Pierre Bourdieu Die Regeln der Kunst Genese und Struktur des literarischen Feldes Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer Im 19. Jahrhunden hat sich ein literarisches Feld herausgebildet, in dessen Zentrum die Vorstellung einer Autonomie von Text und Autor steht. Am Beispiel des Werkes von Flaubert rekonstruiert Pierre Bourdieu dessen soziale Genese und Struktur. Indem er die Regeln der Kunst freilegt und die Logik ans Licht bringt, der die Autoren und die literarischen Institutionen folgen und die sich in sublimierter Form in den Werken ausdrückt, löst Bourdieu die Illusion von der Allmacht des schöpferischen Genies auf. Zugleich legt er die Grundlagen für eine »Wissenschaft der Werke«, deren Gegenstand die materielle Produktion eines Werkes sowie die Produktion seines Wertes ist. Pierre Bourdieu (1930-2002), war Professor für Soziologie am College de France. 1997 erhielt er den Ernst-Bloch-Preis der Stadt Ludwigshafen. Zuletzt erschienen: Reflexive Anthropologie (1996, zus. mit Loi'c J. D. Wacquant); Über das Fernsehen (1998, es 2054); Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernuft (2001); Über Pierre Bourdieu (2002, es Sonderdruck). \ Suhrkamp Titel der Originalausgabe: Les regies de Van. Genese et structure du chimp littéraire © 199a Editions du Scuil, Paris Veröffentlicht mit Unterstützung des französischen Ministeriums für Kultur -Centre national du Ii vre und der Maison des Sciences de l'homme, Paris Inhalt Vorwort PROLOG JAJ Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatcnsacz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 15)9 Erste Auflage 2001 O Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1999 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Ubersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printcd in Germany Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt 1 j 4 s 6 7 - 07 06 oj 04 oj 01 Flaubert als Analytiker Flauberts. Eine Lektüre der Erziehung des Herzens ............. 19 Plätze, Plazierungen, Deplazicrungen ............. 20 Die Frage des Erbes ............................ 29 Die notwendigen Zufälle ........................ 47 Die Macht des Schreibens ....................... 54 Die Formel Flauberts ........................... 61 Anhang i: Die Erziehung des Herzens: eine Zusammenfassung.............................. 70 Anhang 2: Vier Lesarten der Erziehung des Herzens . 72 Anhang 3: Das Paris der Erziehung des Herzens .... 75 ERSTER TEIL DREI ENTWICKLUNGSSTUFEN DES FELDES Die Eroberung der Autonomie. Die kritische Phase der Entstehung des Feldes ....................... 83 Eine strukturelle Unterordnung .................. 84 Die Boheme und die Erfindung einer Lebenskunst .. 93 Der Bruch mit dem »Bourgeois«.................. 98 Baudelaire als Gesetzgeber....................... 103 Die ersten Ordnungsrufe ........................ 114 Eine aufzubauende Position ..................... 118 Der zweifache Bruch ........................... 127 Eine verkehrte ökonomische Welt ................ 134 Positionen und Dispositionen.................... 140 Der Standpunkt Flauberts ....................... 144 Flaubert und der »Realismus« .................... 150 »Das Mittelmäßige gut (be)schreiben* ............. 157 Zurück zur Erziehung des Herzens ............... 166 Formgebung................................... 170 Die Erfindung der »reinen« Ästhetik.............. 174 Die ethischen Voraussetzungen der ästhetischen Revolution .................................... 181 2. Die Entstehung einer dualistischen Struktur........ 187 Die Besonderheiten der Gattungen................ 187 Ausdiffercnzicrung der Gattungen und Vereinheitlichung des Feldes ..................... 193 Kunst und Geld................................ 198 Die Dialektik der Distinktion .................... 205 Spezifische Revolutionen und externe Wandlungsprozesse ...................................... 207 Die Erfindung des Intellektuellen................. 209 Austauschbeziehungen zwischen Malern und Schriftstellern.................................. 214 Für die Form .................................. 223 3. Der Markt der symbolischen Güter ............... 227 Zwei ökonomische Logiken ..................... 228 Zwei Modi des Alterns.......................... 235 Epoche machen ................................ 249 Die Logik des Wandels.......................... 257 Homologien und der Effekt der prästabilierten Harmonie .................................... 259 Die Produktion des Glaubens .................... 270 ZWEITER TEIL GRUNDLAGEN EINER WISSENSCHAFT VON DEN KULTURPRODUKTEN 1. Methodenfragen ............................... 283 Ein neuer wissenschaftlicher Geist ................ 284 Literarische doxa und Widerstand gegen Objektivierung ................................ 295 Der »ursprüngliche Entwurf«, ein Gründermythos . . 299 Der Blick des Thersites und der falsche Bruch ...... 306 Der Raum der Standpunkte...................... 309 Die Überwindung der Alternativen ............... 328 Das Subjekt der Objektivierung objektivieren ...... 330 Anhang: Der totale Intellektuelle und die Illusion der Allmacht des Denkens .......................... 333 2. Der Standpunkt des Autors. Einige allgemeine Merkmale der Felder kultureller Produktion ....... 340 Das literarische Feld im Feld der Macht............ 341 Der nomos und die Frage der Grenzen............. 3 53 Die illusio und das Kunstwerk als Fetisch .......... 360 Position, Disposition und Positionierung .......... 365 Der Raum des Möglichen........................ 371 Struktur und Wandel: interne Kämpfe und permanente Revolution ......................... 379 Reflexivität und »Naivität« ...................... 384 Angebot und Nachfrage......................... 395 Interne Kämpfe und externe Sanktionen ........... 400 Die Begegnung zweier Geschichten ............... 4°i Die konstruierte Laufbahn....................... 4°9 Der Habitus und die Möglichkeiten............... 413 Die Dialektik von Positionen und Dispositionen---- 419 Bildung und Auflösung von Gruppen ............. 422 Eine institutionelle Transzendenz................. 427 »Ruchlos die Fiktion zu demontieren« ............ 433 Anhang: Feldeffekt und Spielarten des Konservatismus................................ 439 1 DRITTER TEIL DAS VERSTEHEN VERSTEHEN Vorwort 1. Die historische Genese der reinen Ästhetik ......... 449 Die Wesensanalyse und die Illusion des Absoluten .. 450 Dieh istonsche Anamnese und die Wiederkehr des Verdrängten ................................... 456 Die historischen Kategorien der künstlerischen Wahrnehmung................................. 463 Die Voraussetzungen der reinen Lektüre........... 472 Das Elend des Ahistorismus ..................... 480 Die doppelte Historisierung ..................... 485 2. Die soziale Genese des Blicks..................... 490 Der Blick des Quattrocento...................... 493 Die Grundlage der charismatischen Illusion ........ 499 3. Eine Theorie des Lesens in actu ................... 502 Ein reflektierender Roman....................... 504 Zeit der Lektüre und Lektüre der Zeit............. $08 DA CAPO Illu sion und illusio ................................ 515 POSTSCRIPTUM Für einen Korporatismus des Universellen............ 523 Personenregister.................................. J36 Begriffsregister ................................... 547 Engel. Macht sich gut in der Liebe und in der Literatur. Gustave Flaubert Alles sceht nicht im Buch der Schwachheiten. Grund zur Hoffnung. Raymond Qucncau »Sollen wir es zulassen, daß die Sozialwissenschaften die literarische Erfahrung, diese mit der Liebe höchste des Menschen, auf Umfragen zu unserem Freizeitverhalten verkürzen, wo es dabei doch um den Sinn unseres Lebens geht?«1 Eine solche Phrase, einem jener unzähligen zeit- und autorlosen Plädoyers für das Lesen wie für Kultur und Bildung entnommen, hätte mit Sicherheit Flaubert jenen grimmigen Aufschrei entlockt, wie es gefällige Gemeinplätze bei ihm immer taten. Und was bleibt einem da noch zu sagen, angesichts solch schiefer »Topoi« des akademischen Kults des Buches oder jener heideggerianisch-hölderlin-schen Offenbarungen, würdig, in die »Blütenlese ä la Bouvard und Pecuchet« (ein Ausdruck Queneaus) aufgenommen zu werden, wie etwa: »Lesen, das bedeutet zunächst einmal, sich von sich selbst und von seiner Welt zu lösen«2; »ohne Bücher könnten wir gar nicht mehr leben«}; »in der Literatur offenbart sich das Wesen unmittelbar, es ist mit seiner Wahrheit gegeben, in seiner Wahrheit, als die Wahrheit selbst des sich entbergenden Seins«4? Schien es mir zu Anfang notwendig, einige dieser trüben Topoi über Kunst und Leben, das Einzigartige und das Gewöhnliche, Literatur und Wissenschaft, die (Sozial-)Wissenschaften, die zwar Gesetzmäßigkeiten aufstellen können, denen dabei aber die »Einzigartigkeit der Erfahrung« abhanden kommt, und die Lite- 1 D. Sallenave, Le Don des morts, Paris: Gallimard 1991, passim. 1 Ebd. 3 Ebd. 4 Ebd. 9 Flauben als Analytiker Flauberts Eine Lektüre der Erziehung des Herzens Man schreibt nicht, was man will. Gustave Flaubert Die Erziehung des Herzens, dieses tausendmal kommentierte und vermutlich nie wirklich gelesene Werk, liefert alle erforderlichen Instrumente zu seiner eigenen soziologischen Analyse1: Die Struktur des Werks, die eine strikt immanente Lektüre offenlegt, das heißt die Struktur des sozialen Raums, in dem sich die Abenteuer Frederics abspielen, erweist sich auch als die Struktur des sozialen Raums, in dem der Autor des Werks selbst situiert war. Hier mag der Einwand aufkommen, es sei der Soziologe selbst, der durch Projektion seiner Fragen Flaubert zum Soziologen macht, zu einem Soziologen überdies, der auch noch eine Soziologie Flauberts anzubieten vermag. Und gerade der Beweis, den er mit der Konstruktion des Modells der dem Werk immanenten Struktur zu liefern sucht, mit dem sich die gesamte Geschichte Frederics und seiner Freunde nachschaffen, folglich in ihrer Grundlage verstehen läßt, droht als Gipfel szientistischer Maßlosigkeit zu erscheinen. Das Erstaunlichste ist freilich, daß diese Struktur, die, einmal dargelegt, sich als nachgerade evident aufzwingt, selbst den aufmerksamsten Interpreten entgangen ist.2 1 Damit der Leser der hier vorgeschlagenen Analyse leichter folgen und ihre Geltung im Vergleich mit anderen Lesarten abwägen kann, sind in mehreren Anhängen am Schluß dieses Kapitels eine Zusammenfassung der Erziehung des Herzens und einige klassische Interpretationen dieses Werks wiedergegeben. 2 So erfährt man etwa nicht ohne eine gewisse Schadenfreude durch Lucien Goldmann, daß Lukäcs in der Erziehung des Herzens einen auf das Innenleben des Helden konzentrierten (weniger soziologischen als) psychologischen Roman sah (vgl. Lucien Goldmann, Soziologie des Romans. Übersetzt von Lucien Goldmann und Ingeborg Fleischhauer, Neuwied und Berlin: Luchterhand, 1970, S. 19). 19 Was uns nötigt, in etwas weniger herkömmlichen Begriffen das Problem des »Realismus« und des »Referenten« des literarischen Diskurses aufzuwerfen. Was ist denn tatsächlich dieser Diskurs, der von der (sozialen oder psychologischen) Welt spricht, aber in einer Weise, als würde er nicht von ihr sprechen; der von dieser Welt nur sprechen kann, wenn er so spricht, als spräche er nicht darüber, das heißt in einer Form, die für den Autor wie den Leser eine Verneinung (dt. im Original,) - im Freudschen Sinn - dessen vollzieht, was er zum Ausdruck bringt? Und muß man sich nicht fragen, ob nicht die Arbeit an der Form genau das ist, was die partielle Anamnese tiefsitzender und verdrängter Strukturen ermöglicht, ob, mit anderen Worten, selbst der dem Formexperiment huldigende Schriftsteller - wie Flaubert und viele andere nach ihm - unwillkürlich als Medium von (sozialen oder psychologischen) Strukturen wirkt, die durch ihn und seine Arbeit an den induzierenden Wörtern, gleichsam elektrische »Leiter«, aber auch mehr oder minder undurchdringliche Filter, zur Objektivierung kommen? Doch die Analyse des künstlerischen Werks zwingt nicht nur, diese Fragen zu stellen und gewissermaßen situativ zu prüfen; sie sollte auch erlauben, Eigenschaften des literarischen Diskurses, wie die Fähigkeit, im Akt des Aufdeckens zugleich zu verdecken oder einen entrealisierenden »Realitätseffekt« hervorzubringen, zu nutzen, um behutsam, mit Flauben als Sozioanalytiker Flauberts, in eine Sozioanalyse Flauberts und der Literatur einzuführen. Plätze, Plazierungen, Deplazierungen Dieser »junge Mann von 18 Jahren, mit langem Haar«, »vor kurzem Baccalaureus geworden«, »den seine Mutter, mit dem notwendigsten Geld ausgerüstet, nach Le Havre zum Besuch eines Onkels geschickt hatte, dessen Erbschaft sie für ihren Sohn erhoffte«, dieser Jüngling aus bürgerlichem Hause also, der »an den Entwurf eines Dramas, an Vorwürfe zu Gemälden, an künftige Leidenschaften« denkt, ist an dem Punkt der Karriere angelangt, von dem aus sich mit einem Blick die Gesamtheit der Machttitcl und Möglichkeiten, die sich ihm bieten, sowie die 20 .1 Wege, die dahin führen, erfassen lassen. Frederic Moreau ist ein unbestimmtes und unentschlossenes Wesen oder, noch besser: objektiv wie subjektiv zur Unbestimmtheit und Unentschlos-senheit bestimmt. In die Freiheit versetzt, die ihm seine Lage als Rentier gewährleistet, ist er bis in seine innersten Gefühle hinein, deren Subjekt er doch zu sein scheint, den Schwankungen seiner finanziellen Investitionen unterworfen; sie geben seinen aufeinanderfolgenden Entscheidungen Richtung und Ziel.3 Die Gleichgültigkeit, die er zuweilen den gewöhnlichen Gegenständen des bürgerlichen Ehrgeizes gegenüber an den Tag legt4, ist lediglich ein sekundärer Effekt seiner idealisierten Liebe zu Madame Arnoux, eine imaginäre Stütze gleichsam seiner Unbestimmtheit und Unentschlossenhcit: »Was habe ich denn sonst auf der Welt zu suchen? Die anderen wenden alle ihre Kräfte an Reichtum, Ruhm und Macht. Ich habe keinen Beruf. Sie [das heißt Mme. Arnoux] sind meine einzige Beschäftigung, mein ganzes Glück, das Ziel und der Mittelpunkt meines Daseins und meiner Gedanken.«5 Seine von Zeit zu Zeit bekundeten künstlerischen Interessen wiederum sind weder beständig noch in sich stimmig genug, als daß sie einem höheren, den gewöhnlichen Ambitionen positiv entgegenwirkenden Anspruch als Ansporn 3 Das Vermögen ist lange Zeit in seiner Mutter verkörpert: »Mutter Moreau hatte die ehrgeizigsten Pläne für ihren Sohn«; sie erinnert ihn denn auch beständig an die zur Wahrung seiner Stellung notwendigen Strategien (zumal Heiratsstrategien). [Im folgenden wird nach der im Diogenes Verlag 1979 erschienenen Taschenbuchausgabe Die Erziehung des Herzens zitiert {EdH; gegebenenfalls Seitenzahlen in Klammern). In Einzelfällen waren Änderungen an der deutschen Übersetzung von E. A. Reinhardt notwendig. A.d.Ü.] 4 Er erhebt »Einspruch«, als Deslauricrs ihm - unter Hinweis auf Ra-stignac - zynisch die Strategien zum sicheren Aufstieg ausmalt: »Mach dich so zurecht, daß du ihm gefällst und auch seiner Frau -Werde ihr Liebhaber!« (30) »Verächtlich« blickt er auf die anderen Studenten und deren gewöhnliche Sorgen und Beschäftigungen (38); seine Verachtung wie seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Erfolg der Dummen speist sich aus »Ansprüchen«, die »viel höher gerichtet« sind (89). Ohne Bitterkeit oder Empörung malt er sich dagegen die Zukunft eines Anwalts oder parlamentarischen Redners aus 5 EdH,S.