtag von Görz gab es bis 1914 21 italienische und 20 slowenische Vertreter; als nach 186" Slowenisch Amtssprache geworden war, bestand das Problem, ausreichend Beamte mit Slowenischkenntnissen zu finden, die zu diesem Zweck dann aus Krain herangezogen wurden. Wiener Typen. Durri, durri, du bin i. Saiamutschi. Die Italiener des Ilabsburgerstaates waren zwar zu einem großen Teil wirtschaftlich konsolidiert, aus den ärmeren Regionen des Trentinn kamen aber traditionellerweise Wanderarbeiter, die ihre Gebirgstäler regelmäßig jedes Jahr verließen, um anderweitig ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Charakteristisch für diese saisonale Wanderung war, daß sie festen Zielen zustrebte und nicht wahllos, wo immer sieh eine Arbeitsgelegenheit bot, erfolgte. Die Landwirtschaft wurde daheim einstweilen von den Frauen versorgt, während etwa die Männer des Val Rendena als Messer- und Scherenschleifer tätig waren. Aus der Gegend um Pieve Te-sino, knapp an der Grenze zu Venetien, kamen Buch- und Bilderhändler. Diese „girovaghi" genannten Wanderhändler zogen zwischen 1700 und 1830 mit ihren Drucken, den „stampe popolari" und den „sann", den Heiligenbildern, bis nach Polen und Rußland. Einer der bekanntesten Erzeuger dieser Produkte war Giuseppe Pasqualini, der Erfinder des Öldrucks, der - als erster in der Monar- Die Italiener chie _ 1838 in Brünn eine florierende Erzeugung solcher Drucke betrieb. In dieser berühmt gewordenen Brünner „Bildertabrik" stellte man Kopien bekannter Madonnen- und Gnadenbilder von Wallfahrtsorten sowie Landschaftsabbildungen her. Die aufgrund ihrer Herkunft aus dem Tal von Te-sino „Tesiner" genannten Bilderhändler führten ihre Ware in einem „cassella" genannten, über die Schulter gehängten Behälter mit sich, einem bis zu zwanzig Kilogramm schweren Holzkoffer, in dem sie die Blätter mit ihren unterschiedlichen Formaten in Wachstuch gehüllt mit sich trugen. Noch um 1880 gab es mehr als 600 „Tesiner", die in Osterreich, Ungarn, Polen und Rußland ihre Ware feilboten. Italiener aus der Monarchie waren aber auch als Forstarbeiter in Böhmen, Sägewerksarbeiter in Deutschland, Sesselmacher - caregheti - in Frankreich, dem Elsaß und dem Königreich Italien tätig; sie arbeiteten als „vetrai" - Glaser -, als Wurstmacher und Kaminkehrer in Norditalien, sie gingen als „paroloti", Kupferschmiede, in die Toskana und nach Umbrien, aus ihren Reihen kamen auch die bekannten „Katzeimacher", die in Wirklichkeit „Gazzel-", das heißt Siebmacher, waren. Beim Bau der Bregenzerwäl-derbahn, 1900-1902, landen sich auch viele italienische Streckenarbeiter ein, über die lokale Blätter dann nichts Gutes zu berichten wußten. Messerstechereien und „sexuelle Ausschweifung", eben all die Klischees, die man mit den „heißblütigen Südländern" verband, Wiarden ihnen nachgesagt. Das Verhältnis der Deutschösterreicher zu den Italienern war ambivalent. Bewunderte man die verfeinerte italienische Kultur, so trat man ihnen doch auch mit einem Cesart Battisti mit seinem Henker nach der Hinrichtung am 12. Juli 1 91 6 Photographie gewissen Vorbehalt entgegen; hatte doch Österreich Kriege gegen Italien verloren, Provinzen abtreten müssen. Irgendwie schien man den Italienern, egal ob sie im bereits vereinten Königreich oder im eigenen Staatsverband lebten, nicht ganz zu trauen. „Welsche Tücke" war ein Schlagwort, das im Ersten Weltkrieg, nachdem Italien im April 1915 an der Seite der Entente in den Krieg gegen die Mittelmächte eintrat, nur allzusehr der Wahrheit zu entsprechen schien. Die Italiener im Habsburgerstaat hatten sich gerade in den Kriegsjahren durch repressive Maßnahmen der Behörden zurückgesetzt gefühlt, die Hinrichtung von Männern wie Gesare Battisti, der von den Italienern als wahrer Patriot betrachtet wurde, verschärfte die anti-österreichische Stimmung. Der Vorschlag von Kaiser Karl vom 16. Oktober 1918 zur Umwandlung der Monarchie in einen Bundesstaat wurde daher von italienischer Seite am 25. Oktober 1918 abgelehnt, für sie kam nur mehr die Vereinigung mit dem Königreich Italien in Frage. Nachdem die italienischen Truppen in zwölf Isonzoschlachten vergeblich gegen die österreichische Front angerannt waren, erreichte Italien am 4. November 1918 durch die - von jeder der beiden Kriegsparteien unterschiedlich ausgelegten - Bestimmungen des Waffenstillstands in der Villa Giusti bei Padua vom 3. November doch noch einen mühelosen Sieg über die k.u.k. .Armee. Auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 konnte Italien allerdings nur einen Teil seiner bei Kriegseintritt 1915 erhobenen territorialen Fordeningen durchsetzen, wenngleich Osterreich gerade die Abtretung Südtirols als schmerzlichen Verlust empfinden mußte. 52 53 Die Slowaken Die Slowakei, das ehemalige Obemngarn, war eines der landschaftlich schönsten und ethnographisch interessantesten Gebiete der Donaumonarchie. Die spektakuläre Gebirgslandschaft der Tatra mit ihren „Meeraugen" genannten, unergründlich tief scheinenden Bergseen einerseits, eine jahrhunder tealte städtische Lebenskultur andererseits machten aus den nordungarischen Komitaten einen faszinierenden Teil des Königreichs der Stephanskrone. In Städten wie Leut-schau (Levoča), der Hauptstadt der Zips mit seinem prachtvollen Dom, Käsmark (Kés-márok, Kežmarok) an der Poprad und dem am Fluß I lernad gelegenen Kaschau, der größten Stadt des ehemaligen Oberungarn, fand sich ein standesbewußtes magyarisches und deutsches Bürgertum. Entlang des Mittellaufs der Gran liegen die alten Bergstädte Kremnitz (Körmöcbänya, Kremnica), Schemnitz und Neusohl (Besztercebánya Banská, Bystrica), die ebenfalls eine weit ins Mittelalter zurückreichende kulturelle Tradition aufwiesen. Die Slowaken, die slawischen Bewohner dieser vielfältigen Landschaft, waren vom südöstlichen Mähren bis nach Niederösterreich zu finden, lebten aber hauptsächlich im Nordwesten des Königreichs Ungarn. Wohlhabende Stadtbürger, Großgrundbesitzer oder Intellektuelle wie bei Magyaren und Deutschen fanden sich tinter ihnen seltener, dazu war schon das Land, das sie bewohnten, zu arm und die Machtansprüche der politisch und wirtschaftlich dominierenden Magyaren zu drückend. Aufgrund der zumeist gebirgigen Lage ihres Siedlungsgebiets konnten die Slowaken aus dem von ihnen bewirtschafteten Boden nur wenig herausholen, dazu kamen - ähnlich wie bei den Rumänen in Siebenbürgen - ineffiziente Methoden bei der landw irtschaft-ichen Nutzung, wie veraltetes Ackergerät oder die Aufbewahrung des Getreides nicht in einer Oben: Slowakischer Rauer aus der Gegend von Neutra. Kolorierter Kupferstich von H'illiam Ellis. Aus: The Costume of the Hereditary States of The House of Austria. London 18()4 Gegenüber: Slowakisches Paar ans dem Kreis Hradisch, Mähren. Ans: Wilhelm Horn, Mährische i olkstrachten. Kolorierte Lithographie. Brunn 1837 Scheune, sondern in Erdgruben gleich am Feld. Vor allem im Gebirge fanden Slowaken daher ihren Lebensunterhalt als Hirten; sie hatten dabei eine eigene Kulturform ausgebildet, die in ähnlicher Form im gesamten Karpatenbo-gen bei ebenfalls als Hirten lebenden Völkerschaften, wie etwa den Goralen oder Huzulen, anzutreffen war. Die Sennwirtschaft mit ihrer Schafhaltung and Käseerzeugimg, Molke, Schafkäse und Brot als hauptsächliche Nahrungsmittel der Hirten, die Verwendung von Musikinstrumenten wie dem Dudelsack oder der Langflöte, der Fujara, und die absolute Entscheidungsgewalt, die dem „Bacsa" genannten Oberhirten zukam, zählten dabei zu den charakteristischen Merkmalen. Die slowakische Fracht war an den aus zumeist grobem, blaugefarbtem Tuch hergestellten Kleidungsstücken zu erkennen. .Mädchen trugen ein ärmelloses Hemd oder Oberhemd aus Baumwolle, das bunt bestickt war und lose über den Gürtel hängend getragen wurde, dazu kam eine weiße Schürze. Vor allem in der Umgebung von Preßburg fand sich bei den Männern eine farbenfrohe Sonntagstracht: ein Hemd mit weiten Armein und roter Verzierung entlang des Halsausschnitts, darüber eine blaue Jacke. Die Hosen waren auch tiefblau, oben schön verziert, sie steckten in langen Stiefeln, von denen ebenfalls blaue Schleifen herabhingen. Ein weißer, weiter Tuchmantel mit roter Einfassung und grünen \'erzierungen sowie ein kleiner bunter Hut mit einer weißen Feder vervollständigten das Erscheinungsbild. „Ein armes, aber betriebsames Gebirgsvolk", so wurden Slowaken noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts charakterisiert. Um den oft geradezu elenden Lebensumständen zu entkommen, wählten viele den Weg in die Emigration nach l_ bersee. Zwischen 1890 und 1913 stammten an die vierzig 143 Die Slowaken Prozent der Auswanderer aus dem Königreich Ungarn aus den slowakisch besiedelten Komitaten Szepes. Säros, Zemplen, Ung und Abaüj-Torna. Und allein für das Jahr 1900 gab es Schätzungen, wonach bereits an die 300000 Slowaken in den Ver-einigten Staaten