Studiengruppe »Theorie der Geschichte« Werner-Reimers-Stiftung, Bad Homburg Beiträge zur Historik Band 2 Historische Prozesse Herausgegeben von Karl-Georg Faber und Christian^eier Deutscher '. Taschenbuch München 197 8 Verlag Jörn Rüsen Die Uhr, der die Stunde schlägt Geschichte als Prozeß der Kultur bei Jacob Burckhardt Zum Gedenken an Jan Patocka, den Zeugen für eine Kultur der Freiheit i. Fragestellung Obwohl der Historiker sich ständig mit geschichtlichen Prozessen beschäftigt, taucht das Thema »Geschichte als Prozeß«1 Jn dieser Allgemeinheit und Grundsätzlichkeit in Seiner täglichen Arbeit nicht auf. Solange er konkretes vergangenes Handeln erforscht, hat er es mit einzelnen geschichtlichen Prozessen zu tun, mit deren Bedingungen und Voraussetzungen, Abläufen und Ergebnissen - vielleicht auch mit deren Gesetzmäßigkeit; aber es geht ihm nicht um die Frage, was eigentlich an all dem das Gemeinsame, das Geschichtliche ist. Solche Fragen sind vorentschieden, wenn er seine Forschungsarbeit leistet und deren Ergebnisse in Geschichtsschreibung umsetzt. Ihm ist von vornherein klar, was eigentlich in den Blick geraten soll, wenn er vergangenes menschliches Handeln und Leiden in seiriem zeitlichen Ablauf erforscht und in einer Geschichte darstellt. Bevor er an die Quellen herangeht, um aus ihnen in methodisch geregelter und intersubjektiv prüfbarer Weise Erkenntnisse über die Vergangenheit zu gewinnen, weiß er schon, was er eigentlich wissen will: Die Fragen, die er an die Quellen stellt, enthalten bereits eine Antwort auf die (von ihm nicht an die Quellen gestellte) Frage, was eigentlich von der in den Quellen, gegenwärtigen Vergangenheit als »Geschichte« gelten soll. Der Historiker muß also immer schon wissen, worin die besondere zeitliche Qualität des Leidens und Handelns vergesellschafteter Menschen besteht, aufgrund deren vergangenes Handeln und Leiden als »Geschichte« erkannt und ausgesagt werden kann. Es gehört zu den Bedingungen des Erkenntnisfortschritts der Geschichtswissenschaft, '.Ich danke Herrn Günther Patzig für eine Reihe kritischer Hinweise zur Präzisierung meiner Überlegungen. > die Gemeinschaft der Forscher (und ihr Publikum) getragen •^t'von einem Konsens darüber, was als Geschichte aus der £|,erlieferten Vergangenheit vergegenwärtigt werden soll. Denn üßte dies in jeder historischen Forschung von neuem festgelegt und begründet werden, dann wären die vielen empirischen Untersuchungen nicht möglich, die zusammengenommen den Erkenntnisfortschritt der Geschichtswissenschaft ausmachen. f?s wäre aber verfehlt, daraus den Schluß zu ziehen, man könne Erwägungen darüber, was Geschichte als Prozeß eigentlich ist, aus der Kompetenz des Historikers herausnehmen und sie der Philosophie oder gar der vor- und außerwissenschaftlichen Weltanschauung zuweisen. Solche Erwägungen stecken ja implizit ;n jeder, auch der geringfügigsten und antiquarischsten historischen Untersuchung, und sie müssen vom Historiker aus zwei Gründen auch explizit angestellt werden: Einmal ist es in Zeiten ungestörter Wissenschaftsentwicklung bei allgemeinem Konsens über die Grundlagen und Ziele der historischen Forschung und der Geschichtsschreibung unerläßlich, den wissenschaftlichen Nachwuchs in diesen Konsens einzuführen und seinen Inhalt zur Sprache zu bringen, damit auf seiner Basis ein Erkenntnisfortschritt durch weitere Arbeit an den Quellen erreicht werden kann. Wenn zweitens ein solcher Konsens nicht mehr besteht, sondern über die Zielsetzungen und Methoden gestritten wird, werden Überlegungen zum Gegenstandsbereich der historischen Erkenntnis im ganzen wichtig; sie bilden einen wesentlichen Teil des »Grundlagenstreits«, durch den die Geschichtswissenschaft sich den Änderungen ihres geschichtlich-gesellschaftlichen Kontextes anpaßt und dabei zugleich ihre Erkenntnismöglichkeiten zu steigern sucht. »Historik« ist der Ort, wo innerhalb der Geschichtswissenschaft solche von der empirischen Forschungsarbeit sich unterscheidenden, dieser