}6t. 21 dienen könnten: Frédéric, der beim ersten Auftreten »an den Entwurf eines Dramas, an Vorwürfe zu Gemälden« denkt, der ein andermal »Symphonien erträumt«, »malen will« und Gedichte verfaßt, beginnt eines Tages »einen Roman mit dem Titel Sylvio, der Sohn des Fischers zu schreiben«, worin er sich gemeinsam mit Mme. Arnoux in Szene setzt; dann wieder mietet er »ein Klavier und komponiert deutsche Walzer«; entscheidet sich schließlich erneut für die Malerei, da sie ihn Mme. Arnoux nahebringt; um am Ende wieder beim Ehrgeiz zu schreiben zu landen, diesmal eine »Geschichte der Renaissance«.6 Frédérics gesamte Existenz, wie das Universum des Romans überhaupt, ist um zwei Pole aufgebaut, verkörpert in den Arnoux und den Dambreuse: auf der einen Seite »Kunst und Politik«, auf der anderen »Politik und Geschäft«. Am Schnittpunkt beider Welten, zumindest am Anfang, das heißt vor der Revolution von 1848, befindet sich neben Frédéric selber nur noch »Vater Oudry«, häufiger Gast der Arnoux, allerdings als Nachbar. Die Bezugspersonen, insbesondere Arnoux und Dambreuse, fungieren als Symbole zur Kennzeichnung und Repräsentation der relevanten Positionen des sozialen Feldes, es sind keine »Charaktere« aus dem Geiste La Bruyeres, wie Thibaudet glaubt, vielmehr Symbole einer jeweiligen sozialen Position (die Arbeit des Schreibens schafft derart ein Universum voller signifikanter Einzelheiten und damit signifikanter als in natura; davon zeugt auch die Fülle an analytisch relevanten Hinweisen7). So gewinnen etwa die diversen Empfänge und Treffen eine im- 6 EdH, S. 11, 27, 39, 40, 252. 7 Um zu belegen, bis zu welchem Grad an Präzision Flaubert die Suche nach relevanten Details treibt, sei die von Yves Levy vorgelegte Analyse des Wappens der Dambreuse zitiert: »Der linke Arm (von der rechten Seite des Schilds sich bewegend) ist ein sehener Bestandteil eines Wappens und kann als minder vornehme Form des rechten Arms (sich von der linken Seite bewegende Arm des Wappens) angeschen werden. Die Wahl dieses Stücks, seine geschlossene Faust, sowie die Wahl der Glasuren (Sand des Untergrunds, Gold des Arms und Silber des Handschuhs) und die so sprechende Devise (>auf alle Wegc<) verweisen auf die Absicht Flauberts, seiner Figur ein aussagekräftiges Wappen zu geben; dies ist kein Wappen eines Edelmanns, sondern eines Ausbeuters.« manente und diskriminierende Bedeutung anhand der dort angebotenen Getränke: vom Bier Deslauriers über die »auserlesenen Weine« der Arnoux, Liebfrauenmilch und Tokajer, und dem Champagner Rosanettes, bis zu den »großen Bordeaux-Weinen« der Dambreuse. Vermittels der Fülle von Hinweisen, die Flaubert liefert, wie der verschiedenen »Kreise«, die durch gesellschaftliche Praktiken der Kooptation wie Empfänge, Abendgesellschaften und Freundestreffen gezogen werden (vgl. Abbildung 1), läßt sich der soziale Raum der Erziehung des Herzens konstruieren und können die Positionen darin ausgemacht werden. Bei den drei Zusammenkünften und Abendessen der Arnoux8 treffen sich, neben den Stützen der Industriellen Kunst, Hussonnct, Pellerin, Regimbart und - beim ersten - Mademoiselle Vatnaz, dann Stammgäste wie Dittmer und Burrieu, beide Maler, der Komponist Rosenwald, der Karikaturist Sombaz, der »Mystiker« Lovarias (zweimal anwesend), schließlich Gelegenheitsgästc wie der Porträtist Antenor Braive, der Dichter Theophile Lorris, der Bildhauer Vourdat, der Maler Pierre-Paul Meinsius - dazu kommen, bei einem der Essen, ein Anwalt, ein gewisser Maitre Lefaucheux, zwei Kunstkritiker, Freunde von Husson-net, ein Papierfabrikant und »Vater Oudry«). Auf der anderen Seite die Empfänge und Abenddiners der Dambreuse9, die beiden ersten von den anderen getrennt durch die Revolution von 1848; hier finden wir, neben Persönlichkeiten, deren Schilderung allgemein gehalten ist, einen ehemaligen Minister, den Pfarrer einer stattlichen Gemeinde, zwei hohe Regicrungsbeamte, »Gutsbesitzer« und Persönlichkeiten aus Kunst, Wissenschaft und Politik (»Den großen Monsieur A., den berühmten B., den gelehrten C., den redegewahigen Z., den mächtigen Y., die alten Tenöre des linken Zentrums, die Paladine der Rechten, die Burggrafen der Mittelpartci«), den Diplomaten Paul de Gremonville, den Industriellen Fumichon, die Frau des Präfckten, Mme. de Larsillois, die Duchcssc de Montreuil, Monsieur de Nonen-court und schließlich, außer Frederic, Martinon, Cisy, Monsieur Roque samt Tochter. Nach 1848 begegnet man bei den Dambreuse auch Monsieur und Madame Arnoux, Hussonnct und Pellerin, beide konvertiert, endlich auch Deslauriers, der, durch Frederic eingeführt, bei Monsieur Dambreuse in Diensten steht. Auf den zwei Empfängen von Rosanette - der erste zu Zeiten ihrer 8 EdH, S. 50, 67. 9 EdH.S. 213, 319,458, 489. 22 23 Liaison mit Arnoux10, der zweite gegen Schluß des Romans, als sie plant, Frederic zu heiraten11 - treten auf: Schauspielerinnen, der Schauspieler Dclmar, Mlle. Vatnaz, Frederic und einige seiner Freunde, Pelle-rin, Hussonnct, Arnoux, Cisy, sowie, neben dem Comtc de Palazot, weitere Personen, die ebenfalls bei den Dambreuse anzutreffen sind, Paul de Gremonville, Fumichon, Monsieur de Nonencourt und Monsieur de Larsillois, dessen Frau regelmäßig Madame Dambreuses Salon besucht. Die Gäste Cisys sind, mit Ausnahme seines Hauslehrers und Frederics, allesamt adlig (Monsieur de Comaing, ebenfalls bei Rosanette anzutreffen, etc.)-12 Auf Frederics Treffen findet sich stets Deslauriers ein, und in seiner Begleitung Senccal, Dussardicr, Pellerin, Hussonnet, Cisy, Regimbart und Martinon (letztere beiden fehlen beim letzten Treffen).11 Bei Dussardicr schließlich versammeln sich Frederic und die kleinbürgerliche Fraktion seiner Freunde, Deslauriers, Senecal, sowie ein Architekt, ein Apotheker, ein Weinagent und ein Versicherungsangestellter.M Der Pol der politischen und ökonomischen Macht wird durch die Dambreuse markiert; sie bilden von Beginn an das oberste Ziel der politischen und amourösen Ambitionen (»Ein Mann, der Millionen hat, denk doch! Mach dich so zurecht, daß du ihm gefällst und auch seiner Frau«15). Ihr Salon empfängt »Männer und Frauen, die das Leben kannten«, das heißt die Geschäfte, unter völligem Ausschluß, zumindest vor 1848, von Künstlern und Journalisten. Die Gespräche sind ernsthaft, langweilig, konservativ: Eine Republik in Frankreich wird für unmöglich erklärt; den Journalisten soll der Mund gestopft werden; man will dezentralisieren, den Überschuß aus den Städten auf das Land verteilen; Laster und Bedürfnisse der »niederen Klassen« werden getadelt; man redet über Politik: Abstimmungen, Gesetzes- 10 EdH,S. 158. 11 EdH, S. 526. 12 EdH,S. 296. 13 EdH, S. 81, 122, 186. 14 EdH,S. 354. 15 EdH, S. 30. Die herausragende Position der Dambreuse wird daran kenntlich, daß sie sehr früh eingeführt werden, Frederic aber erst sehr spät Zugang zu ihnen findet. Zeitliche Distanz ist eine der unüberwindlichsten Übersetzungen von gesellschaftlicher Distanz. r R 3t -o C JJJ8J "Ja M e o E U C V SO ■ B E 2 -a -s Sl 9 I Sri1 =i Li; EU 5T O -S " C 4j o «J I z 0 z < s £ \ 2 "i S D < § i OSO w 5 o 2° t_l Ä W u § I J 9 ZL 3 ü tu Q eö gl ~f Iii w 3i E •S u Ö " »- _ p s 1 £ .5 I 5 I b -fi * £ s2 ^ w o * eö 3[ • - - £ ^ - 5 1 I . ü s * I 1 5 11 5 5 I '8 IJ j J OQ eo 10 > öS . — 2 D < UJ Q X u w a Q H O - <3 H o P-. Q Z UJ u < w Ts 00 u n c E In rt «> C n vi Q £ 0 :c« :rt > ° i - « < Q c c -a -a ö '5 ja _a u II *—< t—1 (A VI antrage und Gegenvorschläge; formuliert seine Vorurteile gegen Künstler. Die Salons strotzen von Kunstgegenständen. Man speist vom Besten (Doraden, Reh, Krebse), trinkt die besten Weine, alles wird auf schönstem Silbergeschirr serviert. Nach dem Essen wird geplaudert; die Männer in stehender Runde unter sich; die Frauen sitzen im Hintergrund. Der Gegenpol wird durch keinen großen Künstler markiert, sei er revolutionär oder etabliert, sondern durch Arnoux: Als Gemäldehändler stellt er den Repräsentanten von Geld und Geschäft innerhalb der Kunstwelt dar. Flaubert ist in seinen Notizbüchern vollkommen eindeutig: Monsieur Moreau (so sollte Arnoux ursprünglich heißen) ist zunächst ein »Kunstindustrieller«, dann ein »reiner Industrieller«.16 Die Wortverbindung soll in der Bezeichnung seines Berufs wie im Titel seiner Zeitschrift, Industrielle Kunst, die doppelte Verneinung signalisieren, die der Formel dieses Doppelwesens - wie Frederic unbestimmt und unschlüssig und damit zwangsläufig zum Ruin verurteilt - eingeschrieben ist. Die Industrielle Kunst ist ein »neutraler Boden, auf dem allerlei Gegnerschaften sich gemütlich zusammenfanden«17, ein Ort, an dem Künstler mit gegensätzlichen Positionen im intellektuellen Feld sich treffen können: Anhänger des »art social«, das heißt gesellschaftlich engagierter Kunst, Verfechter des L'art-pour-l'art wie Schriftsteller, die bereits die Weihen des bürgerlichen Publikums empfangen hatten. Ihre Reden sind »ungezwungen«, das heißt willentlich obszön (»Frederic war erstaunt, wie zynisch all diese Männer waren«), immer paradox, ihr Benehmen ist »natürlich«, doch verschmähen sie keineswegs die »Pose«. Man ißt Exotisches und trinkt »auserlesene Weine«. Man entflammt sich für ästhetische und politische Theorien; ist links, eher republikanisch wie Arnoux oder sogar sozialistisch. Aber die Industrielle Kunst ist auch eine Kunstindustrie, die die Arbeit der Künstler deshalb ökonomisch auszubeuten vermag, weil sie die Produktion der Schriftsteller und Künstler durch deren Konsekration zu lenken in der Lage ist.18 16 M. J. Durry, Flaubert et ses Projets inedits, Paris: Nizet 1950, S. 155. 17 EdH, S. 51. 18 »[...] all das stand durch seine Beziehungen und seine Zeitschrift in seiner Macht. Die Farbenkleckser strebten danach, ihre Arbeiten in seinem Schaufenster zu sehen« (EdH, S. 59). 26 Arnoux ist in gewisser Weise wie geschaffen für die Funktion des Kunsthändlers: Der Erfolg seines Unternehmens ist nur gewährleistet durch die Kaschierung von dessen Wahrheitsgehalt, das heißt der Ausbeutung, mittels eines fortwährenden Doppelspiels zwischen Kunst und Geld.19 Dieses Doppelwesen, »Mischung von Geschäftstüchtigkeit und Harmlosigkeit«20, von berechnendem Geiz und Verrücktheit (im Sinne Madame Arnoux', aber auch Rosanettes21), das heißt von Extravaganz und Generosität so gut wie von Schamlosigkeit und Unschicklichkeit, kann die Vorteile der beiden gegensätzlichen Logiken, die der interesselosen Kunst, in der allein symbolische Gewinne zählen, und die des Geschäftes, in sich - zumindest für eine Weile - vereinen, weil seine tiefer als alle Falschheit reichende Doppelnatur es ihm erlaubt, die Künstler bei ihrem eigenen Spiel zu packen, dem der Interesselosigkeit und Uncigennützigkcit, des Vertrauens, des Edelmuts, der Freundschaft, um ihnen auf diese Weise den besseren Teil zu überlassen, die völlig symbolischen Gewinne dessen, was sie »Ruhm«22 nennen, sich selber dafür aber die ihrer Arbeit entnommenen materiellen Gewinne vorzubehalten. Als Geschäftsmann unter Menschen, die es sich schulden, ihr materielles Interesse nicht anzuerkennen, wenn denn überhaupt zu kennen, muß er den Künstlern zwangsläufig als Bürger und den Bürgern als Künstler erscheinen.23 Zwischen Boheme und »mondc« gelegen, rekrutiert sich die »demi-monde«, vertreten durch den Salon von Rosanette, gleichzeitig aus beiden gegensätzlichen Polen: »Die Salons der Kokotten (deren Bedeutung aus jener Zeit herstammt) waren 19 Der Raum der Industriellen Kunst »(glich) mehr einem Salon als einem Laden« (EdH, S. 34). 20 EdH, S. 531. 21 EdH, S. 199 und S. 231. 12 Pellerin, »der für Ruhm empfänglicher war als für Geld« und den Arnoux zuvor um eine Bestellung betrogen, wenig später jedoch in der Industriellen Kunst mit Lobeshymnen überhäuft hatte, eilt denn auch wieder, darum gebeten, zum Abendessen herbei. 23 »Das ist ein Vieh, ein Spießer, ein Schurke, ein Gauner!« wettert Pellerin (EdH, S. 61). Monsieur Dambrcuse wiederum warnt Frederic vor ihm: »Ich nehme doch an, daß Sic keine Geschäfte mit ihm machen« (EdH, S. 323). *7 neutraler Boden, auf dem die Reaktionäre der verschiedenen Richtungen einander begegneten.«24 Diese intermediäre und etwas anrüchige Welt wird von »unabhängigen Frauen« beherrscht, die von daher in der Lage sind, ihre Funktion als Mittler zwischen - schlechthin dominierenden - »Bürgern« und den -dominiert-dominierenden - »Künstlern« bis in die letzten Konsequenzen zu erfüllen (eine Rolle, die auch die legitime Gattin des »Bürgers«, als Frau Beherrschte unter Herrschenden, mittels ihres Salons, wenn auch auf andere Weise, zu spielen vermag). Häufig »unteren Klassen« entstammend, schaffen diese Luxus-»Mädchen« -die zuweilen auch, wie die Tänzerinnen und Schauspielerinnen oder wie die Vatnaz (halb ausgchaltene Frau, halb Litcratin), der Kunst frönen und die bezahlt werden, damit sie »frei, unabhängig, freizügig« sind - Freiheit und Freizügigkeit kraft ih rer Phantasie und Extravaganz (die Homologie mit der Boheme oder selbst etablierteren Schriftstellern wie Baudelaire oder Flaubert ist frappant: diese fragen sich zur selben Zeit nach dem Zusammenhang zwischen ihrer Rolle und der der »Prostituierten«). Alles, was anderswo, selbst bei Arnoux23, ganz zu schweigen vom Salon der Dambreuse, undenkbar wäre - bei ihnen ist alles erlaubt: Zoten, Witze, Prahlerei, »für wahr gehaltene Lügen, unwahrscheinliche Behauptungen«, ungebührliches Verhalten (»man warf einander über den Tisch Orangen und Korken zu, manche verließen ihren Platz, um mit jemandem zu plaudern«). Dieses Milieu, das »gefallen« mußte26, vereint die Vorteile der beiden gegensätzlichen Welten, bewahrt die Freiheit der einen und den Luxus der anderen - und ohne sich deren Nachteile zu eigen zu machen: Denn wie die einen hier ihr zwanghaftes Asketentum fallenlassen, so die anderen ihre Tugendmaske. Und so ist es durchaus ein »kleines Familienfest«, wie Hussonnet ironisch anmerkt27, zu dem die »Mädchen« sowohl die Künstler, in deren Kreisen sie manchmal ihre Herzensfreunde finden (hier Delmar), wie die Bürger, von denen sie ausgehalten werden (hier Oudry), zu Gast bitten. Freilich bleibt 24 EdH, S. 526. 25 »Im Augenblick, als die Liköre gereicht wurden, verschwand sie. Nun wurde die Unterhaltung sehr ungezwungen« [EdH, S. 69). 26 EdH, S. 162. 27 EdH, S. 172. 28 dieses verkehrte Familientreffcn, bei dem die Geld- und Verstandesliaison zur Pflege der Herzensbeziehung herhält, wie die Schwarze Messe auch, von dem beherrscht, was es negiert: Alle bürgerlichen Normen und Tugenden sind verbannt außer der einen, der Achtung vor dem Geld, die, wie anderenorts die Tugend, die Liebe zu hintertreiben vermag.28 Die Frage des Erbes Indem Flaubert derart die zwei Pole des Macht-Feldes einführt, ein regelrechtes Milieu im Sinne Newtons29, worin soziale Kräfte wirken, Kräfte der Anziehung und Abstoßung, die sich auf der Erscheinungsebene in Form psychologischer Motivationen, wie Liebe oder Ehrgeiz, bekunden, schafft er die Voraussetzungen einer Art soziologischen Experiments: Vier bzw. fünf heranwachsende Männer, darunter der Held, Frederic, auf Zeit zusammengeführt durch ihre gemeinsame Lage als Studenten, werden, Partikeln in einem Kräftcfcld gleich, in diesen Raum geworfen; ihre jeweilige Laufbahn bzw. ihr Werdegang wird dabei bestimmt durch das Verhältnis zwischen den Kräften des Feldes und ihrer je eigenen Trägheit. Diese Trägheit ist doppelt verankert: in ihren aufgrund ihrer Herkunft und ihres Werdegangs je unterschiedlichen Dispositionen, die eine Tendenz zur Beharrung in einer spezifischen Dascinsweisc auszeichnet, folglich ei- 28 Die herrschende Rangordnung, die des Geldes, bringt sich nicht nachdrücklicher in Erinnerung als bei Rosanette: Vor Arnoux rangiert Oudry (»Der ist reich, der alte Halunke«, EdH, S. 175), vor Frederic Arnoux. 