lebten. Im Winter, wenn weder die Almwirtschaft noch die Felder zu versorgen waren, verrichteten Slowaken in ihren Dörfern Heimarbeit, sie fertigten Holzschnitzereien an und machten allerlei Zinn-und Kupfergerät. Aus den Komitaten Arva und Turöcz kamen Händler mit Safran, Ol und Leinwand, in der Gegend von Xeusohl fertigte man Spitzen an, aus der Region um Neutra (Nyitra, Nitra) und Liptau (Liptö, Liptov) kamen Käse und Butter. Besonders die Fertigkeit im Drahtbindergewerbe - Trentschin (Trcncsen, Trentein) war dafür weithin bekannt - prägte das Bild von den Slowaken als Hausierern, „Rastelbindern" und .Mausefallenhändlern, die mit ihrer Ware in der gesamten Donaumonarchie, ja auch in Deutschland und beinahe ganz Furopa umherzogen: „Wer kennt nicht den slovakischen Drahtbinder, der mit seiner Ehrlichkeit und Genügsamkeit sprichwörtlich ^worden ist?", lautete die Frage des Verfassers eines ethnographischen Beitrags über die Slowaken aus den 1870erJahren. Die Slowaken zählten zu jenen Völkern der Monarchie, die durch die (Jeschichte in ihrer si >-zialen und w irtschaftlichen Entwicklung stark beeinträchtigt waren. Zahlenmäßig stellten sie nach der Volkszählung 1910 im Königreich L ngarn mit rund zwei Millionen eines der kleineren Völker dar. Von ihrer Sozialstruktur her waren sie stark von der Landwirtschaft und dem Almhirtentum geprägt. So entfiel, w iederum nach der Volkszählung von 1910, ein Anteil von siebzig Prozent der Erwerbstätigen auf den Agrarbereich. Der Boden gehörte aber nicht den Slowaken, die ihn bearbeiteten, sondern zumeist einem magyarischen oder bereits seil langem magvarisierten slowakischen Adeligen. Die Magyaren brachten den Slowaken aufgrund dieser ökonomischen Schlechterstellung vielfach Verachtung entgegen, sie hielten sie für ein „Dienstbotenvolk": „Von Almosen lebend und den reichen Kollegen die Stiefel putzend", so sprachen Magyaren etwa über slowakische Stipendiaten in ungarischen Einrichtungen. Dabei machte so mancher dieser ehemals armen slowakischen Stipendiaten durchaus seinen Weg im Lehen und Die Slowaken 144 Links: Slowaken aus Krentnitz. Photographie. Um 1910 Gegenüber: Oben: Preßburg. Bildpostkarte. Um 1S95 Mim: ..Krentnitz". Holzschnitt von Ludwig Rauscher. Ans: Die östeireichtsch-itngarische Monarchie in Wort und Bild: Ungarn (Band V/2). Wien 1900 Unten: „Grass aus Hoiks". Bildpostkarte. Um 1895 L45 Die Slowaken Dil Slowaken „Mi sa Iis int slovakiscbe Linds/cuť". Slowakischer Wanderhändler in Wien. Bildpostkarte aus einer Serie mit _H teuer Kaufnifen". Um í895 brachte es beispielsweise zu einem hohen kirchlichen Amt Studiert man weitere zeitgenössische Urteile der Magyaren über ihre slowakischen Nachbarn, so stellt sich aber heraus, daß sie mit diesen - zumindest aus ihrem Blickwinkel - noch am besten auskamen. Die Serben seien wild, die Rumänen verstockt und aufsässig, die Slowaken hingegen eher gutmütig, im Bedarfsfall auch tapfere Soldaten, und den Magyaren doch von allen slawischen und nichtslawischen Völkerschaften in ihrem Königreich noch das liebste Volk: „Die braven Slowaken bekannten sich immer als Ungarn: Räköczy und Bocskay dienten sie als die patriotischsten Truppen. Wenn der Panslawismus seine ohnehin erfolglosen Versuche aufgibt, wird das Slowakenrum politisch in die ungarische Nation assimiliert, wenn es auch der Grammatik nach slawisch bleibt", meinte etwa der magyarische Publizist Güsztav Beksics .Mitte der 1890er Jahre. Die Slowaken sollten ihre Beziehungen zu den Magyaren naturgemäß etwas anders sehen. Ein halbes Jahrhundert vor Beksics' optimistischer Äußerung, im Jahr 1848, hatten Slowaken von den „schrecklichen .Machtansprüchen der Magyaren" U r - UM fans mt Wo v a hi Mi e lanbslruť gesprochen und davon, daß die Magyaren „phantastische Träumereien über ihre Nationalvorzüge" hegen würden, hätten diese doch bereits auf dem ungarischen Landtag in Preßburg 1844 verlauten lassen, der Magyare „wäre zum Herrschen geboren". Das Streben nach nationaler Selbständigkeit wurde durch diese Art der magyarischen Politik allerdings unmöglich gemacht. Stefan Marko Daxner, ein slowakischer Politiker, formulierte zu Beginn der 1860er Jahre: „Ungarn existiert für uns nur insoweit, inwieweit wir in ihm existieren; es kann nur in dem Maße von uns anerkannt werden, inwiefern wir in ihm Anerkennung finden." Da diese Anerkennung auf friedlichem Weg nicht erreichbar schien, hatten die Slowaken denn auch an den Kämpfen des Jahres 1848 teilgenommen und sich dabei für das Kaiserhaus und gegen ihre magyarischen Herrn ausgesprochen, um ihren Traum von nationaler Autonomie und politischer Eigenständigkeit doch noch erfüllen zu können. In Wien lebende slowakische Intellektuelle leisteten hierfür ebenfalls ihren Beitrag. Sie waren durchwegs ausgesprochen austrophil eingestellt und sprachen sich, so wie beispielsweise Andrej Radlinský (1817—1879), eindringlich für die Unterstützung der österreichischen Vormachtstellung aus. Radlinský gehörte zu den Absolventen des im Zuge der Gegenreformation 1623 in Wien von Kardinal Peter Pázmány gegründeten und bis heute im neunten Wiener Gemeindebezirk bestehenden Kollegs, das nach dem Kirche n fürs ten „Pazmaneum" genannt wurde und dessen Zöglinge die theologische oder philosophische Fakultät der Wiener Universät besuchten. Diese Einrichtung spielte vor allem für die Entwicklung des geistigen und kulturellen Lebens der slawischen Völker der Monarchie eine bedeutende Rolle. Die Slowaken standen also treu hinter dem Kaiser und der dynastischen Ordnung, Radlinskýs Wahlspruch etwa lautete ,./a národ a tron", für das Volk und den Thron. Dieses loyale Verhalten schien den Slowaken zumindest für kurze Zeit Erfolg zu bringen, es kam zur Bildung zweier selbständiger Verwaltungsdistrikte um Preßburg und Kaschau, doch waren im politischen Tagesgeschehen letztlich doch weiterhin Restriktionen der ungarischen Behörden gegen slowakische Politiker und Publizisten die Realität. Erst nach dem Ende des Neoabsolutismus trat die Frage der nationalen Autonomie für die Slowaken wieder mehr in den Mittelpunkt, und es setzte 146 unter ihnen eine verstärkte politische Tätigkeit ein. Die Bemühungen um die Normierung der slowakischen Schriftsprache standen dabei, ähnlich wie bei Serben oder Kroaten, in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt. Die sich in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts abzeichnende Trennung im gemeinsamen politischen Vorgehen von Tschechen und Slowaken hatte seine Ursache auch in den Bestrebungen um die Kodifizierung der slowakischen Schriftsprache: Ohne seine eigene Sprache sei der Slowake eben kein Slowake mehr, mit diesem lapidaren Hinweis wurde der Vorschlag, das Tschechische auch in der Slowakei zu etablieren, zurückgewiesen. Bereits 1790 hatte Antonin Bernoläk (1762-1813) aus dem westslowakischen Dialekt eine Literatursprache geschaffen, die von den Slowaken, die sich mehrheitlich zur römisch-katholischen Kirche bekannten, auch akzeptiert wurde. Da sich unter den Slowaken aber auch Lutheraner befanden, orientierten sich diese in sprachlicher I Iinsicht an der lutherischen tschechischen Bibelübersetzung. Erst 1843 sollte es den Gelehrten und Sprachrefor- mern Michal .Miloslav Hodža (1811-1870), L'udovi't Štúr (1815-1856) und Jozef Miloslav Hurban (1817-1888) gelingen, durch die Kodifizierung des mittelslowakischen Dialekts zu einer einheitlichen Literatursprache zu gelangen. Wien spielte dabei wie so oft im geistigen und politischen Leben der Slawen eine zentrale Rolle. Hodža beispielsweise ließ in Wien seine Proklamation „Bratia Slováci" (Brüder Slowaken) drucken, die als Grundlage für die Einberufung der ersten slowakischen Nationalversammlung in der nordslowakischen Stadt St. Nikolaus i. d. Liptau (Liptovský svatý Mikoláš) diente. Auf dem Weg zur nationalen Einigung sollten die Slowaken aber auf Schwierigkeiten stoßen, galten sie doch im Vergleich zu Magyaren, Deutschen, Tschechen und Polen als „historisch junges Volk". Ihre Siedlungskontinuität im Donau- und Karpatenbecken reichte zwar Jahrhunderte zurück, die Periode ihrer staatlichen Existenz im Großmährischen Reich des frühen Mitttelalters, die den Slowaken als ihr „goldenes Zeitalter" galt, war freilich mit einer Dauer von knapp einhundert Jahren kurz bemessen gewesen, verglich man sie beispielsweise „Sloiakiscbe Gestbirr-verkäufer". Holzschnitt von Paul Ba'gö. Aus: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild: Ungarn {Band V/2). Wien 1900 14" Dil Slowaken mit der Herrschaftstradition des polnischen Königreichs. Die Slowaken besaßen auch nicht, wie etwa Serben oder Rumänen, den politischen und kulturellen Rückhalt eines von Konnationalen bewohnten, von der Monarchie unabhängigen Nachbarstaats. Die von Slawophilen getragene Hinwendung zu Rußland als Schutzmacht aller Slawen auf der einen Seite und der enge Kontakt zu tschechischen