Forschungsarbeit jedoch dienenden Überlegungen angestellt werden2. Die Frage nach »Geschichte als Prozeß« zielt auf einen der wichtigsten Untersuchungsgegenstände der Historik, auf den allgemeinen Bezugsrahmen der historischen Interpretation. Zusammen mit der lebensweltlichen Absicht und der methodischen Regelung der historischen Erkenntnis macht er das System derjenigen leitenden Bestimmungen von Geschichtswissenschaft aus, die ihren fachwissenschaftlichen 1 Vgl. Jörn Rüsen, Für eine erneuerte Historik. Studien zur Theorie der Geschichtswissenschaft. Stuttgart 1976. %■ 187 Charakter definieren und die heute als »disziplinare Matrix« das Interesse der Wissenschaftsgeschichte und der Wissenschaft^ theorie gefunden haben. Wenn im folgenden am Beispiel Jacob Burckhardts der allge, meine Bezugsrahmen der historischen Interpretation als wesentliches Element von Geschichtsforschung und -Schreibung untersucht werden soll, dann gehören indirekt immer auch die beiden anderen Hauptfaktoren von Geschichtswissenschaft zum. Thema. Denn ein Interpretationsrahmen entsteht, indem ein Historiker seine Erfahrungen aus der gegenwärtig sichereignenden Geschichte in Problemstellungen zur Erkenntnis vergangener Geschichte umsetzt: Interesse wird zur Erkenntnis. Durch den Interpretationsrahmen wird auch vorentschieden, nach welchen Methoden die Vergangenheit erkannt werden soll; denn das Wie ist abhängig davon, was eigentlich durch Forschung ermittelt werden soll. Schließlich bestimmt der Interpretationsrahmen auch die praktische Relevanz von Geschichtsschreibung; hängt es doch von ihm ab, in welchem Maße gegenwärtig wirksame Vergangenheit erschlossen und dadurch Handeln besser orientiert werden kann. Damit sind die Gesichtspunkte angedeutet, nach denen sich Burckhardts Ausführungen zum Prozeßcharakter der Geschichte in die heutigen Fragestellungen der Historik einbeziehen lassen. i 2. Die Bedeutung Jacob Burckhardts für die Geschichtstheorie Warum soll man an Argumentationen Burckhardts eine Theorie des Erkenntnisgegenstandes der Geschichtswissenschaft exemplifizieren? Aus zwei Gründen erscheint es lohnend, seine Gedanken dazu, was Geschichte als Sachverhalt und als Erkenntnisform ist, nicht nur in wissenschaftshistorischer, sondern auch in geschichtstheoretischer Hinsicht zu rekonstruieren: Einmal wird Burckhardt als Kronzeuge von all den Historikern bemüht, die den Nutzen systematischer Theoriebildung in der Geschichtswissenschaft bezweifeln. Burckhardt kritisiert nachdrücklich eine systematisch-theoretische Argumentation im Felde der historischen Erkenntnis, und zwar gerade dort, wo er sich auf die Prinzipien dieser Erkenntnis richtet: »Wir verzichten ferner auf alles Systematische.«3 Wenn man nun an Burckhardts ' VII, i Ich zitiere nach Jacob Burckhardt, Gesamtausgabe. Hrsg. von E. Dürr eigenen Darlegungen einen inneren systematischen Zusammenhang nachweisen kann4, dann könnte man mit diesem Argument jje Behauptung kritisieren, Untersuchungen über den Bezugs-rahmen der historischen Interpretation und auch über die andern Faktoren der historischen Erkenntnisarbeit seien eine der empirischen historischen Erkenntnis bloß äußerliche Angelegenheit. Der zweite Grund trifft nicht die Form seiner Geschichtstheorie,, sondern deren Inhalt: Burckhardt versuchte, den Entwicklungsgedanken des deutschen Historismus durch ein anthropologisches Interpretationsmodell zu ersetzen, und ging damit über flie Grenzen des deutschen Historismus hinaus. Er erweiterte die hermeneutische Methode der historischen Forschung durch ty-pologische Verfahren, und er brachte in den Gegenwartsbezug der Geschichtswissenschaft das Element einer radikalen Kulturistik ein. Mit all dem schlug er Modifikationen am Konzept von Geschichtswissenschaft als verstehender Geisteswissenschaft vor, die heute am ehesten als Bedingungen für eine kritische Rezeption grundlegender Einsichten des Historismus in die Selbstbegründung der modernen Geschichtswissenschaft