29 Zum Gebrauch des Milieu-Begriffs - angefangen bei Newton, der das Won als solches nicht verwendet, über die Encyclopedie von d'Alembert und Diderot, wo er in seiner mechanistischen Bedeutung auftaucht, Lamarck, der ihn in die Biologie einführt, und Auguste Comte, der daraus eine Theorie macht, bis hin zu Balzac, durch den er 1842 Eingang in die Literatur findet (im Vorwort zur Comedie humaine), sowie Taine, der ihn zu einem der drei Er-klarungsprinzipien der Geschichte erhebt - vgl. den Artikel von Georges Canguilhem, »Le vivant et son milieu«, in: ders., La con-naissance de la vie, Paris: Vrin 1975, S. 129-154. *9 nen wahrscheinlichen Werdegang beinhaltet; sowie im ererbten Kapital, das beiträgt zur Definition der durch das Feld angebotenen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten.30 Als ein Feld potentieller Kräfte, die auf jeden eindringenden Körper wirken, bildet das Macht-Feld auch ein Kampffeld, eine Stätte der Auseinandersetzungen, und ist in diesem Sinne vergleichbar einem Spiel: Die Dispositionen, will heißen das Ensemble von inkorporierten Eigenschaften, einschließlich Eleganz, ungezwungenes Auftreten, ja selbst Schönheit, sowie das eigentliche Kapital in seiner dreifachen Ausprägung als ökonomisches, soziales und kulturelles, stellen gleichsam Trümpfe dar, die sowohl über die Art des Spiels als auch über den Erfolg dabei entscheiden, das heißt über den gesamten Prozeß des gesellschaftlichen Alterns, den Flaubert »Erziehung des Herzens« nennt. Als habe er den Kräften des Feldes eine Gruppe von Individuen aussetzen wollen, die in unterschiedlicher Kombination die in seinen Augen als Voraussetzung sozialen Erfolgs geltenden Fähigkeiten besitzen, die Trümpfe für ein erfolgreiches Dasein, »konstruiert« Flaubert also eine Gruppe von Heranwachsenden in der Weise, daß jeder mit jedem zusammenhängt und zugleich von jedem getrennt ist, anhand eines Ensembles von Ähnlichkeiten und Unterschieden, die mehr oder minder systematisch verteilt sind: Cisy ist sehr reich, von adliger Herkunft, verfügt über Beziehungen und vornehmes Auftreten (Schönheit?), ist dabei aber nicht übermäßig intelligent und von geringem Ehrgeiz; Deslauriers ist intelligent und von einem starken Willen zu gesellschaftlichem Erfolg beseelt, dabei aber arm, ohne Beziehungen und keine Schönheit; Martinon ist ziemlich reich, ziemlich schön (zumindest brüstet er sich damit), ziemlich intelligent und crfolgshungrig; Frédéric schließlich besitzt, wie es so schön heißt, alle Trümpfe auf seiner Seite: relativen Reichtum, Charme und Intelligenz - nur der Wille zum Erfolg fehlt. In diesem Spiel, dem Macht-Feld, geht es offenkundig um 30 Die Zukunft stellt sich faktisch als ein Bündel ungleich wahrscheinlicher Laufbahnen dar, mit einer Obergrenze - im Falle Frédé-rics etwa Minister und Geliebter Mme. Dambreuses - sowie einer Untergrenze - Kanzlist bei einem Provinznotar und verheiratet mit Mlle. Roque. Macht, die es zu erobern oder zu bewahren gilt. Die in das Spiel Eintretenden können sich in zweifacher Hinsicht unterscheiden: erstens unter dem Aspekt des zur Verfügung stehenden Erbes, das heißt der Trümpfe; zweitens unter dem der Einstellung des Erben zu diesem seinen Erbe, das heißt unter dem Aspekt des »Erfolgswillens«. Was bewirkt, daß ein Erbe bereit ist oder nicht, seine Erbschaft anzutreten? Was treibt ihn, das Erbe so zu belassen, wie es ist, oder es noch zu vermehren? Flaubert liefert einige Elemente zur Beantwortung dieser Frage, insbesondere in Hinblick auf Frederic. Die Beziehung zum Erbe wurzelt stets in der Beziehung zum Vater und zur Mutter, überdeterminierten Figuren, in denen psychische Komponenten (wie sie die Psychoanalyse beschreibt) eng mit den sozialen Komponenten (wie sie die Soziologie analysiert) verknüpft sind. Frederics Ambivalenz gegenüber seinem Erbe, Quelle seiner Ausflüchte, könnte nun begründet sein in der Ambivalenz gegenüber seiner Mutter, einer doppelten Person: weiblich, natürlich, aber auch männlich in ihrer Eigenschaft als Ersatz des verstorbenen Vaters, gewöhnlich der Träger des gesellschaftlichen Ehrgeizes. Als Witwe eines Mannes von »plebejischer« Herkunft, der »während ihrer Schwangerschaft an einem Degenstich gestorben (war) und ihr ein zerrüttetes Vermögen hinterlassen (hatte)«, hatte diese zielstrebige Frau all ihre Ambitionen hinsichtlich eines gesellschaftlichen Wiederaufstiegs in ihren Sohn gelegt und rief ihm immer wieder die Imperative der Welt des Kommerzes und des Geldes ins Gedächtnis, die sich auch auf die Liebesangelegenhciten anwenden lassen. Flaubert suggeriert nun (insbesondere in der Schilderung der Schlußbegegnung: »Doch er fühlte etwas Unnennbares in sich, das ihn zurückstieß, etwas wie Entsetzen vor Blutschande«), Frederic habe seine Liebe zu seiner Mutter auf Mme. Arnoux übertragen, die verantwortlich dafür ist, daß die Motive der Liebe den Sieg über die des Geschäfts davontrugen. Von hier aus ergibt sich eine erste Trennung: zwischen den »Kleinbürgern«, die - wie Deslauriers und Hussonnet31 - über 31 Es gelingt Flaubert nicht wirklich, die Unterschiede zwischen Deslauriers und Hussonnet klar herauszuarbeiten: Verbündete auf Zeit in einem politisch-literarischen Unternehmen, für das sie Frederic zu interessieren suchen, stehen sie sich sowohl in ihrem Verhalten wie auch in ihren Ansichten sehr nahe, ungeachtet der Tatsache, daß Deslauriers seine Ambitionen eher auf die Literatur, Hussonnet auf die Politik richtet. Bei einer Diskussion über die Gründe der gescheiterten Revolution von 1848 gibt Frederic Deslauriers zur Ant- 3° nichts anderes verfügen als ihren (guten) Willen, und den Erben. Unter diesen gibt es solche, die ihre Rolle auf sich nehmen, indem sie entweder wie Cisy, der Aristokrat, sich damit begnügen, ihre Stellung zu wahren, oder aber wie Martinon, der draufgängerische Bürger, letztere zu verbessern suchen. Innerhalb der Struktur des Romans hat Cisy keinen anderen Daseinsgrund, als eine der möglichen Einstellungen gegenüber dem Erbe vor Augen zu führen und, allgemeiner, gegenüber dem System der zu erbenden Stellungen. Er ist der Erbe ohne Geschichte, der sich mit dem bloßen Erben begnügt, da er - angesichts der Natur seines Erbes, seiner Güter, seiner Titel, aber auch seiner Intelligenz - nichts anderes als das hat und auch nichts anderes dafür zu tun hat. Daneben gibt es aber auch noch die von Geschichten heimgesuchten Erben, jene, die - wie Frederic - sich weigern, wenn nicht zu erben, so doch von ihrem Erbe "beerbt«, das heißt, von ihm in Besitz genommen zu werden und es auf sich zu nehmen. Die Übertragung der Macht von einer auf die andere Generation stellt in der Geschichte der unmittelbaren Familieneinheit immer einen kritischen Moment dar. Unter anderem deshalb, weil dabei die wechselseitige Aneignung von materiellem, kulturellem, sozialem und symbolischem Besitz auf der einen, dem durch und für diese Aneignung geformten biologischen Individuum auf der anderen Seite zeitweise gefährdet ist. Die dem Besitz (und darin der gesamten Sozialstruktur) innewohnende Tendenz zur Beharrung in seiner vorfindlichen Daseinsweise ist nur von Erfolg gekrönt, wenn das Erbe den Erben gleichsam »erbt«, vereinnahmt, wenn - nicht zuletzt durch Vermittlung derjenigen, die provisorisch mit der Nachfolge beauftragt sind und sich darum zu sorgen haben - es dem Besitz gelingt, sich solcher Besitzer zu bemächtigen, die zu erben willens und fähig sind, das heißt: das Tote buchstäblich sich des Lebendigen bemächtigt. wort: »Ihr wart schlicht Kleinbürger, und noch die besten unter euch schulmeisternde Pedanten!« (EdH, S. 498). Erinnert sei auch an eine vorhergehende Passage: »Frederic sah ihn an. Mit seinem ärmlichen Rock, der glanzlosen Brille und seinem fahlen Gesicht mutete ihn der Advokat so sehr wie ein Schulmeister an, daß er sich ein verächtliches Lächeln nicht verkneifen konnte« (EdH, S. 211). 32 Diese Bedingungen erfüllt Frederic nicht: Als Besitzer, der sich von seinem Besitz nicht vereinnahmen lassen, aber auch nicht auf ihn verzichten will, weigert er sich, ein »ordentlicher Mensch« zu werden, sich mit den beiden einzigen Eigenschaften zu versehen, die ihm in dieser Zeit und diesem Milieu die Hilfsmittel und Insignien gesellschaftlicher Existenz verleihen könnten: »Beruf« und eine Ehefrau samt Rente als Mitgift.32 Frederic will erben, ohne von seinem Erbe in Besitz genommen zu werden. Ihm fehlt, was der Bürger »Ernst« nennt, jene Fähigkeit, zu sein, was man ist: die gesellschaftliche Form des Identitätsprinzips, die allein eine unzweideutige soziale Identität zu begründen vermag. Da er sich außerstande zeigt, sich selber ernst zu nehmen, unfähig, sich vorausschauend mit dem ihm bestimmten sozialen Sein zu identifizieren (z. B. mit dem des »Zukünftigen« von Made-moiselle Louise33) und derart zukünftigen Ernst zu verbürgen, entkleidet er den »Ernst« und alle »häuslichen und demokratischen Tugenden«34 ihres realen Charakters - es sind dies aber die Tugenden derer, die sich mit dem identifizieren, was sie sind, die tun, was zu tun ist, und ganz dem hingegeben sind, was sie tun: »Bürger« oder »Sozialist«. Martinon, der ansonsten Frederic durchaus ähnelt, stellt in dieser Hinsicht das genaue Gegenteil von ihm dar. Daß am Ende er gewinnt, liegt daran, daß er sich ernsthaft in die Rollen versetzt, die Frederic lediglich spielt: Flaubert, der Martinon bereits beim ersten Auftreten als ernst, »gesetzt« erscheinen läßt35, verweist z. B. darauf, daß auf dem ersten Empfang bei den Dam-breuse, inmitten der Gelächter und »gewagten Scherze«, einzig »Martinon sich ernst (gab)«36, während Frederic mit Madame Dambreuse plauderte. Generell ist Martinon in Situationen wie dieser bestrebt, die »ernsthaften Leute« von seiner »Ernsthaftigkeit«, »Gesetztheit« zu überzeugen; wohingegen Frederic angesichts der Langeweile, die ihm Männergespräche bereiten, zu 31 EdH, S. 374. 33 EdH, S. 330. 34 Vgl. G. Flaubert, Die Briefe an Louise Colet. Aus dem Französischen von Cornelia Hastings, Zürich: Diogenes 1995, S. 244 (Brief vom 7. März 1847). 35 EdH, S. 36. 36 EdH,S. 111. 33 den Frauen flüchtet (»Da diese Dinge Frederic langweilten, näherte er sich den Frauen«).37 Frederics Verachtung der Ernsthaften, die wie Martinon stets bereit sind, ebenso die Stellung, der sie versprochen sind, wie die Frauen, die ihnen versprochen sind, mit Begeisterung anzunehmen, hat ihre Kehrseite in der Unentschlossenheit und Unsicherheit, welche eine Welt hervorruft, der jedes klare Ziel, jeder sichere Bezugspunkt fehlt. Frederic verkörpert eine und nicht einmal die seltenste Art der Realisierung bürgerlicher Adoleszenz. Diese kann sich, je nach Lebensphase oder Epoche, ebenso in der Rhetorik des Aristokratismus wie in der Phraseologie des Populismus ausleben und äußern, beide Male freilich mit deutlich ästhetizistischer Färbung. Als Bürger auf Abruf und Intellektueller auf Zeit, gezwungen, provisorisch die Posen des Intellektuellen sich zu eigen zu machen oder zu mimen, ist er durch diese doppelte widersprüchliche Bestimmung zur Unbestimmtheit und Unentschlossenheit förmlich prädisponiert: Ins Zentrum eines Kraftfeldes versetzt, das seine Struktur aus dem Gegensatz zwischen dem Pol der ökonomischen oder politischen Macht auf der einen, dem Pol des intellektuellen oder künstlerischen Prestiges auf der anderen Seite gewinnt (dessen Anziehung noch verstärkt wird durch die spezifische Logik des studentischen Milieus), befindet er sich somit in einer Zone der gesellschaftlichen Schwerelosigkeit, in der die potentiell auseinanderstrebenden Kräfte sich auf Zeit gegenseitig aufheben und ausgleichen. In der Person Frederics lenkt Flaubert zudem die Frage darauf, was die Adoleszenz zu einem im doppelten Wortsinn kritischen Moment macht: »Ins Leben treten«, wie es so schön heißt, das bedeutet, daß man akzeptiert, an einem der gesellschaftlich anerkannten sozialen Spiele teilzunehmen und jene gleichermaßen ökonomisch wie psychologisch zu verstehende Primärinvestition, jene Initialbesetzung zu vollziehen, die bei jeder Teilnahme an einem ernsthaften Spiel vorausgesetzt ist. Dieser Glaube an das Spiel, an den Wert des Spiels als solchen, und an das, worum es darin geht, bekundet sich, wie bei Martinon, nicht zuletzt im Ernst und in der Ernsthaftigkeit, das heißt dem Hang, alle gesell- 37 EdH, S. }20. 34 schaftlich als ernst bezeichneten Dinge und Menschen, angefangen bei einem selber, ernst zu nehmen - diese und nur diese. Frederic ist einer, dem es nicht gelingt, sich in eines der Geldoder Kunst-Spiele, die die soziale Welt vorgibt, einzubinden; ist einer von denen, die sich der illusio als der einhellig gebilligten und geteilten Illusion, also der Wirklichkeitsillusion, verweigern und in die als solche deklarierte wahre Illusion flüchten, die ihren schlechthinnigen Ausdruck in der romanesken Illusion und dort in deren radikalsten Formen findet (z. B. Don Quichotte oder Emma Bovary). Der Eintritt ins Leben als Eintritt in die von der gesamten Gruppe verbürgten Realillusion ist nicht selbstverständlich. Die im Roman Gestalt gewinnenden Lebensabschnitte solchen Heranreifens wie die von Frederic oder Emma, welche, wie Flaubert selber, die Fiktion ernst nehmen, weil es ihnen nicht gelingt, das Wirkliche ernst zu nehmen, erinnern daran, daß die »Realität«, an der wir alle Fiktionen messen, lediglich der allgemein verbürgte Referent einer kollektiven Illusion ist.38 Mit dem polarisierten Raum des Macht-Feldes sind somit Spielregeln, Spielgewinne und Einsätze definiert: zwischen den beiden äußeren Polen herrscht absolute Unvereinbarkeit. An beiden Tischen gleichzeitig kann man nicht spielen; alles gewinnen zu wollen geht nur um den Preis, alles verlieren zu können. Mit der Beschreibung der Eigenschaften der Jugendlichen ist zugleich die Verteilung der Trümpfe vorgegeben. Die Partie kann beginnen. Jeder der Protagonisten ist durch eine Art generativer Formel definiert, die nicht völlig explizit, noch weniger formalisiert sein muß, um die Entscheidungen des Romanciers zu leiten (sie funktioniert sicherlich ungefähr wie die praktische Intuition des Habitus, der es uns in der alltagspraktischen Erfahrung ermöglicht, die Verhaltensweisen der uns vertrauten Menschen zu erahnen oder zu verstehen). Die Aktionen und Interaktionen, die Rivalitäten und Konflikte, selbst noch die glücklichen wie unglücklichen Zufälle, die den Gang der verschiedenen Le- 38 Das Vorhandensein struktureller Invarianten wie solcher, die die Stellung des »Erben« oder allgemeiner des Jugendlichen kennzeichnen und die den Identifikationsbeziehungen zwischen Leser und Romangestalt zugrunde liegen können, dürfte denn auch eine der Grundlagen für jenen Ewigkcitscharaktcr sein, den die literarische Tradition bestimmten Werken oder Gestalten zuschreibt. 