nationalen Parteien auf der ande-ren Seite konnten das Fehlen eines solchen Hinterlands nicht wirklich ausgleichen, wobei sich gerade die Beziehungen zu den Tschechen im Lauf der Jahrzehnte als ambivalent erweisen sollten. l'm ihren Forderungen mehr Nachdruck zu verleihen, versammelten sich am 6. und 7. Juni 1861 in Turócs-zentmárton (Turčiansky svätý Martin, Martin) an die 6000 Slowaken, um in einem Memorandum die Gründung eines eigenen „Oberungarischen Nationalen Kreises" mit der alten Bergbaustadt Neusohl als Hauptstadt zu verlangen. Weder Wien noch Budapest hatten aber auch nur das geringste Interesse an der Verwirklichung einer solchen Forderung. Die slowakische Politik ging nun dahin, die politischen Differenzen zwischen Deutschen und Magyaren für die Durchsetzung ihrer Ziele einzusetzen und zum Beispiel vermehrt slowakischsprachige Unterrichtsanstalten einzurichten. Im Memorandum der Slowaken an den ungarischen Landtag von 1861 forderte man demgemäß, „daß die nationale Individualität der Slowaken und das Recht ihrer Sprache als einer vaterländischen, durch ein positives Gesetz und durch das Inaugural-Diplom anerkannt, und durch diese -Anerkennung gegen die Angriffe der schlechtgesinnten Feinde unserer nationalen Eintracht sichergestellt werde". Die national pol i tische n Führer hofften, daß die verstärkte Errichtung von Gymnasien und Lehrerbildungsanstalten vermehrt zur Ausbildung einer slowakischen Intelligenzschicht führen würde. Doch gerade diese „Hoffnungsträger des Volks" assimilierten dann vielfach zum Magyaren- oder auch Deutschtum, um den langersehnten gesellschaftlichen Aufstieg zu erlangen. Die Bildungsschicht blieb bei den Slowaken daher eher klein und machte etwa in den frühen 1860er Jahren zumeist Angehörige des niederen Klerus oder Lehrer aus. Die Mehrheit des slowakischen Volks, fast durchwegs katholische Bauern, stand diesen nationalen Bestrebungen auch vielfach gleichgültig gegenüber. Die ökonomisch bedingte Binnenwanderung der Slowaken in der Monarchie spielte für den Assimilationsprozeß ebenfalls eine wichtige Rolle. Die Entstehung neuer Industrieanlagen, vor allem um Budapest, lockte Zehntausende Slowaken von ihren Bauernhöfen in den städtischen Bereich, viele verdingten sich auch als Erntearbeiter in der Ungarischen Tiefebene. Die Jahre unmittelbar vor dem Ausgleich Österreichs mit Ungarn brachten für die Slow aken eine weitere Einengung in ihrer eigenständigen Politik, wobei 1867 als eigentliche Zäsur anzusehen war; Ungarn verstand sich in der Folge zunehmend als zentralisti-scher Nationalstaat. Schwache Ansätze zu einer Koalition der nicht-magyarisehen Völker im Königreich der Stephanskrone sollten erst gar nicht in eine entscheidende Phase treten. Mit den Kroaten, deren politische und soziale Strukturen denen der Magyaren durchaus ähnlich waren, konnte man sich in Budapest relativ rasch verständigen. Die Slowaken hingegen mußten in dieser Hinsicht einfach zurückbleiben, besaßen sie doch nur eine schmale Führungsschicht und fehlte es dieser noch dazu an Rückhalt in breiteren Kreisen der eigenen Bevölkerung. Die slowakischen Politiker und Intellektuellen verzettelten sich dann noch in unfruchtbaren Streitgesprächen über die zukünftige Vorgangsweise: Sollte man sich doch mehr an Budapest orientieren und die Hoffnung, daß Wien sich für die Slowaken verwenden würde, aufgeben? Waren russophile und allgemein slawophile Tendenzen zielführender: Hatte der Plan für die Etablierung eines autonomen „Slowakischen Kreises" noch L48 Die Slowaken Die Slowaken Slowakinnen in Fest- und Alitags-kleidung. Photographie. Um 1910 Sinn? Aus diesem Disput entwickelten sich zwei unterschiedliche Richtungen im politischen Leben, die einerseits einen Weg der Anpassung an die ungarische Staatsidee, andererseits autonomistische Tendenzen vertraten. Das Nationalitätengesetz von 1868 sollte dann zeigen, wie Ungarn die künftige Stellung der Slowaken sah: Sie erhielten zwar Zugeständnisse im Bereich des kulturellen Lebens, diese waren aber weit von dein entfernt, was sich die Slowaken vorgestellt hatten. Die dominierende Schicht im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben blieben die Magyaren. Ab Mitte der 1870er Jahre setzte sich der Druck zur Magyarisie-rung dann voll durch. Die im Jahre 1863 gegründete nationale Kulturorganisation „Matica Slovenskä", die die Hauptstütze des Nationalbewußtseins der Slowaken bildete, wurde zwangsweise aufgelöst. Das Volksschulwesen wurde immer mehr magyarisiert; zwar wurden gemischtsprachige, slowakisch-magyarische Schuk-n eingerichtet, dies war aber nicht das, was die national bewußten Slowaken sich erwartet hauen. Sogar in den vier Komitaten mit neunzig Prozent slowakischer Bevölkerung -Arva, Trencsen, Liptö und Zölyom - ordnete man die meisten Schulen diesem gemischtsprachigen Typus zu. 1874/75 wurden die bisher bestehenden drei slowakischen Gymnasien geschlossen, höhere Schulbildung war an die genaue Kenntnis der ungarischen Sprache gebunden. Unter den Nationalitäten im Königreich Ungarn lagen die Slowaken etwa 1910 bei der Zahl der Absolventen der achtklassi- gen Mittelschule an weit abgeschlagener Stelle, nur Ruthenen und Rumänen wiesen noch schlechtere Ergebnisse auf. Die slowakische Intel Ii genzschi cht war auf diese Weise auch nur in geringem Ausmaß in höheren Positonen in der Verwaltung und im Kulturleben vertreten. Slowakisch sollte als Amtssprache weitgehend von der magyarischen Sprache ersetzt werden. Bezieht man diese Ereignisse aus der Vergangenheit mit ein, dann w erden nationale Exzesse in der heutigen Slowakei zwar nicht verständlich, aber doch zumindest erklärlich: Nunmehr ist Slowakisch die Amtssprache, bisher zweisprachig - magyarisch und slowakisch - ausgestellte Schulzeugnisse werden zum Beispiel nur mehr in der slowakischen Staatssprache ausgehändigt. Aus dem Gefühl jahrhundertelanger Unterlegenheit ist nun, seit die Slowakei mit I.Jänner 1993 ein eigener Staat wurde, im nationalistischen Uberschwang ein Gefühl der Überlegenheit geworden. Auf dem Wege des Wahlrechts vermochten die Slowaken in der Donaumonarchie an dem von ihnen als höchst nachteilig empfundenen System nur wenig zu ändern. Das 1874 reformierte, doch restriktiv angelegte Wahlrecht zum ungarischen Reichstag stellte keine ernsthafte Möglichkeit hierzu dar. Von diesem eingeschränkten Wahlrecht waren zwar sowohl Magyaren als auch NichtMagyaren betroffen, nur waren letztere eben allgemein, im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Sinn, in der schwächeren Position. Die Einteilung der Wahlkreise und das Wahlverfahren waren zusätzliche Hindernisse für die slowakischen Parteien bei der Umsetzung ihrer Programme und Forderungen. In den Komitaten brauchte man etwa nur die Verwaltungsgrenzen entsprechend der ethnischen Kriterien zu ändern, um je nach Bedarf aus einer regionalen slowakischen Bevölkerungsmehrheit eine Minderheit zu machen. Die dünne Schicht des slowakischen Bildungsbürgertums war zwar zunehmend in der Generalversammlung der Komi täte vertreten, doch da ja die breite Masse des slowakischen Bauern- und Industriearbeiternolks vom Wahlrecht ausgeschlossen blieb, waren die Möglichkeiten, die nationalen Forderungen auf politischem Weg durchsetzen zu können, sehr gering. Als einer der möglichen Auswege aus dieser aussichtslosen politischen Lage wurde nun die verstärkte Hinwendung zu Rußland als Beschützer aller Slawen gesucht. Rußland sollte sich dabei zuerst der endgültigen Niederringung des Osmanischen Reichs am Balkan widmen, um die „unterjochten südslawischen Brüder" zu befreien; dann, als endgültiges Ziel, würde sich Rußland auch gegen die Monarchie wenden, um Slowaken, Tschechen, Ruthenen und alle anderen Slawen von der „Knechtschaft" der Deutschen und Magyaren zu erretten. Von dem Plan, sich ausgerechnet im gegen seine eigenen Völker äußerst repressiv vorgehenden Russischen Reich - denkt man etwa an die brutale Niederschlagung des polnischen Aufstands 1863/64 -seinen Verbündeten zu suchen, waren daher auch nicht allzu viele Slowaken überzeugt, was zur weiteren Zersplitterung des nationalen Lagers beitrug. Auf einem Kongreß in Budapest, 1895, wurde dann von slowakischen, serbischen und rumänischen Vertretern der politische Schulterschluß gegen die Magyaren versucht. Neben der Forderung nach Autonomierechten für diese Nationalitäten stand auch das Streben nach dem allgemeinen, direkten und geheimen Wahlrecht auf der Tagesordnung. Über diese ersten Ansätze sollte das gemeinsame Vorgehen dieser Nationalitäten aber nicht hinausgelangen, verstand es die magyarische Politik doch ausgezeichnet, eine engere Zusammenarbeit durch ein Wechselbad aus Zugeständnissen und Verweigerungen zu untergraben. Den Slowaken erwuchs in diesen Jahren durch die Tschechen ein Verbündeter in ihren nationalen Anliegen. Unter den tschechischen nationalen