angesehen werden können. Da Burckhardts historisches Denken unter einer systematischen Fragestellung untersucht werden soll, sehe ich ab von der Entwicklung seiner Geschichtskonzeption und der dort wirksam gewordenen Einflüsse und beschränke mich darauf, die u.a., 14 Bde, Stuttgart-Berlin-Leipzig 1929-1934; zitiert im folgenden mit römischer Ziffer für den Band und arabischer für die Seite. * Der streng systematische Charakter, der Burckhardts Analysen in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen auszeichnet, ist meist übersehen worden. Burckhardts eigenes Dementi des Systematischen wurde in der Regel unkritisch von seinen Interpreten übernommen; so z. B. bei Alfred Neumeyer, Jacob Burckhardts Weltgeschichtliche Betrachtungen!. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 7 (1929), S. 108. Die neueste, umfassende und detaillierte Analyse von Burckhardts Geschichtsdenken von W. Hardtwig bringt hier Korrekturen an; sie betont zu Recht die »außerordentliche Reflektiertheit Burckhardts sowohl im Bereich der historischen Methode als auch in seiner Gegenwartsanalyse«. Wolfgang Hardtwig, Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt. Jacob Burckhardt in seiner Zeit. Göttingen 1974, S. 328. Wenn Hardtwig jedoch andererseits die übliche Charakteristik der Reflexionen Burckhardts wiederholt und von »kaum systematischen, begrifflich schwer faßbaren Bestimmungen« spricht (S. 356), dann indiziert er mindestens auch ein ge-schichtstheoretisches Unvermögen in der gegenwärtigen Erforschung und Darstellung der Geschichte des historischen Denkens. Vgl. meine Kritik an Hardtwigs Burckhardt-Interpretation: Unzeitgemäßer Gegenwartsbezug im Geschichtsdenken Jacob Burckhardts, Philosophisches Jahrbuch 84 (1977), S. 433 ff. 4 .ÄsJ vollendete Gestalt dieser Konzeption zu untersuchen, wie sie in denWeltgeschichtlichen Betrachtungen theoretisch und in der Griechischen Kulturgeschichte praktisch vorliegt. Im Vorder-, grund der folgenden Analysen stehen vor allem die Weltge-schichtlichen Betrachtungen; hier gibt Burckhardt in Form einer (primär didaktisch motivierten) Einführung Über das Studium der Geschichte^ eine zusammenfassende Darstellung der leitenden Gesichtspunkte, nach denen Geschichte generell aufzufassen ist. Er entwickelt hier den Bezugsrahmen der historischen Interpretation viel »theoretischer«, als er in seiner Historiographie zum Vorschein kommt; und da er dabei tiefgreifende Veränderungen in den Grundlagen der historischen Interpretation andeutet, gibt er hinreichend Anlaß, ihn unter die Wegbereiter derjenigen Historik zu rechnen, die keine bloß didaktische Funktion mehr erfüllt, sondern eine systematisch-theoretische6. 3. Gegenwart als Konstituens von Geschichte ; »Unser Gegenstand ist diejenige Vergangenheit, welche deutlich mit Gegenwart und Zukunft zusammenhängt. Unsere leitende Idee ist der Gang der Kultur, die Sukzession der Bildungsstufen bei den verschiedenen Völkern und innerhalb der einzelnen Völker selbst. Eigentlich sollte man vor allem diejenigen Tatsachen hervorheben, von welchen aus die Fäden noch bis in unsere Zeit und Bildung hineinreichen.«7 Dieser Satz aus einer frühen Ein^ leitung Burckhardts zur Vorlesung über Alte Geschichte charakterisiert zusammenfassend das, was er unter »Geschichte« versteht. Das eigentlich Geschichtliche an der menschlichen Vergangenheit ist ihre Gegenwärtigkeit und Zukunftsträchtigkeit. Gegenwärtig aber ist sie nicht primär in den Quellen, sondern dort, wo sie in irgendeiner Weise eingeht in die Vorentwürfe von Handeln und Denken, in denen sich Zukunft als besondere Zeitqualität realisiert. »Geschichte« bezeichnet nicht irgendetwas Vergangenes, sondern einen Zusammenhangvon Vergange- 1 So der ursprüngliche Titel von Burckhardts Vorlesung, die erst Jakob Oeri zusammen mit einigen Vorträgen mit der Überschrift Weltgeschichtliche Betrachtungen versah. Vgl. Rudolf Stadelmann, Jacob Burckhardts Weltgeschichtliche Betrachtungen. Historische Zeitschrift 169 (1949). 