35 bensgeschichten ausmachen, sind lediglich Gelegenheiten zur Veranschaulichung, Darstellung des Wesens der Person, zu dessen zeitlicher Entfaltung in Form einer Geschichte. Jede einzelne Verhaltensweise jeder Person präzisiert somit das System der Unterschiede, die diese von allen anderen Mitgliedern der Experimentalgruppe abheben, ohne die ursprüngliche Formel je zu vergrößern. Denn jede Person ist vollständig in jeder ihrer Äußerungen enthalten, diese, als pars totalis, dazu bestimmt, als unmittelbar verständliches Zeichen für alle anderen, vergangenen wie zukünftigen, zu fungieren. So kündet Mar-tinons »Schifferbart« bereits alle späteren Verhaltensweisen bzw. Merkmale an: angefangen bei der Blässe, den Seufzern und dem Gejammer während des kleinen Aufruhrs, womit er seine Furcht verrät, kompromittiert zu werden, oder dem vorsichtigen Widerstand, den er seinen Kameraden entgegenbringt, als sie Louis-Philippe attackieren - eine Haltung, die Flaubert selbst auf die Folgsamkeit zurückführt, dank deren es diesem gelungen sei, während des College Strafarbeiten zu umgehen und heute den Juraprofessoren zu gefallen -, bis zu dem zur Schau getragenen Ernst seiner offen konservativen Äußerungen und seines gesetzten Auftretens während der Empfänge der Dambreuse. Wenn die Erziehung des Herzens, diese zwangsläufige Geschichte einer Gruppe, deren durch eine gleichsam systematische Kombinatorik vereinigte Elemente den gesamten Anziehungsund Abstoßungskräften des Macht-Feldes ausgesetzt sind, als eine Geschichte gelesen werden kann, so deshalb, weil die Struktur, die die Fiktion organisiert und die von ihr geschaffene Wirklichkeitsillusion begründet, sich wie in der Realität hinter den Interaktionen der Personen kaschiert, die sie strukturiert. Und da die intensivsten Interaktionen Herzensbeziehungen sind (und vorweg vom Autor unserer besonderen Aufmerksamkeit anheimgegeben wurden), wird verständlich, warum sie die tatsächliche Grundlage ihrer eigenen Verständlichkeit in den Augen jener Leser und Kommentatoren vollkommen verbergen konnten, deren »literarisches Empfinden« sie schwerlich dazu disponierte, in den sozialen Strukturen den Schlüssel der Gefühle zu suchen. Was darüber hinaus den Personen den Anschein einer abstrakten Kombination von Parametern nimmt, ist paradoxerweise die 36 Enge des sozialen Raums, in den sie gestellt sind: Innerhalb dieses endlich-geschlossenen Raums, der wider allen Anschein ähnlich ist dem jener Kriminalromane, in denen die Figuren auf einer Insel oder einem abgelegenen Herrensitz eingeschlossen sind, haben die zwanzig Protagonisten große Chancen, sich zu treffen - im Guten wie im Bösen -, folglich in einem zwangsläufigen Abenteuer alle Implikationen ihrer jeweiligen »Formeln«, die antizipatorisch die Peripetien ihrer Interaktion einschließt, zu entwickeln - zum Beispiel die Rivalität um eine Frau (zwischen Frederic und Cisy im Hinblick auf Rosanette bzw. zwischen Martinon und Cisy in bezug auf Cecile) oder eine Stellung (zwischen Frederic und Martinon um die Protektion durch Monsieur Dambreuse). Am Ende der ersten vergleichenden Bilanz der Lebensläufe erfährt man, daß Cisy »sein Rechtsstudium nicht beenden« will. Warum auch? Nachdem er, ganz im Sinne der Tradition, die Jugendzeit in Paris verbracht hat und mit unorthodoxen Menschen, ketzerischen Ideen und freizügigen Sitten in Berührung gekommen ist, wird er bald wieder auf den rechten Weg finden, der ihn geradewegs in die Zukunft führt, die bereits in seiner Vergangenheit angelegt ist, das heißt ins »Schloß seiner Ahnen«, wo er, wie es sich gehört, enden wird, »ganz im Schöße der Religion« und »Vater von acht Kindern«. Cisy, reinstes Beispiel einer einfachen Reproduktion, steht in Gegensatz ebenso zu Frederic, dem die Erbschaft ablehnenden Erben, wie zu Martinon, der alles daransetzt, es zu vermehren, der für sein geerbtes Kapital (Güter und Beziehungen, Schönheit und Intelligenz) einen Siegeswillen einsetzt, der seinesgleichen nur beim Kleinbürger findet und ihm die höchste objektiv vorgegebene soziale Laufbahn sichern wird. Die Entschlossenheit Martinons, das strikte Gegenteil der Unbestimmtheit und Unentschlossenheit Frederics, dürfte einen wesentlichen Teil ihrer Wirksamkeit den symbolischen Effekten schulden, die mit jeder von diesem Zeichen geprägten Handlung einhergehen: Die spezifische Modalität der Praktiken, in der sich die Einstellung zum Einsatz manifestiert, die »Ernsthaftigkeit«, die »Überzeugung«, die »Begeisterung« (oder umgekehrt die »Leichtfertigkeit«, die »Anmaßung« und »Ungeniertheit«), bildet das sicherste Zeugnis der Anerkennung der begehrten Positionen, folglich der Unterwer- 37 fung unter die Ordnung, der man sich zu integrieren beabsichtigt - was jeder Korpus mehr als alles andere denjenigen abverlangt, die ihn zu reproduzieren haben. Die Beziehung zwischen Frederic und Deslauriers zeichnet die Opposition nach zwischen dem, der erbt, und dem, der nur über den Drang nach Besitz verfügt, in anderen Worten: den Gegensatz zwischen Bürger und Kleinbürger. So ist es mit dem Abenteuer bei der Türkin: Frederic hat Geld, aber keinen Mut; Deslauriers würde es wagen, aber ihm fehlt das Geld, und kann diesem in seiner Flucht nur folgen. Die sie trennende soziale Distanz wird vielfach vergegenwärtigt, insbesondere über den Gegensatz ihres Geschmacks: Deslauriers besitzt elementare ästhetische Ansprüche, die Raffinessen des Snobismus sind ihm unbekannt (»Er war arm, und ihn verlangte nach dem Luxus in seiner augenfälligsten Form«39: »>Ich an deiner Stelle<«, sagte Deslauriers, »>würde mir lieber Silberzeug kaufen«« und offenbarte durch diese Liebe zum Prunkvollen den Mann von geringer Herkunft.«4 Tatsächlich erstrebt er »Reichtum als Mittel zur Macht über die Menschen«, während sich Frederic eine Zukunft als Ästhet ausmalt.41 Überdies bekundet Frederic mehrfach, daß er sich Deslauriers wegen schämt42, und bezeigt ihm sogar offen seine Verachtung.43 Und als ob er an die Grundlage des gesamten Betragens von Deslauriers (und seines Unterschieds zu Frederic) erinnern wollte, macht Flaubcrt die Frage der Erbschaft zur Ursache des Scheiterns, das seinen universitären Ambitionen ein Ende bereitet: Er hatte sich bei der Agregation »mit einer These über das Erbrecht gemeldet, in der er forderte, daß dieses so weit wie möglich eingeschränkt wird«, »dann wollte es der Zufall, daß er als Thema des mündlichen Vortrags die Verjährung zog«, was ihm Gelegenheit gab, noch weiter über Erbschaft und Erben herzuziehen; gestärkt durch sein Scheitern mit den »kläglichen Theorien«, die ihm das Aus bei der Prüfung eingetragen hatten, predigt er die Abschaffung der Möglichkeit des Übergehens des Erbes auf Seitenlinien, wovon er nur Frederic ausgenommen sehen will ...44 Einige Kommentatoren - sogar Sartre - haben ganz ernsthaft die Frage einer homosexuellen Beziehung zwischen Frederic und Deslauriers gewälzt, und das gerade unter Beru- 39 EdH.S. 332. 40 EdH, S. 156. 41 EdH, S. 77. 42 EdH, S. 85,11«. 43 EdH, S. 111. 44 EdH,S. 152 ff. 38 fung auf eine jener Passagen, in der die objektive Struktur der Beziehung zwischen den Klassen in der Interaktion zwischen den Individuen am klarsten hervortritt: »Dann dachte er an Frederic selber; sein Wesen hatte auf ihn stets einen fast weiblichen Reiz ausgeübt.«45 Tatsächlich ist dies nur eine relativ stereotype Art und Weise, die soziale Differenz der körperlichen Hexis und des Betragens zum Ausdruck zu bringen, die, da auf der Ebene des Raffinements, der Eleganz angesiedelt, Frederic auf die Seite des Weiblichen, fast des Weibischen verweist, wie an dieser anderen Passage ablesbar ist: »Er hatte auf der Hochschule eine andere Bekanntschaft gemacht, die des Monsieur de Cisy, eines Sohnes aus bester Familie, der durch die Artigkeit seiner Umgangsformen wie ein Mädchen wirkte.«44 Zu den Unterschieden in den Umgangsformen wären die grundlegenderen Unterschiede im Verhältnis zum Geld hinzuzurechnen: Frederic besitzt ganz augenfällig, wie Pierre Coigny feststellt, »einen femininen Begriff von Geld, das ihm ein Instrument der Lust und des Luxus mehr denn der Macht ist«.47 Was die einzigartige Beziehung zwischen beiden ausmacht, geht auf die Beziehung zwischen Bürger und Kleinbürger zurück: Das Streben, sich mit dem anderen zu identifizieren, sich an seine Stelle zu setzen, sich für einen anderen zu halten, ist konstitutiv für den Ehrgeiz des Kleinbürgers und, weitergehender, für die Stellung des Anwärters, des Prätendenten (oder des Sekundanten, des »Doubles«). Natürlich fällt einem sofort Deslauriers' fragwürdiges Vorgehen im Namen Frederics bei Madame Arn-oux ein, seine Gedanken in den Augenblicken, da er versucht, sich die beiden »Chancen« Frederics, Monsieur Dambreuse und Madame Arnoux, zu den eigenen zu machen, in der Identifizierung mit ihm dessen Platz einzunehmen, oder auch jene Strategie, die er Louise, eigentlich doch Frederic »versprochen«, gegenüber anwendet, so daß er sie am Ende auch heiratet: »Er verbrachte seine ganze Zeit bei dem alten Roque, wo er nicht nur damit angefangen hatte, seinem Freund ein Loblied zu singen, 4j EdH, S. 332. 46 EdH,S. 36. Zu Sartres Versuch, in der Tiefenstruktur des Verhältnisses von Gustave Flaubert zum Anderen, und besonders zu seinem Vater, die Wurzel der Tendenz zur Verdopplung, die dieser »Dublette« zugrunde liegen soll, auszumachen, vgl. J.-P. Sartre, Der Idiot der Familie, I. Die Konstitution, Reinbek 1977, S. 226 und S. 333. 47 P. Coigny, L'Education sentimentale de Flaubert, Paris: Laroussc I97J.S. 119. 39 sondern auch, ihn nach Kräften in seinem Benehmen und seiner Sprache nachzuahmen.«48 Der Hang Deslauriers', sich mit Frédéric zu identifizieren, dessen Sache zu der seinen zu machen, sich »aus sonderbaren gedanklichen Vorgängen heraus, in denen zugleich Rache und Sympathie, Nachahmung und Verwegenheit waren«, beinahe einzubilden, Frédéric zu sein4', geht nicht ohne ein geschärftes Bewußtsein dessen, was ihn von Frédéric trennt, ein Gespür für die soziale Distanz, die ihn zwingt, Distanz zu halten, sogar in der Phantasie. Sich dessen bewußt, daß das, was für den einen gut ist, noch lange nicht auch für den anderen gut ist, hält er sich an seinem Platz auch da, wo er sich an die Stelle eines anderen versetzt: »In zehn Jahren mußte Frédéric Deputierter, in fünfzehn Jahren Minister sein; warum auch nicht? Mit seinem Erbteil, das er bald in die Hand bekommen würde, konnte er zuerst eine Zeitung gründen; das wäre der Anfang; danach würde man sehen. Was ihn selbst anging, strebte er noch immer nach einem Lehrstuhl an der juristischen Fakultät.«50 Bindet er seine Ambitionen an die Frédérics, so stets, um seine realistischen und beschränkten Pläne denen seines Freundes unterzuordnen: »Du mußt in dieser Gesellschaft verkehren! Später dann wirst du mich hinbringen.«51 Er entwickelt Ehrgeiz für Frédéric; das aber heißt, daß er diesem nicht seine ureigensten Ambitionen unterstellt, sondern jene, die zu empfinden er sich berechtigt fühlen würde, würde er nur die Mittel haben, über die Frédéric verfügt. »Ein Gedanke kam ihm: zu Dambreuse zu gehen und um die Stelle des Sekretärs zu bitten. Aber sicherlich würde man diesen Posten nicht ohne Erwerbung einer Anzahl von Aktien erhalten. Er erkannte das Verrückte seiner Absicht und sagte sich: >Ncin, das wäre schlecht!« Nun suchte er, wie er es zuwege bringen könnte, die fünfzehntausend Franken wiederzubekommen. Eine solche Summe bedeutete für Frédéric ja nichts, aber was für ein Hebel wäre sie in seiner Hand, wenn er sie hätte\*bl Doch die Ungezwungenheit des renommierten Erben, der sowohl sein Erbe verschleudern als auch sich den Luxus erlauben kann, darauf zu verzichten, ist kaum dazu angetan, die objektive Distanz zu verringern, die ihn von den Anwärtern trennt: Als stillschweigende Verurteilung ängstlichen und verkrampften Aufsteigertums wahrgenommen, kann sie nur dazu führen, daß sich dem uncingestehbaren Verlangen ein schmachvoller Haß hinzugesellt. 48 EdH,S. 538. 49 EdH, S. 332. 50 EdH, S. 122. $ i EdH, S. 30. $2 EdH, S. 331. 40 Leicht verkehrt sich die verzweifelte Hoffnung, ein anderer zu sein, in die Hoffnungslosigkeit des Erfolgs, endet der stellvertretende Ehrgeiz in moralischer Entrüstung: Frédéric, mit dem, was er hat, sollte jetzt die Ambitionen haben, die Deslauriers für ihn hat; oder aber Deslauriers, mit dem, was er ist, sollte die Mittel haben, über die Frédéric verfügt. Wie heißt es doch bei Flaubcrt weiter: »Und der ehemalige Advokatenschreiber war empört darüber, wie groß das Vermögen des anderen war: >Er macht einen erbärmlichen Gebrauch davon! Er ist ein Egoist! Nun, ich pfeife auf seine fünfzehntausend Franken!*«53 Wir stoßen hier an den Ursprung der Dialektik des Ressentiments, das beim anderen den Besitz dessen verdammt, was man selbst begehrt: »Warum aber hatte er sie ausgeliehen? Um der schönen Augen der Madame Arnoux willen! Sie war seine Geliebte, Deslauriers zweifelte nicht daran. >Das ist auch wieder eine Sache, zu der einem das Geld fehlt!« Haßvolle Gedanken stiegen in ihm auf.« Die unglückliche Passion für unerreichbare Besitztümer und die damit einhergehende, gleichsam erpreßte Bewunderung müssen zwangsläufig sich in Haß auf den anderen verkehren; er allein vermag vor Selbsthaß zu schützen, wenn das Verlangen sich auf zumal körperliche oder inkorporierte Eigenschaften wie etwa Auftreten und Umgangsformen richtet, die man sich nicht einfach zu eigen machen kann, ohne daß man zugleich in der Lage wäre, den entsprechenden Wunsch danach in sich abzutöten (deshalb ist die empörte Verurteilung des »Brillanten«, die heute bei den Pedanten und »Schulfüchsen«, wie Flaubert gesagt hätte, geläufig ist, allzuoft auch nur die umgekehrte Form eines Verlangens, das dem herrschenden Wert lediglich einen durch das Fehlen des inkriminierten Werts definierten Antiwert entgegenzusetzen vermag, nämlich »Ernst«, »Ernsthaftigkeit«). Freilich ist das Ressentiment nicht der einzige Ausweg. Es entfaltet sich im Wechsel mit dem Voluntarismus: »Aber ist denn Willenskraft nicht das Wesentlichste bei allen Unternehmungen? Und da man durch sie überall triumphiert ...«54 Was Frédéric haben könnte, wenn er nur wollte: dazu bedarf es bei Deslauriers der Willenskraft, und sei es, daß er dafür Frédérics Stelle einneh- 53 EdH, S. 331. 54 EdH, S. 331 f. 41 men muß. Diese typisch kleinbürgerliche Anschauung, in der sozialer Erfolg von der Willensstärke und dem guten Willen jedes einzelnen abhängt, diese verkrampfte Ethik von Anstrengung und Erfolg, deren Kehrseite nur das Ressentiment ist, findet ihre logische Fortsetzung in einer Sicht der sozialen Welt, in der das Allmachtsdenken gleichsam von der Machbarkeit alles Gesellschaftlichen kombiniert ist mit kryptokratischer Obsession von teils optimistischem - Beharrlichkeit und Intrige vermögen alles -, teils verzweifeltem Charakter - die geheimen Antriebe dieses Mechanismus sind allein der Verschwörung der Eingeweihten überlassen. »Da er die große Welt nur durch das Fieber seiner Begierden hindurch gesehen hatte, stellte er sie sich als ein künstlich geschaffenes Gefüge vor, in dem alles nach mathematischen Gesetzen vor sich gehe. Eine Einladung zum Essen, die Begegnung mit einem Mann in hoher Stellung oder das Lächeln einer hübschen Frau konnten der Anstoß zu einer Folge von Ereignissen sein, deren eines das andere nach sich zog und die ungeheuerliche Ergebnisse hatten. Gewisse Pariser Salons waren für ihn etwas wie jene Maschinen, die das Verarbeitungsmaterial im Rohzustand aufnehmen und es an Wert verhundertfacht wieder zurückgeben. Er glaubte an Kurtisanen, stellte sie sich als Beraterinnen von Diplomaten vor, an das Zustandekommen reicher Heiraten durch Intrigen, an das Genie von Galeerensträflingen und an die Gefügigkeit des Zufalls in der Hand der Starken.