Strömungen tauchte immer wieder die Vorstellung eines Zusammengehens von Tschechen und Slowaken zum gemeinsamen Kampf um die Unabhängigkeit auf. Slowakische Studenten an den Universitäten in Prag und auch Wien wurden zu begeisterten Verfechtern dieser Idee. Das Gebot der Stunde schien nun die enge Verknüpfung tschechischer und slowakischer Interessen zu sein. Daneben bestanden allerdings auch andere politische Einflüsse unter den Slowaken, die sich etwa an christlichsozialen und sozialdemokratischen Forderungen orientierten. Im Fall der Sozialdemokratie war es um die Jahrhundertwende die Ungarische Sozialdemokratische Partei, die sich der slowakischen .Arbeiterschaft annahm, wenngleich die Parteileitung in Budapest es dabei mit der Vertretung der slowakischen Genossen nicht eben ernst zu nehmen schien. Enttäuscht hielten die slowakischen Sozialisten sich dann mehr an die tschechischen Kollegen. In den Jahren vor Kriegsausbruch begann sich Oben: Slowakische Bauemburseben mit geschmückten Pferden bei einem Umzug. Um 1910 Unten: Slowake» am Mähren in Festkleid'imfr. Photographie. Um 1910 150 Die Slowaken eine weitere Trennung zwischen den verschiedenen politisch-weltanschaulichen Flügeln der slowakischen Parteien abzuzeichnen. Während die eine Gruppierung ihr Heil in einem engeren Zusammenrücken mit den Tschechen sah, vertrat die andere unter der Führung des Geistlichen Andrej Illinka ein christlich-national ausgerichtetes Programm. Die Zusammenstöße mit den ungarischen Behörden verschärften sieh insbesondere in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts, so kam es im Oktober 1907 in der Ortschaft Csernova (Cernova) zu einem Blutbad, bei dem fünfzehn Slowaken von Gendarmen erschossen wurden. Der während des Ersten Weltkriegs immer lauter werdenden Forderung nach der Gründung eines Tschechoslowakischen Staats konnte Ungarn letztlich keine Alternative entgegensetzen. Tomas G. Masaryk und Edvard Benes verstanden es auch ausgezeichnet, die einsprechende Stimmung dafür unter den Ententemächten vorzubereiten. Die Entstehung von neuen Nationalstaaten anstelle des morschen Gebildes der Donaumonarchie schien dabei die beste Lösung und die Garantie für eine künftige friedlichere, harmonischere Entwicklung unter den Völkern des Dunau- und Karpatenraums zu bieten. Die Anerkennung des Tschechoslowakischen Nationalrats in Paris als „kriegführenden Verbündeten" durch die Westmächte brachte eine Wende, die nicht nur das Schicksal Österreichs, sondern auch Ungarns entscheiden sollte. Obwohl die alliierten Regierungen der Donaumonarchie zugesagt hatten, die Festlegung neuer Grenzen einer in Paris einzuberufenden Friedenskonferenz zu überlassen, rückten nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands am 3. November 1918 Tschechen, Slowaken, Ruthe-nen, Rumänen, Serben, Kroaten und Slowenen gegen das Habsburgerreich vor. Tschechisches Militär drang in die - nunmehr ehemaligen - oberungarischen Komitate vor und beabsichtigte, auch von Ruthenen bewohnten Komitate, wie beispielsweise Ung oder Ugocsa, zu besetzen. Im Dezember 1918 erhielt Prag dann die Erlaubnis zur Bildung einer zivilen Verwaltung. Die Bestimmungen des Friedensvertrags von Trianon vom 4. Juni 1920 machten aus dem einstmals mächtigen Königreich der Stephanskrone ein Rumpfungarn: Rund 49000 Quadratkilometer ehemals ungarischen Staatsgebiets fielen an die Slowakei, mehr als eine Million Magyaren verblieben als nationale Minderheit in der neugeschaffenen Tschecho-Slowakischen Republik. Oben: „Treiicsenteplicza-i olkstracht': Shwuki sches Bauempaar. Kolorierte Photographie. Im 1900 Unten: Slowakisches Paar in i olkstracht. Um 19 Kl Gegenüber: Slowakische Familie. Photographie, im 1900 153 Die Tschechen Ohe. Lithographie. Brünn 1857 Das Königreich Böhmen galt als eine der „Perlen in der Krone Habsburg-Lothringens". Verließ man Wien in Richtung Prag, so gelangte man zunächst ins Mährische, wo sanfte Hügel tue Landschaft prägten, aufgelockert durch kleine Kirchen und Kapellen. Fischreiche Bäche und Flüsse trugen noch zum bukolischen Eindruck bei; Statuen des hl. Xepomuk, des zugleich strengen und doch gütigen Brückenpatrons, aus langsam verwitterndem, moosbedecktem Sandstein gehauen, bewachten die Wege entlang der Straße, die über die mährische Metropole Brünn, das barocke Ol-mütz (Olomouc) weiter in das goldene Prag führte. Uberall, in jedem noch so kleinen Flecken, ließen sich Uberreste des alten europäischen Kulturerbes finden: gotische Kirchen, Renaissancearkaden auf einem Marktplatz, barocke Bürgerhäuser und verspielte Schlösser mit verwunschenen Schloßgärten. Auch an Erholungsmöglichkeiten und Kurorten waren Böhmen und Mähren reich. In der sogenannten „mährischen Walachei", im Osten Mährens, lag etwa der „Molkencurort" Roznau am Fuße des Gebirgsstocks Radhost, der zahlreiche Bergsteiger anlockte. Die fruchtbare Ebene an der oberen March nennt man Hanna. Deren Bewohner, die Hannaken, waren ein tschechischer Volksstamm; Horaken hießen die Westmährer, die an den Abhängen des böhmisch-mährischen Berglands gegen die March zu lebten. Bedingt durch das gute, fruchtbare Ackerland waren die Hannaken wohlhabend und konnten es sich, so neidische Zeitgenossen, leisten, vier größere Mahlzeiten täglich einzunehmen und dreimal in der Woche Rindfleisch zu essen. Dabei blieb es freilich nicht, man verspeiste auch in Speck gekochtes Sauerkraut, Hirsesuppe mit geselchtem Schweinernem, Knödel mit Kraut und Mohnstrie- zel. In der Erntezeit gab es als Labung für die Schnitter Kolatschen, die mit Topfen und geriebenem Lebkuchen bestreut waren, auch der herb-süße Powidl, die „böhmische Krönungssalbe", durfte nicht fehlen. Üppiges Essen liebten die Tschechen im allgemeinen sehr, sie waren dafür bekannt: gebratene En- Hannakin. Kolorierter Kupferstich von William FJIis. Aus: The Costnme of'the Hereditary States o/The House of Austritt. London 1804 Gegenüber: Hannakenpaar aas der Gegend ten und Ganse, knuspriger Schweins- von Olmritz. Mähren. Ans: Wilhelm braten und Rinderbraten mit sämiger Ihn,. Mährische Volkstrachten. Kolorierte §zucz, dazu dje köstlichen, flaumigen Knödel, danach Mohn- und Honigmehlspeisen, Buchteln, Dalken und Kolatschen, die nicht nur zur bloßen Sättigung einluden, sondern ein geradezu animalisches Wohlbehagen beim Essen hervorriefen. In klimatisch ungünstigeren und wirtschaftlich ärmeren Regionen ernährten sich die Bewohner hauptsächlich von Kartoffeln und Hülsenfrüchten. Kaffee wurde gerne und viel getrunken. Bier, das „flüssige Brot", sah man geradezu als Nahrungsmittel an; im Unterschied dazu bevorzugten die Slowaken zumeist von jüdischen Spirituosenerzeugern hergestellten Branntwein. Horaken und Hannaken waren aber nicht bloß für ihre reichliche Küche bekannt, sie galten - neben den Bewohnern des böhmischen Chrudim - als gute Pferdezüchter. Ihre reiche Tracht machte die Hannaken über die Landesgrenzen hinweg bekannt: Die Männer trugen Hosen aus ziegelrot gefärbtem Kalbsleder, die an den Seitennähten durch grüne Schnurwindungen verziert waren; um die Körpermitte lief ein bestickter Ledergurt, dazu kleidete man sich in eine hellgrüne, an der Brust geschlossene und mit vielen runden, weißen Knöpfen verzierte Tuchjacke. Darüber fiel ein bis an die Knöchel reichender Uberrock aus weißem Tuch beziehungsweise ein Mantel aus himmelblauem Stoff. Ein runder, breitkrempiger Hut, bei den Junggesellen mit bunten Schnüren verziert, vervollständigte die Kleidung. Die Frauen trugen einen 165 Die Tschechen Die Tschechen Oben: Ha nun kiscb es Paar in Feswacht. Photographie. Um 1911) Recbts:„Hannaken ans der Umgebung von Ho/eschau". Holzschnitt von Julius Beiger. Aus: Die östeneichiscb-ungariscbe \ lonarckie in Wort und Bild: Mähren und Schlesien. Wien 1897 farbenfrohen kurzen Rock mit bunten Strümpfen, ein grünes Wolltuch und hatten bunte Tücher um den Kopf geschlungen. Typisch für die Landschaft Nordwestböhmens waren die großen, oft auf den Wirtschaftsdomänen der Klöster angelegten Fischteiche. Fische, Bier und Wild aus den dichten Wäldern waren denn auch wichtige Ausfuhrartikel Böhmens ins benachbarte Nieder- und Oberösterreich und nach Wien. Die Tschechen lebten also in einer vielfältigen Landschaft, vom Böhmerwald im Südwesten zum böhmischen Hochland im Osten. Schmale Felskämme, gewaltige Granitblöcke, Torfmoor und Wald prägen dieses Gebiet. Zahlreiche Pässe überqueren vor allem den südlichen Teil des Böhmer- wolds, die der lokalen Bevölkerung den Fernhandel und, damit verbunden, Wohlstand ermöglichten. Der „goldene Steig", der von Winterberg (Vim-perk) nach Philippsreut führte, war einer der bekanntesten Übergänge, der für lange Zeit als einziger Handelsweg für den Salzimport nach Böhmen diente. Schon allein sein Name drückt aus, daß die Menschen, die entlang seiner Route lebten, durch den Handel mit dem „weißen Gold" zu Geld gekommen waren. Die böhmische Landschaft ließ aufgrund ihres Reizes solch profane, materialistische Gedanken allerdings schnell verschwinden. Adalbert Stifter hat etwa die Schönheit des Moldautals liebevoll beschrieben, das in der Umgebung von Krumau (Cesky Krumlov) besonders eindrucksvoll ist. Das Klima ist hier allerdings rauh, der Landwirtschaft nicht gerade zuträglich. Die Bewohner dieser Region mußten sich daher nach einer zusätzlichen Erwerbsmöglichkeit umsehen. Der Waldreichtum sorgte für eine florierende Holzindustrie, auf der Moldau transportierten Flößer die Baumstämme bis nach Prag oder, über Kanäle „Itilunennen. Hanake und Jazek aus Jablun-kau ". Farbbolzschnitt von Hugo Charlemont. Aus: Die östareicbiscb-ungarischc \ lonarcbie in Wort und Bild: Mähren und Schlesien. Wien IS97 166 16" Die Tschechen Die Tschechen" Bai lein ladu ngska rte mit den 11 äppen von Böhmen, Mähren und Schlesien. h\ni'litbographie auf geprägtem und gestanztem Biüet. 