6 Zu dieser Unterscheidung vgl. Rüsen, Für eine erneuerte Historik, S. i86ff. ? VII, 2*5. 190 „em mit Gegenwärtigem, der dem menschlichen Leben eine 2ukunftsperspektive eröffnet. Die Eigenart der Burckhardtschen Geschichtsauffassung ist nUn darin begründet, daß er seine Gegenwart in einer »Bewegung« sieht, »die im Gegensatz zu aller bekannten Vergangenheit unseres Globus steht«8. Die Industrialisierung und die politische Revolutionierung der bürgerlichen Gesellschaft konstituieren als tiefgreifender Kontinuitätsbruch den historistischen Geschichtsbegriff,. Burckhardt hat diesen Traditionsbruch bei der Ausarbeitung seines allgemeinen Bezugsrahmens der historischen Interpretation radikaler zur Geltung gebracht als seine Fachgenossen. Für ihn reichte das unter dem Einfluß des deutschen Idealismus entwickelte Konzept einer Vermittlung von Emanzipation und Tradition nicht aus, mit dem der Historismus die Kulturleistung des Okzidents von der Antike an in das Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft einholte. Im Unterschied zu Droysen9 etwa konnte er die bürgerliche Emanzipation nicht als vorläufige Endphase einer kontinuierlichen Entwicklung der menschlichen Freiheit zur politischen Institutionalisierung individueller Selbstbestimmung begreifen. Daran hinderte ihn seine Einsicht in die mit dieser Emanzipation gegebe-nen neuen Zwänge des gesellschaftlichen Lebens in der Eigendynamik des Kapitalismus und in der Bewußtseinsveränderung der modernen Gesellschaft, die traditionelle Handlungsorientierungen radikal abbaut. Die Kultur, die das Bürgertum seiner Zeit als Ausdruck seiner politischen Mündigkeit wertete, sah Burckhardt bereits von gesellschaftlichen Zwängen bestimmt, die selbst nicht mehr kulturell verarbeitet, d.h. in das Potential bürgerlicher Selbstbestimmung integriert werden konnten: »Das Verhältnis von Erwerb und Verkehr zu unserem Dasein geht allem voran.«10 »Das Geld wird und ist der große Maßstab der Dinge ... Man ehrt allerdings Geist und Bildung. Nur ist leider die Literatur meist ebenfalls eine Industrie.«" Aber auch dann, wenn man sich nur den kulturell manifesten Zwecksetzungen des gesellschaftlichen Handelns der Gegenwart ' "VII, 42«. »Vgl. hierzu Jörn Rüsen: Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie J. G. Droysens. Paderborn 1969; ders., /. G. Droysen. In: Deutsche Historiker. Hrsg. von H.-U. Wehler, Bd. 2, Göttingen 1971. "Jacob Burckhardts Vorlesung über die Geschichte des Revolutionszeitalters. Hrsg. von E. Ziegler, Basel 1974, S. 18. " VII, 425; vgl. auch Ziegler, Burckhardts Vorlesung, S. 320. zuwende, müsse der Versuch des Historismus höchst fragwürdig werden, an vergangene Kulturleistungen als traditionsfähige Sinnbestimmungen zu erinnern und durch diese Erinnerung ak, tuelles gesellschaftliches Handeln an der Idee freier Selbstverwirklichung auszurichten. Denn in diesen Zwecksetzungen sei die Vorstellung dominant geworden, im Prinzip könnten alle gesellschaftlichen Verhältnisse zweckhaft verändert werden, und sie müßten auchsständig nach neu gesetzten Zwecken verändert werden: »Das entscheidende Neue, was durch die französische Revolution in die Welt gekommen, ist das Ändern-dürfen und das Ändern-wollen mit dem Ziel des öffentlichen Wohls.«» Gegenüber dieser inneren Dynamik in der intentionalen Steuerung gesellschaftlichen Handelns erscheinen die jeweils gesetzt ten Zwecke als sekundär: Es dominiert ein »an sich blinder Wille der Veränderung«, dessen Blindheit durch eine Ideologiekritik der Leitideen der bürgerlichen Emanzipation erwiesen werden kann, die »obenhin, durch den landläufigen Optimismus, als >Fortschritt<, auch Kultur, Zivilisation, Aufklärung, Entwicklung, Gesittung und anderes betitelt« werden'3. Burckhardt entdeckt unter diesen Bezeichnungen von Kultur ein sich selbst steuerndes System gesellschaftlicher Veränderung, die aus einer primär naturhaften und nicht eigentlich kulturellen Triebstruktur des Menschen gespeist wird: »Die Wünsche aber sind weit überwiegend materieller Art, so ideal sie sich gebärden, denn die Weitmeisten verstehen unter Glück nichts anderes; materielle Wünsche aber sind in sich und absolut unstillbar, selbst wenn sie unaufhörlich erfüllt würden, und dann erst recht.