«55 So sieht die Welt der Macht von außen aus und vor allem von weitem und von unten, aus der Sicht dessen, der in sie eintreten möchte: In der Politik wie anderswo ist der Kleinbürger zur Allodoxia verdammt, zu jenem Wahrnehmungs- und Bewertungsfehler, der darin besteht, etwas für etwas ganz anderes zu erkennen}^ Das Ressentiment ist eine Revolte aus Unterwürfigkeit. Die Enttäuschung stellt, durch den sich darin offenbarenden Ehrgeiz, ein Eingeständnis der Anerkennung dar. Darin hat sich der Konservativismus noch niemals getäuscht; er hat darin die ein- 55 EdH, S. 111 f. Von P. B. hervorgehoben. 56 In dieser Weise verkörpert Mme. Arnoux für Deslauriers »die Dame von Welt«: »Überdies lockte ihn die Dame von Welt (oder das, was er dafür hielt), als das Gleichnis und die Zusammenfassung von tausend ihm unbekannten Genüssen« [EdH, S. 332). 42 drucksvollste Würdigung einer sozialen Ordnung erkannt, die keine andere Revolte hervorbringt als die des Verdrusses, der Niedergeschlagenheit, kurz: des frustrierten Ehrgeizes. Wie er auch intelligent genug war, den Wahrheitsgehalt mehr als einer Jugendrevolte in der geknickten Laufbahn aufzudecken: Von der aufsässigen Boheme der Jugendzeit zum ernüchterten, illusionslosen Konservativismus oder reaktionären Fanatismus des reifen Alters. Hussonnet, ein weiterer Kleinbürger, den von Deslauriers abzugrenzen Flaubert, wie wir gesehen haben, nicht recht gelingt, hat sehr früh eine literarische Karriere begonnen: Als typischer Vertreter jener zu materiellem Mangel und intellektueller Enttäuschung verurteilten Boheme, die Marx im Begriff des »Lumpenproletariats«, Weber in dem der »proletaroiden Intelligenz« thematisiert, erhält Hussonnet sich über Jahre hinweg als »Literat«, der sich mit dem Schreiben von Vaudevilles, »die nicht aufgeführt wurden«, beschäftigt und »Couplets« verfaßt. Von einem geplatzten Projekt zum anderen, erst einer Zeitung, dann einer im Entwurfsstadium ewig steckenbleibenden Wochenschrift57, wird aus diesem etwas utopisch gesinnten Heranwachsenden, dem die nötigen materiellen (Einkommen) wie intellektuellen Mittel fehlen, um über längere Zeit hinweg auf die Anerkennung durch das Publikum warten zu können, ein verbitterter Bohemien, der sich keine Gelegenheit entgehen läßt, über die zeitgenössische Kunst wie über die revolutionäre Bewegung zu lästern.58 Am Ende findet er sich wieder als Initiator 57 EdH, S. 209; 289. 58 EdH,S. 390 ff.; 424. »Hussonnet war nicht lustig. Da er Tag für Tag über jede Art von Gegenständen schreiben, eine Menge Zeitungen lesen, viele Gespräche mitanhören und ewig Paradoxe sagen mußte, um zu verblüffen, war er schließlich selber von seinem armseligen Feuerwerk blind geworden und hatte allen richtigen Wirklichkeitssinn eingebüßt. Die Sorgen des ehedem doch so leichten, nunmehr aber so schwer gewordenen Lebens hielten ihn in einer unaufhörlichen Erregung. Und seine Unfähigkeit, die er sich nicht eingestehen wollte, machte ihn bissig und sarkastisch. Als im Laufe des Gesprächs von >Ozai<, einem neuen Ballett, die Rede war, wurde er gegen den Tanz ausfällig und, als man vom Tanz auf die Oper kam, auf die Oper; dann anläßlich der Oper dagegen, daß die Italiener 43 eines reaktionären Kreises59, als ein Intellektueller, der alles aufgegeben hat, nicht zuletzt alles Intellektuelle, der sich zu allem hergibt, und sei es zur Abfassung von Unternehmerbiographien60, und dies alles um der »hohen Stellung« willen, »in der er alle Theater und die ganze Presse unter sich hatte«.61 Bleibt Frederic. Als Erbe, der nicht werden will, was er ist: ein Bourgeois, schwankt er zwischen sich gegenseitig ausschließenden Strategien. Und da er die Möglichkeiten, die sich ihm bieten - zumal über die Heirat mit Louise -, ausschlägt, setzt er am Ende alle seine Reproduktionschancen aufs Spiel. Die widersprüchlichen Ambitionen, die ihn nacheinander zu den beiden Polen des sozialen Raumes hinziehen, zur künstlerischen Karriere und zur Geschäftswelt und, parallel dazu, zu den beiden mit diesen Positionen verknüpften Frauen, sind einem solchen Wesen ohne Schwerkraft, ohne Gravität (ein anderes Wort für Ernst, Gesetztheit, Seriosität) eigen, das außerstande ist, den Kräften des Feldes den geringsten Widerstand entgegenzubringen. Was er diesen Kräften allein entgegensetzen kann, ist seine Erbschaft; ihrer bedient er sich, um den Moment hinauszuzögern, in dem er zum Erbe geworden ist, um den Zustand der Unbestimmtheit und Unentschiedenheit, der ihn auszeichnet, zu verlängern. Ein erstes Mal »(zugrunde) gerichtet, verarmt, verloren«, verzichtet er auf Paris und alles, was damit zusammenhängt, »Kunst, Wissenschaft und Liebe«62, und findet sich damit ab, beim Anwalt Prouharam als Gehilfe zu arbeiten; doch kaum daß er von seinem Onkel geerbt hat, knüpft er wieder an seinen Pariser Traum an, den seine Mutter, verantwortlich für die Ermahnungen zur Ordnung, das heißt zu den objektiven Chancen, als Torheit und Absurdität gescholten hatte.6' Ein erneuter Aktiensturz treibt ihn zurück in die Provinz, zurück zum jetzt durch eine Truppe spanischer Schauspieler ersetzt worden wären, »als ob man Kastilien nicht schon gründlich satt hätte!<« {EdH, S. 285). 59 EdH, S. 467. 60 EdH, S. 490. 61 EdH, S. 569. 62 EdH, S. 129. 63 EdH,S. 138. 44 mütterlichen Haus und zu Mlle. Roque, das heißt zu seinem »natürlichen Ort« innerhalb der sozialen Ordnung: »Ende Juli trat eine unerklärliche Baisse ein, und die Nord-Aktien fielen. Frederic hatte die seinen nicht verkauft, und er verlor auf einen Schlag sechzigtausend Francs. Seine Einkünfte waren nun empfindlich verringert. Er mußte sich in seinen Ausgaben einschränken, eine Stellung annehmen oder sich gut verheiraten.«64 Ohne eigene Kraft und Stärke - sei es die Tendenz, in der herrschenden Stellung zu beharren, welche die Erben auszeichnet, die bereit sind, sich einzureihen, oder sei es das Bestreben, zu diesen Stellungen sich Zugang zu verschaffen, das den Kleinbürger ausmacht -, fordert er das grundlegende Gesetz des Macht-Feldes heraus, indem er die nicht mehr rückgängig zu machenden Entscheidungen, die soziales Altern definieren, zu umgehen und die coincidentia oppositorum zu verwirklichen sucht: die Versöhnung der Gegensätze von Kunst und Geld, Liebe aus Leidenschaft und Liebe aus Vernunft. Und er sieht durchaus richtig, wenn er am Ende der Geschichte, klüger geworden durch die zahllosen Male des Scheiterns, seine Erfolglosigkeit der mangelnden Geradlinigkeit zuschreibt.65 Unfähig, sich zu entschließen, die eine oder andere der unvereinbaren Möglichkeiten zu Grabe zu tragen, ist Frederic ein Doppelwesen, mit oder ohne Duplizität, folglich gezwungen zum Quiproquo bzw. zum spontanen, provozierten und ausgenutzten Hin-und-Her und Stellenwechsel, zum Doppelspiel jenes »Doppellebens«66, das, durch die Koexistenz getrennter Welten ermöglicht, für eine bestimmte Dauer die Bestimmungen und Entschlüsse aufzuschieben erlaubt. Der den Aufbau des gesamten Werkes bestimmende dramatische Mechanismus wird durch eine solche Verwechslung angekündigt: Deslau-riers, bei Frederic angekommen, als dieser sich gerade zum Ausgehen fertigmacht, und nun glaubt, er sei bei den Dambreuse und nicht den Arnoux zum Abendessen eingeladen, bemerkt: »Man könnte glauben, daß du heiraten willst.«6' Eine von Frederic zynisch genährte weitere 64 EdH,S. 328. 65 EdH,S. 571. 66 EdH,S. 521. 67 EdH, S. 65. Im ersten Teil des Romans kommt es zu einer weiteren Koinzidenz, die sich jedoch noch glücklich auflöst: Frederic erhält 45 Verwechslung, als Rosanette glaubt, er weine wie sie um den Tod ihres Kindes, während seine Gedanken bei Madame Arnoux weilen68; oder wenn Rosanette, von Frederic in dessen Gemach empfangen, das für Mme. Arnoux hergerichtet war, Aufmerksamkeiten und Tränen, die einer anderen gelten, auf sich münzt, und ohne daß Frederic sie aufklärt. Verwechslung auch da, wo Frederic Rosanette beschuldigt, gegen Arnoux (das heißt gegen Mme. Arnoux) gerichtliche Schritte eingeleitet zu haben, wo doch Mme. Dambreuse die dafür Verantwortliche ist.*9 Durch das ständige Hin und Her von Frederics Liebesleben erhält auch jener implizite Chiasmus im Aufschrei Rosanettes seinen Sinn: »Warum gehst du denn hin und vertreibst dir die Zeit mit anstandigen Frauen?«70 Ein von Martinon eingefädelter Platzwechsel mit Frederic, unwillentlich von diesem gefördert, der glücklich ist, neben Mme. Arnoux zu sitzen, bringt Martinon an die Seite Ceciles.71 Ein weiteres von Martinon klug organisiertes Wechselspiel, einmal mehr mit der stillschweigenden Komplizenschaft des Opfers, das Frederic in die Arme von Mme. Dambreuse treibt, wodurch Martinon freie Hände hat, Ccci-le den Hof zu machen und schließlich zu heiraten. Durch sie gewinnt er das Erbe von Monsieur Dambreuse, das er zunächst in Madame Dambreuse gesucht hatte. Die aber ist bereits von ihrem Mann enterbt, während Frederic sich noch durch die Heirat mit ihr im Besitz dieses Erbes wähnt. Durch Doppelspiel und innere Aufspaltung ist Frederic bemüht, sich auf Zeit in der bürgerlichen Welt zu halten, die er als seine »rechte Umgebung« erkennt72 und die ihm »tiefe Befriedigung*73 verschafft. Die Gegensätze sucht er zu versöhnen, indem er ihnen je andere Räume und Zeiten vorbehält. Durch rationale Aufteilung seiner Zeit und einige Lügen gelingt es ihm, die noble Liebe von Madame Dambreuse, Symbol des »Ansehens in der bürgerlichen Welt«7*, und die verspielte Liebe von Rosanette zugleich zu gewinnen, die gerade in dem Augenblick in ausschließlicher Leidenschaft für ihn entbrennt, als er den Reiz dieser für den selben Abend, an dem Madame Arnoux ihren Namenstag feiern will, eine Einladung der Dambreuse (EdH, S. 111). Doch die Zeit der Unvereinbarkeiten ist noch nicht gekommen, und so annulliert Madame Dambreuse die Einladung. 68 EdH, S. $49. 69 EdH,S. $jz. 70 EdH, S. 484 71 EdH,S. 462 72 EdH, S. 470 73 EdH, S. 502 74 EdH, S. 490 46 doppelten Inkonsistcnz entdeckt: »Er wiederholte der einen den Schwur, den er soeben der anderen geleistet hatte, schickte beiden den gleichen Blumenstrauß, schrieb ihnen die gleichen Briefe und stellte dann zwischen ihnen Vergleiche an; dabei war eine dritte stets in seinen Gedanken gegenwärtig. Er rechtfertigte seine Betrügereien mit der Unmöglichkeit, diese zu besitzen, und so wurden seine Genüsse stets neu belebt.«75 Die gleiche Strategie verfolgt er in der Politik, wo er sich in eine Kandidatur einläßt, »die einen Konservativen zur Stütze und einen Roten zum Lobredner« hat76; auch sie scheitert: »Zwei neue Kandidaten seien aufgetreten, der eine konservativ, der andere rot; ein Dritter, was immer er sein mochte, habe keinerlei Aussichten. Das sei Frederics eigene Schuld; er habe den günstigsten Augenblick verstreichen lassen, er hätte eher kommen und sich rühren müssen.«77 Die notwendigen Zufälle Die Möglichkeit des Zufalls, des unerwarteten Zusammentreffens sich gesellschaftlich ausschließender Möglichkeiten, ist jedoch auch in der Koexistenz unabhängiger Serien enthalten. Frederics Erziehung des Herzens ist das fortschreitende Erlernen der Unvereinbarkeit der beiden Welten: Kunst und Geld, reiner Liebe und käuflicher Liebe; ist die Geschichte der strukturell notwendigen Zufälle, die soziales Altern bestimmen, indem sie den Zusammenprall der strukturell unvereinbaren Möglichkeiten bestimmen, die durch die Doppclspiele der »Doppelexistenz« im Vieldeutigen nebeneinanderher bestehen konnten: In diesen aufeinanderfolgenden Zusammentreffen unabhängiger Kausalreihen gehen nach und nach alle »lateralen Möglichkeiten« zugrunde.78 7$ EdH,S. 323. 76 EdH,S. $01. 77 EdH, S. $20 f. 78 Die Erziehung des Herzens ist durchaus »der Roman der Koinzidenzen, denen die Personen passiv beiwohnen, wie sprachlos angesichts des Walzers ihrer Schicksale« (J. Bruneau, »Lc röledu hasard dans L'Education sentimentale*, in: Europe, September-November 1969, S. 101-107). Allerdings handelt es sich um notwendige Koinzidenzen, anläßlich deren sich die im »Milieu« verwurzelte und in den Personen inkorporierte Notwendigkeit enthüllt: »In diesem Roman, in dem der Zufall zu regieren scheint (Treffen, Verschwin- 47 Als Verifizierung des vorgeschlagenen Modells mag die Beobachtung genügen, daß die strukturale Notwendigkeit des Feldes, an der Frederics zerfahrene Ambitionen sich zerschlagen, auch gegenüber dem zutiefst widersprüchlichen Unternehmen von Arnoux die Oberhand behalten wird: Zwar gelingt es Arnoux - eine regelrechte strukturelle Dublette von Frederic und wie dieser ein Doppelwesen als Vertreter von Geld und Geschäft in der Welt der Kunst79 - zumindest für eine bestimmte Zeit, das durch das Gesetz der Unvereinbarkeit der Welten unausweichliche Verhängnis hinauszuzögern, indem er gleich Frederic zwischen Kunst und Geld sein stetes Doppelspiel treibt, doch ist auch er aufgrund seiner Unentschlossenheit und Unbestimmtheit wie seines Bestrebens, die Gegensätze zu versöhnen, am Ende zum Ruin verurteilt. Erstaunlich ist, daß eine der letzten sozialen Stellungen, die Hus-sonnet und Deslauricrs ihrem erhofften Gönner, Frederic also, in den schönsten Farben ausmalen, ganz und gar der ähnelt, die Arnoux einst innehatte: »Es wird nötig sein, daß Du einmal in der Woche ein Diner gibst, das ist unerläßlich, wenn auch die Hälfte Deines Einkommens dabei draufgeht. Alle werden kommen wollen, es wird der Mittelpunkt für die anderen und ein Sprungbrett für Dich sein. Und wenn wir so die öffentliche Meinung an ihren beiden Enden, der Literatur und der Politik, in der Hand haben, wirst Du sehen, daß wir, bevor sechs Monate um sind, in Paris obenauf sein werden.«80 den, Gelegenheiten, die sich bieten und nicht ergriffen werden) ist tatsächlich kein Platz für den Zufall. Henry James, der den Roman wie ein Epos liest, dem es an Atemluft fehlt - an epte without air -, notiert, daß dann alles fein säuberlich zusammenhängt - hangs toge-ther -« (V. Brombert, »L'Education sentimentale: articulations et polyvalcnce«, in: C. Gothot-Mersch (Hg.), La Production du sens cbez Flaubert, Paris: UGE, coli. 10/18, S. 55-69). 79 Flaubert notiert »tiefgreifende Ähnlichkeiten« zwischen Arnoux und Frederic. Und so stattet er jene Figur, die Doppelpositionen einnehmen muß, mit dauerhaften doppelten bzw. gespaltenen Dispositionen aus: Die »ihm so natürliche Mischung von Geschäfts-tüchtigkeit und Harmlosigkeit«, die ihn auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn nach Vermehrung seines Profits streben ließ, »freilich immer unter Beibehaltung seines künstlerischen Gehabes«, bringt ihn am Ende, als er, ermattet durch Krankheit und fromm geworden, dazu, einen »Handel mit religiösen Gegenständen« anzufangen, »um für sein Seelenheil zu wirken und zugleich zu Geld zu kommen« (EdH, S. 531 f.). (Flaubert stützt sich hier, wie ersichtlich, auf die Homologie von künstlerischem und religiösem Feld.) 80 EdH.S. 243. 