1913 durch Südböhmen, auf der Donau nach Wien. Der Uberfluß an Holz diente auch der Etablierung verschiedener Gewerbszweige. Der Hausindustrie kam dabei Bedeutung zu, man erzeugte Holzschuhe, schnitt und verkaufte Brennholz. Weltbekannt sollte allerdings die Glasindustrie um Gablonz werden. Bereits seit dem 17. Jahrhundert hatten sich die Bauern aus der Umgebung des Dorfes Gablonz (Jablonec) bei der berühmten Glashütte als .Arbeiter verdingt; zunächst nur als Fuhrleute, dann als saisonale Hilfsarbeiter, schließlich kamen Handwerker und Fachleute für die Glaserzeugung aus ganz Böhmen und Mähren, vor allem aber aus Deutschland, hinzu. Setzte man die Wanderung durch Böhmen fort, so traf man im Norden auf das Riesengebirge mit seinen steilen Abhängen und markanten Gipfeln wie der Schneekoppe, dem höchsten Berg Böhmens. Almwiesen bestimmten hier das Landschafts-bild, üppige Weiden ermöglichten Viehzucht und -Milchwirtschaft; die Hirten wohnten in „Bauden" genannten Sennhütten. Im Vorland des Riesengebirges lebten die Bewohner vom Anbau und der Verarbeitung von Flachs in Spinnereien und Webereien. Die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende Konkurrenz aus dem europäischen Ausland hatte freilich zur Schließung von zahlreichen dieser Betriebe geführt, dafür nahm die Zahl von Glashütten und Spiegelmachern zu. Im Nordosten und Südosten Böhmens, bis nach Niederösterreich hinein, lebten Tschechen hauptsächlich vom Ackerbau; ihre Siedlungsgebiete waren aber unterschiedlich fruchtbar, daher gingen aus der Gegend nördlich von Tábor besonders viele Auswanderer nach Amerika, da sie dem Boden daheim nicht genug zum Leben abringen konnten. Die bis Melnik (Mělník) reichende Elbegegend bot sich dafür als ertragreiches Ackerbaugebiet und geeignet für umfangreichen Zuckerrübenanbau an; die Elbe selbst diente der Flößerei und dem Betrieb von Dampmiühlen. Ein dichtes Eisenbahnnetz durchzog Böhmen, dessen Züge die Industrialisierung erleichterten. Meie Großindustrielle waren in Prag oder Reichenberg (Liberec) beheimatet. In Joachimsthal (Jáchymov) entstand die älteste montanistische Lehran- Zcichen-Erklfirimg: Studie mit 10—50«,'o O Deutschen O Čeehen und Müh rem Nationalitäten- tum Spracben-Karte BÖHMEN, Farben-Krktörung: Gebiete mit über 50% Deutschen 1 Čechen und Miihrern stalt, nach 1848 dann die k.k. Montanlehranstalt in Pfibram, wo es auch berühmte Silberbergwerke gab. Deutsches und jüdisches Kapital trug maßgeblich zur Erschließung der Wirtschaftskraft und zum Ausbau des Eisenbahnnetzes bei. 1832 wurde auf der Strecke Linz-Budweis die erste Schienenbahn Europas in Betrieb genommen, die älteste Dampfeisenbahn der Monarchie führte von Brünn über Prag nach Bodenbach (Děčín). 1856 erfolgte die Eröffnung der Bahnlinie Aussig (Ústí nad La-bem)-Teplitz (Teplice), dann die böhmische Westbahn von Prag nach Pilsen. Nach 1866 wurde die Kaiser-Franz-Josefs-Bahn von Prag nach Wien gebaut, die Osterreichische Nordwestbahn verlief von Böhmen nach Mähren. Prag war das Zentrum für all diese Verkehrswege. Die schnell anwachsende Nationalitäten - und Sprachen-Karte von Böhmen. Ans: Prof. . \nton Leo Micktttatms geographisch-statistischer Taschen-Atlas von Österreich-Ungarn. Wien 1900 [68 169 Die Tschechen Die Tschechen B/ifieriii mis Miihren in If interkleidting. Kolorierter Kupferstich von William Ellis. Atis: The Costume of the Hereditary States of The Hotise of Austria, f 170 Zuwanderung vom Land in die Stadt wurde durch diese günstigen Verkehrsverbindungen erleichtert. Die böhmischen Länder besaßen, bedingt durch diese gute Infrastruktur, eine überdurchschnittliche Bevölkerungs- und Siedlungsdichte. Vom Kirchturm des heimatlichen Dorfs konnte man zufrieden auf eine gepflegte, liebevoll kultivierte, wie blank geputzt wirkende bäuerliche Landschaft mit gleich mehreren anderen Ortschaften in unmittelbarer Xähe herniederblicken. Um die Mitte des 19. Jahr- hunderts bestanden in der gesamten xMonarchie im Durchschnitt zehn Ortsgemeinden auf je 100 Quadratkilometern, in Mähren jedoch 16, in Böhmen sogar 25. Das nordböhmische Textilgebiet wurde etwa um 1850 aufgrund seiner Bevölkerungsdichte als „Klein-Manchester" bezeichnet. Ein grundlegender Unterschied zwischen der tschechischen Gesellschaft und der slowakischen oder von noch weiter östlich lebenden Völkern begann sich in diesen Jahrzehnten herauszubilden. Oben: Nationalitäten-itnd Sprachen-Karte von Mähren und Schle sien. Ans: Prof. Anton Leo Hkkmanns geogra phisch-statistisch er Taschen-Atlas von Osterreich- Ungarn. Wien 1900 [71 Die Tschechen Oben: Angehörige der Sokol-Bewegung. Photographie. Um 1900 Rechts: „Die Familie der Slawen": Propagandakarte zur Förderung des Panslavismus. Um 1910 Die tschechische Familien struktur war nach dem westeuropäischen Vorbild, das heißt nach der sich aus Eltern und einem Kind zusammensetzenden Familie, organisiert. Im südostmährischen und slowakischen Raum hingegen herrschte noch bis weit in das 19. Jahrhundert die aus mehreren blutsverwandten Ehepaaren und deren Kindern bestehende Großfamilie vor, die alle im gemeinsamen Haushalt lebten. In Osterreichisch-Schlesien, vor allem um die Kohlenreviere von Ostrau, lebten Tschechen vermischt mit Polen. Es war aber in erster Linie die Frage des Zusammenlebens zwischen Tschechen und Deutschen, die das Leben in Böhmen, Mähren und Schlesien beherrschte und prägte. Im Verhältnis der Tschechen zu Osterreich spielte die Niederlage in der Schlacht am Weißen Berg von 1620 und deren Folgen für die tschechische Gesellschaft eine grundlegende Rolle. Die danach einsetzende Gegenreformation veränderte nicht nur das soziale Gefuge, große Ländereien wurden konfisziert und an oftmals landfremde, aber kaisertreue Adelige vergeben. Ein wesentliches Resultat der Gegenreformation war unter anderem, daß sich 96% der Bevölkerung mit tschechischer Umgangssprache zur römisch-katholischen Kirche bekannten. Tschechische katholische Geistliche waren es auch, die, ähnlich wie bei Slowaken und Slowenen, in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts das „nationale Erwachen" fördern sollten. Das Gefühl der Identität zwischen nationaler und konfessioneller Zugehörigkeit, wie es etwa bei den Polen am stärksten ausgeprägt war, fand sich allerdings bei den Tschechen nicht. Die Anzahl der Protestanten betrug bei den Tschechen Die Tschechen Böhmischer Löwe. Slawische Naturgeschichte. Falken-Jüngling, Polnischer Adler derDolmation. (Steinvogel.) unter allen Völkern der österreichischen Reichshälfte mit 2,5% den höchsten Anteil. Andere Bekenntnisse, wie etwa die Herrenhuter Brüdergemeinde, konnten nur einige Hundert Tschechen für sich gewinnen. Obwohl die evangelische Kirche also eher wenig Mitglieder haue, bekannten sich doch einflußreiche Angehörige der Intelligenzschicht dazu, so zum Beispiel František Palacký oder Tomáš Garrigue Masaryk, der als junger Mann zur evangelischen Kirche konvertierte. Die tschechische Nationalbewegung wurde für andere kleinere Völker, etwa für die Slowaken, zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum Vorbild. Am I.Jänner 1831 erfolgte die Gründung der ...Matice česká", deren vorrangiges Ziel die Herausgabe „guter böhmischer Bücher" war, ob nun wissenschaftlichen oder literarischen Inhalts. František Palacký, Joseph Jungmann und Svatopluk Presl waren auf diesem Gebiet die führenden Persönlichkeiten. In den turbulenten Jahren 1 S4s und 1849 trat dann die Polarisierung im Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen erneut mit aller Schärfe zutage. Beider Nationalbewegungen gerieten aufgrund ihrer diametralen Ansichten über die Frage nach der künftigen politischen Vorherrschaft heftig aneinander. Dabei hatten die deutsche Sprache und Kultur wesentlich zur Inspiration tschechischer Literaten beigetragen; ähnlich wie Petar Preradovic bei den Kroaten, verfaßte auch der bedeutende tschechische Dichter Karl Hynek Macha (1810— 1836) seine ersten Werke noch in deutscher Sprache. Das Ziel der tschechischen Geschichtsschreibung des frühen 19. Jahrhundert bestand unter anderem darin, zur Wiedererweckung des nationalen Bewußtseins beizutragen. Die legendenumwobene Nationwerdung der Tschechen, der Mythos um Li- „Slawische Xatitrge-icbtebte": Satirisches Blatt aus „Hans Jörg! auf die erwachenden slawischen National-gejuble. Fat iditho graph ie. Wien 1869 172 1"3 Die Tschechen Die Tschechen Tschechische .