«14 Burckhardt sieht zwischen Bewußtsein und Sein des gesellschaftlichen Lebens seiner Zeit eine ideologische Diskrepanz: Eine historisch konkretisierte Theorie der Freiheit, die in der praktischen Zwecksetzung mündet, die Emanzipation fortzusetzen, dient faktisch dazu, ökonomische, politische und ideologische Zwänge freizusetzen und zu steigern. Dieses Verhältnis stellt für die Betroffenen ein zunehmendes Leidenspotential dar. »Die Steigerung des Bewußtseins in der neuen Zeit ist w,ohl eine Art von geistiger Freiheit, aber zugleich eine Steigerung des Leidens. Die Folgen der Reflexion sind dann Postulate, welche ganze Massen in Bewegung bringen können, aber, selbst erfüllt, nur neue Postulate, d. h. neue verzweifelte und " VII, 431--■3 VII, 433-" VII, 432. 192 ^Verzehrende Kämpfe erzeugen werden.«1' Dieses Leiden sieht er im k°nstitut;iven Gegenwartsbezug des Historismus verfängt- Burckhardt stellt sich die Frage, wie Geschichte als Zusam-' ftienhang von menschlicher Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft gedacht werden muß, wenn die gegenwärtige Gesell-1 Schaft bestehende kulturelle Zusammenhänge mit der Vergangenheit auflöst und zugleich ideologisch (durch den Historismus) an der Geltung solcher Zusammenhänge für ihre politische 2wecksetzung festhält. Diese Frage erhält für Burckhardt ihre Schärfe dadurch, daß er sie nicht nur als Frage innerhalb der theoretischen Selbstbestimmung der Geschichtswissenschaft aufwirft; sie stellt sich ihm vielmehr als Frage danach, ob und wie in der gegenwärtigen Gesellschaft Kultur - d. h. Selbstidentifizierung des Menschen in einem freien, geistbestimmten Verhältnis , zu sich selbst und zur Natur - möglich ist. Wie ist dem Zeitalter des sich entwickeln/den industriellen Kapitalismus eine Selbst-identifikatipn möglich, durch die der Einzelne mehr wird als ein bloß bewußtloser, und das heißt anonymer Träger der zwang-haften Selbstbehauptung eines hochdynamisierten gesellschaftlichen Systems? Fraglos dient für Burckhardt die Geschichtsschreibung einer solchen Selbstidentifikation; in diesem Punkte v^eiß er sich mit dem Historismus seiner Zeit einig. Nur erschwert er aufgrund seiner zeitkritischen Analysen dem Historiker diese Aufgabe. Das historische Denken darf über den Konti-nuitätsbruch des Revolutionszeitalters nicht hinwegtäuschen, indem es eine tragfähige Vermittlung zwischen den Kulturgehalten vormoderner Gesellschaften mit den dominierenden politischen Zwecksetzungen gegenwärtigen gesellschaftlichen Handelns annimmt. Nach Burckhardt verhindert nämlich dieses Handeln solch eine Vermittlung; es löst sogar überdies noch gegebene Vermittlungen sukzessive auf. Der Historiker sollte also nach Burckhardt Geschichte als ) Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft so konzipieren, daß seine Geschichtsschreibung »das Innewerden, die Erkenntnis des Kontrastes des Alten und des Neuen, der reichen Wandelbarkeit der Dinge, der raschen Vielgestaltigkeit des neueren Lebens im Vergleich mit dem früheren, der starken Veränderung des Pulsschlages« leistet1*; er muß das »unterschei- ■< VII, 293. "VII, 477. dende Vergleichen«17 zulassen, das eine historische von einer geschichtslosen Selbstidentifikation unterscheidet. Geschichte muß also nach Burckhardt gedacht werden als eine Uberwindung des Zwiespalts, der das Zeitalter der Revolution, und das heißt die lebendige Gegenwart und die absehbare Zukunft, charakterisiert. Es ist der Zwiespalt einer gesellschaftli. chen Entwicklung, in der die Subjekte sich mit der Absicht freier Selbstverwirklichung negativ von der traditionellen kulturellen Regulation menschlichen Handelns absetzen und doch zugleich an einem Zusammenhang mit dieser Kultur festhalten müssen, um ihre beabsichtigte Freiheit inhaltlich konkretisieren, ja überhaupt artikulieren zu können. 