48 Um das Leben Frederics zu verstehen, dieses Spiels gleichsam der Art »Wer verliert, gewinnt«, muß man sich zum einen des Zusammenhangs bewußt sein, den Flaubert zwischen den diversen Formen der Liebe und den diversen Formen der Liebe zur Kunst herstellt, die sich etwa zur selben Zeit und in derselben Welt, eben der Boheme und der Künstler, entwickeln; zum anderen der Umkehrung, die die Welt der reinen Kunst und die Welt der Geschäfte in Gegensatz bringt. Aus der Perspektive der Geschäfte heißt das Spiel der Kunst: »Wer verliert, gewinnt«. In dieser ökonomisch verkehrten Welt kann zu Geld, Ehren (es war niemand anderes als Flaubert, der sagte: »Ehrungen entehren«), legitimen oder illegitimen Frauen, kurzum: zu allen Symbolen des mondänen wie mundanen Erfolgs, nicht kommen, ohne sein Heil im Jenseits zu kompromittieren. Das grundlegende Gesetz dieses paradoxen Spiels besteht gerade darin, an Interesselosigkeit, Uneigennützigkeit interessiert zu sein: Die Liebe zur Kunst ist Liebe aus Leidenschaft, zumindest von den Normen des gewöhnlichen, des »normalen«, vom bürgerlichen Theater in Szene gesetzten Lebens aus gesehen. Das Gesetz von der Unvereinbarkeit der Welten vollzieht sich über die Homologie von Liebes- und Kunstformen. Um auf der Ebene der Ambitionen zu bleiben: Tatsächlich werden die Pendelbewegungen zwischen der Kunst und der Macht mit Fortschreiten der Geschichte tendenziell immer kürzer; und dies, obwohl Frederic noch lange zwischen einer Machtposition in der Welt der Kunst und einer Stellung in der Verwaltung oder der Geschäftswelt schwankt (der eines Generalsekretärs für die Geschäfte von Monsieur Dambreuse oder der eines Mitglieds im Staatsrat). Auf der amourös-scntimentalen Ebene dagegen bleiben die weiten Schwankungen zwischen Liebe aus Leidenschaft und Liebe aus Gewinnsucht bis zum Ende bestehen: Frederic steht zwischen Madame Arnoux, Rosanette und Madame Dambreuse, während Louise (Roque), die ihm »Versprochene«, als wahrscheinlichste Möglichkeit, für ihn nichts anderes darstellt als ein Refugium und ein Ersatz in den Momenten, da seine »Aktien« - im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne - eine Baisse erleiden.81 Und so widerfahren Frcderic die meisten Zu- 81 Ein Beispiel für derartige Schwankungen: »Seine Rückkehr nach Paris brachte ihm wenig Vergnügen [...] als er nun allein aß, befiel 49 90 und Unfälle, mit denen sich das Universum der Möglichkeiten weiter verengt, durch Vermittlung dieser drei Frauen oder, genauer, durch die Beziehung, die ihn - vermittelt über sie - an Arnoux und an Monsieur Dambreuse bindet, an die Kunst und an die Macht. Diese drei weiblichen Figuren bilden ein System von Möglichkeiten, jede einzelne ist bestimmt im Gegensatz zu den beiden anderen: »Er empfand an ihrer [Mme. Dambreuse] Seite weder jene Entzückung seines ganzen Wesens, die ihn zu Madame Arnoux hingedrängt hatte, noch jene fröhliche Verwirrung, in die ihn Rosanette anfangs versetzt hatte. Er begehrte sie vielmals als etwas Außerordentliches und schwierig zu Erreichendes, weil sie vornehm, weil sie reich, weil sie fromm war.«82 Rosanette dagegen ist im Vergleich zu Madame Arnoux wie das leichte Mädchen zur unerreichbaren Frau, die man sich verwehrt, um weiter von ihr zu träumen, sie weiter zu lieben auf eine unwirklich-vergangene Weise: wie eine Dirne, ein »hergelaufenes Frauenzimmer« gegenüber der unbezahlbaren, geheiligten, »heiligsten« Frau83: »die eine verspielt, heftig und unterhaltsam, die andere ernst und beinahe fromm«.84 Hier eine, deren gesellschaftliche Wahrheit (»eine Dirne«85) immer gegenwärtig ist - so sehr, daß man von dieser Mutter nur einen Sohn akzeptieren kann, der (ihrem eigenen Vorschlag zufolge, womit sie nur ihre eigene Unwürdigkeit anerkennt) Frederic heißen wird, wie sein ihn ein seltsames Gefühl der Verlassenheit, und da dachte er an Louise. Der Gedanke zu heiraten erschien ihm nun nicht mehr als etwas so Außergewöhnliches« (EdH, S. 344). Dagegen am Tag nach seinem Triumph bei den Dambreuse: »Nie war Frederic weiter von der Ehe entfernt gewesen als eben jetzt. Überdies erschien ihm diese Mademoiselle Roque als eine recht lächerliche kleine Person. Was für ein Unterschied war doch zwischen ihr und einer Frau wie Madame Dambreuse! Ihn erwartete eine ganz andere Zukunft!« {EdH, S. 472 f.) Erneute Hinwendung zu Mademoiselle Roquet bzw. zur »Ruhe in der Provinz« nach seinem Bruch mit Madame Dambreuse (EdH, S. 560). 82 EdH, S. 492. 83 EdH,S. 552. 84 EdH, S. 198. 85 EdH, S. 484. 50 Vater. Dort die andere, in allem vorbestimmt, Mutter zu sein86, Mutter eines »kleinen Mädchens«, das ihm gleicht.87 Was Madame Dambreuse betrifft, so steht sie im Gegensatz zu der einen wie der anderen: genaues Gegenteil aller Formen »fruchtloser Leidenschaften«88, wie Frederic sagt, von »Verrücktheiten« und »leidenschaftlicher Liebe«, die die bürgerlichen Familien an den Rand der Verzweiflung bringen, da sie den Ehrgeiz vernichten. Mit Madame Dambreuse, wie mit Louise, wenn auch auf einem höheren Niveau, hebt sich die Antinomie von Macht und Liebe, Herzensliaison und Geschäftsliaison auf: selbst Madame Arnoux kann dem nur applaudieren, knüpft es doch an ihre höchsten Träume an. Freilich verschafft diese bürgerliche Liebe, die Frederic im Rückblick als eine »etwas gemeine Spekulation« erscheint89, zwar Macht und Geld, aber weder Lust noch »Entzückung«; sie nährt sich vielmehr selbst noch aus den authentischen Lieben: »Er machte sich seine alte Liebe zunutze. Er erzählte ihr all das, was ihn Madame Arnoux einst empfinden gelehrt hatte, sein sehnsüchtiges Schmachten, seine angstvollen Abende, seine Träume, so, als ob sie all das in ihm erwecke.«90 »Er erkannte nun, was er sich zu verbergen gesucht hatte: die Enttäuschung seiner Sinne. Nichtsdestoweniger spielte er ihr heftige Glut vor; aber um sie zu empfinden, mußte er sich das Bild von Rosanette oder Madame Arnoux vorstellen.«91 Der erste Vorfall, der Frederics künstlerische Ambitionen zunichte macht, ereignet sich, als er zwischen drei möglichen Bestimmungen für die ihm gerade von seinem Anwalt überwiesenen 1 5 000 Francs wählen soll92: sie Arnoux geben, um ihn (und damit auch Madame Arnoux) vor dem Ruin zu retten; sie Hussonnet und Deslauriers anvertrauen und sich in eine literarische 86 In den kontrastierenden Porträts von Rosanette und Madame Arnoux (EdH, S. 196 ff.) wird der Rolle der Mutter und in sich gekehrten Frau - »Marie«, ein Vorname, der wie Thibaudet vermerkt, >Reinheit< symbolisiert - das größte Gewicht beigemessen. 87 EdH, S. 485. 88 EdH,S. 34j. 89 EdH, S. 560. 90 EdH, S. 492. 91 EdH, S. 503 f. 92 EdH, S. 245. 5i Unternehmung werfen; sie Monsieur Dambreuse für Steinkohlenaktien geben.93 »Aber er blieb zu Hause und verfluchte Des-lauriers, denn er wollte sein Wort halten und andererseits auch Arnoux zu Dank verpflichten.«94 Das Mißverständnis setzt sich fort: Dambreuse bietet ihm die Stelle eines Generalsekretärs an, während er in Wirklichkeit gekommen ist, um auf Bitten von Madame Arnoux für ihren Mann einzutreten.95 So geht für Frederic aus der Beziehung, die ihn über die Liebe zu Arnoux' Frau an diesen, das heißt an die Welt der Kunst, bindet, der Zusammenbruch seiner künstlerischen Möglichkeiten hervor oder, genauer, der Zusammenstoß der sich wechselseitig ausschließenden Möglichkeiten, von denen er beherrscht wird: der Liebe aus Leidenschaft, Grundlage und Manifestation der Weigerung, vom Erbe in Besitz genommen zu werden, also des Verzichts auf Ehrgeiz; des widersprüchlichen Ehrgeizes nach Macht in der Welt der Kunst, das heißt aber im Universum der NichtMacht; des unentschlossenen und geschlagenen Ehrgeizes nach wirklicher Macht. Ein weiterer Vorfall, der, aus Doppelspiel und Quiproquo geboren, allen Doppelspielen ein definitives Ende bereitet: Madame Dambreuse, die erfahren hat, daß die iz ooo Francs, die Frederic unter einem falschen Vorwand von ihr geliehen hatte, zur Rettung von Arnoux, also Madame Arnoux' bestimmt waren96, läßt, auf Anraten Deslauriers', das Hab und Gut der Arnoux versteigern; Frederic, der Rosanette der Tat verdächtigt, bricht mit dieser. Das letzte Treffen, archetypische Manifestation der Struktur, versammelt Madame Dambreuse und Rosanette um die »Reliquien« Madame Arnoux'. Auf den Kauf des Geld- 9) Die gleiche Struktur findet sich in dem »Ein moderner Haushalt« betitelten Projekt: »Die 100 ooo Francs um die sich die Niederträchtigkeiten der Personen drehen, müßten von der Frau, dem Ehemann, dem Geliebten gebraucht werden; die Frau bringt sie durch eine >Schurkerei<, die sie einen in sie verliebten jungen Mann begehen läßt, an sich; für ihren Geliebten bestimmt, gibt sie sie ihrem unerwarteten Bankrott erleidenden Mann« (M. J. Durry, a.a.O., S. 102). 94 EdH, S. 247. 95 EdH,S. 256. 96 EdH, S. $49. kästchens von Madame Arnoux durch Madame Dambreuse, der das Symbol und die Liebe, die jenes symbolisiert, auf ihren Geldwert reduziert (1000 Francs), reagiert Frederic mit dem Bruch; indem er Madame Arnoux »ein Vermögen« opfert97, stellt er sie wieder her als unbezahlbares Objekt, als Objekt ohne Preis. Zwischen der Frau, die Liebe kauft, und jener stehend, die Liebe verkauft, zwischen zwei Verkörperungen bürgerlicher Liebe, der »guten Partie« und der Mätresse, die im übrigen, wie »mon-de« und »demi monde«, hierarchisch angeordnet sind und sich zugleich ergänzen, macht Frederic eine reine Liebe geltend, die sich nicht auf Geld, auf keinen Gegenstand des bürgerlichen Interesses reduzieren läßt, die Liebe für etwas, das sich, wie das Kunstwerk, nicht verkauft und nicht zum Verkaufen gemacht ist. Wie die reine Liebe das L'art-pour-l'art der Liebe ist, so ist das L'art-pour-Part die reine Liebe zur Kunst. Was literarisches Schreiben vom wissenschaftlichen Schreiben unterscheidet: nichts belegt es besser als das ihm ganz eigene Vermögen, die gesamte Komplexität einer Struktur und Geschichte, die die wissenschaftliche Analyse mühsam auseinanderfalten und entwickeln muß, in der konkreten Singularität einer sinnlichen wie sinnlich erfaßbaren Gestalt und eines individuellen Abenteuers, die zugleich als Metapher und Metonymie funktionieren, zu konzentrieren und zu verdichten. So konzentriert sich in der Versteigerungsszene die gesamte Geschichte des »Kästchens mit den Silberschlössern« - in der ihrerseits die Struktur und Geschichte der Konfrontation der drei Frauen und dessen, was sie symbolisieren, verdichtet sind - wie in einem Brennpunkt: Beim ersten Abendessen in der Rue de Choiseul, bei den Arnoux, steht das Geldkästchen auf dem Kamin, und Madame Arnoux wird ihm die Rechnung für den Kaschmirschal entnehmen, den Arnoux Rosanette geschenkt hat; Frederic wird es dann später bei Rosanette wiederfinden, »zwischen einer Vase voll Visitenkarten und einem Tintenzeug«. Und ganz konsequent wird es zum Zeugen und Einsatz der letzten Konfrontation der drei Frauen oder, genauer, der letzten Konfrontation Frederics mit den drei Frauen, die sich um diesen Gegenstand vollzieht und die fast zwangsläufig an Freuds Analyse des »Motivs der Kästchenwahl« gemahnt. 97 EdH, S. 559. 53 52 Bekanntlich zeigt Freud (wobei er eine Szene aus Shakespeares Kaufmann von Venedig zugrunde legt, in der die Freier unter drei Kästchen, eins aus Gold, eins aus Silber und das dritte aus Blei, zu wählen haben), daß dieses Thema ein Motiv behandelt, »die Wahl eines Mannes zwischen drei Frauen«, wobei die Kästchen »Symbole des Wesentlichen an der Frau und darum der Frau selbst« sind.98 Man kann davon ausgehen, daß Flaubert über das mythische Schema, das unbewußt ins Werk gesetzt wird, um jene Art Vergewaltigung der erträumten Reinheit Mme. Arnoux' zu evoziercn, die in der durch Kauf erwirkten Aneignung ihres Kästchens repräsentiert wird, auch ein homologes soziales Schema einsetzt, nämlich den Gegensatz von Ku nst und Geld; er kann so eine Repräsentation einer absolut zentralen Region des sozialen Raums schaffen, die zunächst nicht vorhanden zu sein scheint: des literarischen Feldes selbst, das organisiert ist um den Gegensatz zwischen reiner Kunst, assoziiert mit reiner Liebe, und bürgerlicher Kunst, unter ihren beiden Formen, der sozusagen höheren käuflichen Kunst, vertreten durch das bürgerliche Theater, und assoziiert mit der Gestalt von Mme. Dambreuse, und der niederen käuflichen Kunst, vertreten durch das Vaudeville, das Kabarett und den Fortsetzungsroman, für die Rosanette steht. Erneut muß man davon ausgehen, daß über und durch die Ausarbeitung einer Geschichte der Autor dazu gebracht wird, die zutiefst vergrabene, dunkelste, weil am unmittelbarsten an seine primären Investitionen und Besetzungen gebundene Struktur zutage zu fördern, die seinen mentalen Strukturen und literarischen Strategien zugrunde liegt. Die Macht des Schreibens Damit befinden wir uns nun am wirklichen Ort der so häufig vermuteten Identität von Flauben und Frédéric. Da, wo man gewöhnlich eine jener selbstgefälligen und naiven Projektionen der autobiographischen Gattung sieht, muß in Wahrheit ein Ver- 98 Sigmund Freud, »Das Motiv der Kästchenwahl«, in: Gesammelte Werke, Bd. X, Frankfurt am Main: Fischer, 4i9Ö7. 54 such der Selbstobjektivierung, der Selbstanalyse, der Sozioana-lyse gesehen werden. Flaubert scheidet sich von Frederic, von der Unbestimmtheit und Ohnmacht, die ihn kennzeichnen, im Akt des Schreibens der Geschichte von Frederic, dessen Ohnmacht sich unter anderem in der Unfähigkeit bekundet, zu schreiben, Schriftsteller zu werden." Nicht um damit die Identität von Autor und Person nahezulegen, vielmehr sicher deshalb, weil er damit die Distanz zu kennzeichnen sucht, die er gegenüber Gustave und dessen Liebe für Mme. Schlesinger einnimmt, verweist Flaubert darauf, daß Frederic einen Roman zu schreiben beginnt, der, bald wieder aufgegeben, in Venedig spielen sollte und dessen »Held er selber, die Heldin Madame Arnoux (war)«.100 Flauben sublimiert die Unbestimmtheit, Unentschlossenheit von Gustave, seine »tiefgründige Apathie«101, durch die nachträgliche Aneignung seiner selbst im Akt des Schreibens der Geschichte von Frederic. Frederic liebt in Madame Arnoux jene, »die den Frauen aus den romantischen Büchern« gleicht102; im wirklichen Glück findet er nie das einst Erträumte wieder103; beim Anblick der abgebildeten königlichen Mätressen überkommt ihn »eine unsagbare Begierde nach der Vergangenheit«104; gleichsam um die erträumten Befriedigungen, die die Nichtbefriedigung verschafft, zu bewahren, verschwört er sich kraft seiner Ungeschicktheiten, seiner Unentschlossenheit und Empfindlichkeit mit den objektiven Zufällen, die die Befriedigung eines Verlangens oder eines Ehrgeizes hinauszögern, wenn nicht verhindern.105 Denken wir auch an jenen Satz ganz am 99 Begreiflich, daß er zunächst - durch den Erfolg von Madame Bo-vary - des »nicht negativen« Charakters seiner »Berufung« als Schriftsteller völlig sicher sein mußte, bevor er in der Lage war, die Erziehung des Herzens zu vollenden. 100 EdH, S. 39. 101 J.-P. Richard, »La ercation de la forme chez Flaubert«, in: Littera-ture et Sensation, Paris: Seuil, 1954, S. 12. 102 EdH, S. 19. 103 EdH, S. 283. 104 EdH, S. 435. 