\ lädchen aus Böhmen. Mahren und Schlesien. Bildpostkarte. Um 1900 Slovanské kroje Čechy bussa, spielte ebenso eine bedeutende Rolle wie die Rückblende auf die Hussitenzeit und den Dreißigjährigen Krieg. Aus Historikern wurden auf diese Weise vielfach Politiker, wie das Beispiel des mährischen Lehrersohns František Palackv zeigte. Die starke Hinwendung zur nicht-deutschsprachigen Literatur ab den 1870er Jahren verriet dabei auch das Bestreben, sich vom deutschen Kulturkreis abzugrenzen; Ubersetzungen der Werke von Victor Hugo oder Paul Verlaine ins Tschechische waren durchaus erfolgreich. Gerade das tschechische Bürgertum - die tschechische Gesellschaft war bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts wesentlich mehr strukturiert gewesen als etwa die slowakische -wurde zur Trägerschicht des nationalen Gedankens. Die geistige und soziale Mobilität der Prager Gesellschaft kam auch durch die verfeinerte, elegante Bekleidung zum Ausdruck. Das „Prager Tuch" wurde von Besuchern aus dem Ausland bewundert, für gute Qualität bei Stoffen waren die Prager bereit, viel Geld auszugeben: „Wer sich für nichts ausgibt, den halten die Leute für nichts", stellte man durchaus auch im Freundeskreis von Palacky fest. In den 1870er Jahren setzte dann verstärkt der wirtschaftliche Fortschritt ein. „Der Tscheche, der einstens in den Städten und Märkten hauptsächlich als Handwerker tätig war, ist nun Kaufmann geworden, und mächtige Industrien leiten ihre Gewinne in die Taschen der tschechischen Kapitalisten", wurde 1918 von Richard Charmatz in seinem Werk „Osterreich als Völkerstaat" über die soziale Entwicklung der Tschechen in den vorangegangenen Jahrzehnten festgestellt. 1869 war die Gründung der Gewerbebank, der „Živnostenská banka", erfolgt. Die Gemeindeverwaltung und die fünf Jahre zuvor ins Leben gerufene Bezirksselbstverwaltung trugen zur weiteren Entwicklung des nationalen und politischen Lebens der Tschechen bei. Der Aufschwung, den Bergbau und Industrie damals nahmen, strahlte bis nach Galizien und in die Bukowina aus. Daß im Unterrichtswesen die naturwissenschaftliche praktische Ausbildung einen hohen Stellenwert einnahm, mag mit ein Grund für die rasche Entwicklung im industriellen Bereich gewesen sein. Allein am tschechischen Wort für Industrie, „průmysl", ließ sich diese Bedeutung ablesen: průmysl kommt von myslit, denken. In einer 1857 erschienenen Zeitschrift hieß es dazu: „Industrie ist in deinem Kopf, dort klopfe an und du erfährst es." Dieser Wachstumsschub in allen Lebensbereichen machte sich auch im politischen Umfeld bemerkbar. Der Beamtenapparat wurde immer mehr mit Tschechen durchsetzt, die sowohl in den österreichischen als auch den gemeinsamen Ministerien ihren Dienst verrichteten. Im nationalen Leben wurden dann in den 1860er Jahren „Meetings" bedeutend, Versammlungen, die nach irischem Vorbild diesen Xamen erhalten hatten und als große, volksfestartige Veranstaltungen der Mobilisierung patriotischer Gefühle dienen sollten. Zentausende nahmen jeweils daran teil. Diese Versammlungen wurden dann in „tábory" -Volksversammlungen - umbenannt. Von 1868 bis 1871 fanden an die einhundert dieser Treffen in Böhmen statt, an die vierzig weitere in Mähren und Schlesien. Die 1862 gegründete Sokol-Bewegung war ein weiteres Instrument zur Mobilisierung der nationalen Gefühle. Die Mitglieder dieses pansla-wistisch ausgerichteten Vereins mit stark tschechisch-nationalistischer Stoßrichtung übten sich im Turnen und anderen Formen der Körperertüchti-gung, ihre Auftritte stellten aber zugleich auch machtvolle nationale Demonstrationen dar. Die Sokol-Bewegung war gesellschaftlich sehr bedeutend und wies 1912 etwa 120000 Mitglieder auf. Gerade die 1870er Jahre stellten eine Periode mit permanenten nationalistischen Ausschreitungen dar. Die Enthüllung des Denkmals für den Hussi-tengeneral Žižka im Jahre 1874 bot Gelegenheit für Protest gegen die Politik Wiens, die die Magyaren bevorzugte und den Tschechen - trotz der wirtschaftlichen Leistungen, die sie vorweisen konnten - das Gefühl gab, bloß „ungeliebte Kinder" zu sein. Der „VolkstumskampP' wurde mehr und mehr in den Zeitungen ausgetragen. Für die Deutschen war dabei die „Deutsche Volkszeitung" ein wichtiges Sprachrohr, für die Tschechen „Hlas národa" (Stimme des Volkes) oder „Čas" (Die Zeit). Ein weiteres Reizthema betraf den Gebrauch des Tschechischen oder Deutschen im Schulwesen, worüber erbitterte Auseinandersetzungen entbrannten: Bildung woirde geradezu als Waffe gesehen und eingesetzt. Vor allem nach dem mißlungenen „Ausgleich" mit den Tschechen vom Jahre 1871, der an magyarischer und deutscher Obstruktion gescheitert war, radikaliserte sich das nationale Leben, und schon elf Jahre später, 1882, kam es zur Trennung der ehrwürdigen Karlsuniversität in Prag in einen deut- schen und einen tschechischen Teil. Die Separation zwischen den Tschechen und Deutschen ging so weit, daß sogar Bierlokale nach dem Kriterium der „ethnischen Absonderung" besucht wurden; gab es dennoch einmal einen Restaurationsbetrieb, den sowohl tschechische als auch deutsche Studenten aufsuchten, so konnte man sicher sein, daß die Bier-krügel sehr bald zweckentfremdet verwendet wurden. So harmlos-heiter im milderen Licht der Vergangenheit solche Vorkommnisse erscheinen mögen, sind sie doch ein Indiz dafür, wie tief die Spaltung ging. Daß man sich auf der politischen Bühne nichts schenkte und erbitterte Wortduelle lieferte, war eine Sache; doch wenn die Entfremdung schon so weit ging, daß sogar im Privatleben ein gemeinsamer Verkehr schwierig, ja unmöglich wurde, dann war die Lage wohl wirklich ernst. Dazu kam, daß die tschechische Gesellschaft seit den 1870er Jahren in einem starken Wandlungsprozeß begriffen war. Vom „Bauern-und Dienstboten- „Rozmysli Bildpostkarte mit tschechischem Volkslied. Um 1910 174 175 Dm: Tschechen Die Tschechen f sehet bisehes Paar am Cbodati, Böhmen. Photographie. Um 1910 volle" konnte nicht mehr die Rede sein. Die Volkszählung aus dem Jahre 1900, deren Ergebnisse erstmals im Hinblick auf Umgangssprache und Berufszugehörigkeit verglichen wurden, zeigte deutlich auf, daß der Übergang vom Agrarsektor in den industriellen Bereich bei den Tschechen - neben den Deutschen - am signifikantesten war. Und die nächste Volkszählung, 1910, bestätigte diese Entwicklung noch, nun war sogar der Anteil an Industrie und Handwerk bei den Tschechen höher als bei der Bevölkerung mit deutscher Umgangssprache. Böhmen sollte nach dem Zerfall der Donaumonarchie in den zwanziger und dreißiger Jahren hinsichtlich seiner industriellen Leistungsfähigkeit das nunmehr kleine und verarmte Osterreich bei weitem übertreffen. Ein erstes Indiz für diese dynamische Entwicklung bedeutete bereits die Wirtschaftsausstellung 1891 in Prag, die von den Deutschböhmen boykottiert wurde, den Besuchern aber deutlich vor Augen führte, wie effizient die tschechische Textilindustrie im Osten und Nordosten Böhmens und die Glasindustrie waren, wie modern die Herstellung von elektrotechnischen Produkten erfolgte. Maschinenbau, ja sogar die noch junge Automobilindustrie - all diese Erwerbszweige wurden in Böhmen schnell und mit großem Kapitalaufwand errichtet und vorangetrieben. Die Tschechen, so wurde ihnen bestätigt, waren eben aufgeweckt und begabt, dazu fleißig in der Art und Weise, daß sie zuerst handelten und dann darüber redeten, und nicht umgekehrt. Jahr für Jahr verdingten sich aber auch Zehntausende Tschechen als Arbeitskräfte in Niederösterreich und Wien. Die Wiener „Ziegelböhm'", die in elenden Massenquartieren im zehnten Wiener Gemeindebezirk hausten, wurden zu einem Symbol für die Anklage gegen soziales Unrecht und Ausbeutung. Sie waren es aber auch, die das Bild von Bauern aus Cbodait. Böhmen. Kolorierte Photographie. Um 1910 Links: Tkbfchistbe Bäuerin. Bildpostkarte nach einer Zeichnung von V.Maly. Um 1910 176 1" Die Tschechb n Oben: „Erntezeit (tUrnkf)'. Holzsehnitt von Adolf Urbseber. Ans: Die isterrtiehisch-uiigiirisehe Monarchie in Hort und Bild Böhmen (1. Bund}. Wim 1M4 Line,,: _D„s Hopfeilkriinzfest in Sau'. Holzsehnitt von Rudolf von Onenfeld. Ans: Die isterreiehiseb-iingurisehe Monarchie in Hort und Bild: Bobinen (1. Bund). Wien 1894 Gegenüber: Hannahische Festtracht. Photographie. Um 1910 „den Tschechen" als einfachen, arbeitsamen Leute prägten und auf die die Wiener - die vielfach selbst