4. Die anthropologische Tiefendimension der Geschichte Bei der Ausarbeitung seines historischen Interpretationsrahmens trägt Burckhardt der Radikalität des Kontinuitätsbruchs in seiner Zeit positiv und negativ Rechnung. Negativ, indem er alle Theorien ablehnt, die den zeitlichen Ablauf gesellschaftlicher Veränderungen auf ein Entwicklungsschema festlegen; positiv, indem er die Teleologie des Geschichtsverlaufs, die ein solches Schema charakterisiert, durch eine Anthropologie der Geschichtsstruktur ersetzt. »Unser Ausgangspunkt ist der vom einzigen bleibenden und für uns möglichen Zentrum, vom duldenden, strebenden und handelnden Menschen, wie er ist und immer war und sein wird; daher unsere Betrachtung gewissermaßen pathologisch sein wird.«18 Mit diesem anthropologischen Ansatz geht Burckhardt zunächst einmal hinter diejenigen geschichtstheoretischen Ansätze einer Vermittlung zwischen Vergangenheit und Gegenwart zurück, die die Gegenwart als Resultat einer im Prinzip kontinuierlichen Entwicklung begreifbar machen wollen. Im Historismus wird die Vergangenheit mit der Gegenwärt in den Zusammenhang einer »Geschichte« gebracht, indem sie als Genese der Bedingungen gegenwärtigen Handelns angesehen wird. Dadurch wird einerseits an der Eigenart vergangenen menschlichen Handelns und Leidens festgehalten und insofern das von Burckhardt postulierte »unterscheidende Vergleichen«'» ■7 VII, 228. ■' VII, 3. ■»VII, 228. 194 durchgeführt; andererseits wird aber durch diese Unterscheidung die Gegenwart zugleich perspektivisch in die Zukunft hinein geöffnet. Der in diesem Modell von Geschichte entworfene Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft laßt sich auch folgendermaßen charakterisieren: Man geht aus v0n den gegebenen Lebensverhältnissen einerseits und von den auf diese sich richtenden Sollensbestimmungen der handelnden und leidenden Menschen andererseits und thematisiert in der Perspektive dieses Verhältnisses zwischen Sein und Sollen die Vergangenheit als Genese gegenwärtiger Handlungsbedingungen; sie wird als ein Prozeß betrachtet, von dem her die intendierte Transformation der gegenwärtigen Lebensverhältnisse durch menschliches Handeln plausibel erscheint. Diese Konstruktion kann der historischen Forschung und der Geschichtsschreibung als Leitfaden dienen. Der Historiker stellt anhand dieses Leitfadens die Tatsächlichkeit der Veränderungen der menschlichen Lebensverhältnisse fest. Ergibt sich zwischen dem tatsächlichen Ablauf vergangener Veränderungen einerseits und dein angenommenen Sinnzusammenhang zwischen der Genese gegenwärtiger Handlungsbedingungen und den zukunf tsgerich-teten Handlungsentwürfen andererseits ein Mißverhältnis, dann müssen die allgemeinen geschichtstheoretischen Annahmen über den Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart so lange modifiziert werden, bis dieses Mißverhältnis beseitigt, d.h. in das Verhältnis einer Sinnadäquanz aufgelöst sind. Bei dieser Modifikation werden auch die in den Bezugsrahmen der historischen Interpretation eingebrachten Sollensbestimmungen gegenwärtigen Handelns kritisiert und modifiziert. Da solche Ansätze der historischen Interpretation mit innerer Folgerichtigkeit in politische Entwürfe gesellschaftlichen Handelns münden, verstärken sie nach Burckhardt eben die Tendenz, Traditionsbestände aus dem Orientierungsrahmen gegenwärtigen Handelns auszutreiben, eine Tendenz, die politischem Handeln im Zeitalter der Revolutionen zwangsläufig innewohnt und die doch durch historisches Denken überwunden werden soll. Solche geschichtstheoretischen Ansätze sind in Burckhardts Augen Momente einer geschichtlichen Bewegung, die mit ihnen nicht mehr begriffen werden kann; sie verstärken gerade die durch sie zu überwindende Negation erinnerungswerter vergangener Kulturleistungen ideologisch. Um diese Negation nun seinerseits negieren zu können, ersetzt