105 Zum Beispiel: »Frederic verfluchte sich wegen seiner Torheit« (EdH, S. 230); »Und Frederic liebte sie so sehr, daß er ging. Bald 55 Ende des Romans, der die sehnsüchtige Erinnerung Frederics und Deslauriers' an den verpatzten Besuch bei der Türkin beschließt: »Das war doch das Beste, was wir gehabt haben.« Dieser Zusammenbruch der Naivität wie der Reinheit erweist sich im nachhinein als Erfüllung: tatsächlich verdichtet sich in ihr die gesamte Geschichte Frederics, das heißt die Erfahrung des virtuellen Besitzes mehrfacher Möglichkeiten, unter denen man nicht wählen will und nicht wählen kann, die aufgrund der Unent-schlossenheit, die sie bedingt, der Ohnmacht zugrunde liegt. Zu dieser verzweifelt retrospektiven Offenbarung sind all jene verdammt, die ihr Leben im Modus der vollendeten Zukunft leben können, wie Mme. Arnoux, wenn sie ihre Beziehung zu Frederic heraufbeschwört: »Was liegt an allem anderen, wir haben einander sehr geliebt!« Es ließen sich genug Sätze aus Flauberts Briefen zitieren, in denen Flaubert genau die Sprache Frederics zu sprechen scheint: »Viele Dinge, die mich kalt lassen, entweder wenn ich sie sehe oder wenn andere davon sprechen, versetzen mich in Begeisterung, regen mich auf, verletzen mich, wenn ich darüber spreche, und vor allem, wenn ich schreibe.«106 »Du kannst den Wein, die Liebe, die Frauen, den Ruhm, unter der Bedingung schildern, daß du weder Trunkenbold noch Liebhaber, Ehemann oder Infanterist bist. Wenn man sich in das Leben mischt, sieht man es schlecht; man leidet daran oder genießt es zu sehr. Der Künstler ist nach meiner Auffassung eine Ungeheuerlichkeit, etwas Widernatürliches.«107 Doch der Autor der Erziehung ist genau derjenige, der die »inaktive Leidenschaft«108 Frederics in ein künst- aber ergriff ihn Zorn gegen sich selber, er nannte sich einen Dummkopf« (EdH, S. 366); und vor allem S. 567 ff., das allerletzte Treffen mit Madame Arnoux. Allgemeiner: jede Tat ist »um so unausführbarer, je stärker der Wunsch nach ihr ist« (der sich im übrigen in der Phantasie zwangsläufig aufs höchste steigert). 106 G. Flaubcrt, Die Briefe an Louise Colet, a.a.O., S. 161 (Brief vom 8. Oktober 1846). 107 G. Flaubcrt, Briefe, hg. und übersetzt von Helmut Scheffel, Stuttgart: Goverts 1964,5.163 (Brief an die Mutter, 15. Dezember 1850). 108 »[...] ich will die moralische Geschichte der Männer meiner Generation schreiben; >sentimental< stimmte noch mehr. Es ist ein Buch der Liebe, der Leidenschaft, aber einer Leidenschaft, wie sie heute 56 lerisches Projekt umzusetzen vermochte. Flaubert konnte nicht sagen: »Frederic, das bin ich.« Im Schreiben einer Geschichte, die die seine hätte sein können, negiert er, daß diese Geschichte eines Scheiterns die Geschichte desjenigen ist, der sie schreibt. Flauben hat zu einem Entschluß erhoben, was sich Frederic als Schicksal aufzwang: die Ablehnung gesellschaftlicher Bestimmungen, jener, die wie der ganze bürgerliche Unsegen sich an eine gesellschaftliche Position heften, ebenso wie die genuin intellektueller Zeichen, wie etwa die Zugehörigkeit zu einer literarischen Gruppe oder einer Zeitschrift.109 Sein ganzes Leben hat er versucht, sich in jener unbestimmten sozialen Position zu halten, an jenem neutralen Ort, von dem aus sich die Gruppen und ihre Konflikte überfliegen lassen, die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Arten von Intellektuellen und Künstlern untereinander wie deren gemeinsamer Kampf gegen die verschiedenen Spielarten von »Eigentümern«. Die Erziehung des Herzens markiert einen ausgezeichneten Moment in dieser Arbeit, insofern die ästhetische Intention und die darin enthaltene Neutralisierung sich gerade auf die Möglichkeit richten, die jene negieren mußte, um sich zu konstituieren, nämlich die passive Unbestimmtheit Frederics, das spontane und darin sogar mißlungene Äquivalent der aktiven Unbestimmtheit des »Schöpfers«, an dessen Erzeugung sie arbeitet. Die unmittelbare Vereinbarkeit aller gesellschaftlicher Positionen, die im Alltagsleben nicht gleichzeitig, nicht einmal nacheinander eingenommen werden können, zwischen denen wohl oder übel gewählt werden muß, durch die man, ob man will oder nicht, gewählt wird: allein in der und durch die literarische Schöpfung ist sie lebbar. »Eben deshalb liebe ich die Kunst. Dort jedenfalls ist alles Freiheit, in dieser Welt der Funktionen. - Dort kann man alles befriedigen, alles tun, man ist sein König und zugleich sein Volk, aktiv und passiv, Opfer und Priester. Keine Grenzen; die Menschheit ist einem ein Hampelmann mit Schellen, die man am Ende seines Satzes klingeln läßt, wie ein bestehen kann, das heißt als >inaktive<.« (An Mademoiselle Leroyer de Chantepie, 6. Oktober 1864, Correspondance, Paris: Pleiade, Bd. III, a.a.O., S. 409). 109 G. Flaubert, Die Briefe an Louise Colet, a.a.O., S. 625 (31. März 1853); und an dieselbe, ebd., S. 669 f. (3. Mai 1853). 57 Gaukler an seiner Fußspitze.«"2 Oder denken wir an die imaginären Biographien, die sich der Heilige Antonius im nachhinein ausmalt: »Ich hätte bei den Mönchen von Nitrium bleiben sollen [...]. Aber meinen Brüdern hätte ich besser gedient, wenn ich einfach Priester geworden wäre [...] ich hätte auch ... beispielsweise ... Philologe oder Philosoph werden können [...]. Lieber Soldat. [...] Und ebenso hätte ich mit meinem Geld einen Zöllnerposten an irgendeiner Brücke kaufen können [...]«ul Unter den vielfältigen Variationen zum Thema kompossi-bler Existenzen sei nur die eine Passage aus einem Brief an George Sand zitiert: »Ich empfinde nicht dieses Gefühl eines beginnenden Lebens, diese Verblüffung über das frisch erblühende Dasein, wie Sie es empfinden. Es kommt mir im Gegenteil so vor, als ob ich von jeher existiert hätte! Und ich besitze Erinnerungen, die bis zu den Pharaonen zurückreichen. Ich sehe mich sehr deutlich in verschiedenen Zeitaltern mit unterschiedlichen Berufen und unter den verschiedenartigsten Lebensumständen. Mein derzeitiges Individuum ist das Ergebnis meiner früheren Individualitäten. Ich war Bootsmann auf dem Nil, leno in Rom zur Zeit der Punischen Kriege, dann griechischer Rhetor in Suburra, wo ich von den Wanzen aufgefressen wurde. Ich bin während der Kreuzzüge gestorben, weil ich am Strand von Syrien zuviel Weintrauben gegessen habe. Ich war Pirat und Mönch, Gaukler und Kutscher. Vielleicht auch Kaiser im Orient?«112 Schreiben setzt alle Determinierungen, alle grundlegenden Zwänge und Beschränkungen des gesellschaftlichen Daseins außer Kraft. Gesellschaftlich zu existieren heißt, eine bestimmte Stellung innerhalb der sozialen Struktur einzunehmen und deren Stempel zu tragen - nicht zuletzt in Form verbaler Automatismen oder mentaler Mechanismen113; heißt auch, von Gruppen 110 G. Flaubert, Die Briefe an Louise Colet, a.a.O., S. 426 (15./16. Mai 1852). 111 G. Flaubert, Die Versuchung des Heiligen Antonius. Aus dem Französischen von Barbara und Robert Picht, Frankfurt am Main: Insel 1966, S. 10 f. 112 Gustave Flaubcrt/George Sand, Eine Freundschaft in Briefen, hg. und erläutert von Alphonse Jacobs, aus dem Französischen von Annette Lallcmand, Helmut Scheffel und Tobias Scheffel, München: Beck 1992, S. 74 (Brief vom 29. September 1866). 113 Dabei handelt es sich natürlich um jene »Gemeinplätze«, die Flau-bert ingrimmig und ausdauernd verfolgt, bei sich wie bei den anderen; daneben auch um die einen Menschen charakterisieren- 58 abzuhängen, von ihnen gehalten zu werden und sich an sie zu halten, kurz: ihnen zuzugehören, in Netzwerke sozialer Beziehungen mit der Objektivität, Undurchdringlichkeit, Beständigkeit eines Dings eingebunden zu sein, die sich in Gestalt von Verbindlichkeiten, moralischen Schulden, Pflichten, also Kontrollen und Zwängen in Erinnerung bringen. Der auf die soziale Welt bezogene Idealismus setzt, wie der Idealismus Berkeleys, den Blick aus der Vogelperspektive voraus, die absolute Perspektive des souveränen Zuschauers, der frei ist von Abhängigkeit und Arbeit, worin sich noch immer der Widerstand der physischen und der sozialen Welt geltend macht, und in der Lage, wie Flaubert sagt, »sich mit einem Sprung über die Menschheit zu erheben und mit ihr nichts mehr gemein zu haben als einen Blickkontakt«. Ewigkeit und Allgegcnwart: beide göttlichen Attribute billigt sich auch der reine Beobachter zu: »Ich sah die anderen leben, aber ein anderes Leben als meins: die einen glaubten, die andere leugneten, andere zweifelten, wieder andere kümmerten sich überhaupt nicht um das alles und machten ihre Geschäfte, das heißt verkauften in ihren Läden, schrieben ihre Bücher oder schrien auf ihrem Katheder.«114 Hier wird einmal mehr die grundlegende Beziehung Flauberts zu Frederic sichtbar: als überwundene und bewahrte Möglichkeit von Gustave. Anhand der Figur von Frederic, die er hätte sein können, objektiviert Flaubert den auf die soziale Welt bezogenen Idealismus, der sich in Frederics Verhältnis zur Gesamtheit der seinen Aspirationen angebotenen Möglichkeiten bekundet, im Dilettantismus des zeitweise von Zwängen des Sozialen befreiten bürgerlichen Jugendlichen, den nichts zwingt, »jemanden zu schonen«, der »ohne Heim und Herd, ohne Glaube und ohne Gesetz ist«, wie Sartre es in La Mort dansl'äme formulieren wird. Zugleich ist die Gabe gesellschaftlicher Allgegenwart, die den Sprachgewohnheiten, etwa das, was er die »Redensarten« Rosanettes nennt (»Pustekuchen!« »Hol's der Teufel!« »Du ahnst es nicht«), oder Mmc. Dambreuscs »gewöhnliche Ausrufe« (»Ein ganz unbewußter Egoismus äußerte sich in ihren gewöhnlichen Ausdrücken wie >Was macht mir das aus? Da war ich schön dumm! Hab' ich das nötig?<« {EdH, S. 487 und S. $25). 114 G. Flaubert, November, übersetzt von Traugott König, Zürich: Diogenes 1991, S. 169. 59 Frederic anstrebt, der gesellschaftlichen Definition des Handwerks des Schriftstellers eingeschrieben, sie wird fortan zum Bild des Künstlers als eines bindungs- und wurzellosen, ungeschaffenen »Schöpfers« gehören, das nicht nur die intellektuelle Produktion leitet, sondern die gesamte Erfahrung der Lage des Intellektuellen. Aber die Frage nach den sozialen Determinanten des Ehrgeizes, sich aller Determinierungen zu entziehen und die soziale Welt und ihre Konflikte gleichsam nur im Geiste zu überfliegen, ist schwer zu umgehen. Mit der Geschichte Frederics wird daran erinnert, daß die intellektuelle Ambition auch nur die imaginäre Umkehrung des Zusammenbruchs der weltlichen Ambitionen sein könnte. Ist es nicht bezeichnend, daß Frederic auf dem Höhepunkt seiner Karriere seine Verachtung für die Freunde -Revolutionäre, die versagten, oder revolutionäre Versager? -nicht verhehlt, sich jedoch niemals intellektueller fühlt als dann, wenn die Geschäfte schlecht gehen? Durch Monsieur Dambreu-ses Tadel wegen seiner Aktien und durch Madame Dambreuses Anspielungen auf seinen Wagen und auf Rosanette gleichermaßen aus der Fassung gebracht, verteidigt er im Kreise der Bankiers die Positionen der Intellektuellen bis hin zum abschließenden »Ich pfeif auf die Geschäfte!«113 Wie sollte sich der Schriftsteller nicht fragen, ob die Verachtung des Schriftstellers für den »Bourgeois« und den weltlichen Besitz, worin dieser gefangen ist-Güter, Titel, Auszeichnungen, Frauen -, nicht doch etwas zu tun hat mit dem Ressentiment des gescheiterten Bürgers, das ihn dazu verleitet, sein Scheitern zum Aristokratismus des freigewählten Verzichts zu stilisieren? »Künstler: ihre Uneigennützigkeit herausstreichen«, heißt es im Wörterbuch der Gemeinplätze. Der Kult der Uneigennützigkeit bildet die Basis einer wundersamen Umkehrung, die aus Armut verworfenen Reichtum, mithin geistigen Reichtum macht. Das armseligste intellektuelle Projekt ist ein Vermögen wert: das, was man ihm opfert. Mehr noch: kein weltliches Vermögen kann mit ihm konkurrieren, da es allemal vorgezogen würde ... Was die Autonomie anbelangt, die jenen imaginären Verzicht rechtfertigen soll, könnte es nicht die auf seine abgetrennte Welt be- 115 EdH, S. 325. 60 schränkte und ihm vom Bürger zugewiesene bedingte Freiheit sein? Bleibt die Revolte gegen den »Bourgeois« nicht so lange von dem beherrscht, was sie anficht, wie sie nicht den eigentlich reaktiven Grund ihrer Existenz durchschaut? Wie könnte man sicher sein, daß es nicht immer noch der »Bourgeois« ist, der, indem er den Schriftsteller auf Distanz hält, diesem allererst ermöglicht, ihm gegenüber auf Distanz zu gehen?116 Die Formel Flauberts Mittels der Person Frederics und der Beschreibung von dessen Position im sozialen Raum liefert oder verrät Flaubert die seiner eigenen Romanschöpfung unterliegende Erzeugungsformel: die Beziehung der doppelten Verweigerung gegensätzlicher Positionen in den verschiedenen sozialen Räumen und der entsprechenden Positionierungen, die einer Beziehung der objektivierenden Distanz gegenüber der sozialen Welt zugrunde liegt. »Frederic war in zwei mächtige Massen eingezwängt und rührte sich nicht. Er war hingerissen und aufs äußerste erregt. Die Verwundeten, die fielen, und die Toten, die hingestreckt lagen, sahen gar nicht wie wirkliche Verwundete und wirkliche Tote aus, es mutete ihn an, als ob alles nur ein Schauspiel wäre.«"7 Zahllose Belege dieses ästhetischen Neutralismus ließen sich anführen: »Das Schicksal des heutigen Arbeiterstandes rührt mich nicht mehr als das der antiken Sklaven, die den Mühlstein drehten, nicht mehr oder ebenso sehr. Ich bin nicht moder- 116 Man denkt an die Reflexionen, die der Erfolg Martinons bei Frederic auslöst: »Es gibt nichts Erniedrigenderes, als erleben zu müssen, wie Dummköpfe bei Unternehmungen Erfolg haben, bei denen man selbst gescheitert ist.« (EdH, S. 89). Die ganze Ambivalenz der subjektiven Beziehung des Intellektuellen zu den Herrschenden und deren falsch erworbener Macht liegt in der Unlogik dieses Ausspruchs. Die zur Schau getragene Verachtung des Erfolgs könnte auch nichts anderes sein als eine bestimmte Art, aus der Not eine Tugend zu machen, während der Traum einer Vogelperspektive nichts anderes sein könnte als eine illusorische Art und Weise, den Determinierungen zu entgehen, illusorisch, weil noch Teil der der Stellung des Intellektuellen immanenten Determinierungen. 117 EdH, S. }88. Von P. B. hervorgehoben. 61 I ner, als ich von früher bin, nicht mehr Franzose als Chinese.«"8 »Für mich gibt es auf der Welt nur schöne Verse, gut formulierte, harmonische, melodische Sätze, schöne Sonnenuntergänge, Mondschein, bunte Gemälde, antike Marmorplastiken, markante Köpfe. Darüber hinaus, nichts. Ich wäre lieber Talma gewesen als Mirabeau, weil er in einer Sphäre reiner Schönheit gelebt hat. - Vögel im Käfig erregen ebenso mein Mitleid wie Völker in der Sklaverei. Bei der ganzen Politik gibt es nur eine Sache, die ich begreife, und das ist der Aufstand. Fatalist wie ein Türke, glaube ich, daß alles, was wir für den Fortschritt der Menschheit tun können, oder nichts, absolut dasselbe ist.«"9 An George Sand, die seine nihilistische Begeisterung provoziert, schreibt er: »Ah! wie habe ich den niederträchtigen Arbeiter, den dummen Bourgeois, den stumpfsinnigen Bauern und den widerwärtigen Kleriker satt! Das ist der Grund, weshalb ich mich, so sehr ich kann, in die Antike versenke.