erst vor einer oder zwei Generationen aus anderen Kronländern in die kaiserliche Residenzstadt gezogen waren - dann mit Verachtung und dem wohligen Schauer des Parvenüs, der seine Herkunft zwar nicht vergessen, aber doch verdrängt hat, blickten. Die \\ iener hielten die Tschechen für dickköpfig und widerspenstig, wozu vielleicht auch ihre nur mühevoll zu erlernende Sprache - 1 lerzmanovskv-Orlando wußte darüber zu berichten, daß diese zur Nachmittags Zerstreuung eines habsburgischen Erzherzogs erfunden worden war - beitrug. Dabei war bereits 1761 das erste tschechische Blatt in Wien, „C.k. privilegované české vídeňské poštovní noviny" (K.k. privilegierte Wiener tschechische Postzeitung), erschienen. Der Autschwung der tschechischen Gesellschaft ging auch auf das gute Schul- und Bildungswesen zurück. Die Tschechen lagen bei den Daten über die Allgemeinbildung unter den Völkern der Monarchie an der Spitze. Die Volkszählung von 1900 stellte fest, daß unter ihnen die geringste Zahl an Analphabeten zu finden war. Es war ihnen aber nicht immer leicht gemacht worden, Schulbildung in ihrer Muttersprache zu erlangen. In Niederösterreich, wo ja auch Tschechen lebten, wurde ihre Sprache 1914 nur in neun Volksschulen gelehrt, und dies auch nur auf der untersten Stufe, um die Kinder für den Deutschunterricht besser vorzubereiten, indem ihnen die Grundlagen des Deutschen in ihrer Muttersprache vermittelt wurden. Die erste tschechische Hauptschule entstand zwar bereits 1814 in Prag, im Jahr darauf die erste Realschule. Tschechische Gymnasien gab es aber erst ab den 1860er Jahren, als 1862 in Tábor die erste Einrichtung dieser Art entstand. In den folgenden Jahrzehnten verbesserte sich - außer in Schlesien - die Lage. Mähren nahm durch seine Lage eine „Zwischenstellung" ein. Zwischen Böhmen und Niederösterreich beziehungsweise Wien gelegen, stellte sich für die Mährer - Deutsche wie Tschechen - die Frage, zu welchem Zentrum sie mehr tendieren sollten. Brünn galt aufgrund seiner wirtschaftlichen Bedeutung als „Manchester von Österreich", hatte aufgrund seiner geographischen Nähe zur Residenzstadt aber auch mit der abwertenden Bezeichnung als „Vorstadt" von Wien zu kämpfen. Auf regionaler Ebene waren die Städte Zentren des PS Dil Tschechen „Sachtlager im Ziegel-ufeti". Photographie van llennunn Drmre fiir Emil Klägers Buch „Durch die N teuer Quartiere des FJends und i erťrechens". 1908 deutschen Bürgertums, nur in manchen Gemeinden wie Proßnitz (Prostějov) oder den Vorstädten Brünns konnte sich auch das tschechische Bürgertum durchsetzen. Proßnitz war die größte Stadt Mährens mit tschechischer Verwaltung und gewann dadurch Vorbildwirkung für das politische Leben der Tschechen in Mähren. Bis zum „Mährischen Ausgleich", 1905, stellten deutschstämmige Großgrundbesitzer und deutschmährische Liberale die Mehrheit im Landtag. Die Bestimmungen dieses Vusgleichs sahen die Bildung nationaler Kurien im Landtag vor, die aufgrund der Angaben aus einem dafür erstellten nationalen Kataster gebildet wurden. Die CGroßgrundbesitzer bildeten eine Kurie für sich. Zum Schutz für die - in der Minderheit befindlichen - Deutschmährer wurde festgelegt, daß von den 121 Abgeordneten zwei Drittel den Anträgen im Landtag zustimmen mußten. Das bedeutete, daß die Deutschen nicht überstimmt werden konnten. Die Erstellung eines nationalen Katasters war weiters maßgebend für die Ausübung des Landtagsund Reichsratswahlrechts; die Einteilung in tschechische und deutsche Wahlbezirke wurde danach getrottete In Wien lebte um 1910 eine viertel Million Tschechen, es wurde daher als „zweitgrößte tschechische Stadt" bezeichnet. Die deutschsprachige Wiener Bevölkerung bekam es allmählich mit der Angst zu tun, daß sich die „liebe alte Wienerstadt" in ein gemischtsprachiges Babylon, einen wahren Moloch, verwandeln könnte. Die Angst vor Änderungen im gewohnten Alltagsleben, vor der als zu schnell und unheimlich erlebten Industrialisierung und dem Fortschritt in Wissenschaft und Technik im allgemeinen spielte bei der Entstehung von Vorurteilen sowohl gegen Juden als auch gegen Slawen eine große Rolle. Die Furcht vor der allzu rasanten Modernisierung und Beschleunigung des Lebenstempos brachte vielfach auch xenophobe Einstellungen der Wiener Bevölkerung hervor. Im Wiener Gemeinderat wurde etwa 1897 die Forderung erhoben, daß bei der Besetzung von Dienstposten ausschließlich Personen mit deutscher Nationalität heranzuziehen wären. Der christlichsoziale Bürgermeister Lueger beugte sich diesem Verlangen und verkündete einen taktischen Bovkott für tschechische Gemeindebedienstete. Lueger war es auch, der eine .Änderung des Gemeindestatus vornahm: Die Tschechen sollten sich demnach zur „Wahrung des deutschen Charakters der Stadt" verpflichten, wollten sie Vollbürger Wiens werden. Das Bürgerrecht sollte also nur Personen zukommen, die sich zur deutschen Xationalität bekannten und den „angestammten deutschen Charakter" der Metropole als gegeben annahmen. In Paragraph 10 des Gesetzes vom 24. März 1900, in dem es um die Bürgerpflichten ging, hieß es demgemäß: „Der aufgenommene Bürger hat vor dem Bürgermeister eidlich anzugeloben, dass er alle Bürgerpflichten nach Vorschrift des Gemeindestatuts gewissenhaft erfüllen, das Beste der Gemeinde möglichst fördern und den Charakter der Stadt Wien als Reichshaupt- und Residenzstadt, sowie den deutschen Charakter der Stadt nach Kräften aufrecht erhalten wolle." Natürlich erfolgten daraufhin Proteste von tschechischer Seite. Die Auseinandersetzungen gingen so weit, daß den Tschechen vorgeworfen wurde, vor Volkszählungen bewußt Landsleute nach Wien zu holen, damit die Erhebung der Umgangssprache - nach der bei den Volkszählungen in Cisleithanien gefragt wurde - eine stets wachsende Zahl von Tschechen ergeben würde. Die Formulare für die Volkszählung sollten daher eine Rubrik enthalten, der die auswertenden Beamten die bisherige Aufenthaltsdauer in Wien entnehmen konnten. Dies, so die Verfechter dieses Plans, sollte verhindern, daß „fanatische Slawen" ein falsches Bild von der Bevölkerungszahl der Tschechen in Wien hervorriefen. Du Tschechen 180 Obwohl diese Forderung abgelehnt wurde, verdeutlicht sie doch das soziale Klima dieser Jahre. Die Volkszählung des Jahres 1900, bei der man nach der tschechisch-mährisch-slowakischen Umgangssprache gefragte hatte, wies einen Anteil von sieben Prozent Tschechen - rund 103 000 Personen - in Wien aus. Nur 47 Prozent der Wiener, so eine Erkenntnis aus den Zählungsergebnissen, waren auch tatsächlich bereits in Wien geboren worden. Vierzehn Prozent, mehr als 235 000 Menschen, gaben einen böhmischen Geburtsort an. Die tschechischen Zuwanderer konnten sich oftmals sehr schnell als Handwerker und Kleinunternehmer etablieren: „Das Haus gehört dem Pospisil, jenes gehört dem Kratochvil und beide haut der Navratil", lautete ein im Wien der 1880er Jahre zu hörender Liedtext mit - noch gutmütigem - Spott. Ein zunehmend gesteigertes Selbstbewußtsein war unter den Wiener Tschechen zu finden, für dessen weitere Entwicklung der 1872 gegründete Komenskv-Schul verein mitverantwortlich zeichnete. Es galt als ungeschriebenes Gesetz, daß alle tschechischen Vereine, ungeachtet ihrer weltanschaulichen oder politischen Ausrichtung, diesen finanziell zu unterstützen hatten. Von deutscher Seite wurde daher immer häufiger die Befürchtung geäußert, daß Wien zu einem zweiten „Konstantinopel" werden könnte: Jüdische Dekadenz" in Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft, slawischtschechische Vormachtstellung im Wirtschaftsleben und bei den Beamten - dies war das Material für die Alpträume des deutschnationalen Kleinbürgertums. Nach 1900 verringerte sich die tschechische Zuwanderung allmählich, da sich die wirtschaftliche Entwicklung in Böhmen in diesen Jahren wesentlich verbesserte. Gleichzeitig verstärkte sich aber die Tätigkeit nationaler tschechischer Vereine in Wien, zeigte die tschechische Presse in Böhmen ein vermehrtes Interesse an der Lage der Konnationalen in der Residenzstadt: Es wäre geradezu ungeheuerlich, daß tschechische Handwerksgesellen oder Dienstmädchen bei der Volkszählung als Umgangssprache „deutsch" anzugeben hätten, so einer der tschechischen Vorwürfe. Der „nationale Schutzgedanke" schaukelte sich auf beiden Seiten, bei den Deutschen und bei den Tschechen, vor der Volkszählung 1910 immer mehr auf. In einer Entscheidung des Reichsgerichts vom 19. Oktober 1904 wurde bezüglich der Feststellung der Umgangs- sprache beispielsweise erklart, daß der „böhmische Volksstamm" nicht in Niederöstereich beheimatet sei und auch in Wien der „böhmischen Sprache der Charakter einer in Wien landesüblichen Sprache nicht beigelegt werden kann". Je näher man der Volkszählung kam, desto hitziger wurden die Diskussionen um die Verwendung des Tschechischen. Deutsche Hausbesitzer wurden sogar aufgefordert, 