Burckhardt die Teleologie des Historismus durch eine Patholo- gie, die das Leiden der Gegenwart auf bestimmte vom Historie mus abgeblendete Faktoren des menschlichen Handelns zurück, führt. Er entwickelt diese Faktoren so allgemein, daß sie für alles mögliche zeitlich ablaufende menschliche Handeln gelten. Insofern sind auf dieser anthropologischen Ebene der Betrachtung Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbunden. In dieser Verbindung sind aber ihre Unterschiede verschwunden: Geschichte ist als Zusammenhang zwischen ihnen in ihrer Unterschiedenheit nicht thematisch. Burckhardt hat damit einen geschichtstheoretisch folgenreichen Schritt getan: Chronologisch fixierte und narrativ auszusagende Geschichte ist aus dem allgemeinen Bezugsrahmen der historischen Interpretation eliminiert. Dadurch wird eine ganz neue Sicht auf die menschliche Vergangenheit möglich: »Wir betrachten das sich Wiederholende, Konstante, Typische als ein in uns Anklingendes und Verständliches.«20 Teleologische Theoreme im allgemeinen Bezugsrahmen der historischen Interpretation werden durch allgemeine Aussagen über mögliche Geschichte jenseits ihres realen Verlaufs ersetzt. Dadurch wird die in der empirischen Uberlieferung gegenwärtige menschliche Vergangenheit auf neue, typologische Weise erkennbar. Nicht mehr eine vorgängig bedeutungsgeladene Chronologie wirklicher Geschichte ist der oberste Leitfaden zur Rekonstruktion vergangenen menschlichen Handelns und Leidens, sondern eine Systematik von Strukturzusammenhängen menschlichen Handelns und Leidens überhaupt. Dadurch wird es möglich, aktuelle Erfahrungen menschlichen Handelns durch einen Rekurs auf die Vergangenheit zu begreifen und historisches Erkennen eben dort zur Geltung zu bringen, wo Tradition kein Leitfaden mehr für handlungsnotwendige kollektive Erinnerung ist. Welches Äquivalent zur teleologischen Konstruktion geschichtlicher Entwicklung schlägt Burckhardt vor? Wie erreich^ er es, den Blick auf vergangenes Handeln und Leiden von den Beschränkungen zu befreien, die die Einfügung dieses Handelns und Leidens in die Genealogie des gegenwärtigen Orientierungsrahmens von Handeln bedeutet? Und wie kann er dabei die Zeitqualität des Vergangenen im Auge behalten, die durch eine solche Genealogie ja nur zum Ausdruck gebracht werden sollte? Mit anderen Worten: Wie muß der Prozeßcharakter von Geschichte konzipiert werden, wenn er sich nicht mehr als Genese J°VII,3- 196 von gegenwärtigen Handlungsbedingungen aus der Absicht ei-„es diese Bedingungen verändernden Handelns ergibt? Burck-jiardt löst dieses Problem dadurch, daß er die von ihm anthropologisch begründeten, und d.h. für alle mögliche Geschichte geltenden Handlungsbedingungen und -faktoren (»Potenzen«) so aufeinander bezieht, daß sie zusammen ein System ergeben, in ! dem gegebene Handlungsbedingungen notwendig verändert •werden müssen und Geschichte als eine solche Veränderung gegriffen werden kann. j. Geschichte als Prozeß Burckhardt setzt die Annahmen über den Prozeßcharakter der Geschichte, die in jedem Bezugsrahmen der historischen Interpretation vorkommen, auf neue Weise an. Die menschliche Vergangenheit wird auf ganz andere Weise interpretatorisch in die Bewegung der Geschichte gesetzt als etwa in der Aufklärung oder im politischen Historismus. Dort wurden - wie angedeutet - moralische oder politische Handlungsabsichten auf gegebene gesellschaftliche Verhältnisse gerichtet und das daraus sich ergebende Spannungsverhältnis zwischen Sein und Sollen so in eine historische Hypothese transformiert, daß eine den Handlungsabsichten entsprechende Veränderung vorgegebener Zustände und Verhältnisse aus der Genese dieser Zustände und Verhältnisse heraus als einsichtig erscheint. Dem gegenüber entaktualisiert Burckhardt den Prozeßcharakter der Geschichte: Er leitet Geschichte als Prozeß aus den Bedingungen zweckhaften menschlichen Handelns überhaupt ab und nicht aus den inhaltlich bestimmten Zwecken gegenwärtigen Handelns; er