«12 Diese doppelte Ablehnung liegt sicher auch der Vielzahl der Personenpaare zugrunde, die wie Erzeugungsschemata des Romandiskurses funktionieren: Henry und Jules in der ersten Fassung der Erziehung des Herzens, Frederic und Deslauricrs, Pellerin und Delmar in der endgültigen Fassung usw. Geltend macht sie sich auch im Geschmack für Symmetrien und Antithesen (ganz besonders anschaulich in den von Demorest veröffentlichten Plänen von Bouvard und Pecuchet), Antithesen zwischen parallelen Dingen, Parallelen zwischen antithetischen Dingen, und nicht zuletzt in den kreuzweise geknickten Lebensläufen, die so viele Figuren Flauberts von einem extremen Punkt des Macht-Feldes zum anderen führen, mitsamt aller damit einhergehenden Zurücknahmen der Gefühle und politischen Schwenks, die nichts anderes sind als zeitliche Entwicklungen in Gestalt biographischer Prozesse derselben chiasmischen Struktur. In der Erziehung des Herzens: Hussonnet, einstiger Revolutionär, der zum konservativen Ideologen wird; Senecal, einstiger Republikaner, der Polizeispitzel im Dienste des Staatsstreichs wird und auf den Barrikaden seinen früheren Freund Dussardier niederstreckt.121 118 G. Flaubert, Die Briefe an Louise Colet, a.a.O., S. 75 (16. August 1846). 119 Ebd., S. 28 f. (6V7. August 1846). 120 Flaubert/Sand, Eine Freundschaft in Briefen, a.a.O., S. 334 (Brief vom 6. September 1871). 121 Diese strikt immanente Analyse der Merkmale des Werks wird (im 62 Am deutlichsten jedoch offenbart sich dieses dem Schaffen Flauberts zugrunde liegende Erzeugungsschema in den Notizbüchern, in denen Flaubcrt die Pläne für seine Romane festhielt; in ihnen treten die Strukturen, die der formgebendc Schreibakt später verwischen und verschleiern wird, in aller Klarheit zutage. Dreimal zwei Paare aus antithetischen Figuren, deren Lebensbahnen sich kreuzen, müssen alle scheinbar völlig unüberwind-baren Gegensätze in actu überwinden, müssen kehrtmachen und widerrufen, ihre Meinung ändern, und zwar vor allem, zum Entzücken des desillusioniertcn Bürgers, von links nach rechts. Das nachstehende Projekt, Der Eid der Freunde, ist vollständig zu zitieren; in ihm zeigt Flaubert, in einem dem der Erziehung des Herzens sehr ähnlichen sozialen Raum angesiedelt, zwei Prozesse der Kehrtwendung, die er so sehr mag. DER EID DER FREUNDE Ein undurchsichtiger [Industrieller] kommt zu einem gr Vermögen , ein Literat, zunächst Dichter... dann, abfallend, Journalist wird berühmt Paar ' ein wahrer Dichter - immer verfeinerter und obskurer - konkret Arzt Jurist, Mann des Rechts. Notar Advokat - Republikaner, wird Staatsanwalt. Paar \ Arbeit der Familie u ihn zu demoralisieren (ern. chevalier) ein wahrer Republikaner, nacheinander alle Utopien (Emm. Vasse) endet unter der Guillotine angestellt in einem Büro Die Erniedrigung des Mannes durch die Frau. -Der demokratische Held, , Freidenker <& arm> verliebt in eine angeschene katholische Dame. Philosophie und moderne Religion in Opposition, - folgenden Kapitel) inhaltlich gefüllt mit den Ergebnissen der Beschreibung des literarischen Feldes und Flauberts Stellung darin. 63 & sich wechselseitig infiltrierend. Er ist zunächst tugendhaft u sie zu verdienen. - dann, als er sieht, daß das zu nichts nütze ist, wird er Schuft. & erhebt sich am Ende wieder durch einen Akt der Aufopferung. -Rettet sie während der Kommune, an der er teilnimmt, dann sich gegen die Kommune kehrt Sc kommt durch die Versailler um. Er ist zunächst Lyriker - dann Dramatiker - dann Romancier Beamter, als das Kaiserreich zusammenbricht - Hat sich zur Macht orientiert während des Ministeriums Olivier. Da [wird] Sie ihm seine Tochter geben Ein Liberaler (ein wenig skeptisch) die Katholikin besticht ihn auf zarte Weise - Sie verliert den Glauben, er schlängelt sich durch M. J. Durry, a.a.O., S. 111; S. 2$8 f. Alles drängt zu der Annahme, daß die Arbeit des Schreibens (jene so häufig von Flaubert angeführten »Qualen des Stils«) zunächst darauf abzielt, die unkontrollierten Effekte der ambivalenten Beziehung zu all den im Macht-Feld Kreisenden in die Gewalt zu bekommen. Diese Ambivalenz, die Flaubert mit Frederic gemein hat (in dem er sie objektive Gestalt gewinnen läßt) und die bewirkt, daß er sich nie mit einer seiner Figuren völlig identifizieren kann, stellt sicher auch das praktische Fundament jener extremen Wachsamkeit dar, mit der er die der Situation des Erzählers inhärente Distanz unter Kontrolle hält. Das Bemühen, die Personenverwechslung zu vermeiden, der Romanschriftsteller allzuoft anheimfallen (wenn sie die Romangestalten mit ihren Gedanken ausstatten), und bis in die entscheidende Identifikation aus wahrem Verstehen hinein eine Distanz aufrechtzuerhalten, erscheint mir als die gemeinsame Wurzel einer Reihe von stilistischen Merkmalen, die in unterschiedlichen Analysen ausgemacht wurden: der absichtlich zweideutige Gebrauch des Zitats, das als Bestätigung wie als Verhöhnung eingesetzt wird und zugleich Feindschaft (Thema des »sottisier«, der Stilblütensammlung) wie Identifizierung ausdrücken kann; die versierte Verzahnung von direktem, indirektem und freiem indirektem Stil, die erlaubt, auf ungeheuer subtile Weise die Distanz zwischen Subjekt und Objekt der Erzählung und dem Standpunkt des Erzählers in bezug auf den Standpunkt der Romanfiguren zu variieren (»Von allen Franzosen zitterte am meisten Dambreuse. Die neuen Verhältnisse bedrohten sein Vermögen und spotteten vor allem seiner Erfahrung. Ein so gutes System, ein so weiser König, war das möglich?! Die Welt mußte untergehen! Von einem Tag auf den anderen entließ er drei Diener, verkaufte seine Pferde, kaufte sich für die Straße einen weichen Hut und dachte sogar daran, sich den Bart wachsen zu lassen«1"); der Gebrauch des als ob (»Von einer eisigen Traurigkeit erfaßt, fröstelte ihn, als ob ganze Welten von Elend und Verzweiflung vor sein Auge getreten wären ...«), der, wie Gerard Genette feststellt, »eine hypothetische Sicht einführt«123 und ausdrücklich daran erinnert, daß der Autor den Romanfiguren wahrscheinliche Gedanken zuschreibt, statt ihnen, ohne es zu wissen und, auf jeden Fall, ohne es kenndich zu machen, ihnen »seine eigenen Gedanken zu leihen«; der von Proust124 aufgewiesene Gebrauch der Verbzeiten, insbesondere des Imperfekts und des historischen Perfekts, des passe simple, mit denen sich wechselnde Distanzen zum Präsens der Erzählung und des Erzählers markieren lassen; der Rückgriff auf leere Stellen, die, riesigen Auslassungspunkten gleich, Platz lassen für die stumme Reflexion des Autors wie des Lesers; das von Roland Barthes125 ausgemachte »verallgemeinerte Asyndeton«, die negative - folglich nicht bemerkte - Bekundung des Zurücktretens des Autors, die sich kenntlich macht durch den Wegfall jener winzig kleinen logischen Interventionen, der Verbindungspartikel, über die auf unmerkliche Weise Kausalitäts- oder Finalitätsbeziehungen, Beziehungen des Gegensatzes oder der Ähnlichkeit eingeführt iaa EdH, S. 400. 123 G. Genette, Figures, Paris: Scuil, 1966, S. 229 f. 124 Siehe M. Proust, »Über den >Stil< Flauberts«, in: Essays, Chroniken und andere Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992; sowie ders., »Flaubert«, in: Gegen Sainte-Beuve, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. [A.d.Ü.J I2J R. Barthes, Die Lust am Text, aus dem Französischen von Traugott König, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 16. 65 werden und womit sich eine ganze Philosophie des Handelns und der Geschichte einschleicht. Diese doppelte Distanz des gesellschaftlichen Neutralismus und des steten Hin und Her zwischen Identifizierung und Feindschaft, Billigung und Häme, das damit gefördert wird, machte Flaubert wie geschaffen für die Hervorbringung einer Sicht des Macht-Feldes, wie er sie dann in der Erziehung des Herzens ausbreitet. Einer Sicht, die man soziologisch nennen könnte, trennte sie von einer wissenschaftlichen Analyse nicht die Form, in der sie sich zugleich offenbart und kaschiert. Tatsächlich reproduziert die Erziehung des Herzens auf außerordentlich exakte Weise die Struktur der sozialen Welt, in der dieses Werk produziert wurde, ja sogar die mentalen Strukturen, die, durch jene sozialen Strukturen geformt, das Erzeugungsprinzip des Werks darstellen, in dem diese Strukturen aufscheinen. Aber das bewirkt es mit den ihm eigenen Mitteln, das heißt, indem es sehen und empfinden läßt, in Exemplifizierungen oder, besser, in Evokationen im Sinne von Beschwörungen, die - insbesondere auf Körper - Wirkungen hervorrufen können durch die »beschwörende Magie« von Worten, die »zur Sensibilität zu sprechen« und einen Glauben und eine imaginäre Teilhabe zu erwirken vermögen analog jenen, die wir gewöhnlich der realen Welt zubilligen.126 Die sinnlich wahrnehmbare Übertragung verschleiert die Struktur, in der Form selbst, in der sie sie darstellt und dank der es ihr gelingt, einen Glaubenseffekt (und weniger Realitätseffekt) hervorzubringen. Und dies ist es wohl auch, weshalb das literarische Werk manchmal mehr sogar über die soziale Welt aussagen kann als so manche vorgeblich wissenschaftliche Schrift (vor allem wenn, wie hier, die Schwierigkeiten, die es zu überwinden gilt, um zur Erkenntnis zu gelangen, weniger intellektuelle Hindernisse sind als Widerstände des Willens). Allerdings sagt sie es auf eine Weise aus, in der es nicht wirklich ausgesagt wird. Die Entschleierung findet darin ihre Grenze, daß der Schriftsteller gewissermaßen die Kontrolle bewahrt über die 126 Der Glaubenseffekt, den der literarische Text erzeugt, beruht, wie wir sehen werden, auf dem Zusammenklang zwischen den von ihm eingesetzten Vorannahmen und jenen, die wir in der Alltagserfahrung der Welt einsetzen. 66 Wiederkehr des Verdrängten. Der von ihm vollzogene Formgebungsakt funktioniert wie ein allgemeiner Euphemismus, und die von ihm vorgelegte literarisch entwirklichte und neutralisierte Wirklichkeit erlaubt ihm, einen Erkcnntniswillen zu befriedigen, der bereit ist, sich mit der Sublimierung zufriedenzugeben, die ihm die literarische Alchimie vorlegt. Um die Struktur völlig zu entschleiern, die der literarische Text im Akt der Entschleierung selbst wieder verschleiert, muß die Analyse die Erzählung eines Abenteuers auf das Protokoll einer Art experimenteller Montage reduzieren. Verständlich, daß ihr etwas zutiefst Entzauberndes anhaftet. Doch die feindselige Reaktion, die sie provoziert, zwingt doch auch, in aller Deutlichkeit die Frage der Besonderheit des literarischen Ausdrucks aufzuwerfen: Formgebung bedeutet auch Beachtung der Formen, und die durch den literarischen Ausdruck vollzogene Verneinung erlaubt die begrenzte Äußerung einer Wahrheit, die anders gesagt untragbar wäre. Der »Realitätseffekt« ist jene sehr spezifische Form von Glauben, die die literarische Fiktion produziert vermittels eines verleugneten Bezugs zum bezeichneten Realen, der zu wissen erlaubt, zugleich aber ablehnt zu wissen, was es wirklich damit auf sich hat. Die soziologische Lektüre bricht den Zauber. Indem sie das geheime Einverständnis aufhebt, das Autor und Leser in der gleichen Beziehung der Verleugnung der durch den Text zum Ausdruck gebrachten Realität vereint, offenbart sie die Wahrheit, die der Text zwar äußert, aber auf eine sie wieder nicht äußernde Weise; zudem bringt sie a contrario die Wahrheit des Textes selbst zum Vorschein, dessen Besonderheit sich gerade dadurch auszeichnet, daß er das, was er sagt, nicht so sagt wie die soziologische Lektüre.127 Die Form, in der sich die literarische Objektivierung äußert, ermöglicht sicher das Zutagetreten der profundesten, der bestkaschierten Wirklichkeit (im 127 Der Erziehung des Herzens den Status eines »soziologischen Dokuments« zuzuschreiben, wie es häufig gemacht wird (siehe zum Beispiel J. Y. Dangelzer, La Dcscription du milieu dans le roman francais, Paris 1939; oder B. Slama, »Une Iecture de L'Education sentimentale*, in: Litterature, Nr. 2, 1973, S. 19-38), wobei man sich an die äußerlichsten Merkmale der Beschreibung des »Milieus« hält, bedeutet, an der Besonderheit der literarischen Arbeit vorbeizugehen. 67 vorliegenden Fall der Struktur des Macht-Feldes und des Modells sozialen Alterns), weil sie den Schleier bildet, der es dem Autor wie dem Leser erlaubt, das Wirkliche den anderen und sich zu verbergen. Der Zauber des literarischen Werks gründet gewiß zu einem Großteil darin, daß es von den ernstesten Dingen spricht, ohne-im Gegensatz zur Wissenschaft, Searle zufolge - zu verlangen, daß man es vollkommen ernst nimmt. Das Geschriebene bietet dem Autor selbst wie dem Leser die Möglichkeit eines verleugnenden Verstehens, das kein halbes Verstehen ist. In seiner Kritik der dialektischen Vernunft sagt Sartre im Hinblick auf seine ersten Leseerfahrungen mit dem Werk von Marx: »Ich verstand alles und ich verstand nichts.« So stellt sich das Verstehen des Lebens dar, wie es uns die Romanlektüre vermittelt. Man kann, nach den Worten Flauberts, mit Schreiben oder Lesen nur deshalb »alle Leben leben«, weil dies ebenso viele Arten und Weisen sind, sie nicht wirklich zu leben. Und erleben wir wirklich einmal das, was wir schon hundertmal beim Lesen von Romanen erlebt haben, so müssen wir unsere »Erziehung des Herzens« wieder von null an beginnen. Flaubert, der Romancier der roma-nesken Illusion, führt uns so ein in das Prinzip dieser Illusion. In der Wirklichkeit wie in den Romanen sind die sogenannten ro-manesken Gestalten, zu denen man auch die Autoren von Romanen zählen muß - »Madame Bovary, das bin ich« -, vielleicht jene, die die Fiktion nicht deshalb ernst nehmen, um, wie es heißt, der Realität zu fliehen und ein Entkommen in imaginäre Welten zu suchen, sondern weil es ihnen, wie Frederic, nicht gelingt, die Realität ernst zu nehmen; weil sie außerstande sind, das Gegenwärtige sich so zu eigen zu machen, wie es sich präsentiert, das Gegenwärtige in seiner insistierenden und dadurch Schreck auslösenden Präsenz. Dem Funktionieren aller sozialen Felder, dem der Literatur wie der Macht, liegt die illusio zugrunde, die Investition ins Spiel und die affektive Besetzung des Spiels. Frederic ist jener, dem es nicht gelingt, in eines der Spiele der Kunst wie des Geldes, die die soziale Welt produziert und vorlegt, sich selbst einzubringen. Grundlage seines Bovarysmus ist die Unfähigkeit, das Reale ernst zu nehmen, das heißt die Einsätze der sogenannten ernsten Spiele. Die romaneske Illusion, die in ihren radikalsten Formen, mit 68 Don Quichotte oder Emma Bovary, bis zur völligen Abschaffung der Grenze zwischen Realität und Fiktion gehen kann, hat somit ihre Grundlage in der Erfahrung der Realität als Illusion: Erscheint die Adoleszenz als das romaneske Alter schlechthin -und Frederic als exemplarische Verkörperung dieses Alters -, dann vielleicht deshalb, weil der Eintritt in das Leben, das heißt in das eine oder andere soziale Spiel, das die soziale Welt unserer Investition, unserer Besetzung, anbietet, nicht immer selbstverständlich ist. Frederic - wie alle schwierigen Adoleszenzen -stellt einen hervorragenden Analysator unserer tiefstgehenden Beziehung zur sozialen Welt dar. Mit der Objektivierung der romanesken Illusion und vor allem des Verhältnisses zur sogenannten realen Welt, die sie voraussetzt, wird daran erinnert, daß die Realität, an der wir alle Fiktionen messen, lediglich der anerkannte Referent einer (nahezu) universell geteilten Illusion ist.