1 lauspai'teien. die sieh im öffentlichen Leben durchaus des Deutschen bedienten, bei der Zählung allerdings „gegen Wahrheit und Gesetz" das Tschechische als Umgangssprache eintrugen, die Wohnung aufzukündigen. Es kam zu Wirtschartsboykottmaßnahmen von beiden Seiten, „Svuj k svemu" - jeder halte zu den Seinen, lautete dabei die tschechische Losung. Der bei den Tschechen trotzdem so erfolgreich verlaufende Assimilationsprozeß stellte vielfach aber nicht nur das Ergebnis von .Anpassung im ökonomischen Bereich dar, sondern entsprang auch der Wertschätzung der deutschen Kultur. Diese Hinneigung wurde den Tschechen aber nicht leichtgemacht. Die Wählinger Bezirksvertretung erhob in einem Antrag vom 27. Jänner 1911 die Forderung, daß Bedienstete der Gemeinde Wien, die bei der letzten \blkszählung tschechisch als Umgangssprache angegeben hatten, sofort zu entlassen wären; die Gemeinde Wien sollte nur deutsche Beamte anstellen, nur deutsche Arbeiter beschäftigen, ja sogar Kostkinder des Magistrats sollten nur deutschen Familien zur Pflege übergeben werden. Es waren tjar nicht so sehr die Gra- „Fünfkreuzertaiiz im ii "teuer Pniter Satirische Bildpostkarte. Um 1901) ISI Die Tschechen Die Tschi < hen Oben: „Das Joba fest auf der Karlsbrücke zu Prag". Holzschnitt von Josef Douha. Aus: Die österre ichisch-unga-riscbt Monarchie m Wort und Bild: Böhmen (/. Band). Wien 1994 enkämpfe der „großen Politik", die das Zusammenleben vergifteten, die kleinen Bosheiten und Gemeinheiten des .Alltages waren es vielmehr, die das Miteinander immer mehr erschwerten und schließlich sogar dazu führten, daß der Ausbruch des Kriegs als „Befreiung" erlebt wurde. Das „gewaltige Erlebnis" Krieg sollte dazu führen, daß all der kleinliche Hader und Zank zwischen den Nationalitäten endete und sich die Yölkerfamilie geeint hinter dem Herrscherthron scharte - jeder dem anderem Schutz und Schirm in dieser „großen", wenngleich schweren Zeit. Diese Wünschvorstellung sollte allerdings nicht in Erfüllung gehen. Die tschechischen Parteien im Königreich Böhmen, wie etwa die sich am Kleinbürgertum orientierenden Jungtschechen und die liberalen, klerikalen Alttschechen, waren sich lange vor 1914 einig gewesen, daß sie einen böhmischen Staat mit tschechischer Staatssprache wollten; der Ausgleich mit L ngarn war dafür das Modell. Diesbezügliche Vus-gleichsgesp räche scheiterten jedoch immer wieder, konnte man sich doch beispielsweise nicht darauf einigen, wie die Gerichtssprengel aufzuteilen wären. Die Tschechen suchten daher in Rußland, aber auch in Frankreich Verbündete. 1891 besuchte Franz Joseph die Landesausstellung in Prag, eine Leistungsschau von Wirtschaft und Kultur, an der die Deutschböhmen die Teilnahme verweigert hatten. Im selben Jahr faßte das Prager Stadtparlament den Beschluß, deutsche Geschäfts- und Straßenschilder entfernen zu lassen, was zu heftigen Auseinandersetzungen vor allem mit der deutschen Studentenschaft führte. Der Ausnahmezustand beherrschte die Stadt. Die Sprachverordnung von Ministerpräsident Kasimir Grat Badeni aus dem Jahr 1897 über die Gleichstellung des Deutschen und Tschechischen im inneren und äuße ren Dienstverkehr trug noch zur Verhärtung der Standpunkte bei und führte erst recht zur Obstruktion von seiten der Deutschen. Das Organ der „Deutschen 2*r*tf; Volkspartei" in Graz, das „Grazer Tagblatt", sah gar die „raubgierige russophile Fratze in das deutsche Heim" lugen; im Reichsrat kam es zu Handgreiflichkeiten. Der umstrittene Paragraph 14, der Notverordnungsparagraph, trat in Kraft, der Reichstag wurde geschlossen. Für die Juden in Böhmen bedeuteten diese Streitigkeiten letztlich die Entscheidung zwischen dem Deutsch- und dem Tschechentum. Da die Juden der Monarchie traditionellerweise dem Deutschtum nahestanden, sprachen sich viele von ihnen, vor allem in Prag, für die deutsche Seite aus, was wiederum zu antisemitischen Attacken führte. Unter den Völkern Europas, die vor 1914 ohne einen eigenen Nationalstaat lebten, waren die Tschechen wohl dasjenige mit der am meisten ausgebildeten und differenziertesten Sozialstruktur. Der geistige Anschluß an Westeuropa war durch Wissenschaftler und Künstler längst vollzogen worden. Mit dem Kriegsausbruch übernahmen dann im Ausland lebende Intellektuelle und Politiker die Führung des nationalen Lebens, wobei auch mit slowakischen Emigranten in den Vereinigten Staaten enge Beziehungen bestanden. Ein beträchtlicher Teil der tschechischen Bevölkerung bejahte - bei aller Kritik - aber weiterhin die Staatsform der Monarchie. Der Kriegsverlauf sollte deren Weiterbestand aber als zunehmend unrealistisch erscheinen lassen; tschechische Truppenteile liefen zum Gegner über. Tomáš G. Masaryk schloß am 30. Mai 1918 in den USA den „Pittsburgher Vertrag" mit slowakischen Vertretern über eine künftige Vereinigung beider Völker in einem Staat. Der bereits 1916 in Paris von Masaryk und Edvard Beneš eingerichtete tschechoslowakische Nationalrat erhielt von den Ententemächten am 28. September 1918 die Anerkennung als vorläufige Regierung, am 28.Oktober erfolgte dann die Proklamation des unabhängigen tschechoslowakischen Staats in Prag. Die Nationalitätenfrage sollte allerdings weiterhin ungelöst bleiben: In Böhmen wandten sich die zur nationalen Minderheit gewordenen Deutschen, im ehemaligen Oberungarn die Magyaren gegen die Prager Regierung. Auch im neuen Gewand des unabhängigen Staates sollten die alten Nationalitätenkonflikte, die Streitigkeiten um die jeweilige .Amts- und Schulsprache, um politische Autonomie und mehr Mitspracherecht, weiterhin bestehen bleiben. IS3 Unis: Blich auf den Pulveniinii in Prag. Photographie. 1900 Gegenüber: Lnten: Der Weuzeh-platz in Prag. Photographie. L ni 1900 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufaahme Heuberger, Valeria Unter dem Doppeladler : Die Nationalitäten der Habsburger-Monarchie 1848 - 1918 / Valeria Heuberger. - Wen : Brandstätter, 1997 ISBN 3-85447-685-X 1. Auflage 1997 Die graphische Gestaltung und der Entwurf des Schutzumschlages (unter Verwendung von kolorierten Lithographien von Moritz von Schwind und Matthäus Loder aus „Trentsenskys Völkertrachten", Wien 1822/25) stammen von Christian Brandstätter. Das Lektorat des Texts erfolgte durch Helga Sieche, das der Bildlegenden durch Michael Neugehauer. Die technische Herstellung besorgte Josef Embacher. Die Reproduktion der Abbildungen erfolgte bei Grafo in Wien, Druck und Bindung bei Theiss Druck in Wolfsberg. Die Abbildung auf Seite 1 zeigt das mittlere gemeinsame Wappen Osterreich-Ungarns, die auf Seite 2 den Doppeladler mit den Wappen der Kronländer aus demjahr 1915. Bildquellennachweis: Austrian Archives/Dr. Christian Brandstätter, Wien: Seite 1, 2, 6, 7 o., 10, 11, 12 u., 14, 15, 18 o., 22, 23, 25, 26, 28 u., 29 o., 31 o., 38/39 u., 39 o., 42, 44, 45, 47, 48 u., 49, 52 1., 56, 57, 61 o., 63 o., 68 u., 70, 72, 73, 76, 91, 155, 173, 180, 182 u., 194 u., 195. Bildarchiv Verlag Christian Brandstätter: Seite 7 u., 8/9, 12 o., 13, 16, 17, 18 u., 19-21, 24, 27, 28 o., 29 u., 30, 31 u., 32-37, 38 o., 40, 41, 43,46, 48 o., 50, 51, 52 r„ 53, 55, 58-60, 61 u., 63 u., 64-67, 68 o., 69, 71, 74, 75, 77-85, 86 o. und M., 87 , 88/89, 89 o., 90, 92 u., 93, 94, 96-104, 106-144, 146-149, 151 u., 153, 154, 156-172, 174-79, 181, 182 o., 183-193, 194 o., 196-202. Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien: Seite 92 o., 105, 145, 150, 151 o. Dr. Valeria Heuberger: Seite 62, 86 u.; Hein/. Urning. Wien: Seite 54, 95. Der Verlag dankt Dir. Mag. I lerwig W'ürtz von der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Dr. Hansjörg Krug vom Wiener .Antiquariat Christian M. Nebehay und Detlef I lihner, München, für die Unterstützung bei der Bildrecherche. Copyright © 1997 bv Verlag Christian Brandstätter, Wien - München Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Abdrucks oder der Reproduktion einer Abbildung, sind vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Verlages ist unzulässig. Dies gilt insbesondere für \ ervieltaltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. ISBN 3-85447-685-X Christian Brandstätter Verlagsgesellschaft m. b. 11. A-1080 Wien, Wickenburggasse 26 Telephon (+43-1) 40838 14, Telefax (+43-1) 4087200 e-mail: hooks@chv.co.at rn„.l U 'S 1 Übersichtskarte ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHEN MONARCHIE ^ mit den Grenzen für den politischen nnd| gerichtlichen Verwaltungsdienst- Maßstab 1 : 4,000.000. ftp_100_100_100 Km. 2_e i fit * Umhin!* V,,/^ ^ftjl "^"V.V / P ..••-Xí&-^£lÍ, n 'ff,,,,,,/c4- VatÄ/ 1 Ztt/fp/tu Monarchiegrenze Oberlandesgerichtsgrenze (»I Österreich) ■= Landesgrenze ... Gerichlslafehjrenze t=-. Uionlandsqrenze ~. /l mtssitz des Ober-Statthalferei- oder landesgerichtes Landesregierung*' ® Amissitz der Gerichts-sitz tafel In Wien, Budapest, Agitun der Oberste Gerichts-und Cauatlonshof. L Adriane««