leitet nicht den Prozeßcharakter der Geschichte vom Prozeßcharakter des gegenwärtigen Handelns, sondern umgekehrt denjenigen des gegenwärtigen Handelns von dem der Geschichte ab. Dadurch ; gewinnt er die Möglichkeit, gegenwärtiges Handeln distanzierter und kritischer zu sehen, als es im Lichte einer Geschichtsschreibung erscheint, die der Logik moralischer oder politischer HandlungsOrientierung verpflichtet ist. Der Prozeßcharakter der Geschichte resultiert bei Burckhardt aus der systematischen Beziehung, in die er die drei Hauptfakto-.ren menschlichen Handelns und Leidens - Staat, Religion und Kultur - zueinander stellt. Der Staat ist Inbegriff der Momente des menschlichen Han- ife l97 delns, durch die sich gesellschaftliche Systeme erhalten und durch Selbsterhaltung intensiv und extensiv steigern. Er entspringt einem »politischen« Grundbedürfnis des menschlichen Lebens21; er geht zurück auf einen allgemein-menschlichen Trieb nach Selbsterhaltung, der in jedem Handeln als naturhafter Zwang der Machtbehauptung und Machtsteigerung präsent ist. Die Religion steht diesen Zwängen antithetisch gegenüber. Sie ist Inbegriff der Momente menschlichen Handelns, durch die die Handelnden die naturgegebenen Grenzen ihrer Fähigkeit zur^ Selbstbehauptung in metaphysische Vorstellungen unbedingter-Selbstverwirklichung übersteigen. Sie ist »die ganze übersinnliche Ergänzung des Menschen, alles das, was er sich nicht selber geben kann«22. Einem »metaphysischen« - also einem der innerweltlichen Ausrichtung des Staates entgegengesetzten - Bedürfnis entspringend23, negiert sie die politische Triebkraft der menschlichen Selbstbehauptung, indem sie sie in einen übernatürlichen Bereich ableitet. Als »Bangen mitten im Gefühl der subjektiven Kraft und Gewalttat«24 negiert sie die innerweltliche Ausprägung der menschlichen Selbstbehauptung in den politischen Systemen des Machtgewinns und der Machtsteigerung. Zugleich aber reproduziert sie den Zwangscharakter menschlicher Selbstbehauptung: Sie ist »Herrschaft eines Allgemeinen«2', d.h. sie reproduziert die Zwanghaftigkeit der menschlichen Selbstbehauptung, indem sie deren innerweltliche Ausprägung aufhebt. Der dritte Faktor des menschlichen Lebens, die Kultur, löst; den Gegensatz auf, in den sich die Religion zum Staat setzt. Sie ist »Inbegriff alles dessen, was zur Förderung des materiellen und als Ausdruck des geistig-sittlichen Lebens spontan zustande ge^ kommen ist«26. Sie verbindet die Bedürfnisse, die sich in Staat und Religion antithetisch ausprägen, und unterscheidet sich von den beiden anderen Faktoren dadurch, daß sie »keine Zwangsgeltung in Anspruch nimmt«27. Durch diese ihre Freiheitsbestimmung wird die Antithetik zwischen Staat und Religion überwunden und zugleich beider Zwangscharakter negiert. " VII, 20. " VII, 28. » VII, 28. "VII, 38. " VII, 29. >6 VII, 20. VII, 20. 198 - In diesem systematischen ZuordnungsVerhältnis von Staat, Religion und Kultur ist bei Burckhardt der Prozeßcharakter menschlicher Handlungsabläufe, also Geschichte, anthropologisch konstituiert. ■,. Burckhardt charakterisiert die Religion als Negation des Staates; sie überwindet die Naturzwänge^der innerweltlichen Selbstbehauptung durch deren »Reflex ... in ein großes Anderes hinein«28. Sie kann also die naturhaften Zwänge der menschlichen Selbstbehauptung nur durch den Gegenzwang einer inneren Natur brechen, so daß sie als Kritik das von ihr Kritisierte reprodu-ziert. Erst durch die Kultur wird dieser Zwang gebrochen (also die Negation des Staates durch die Religion hinsichtlich ihres Zwangscharakters selber negiert). Die Kultur kann also - wie Burckhardt betont - mit Staat und Religion nicht auf eine Ebene gestellt werden; sie ist »etwas wesentlich anderes«2' - nämlich nicht ein Regulationsfaktor des menschlichen Lebens neben den anderen, sondern eine Vermittlung beider. Burckhardts Darlegung des Verhältnisses der drei Potenzen legt die Analogie zum Hegeischen Verhältnis von Thesis, Anti-thesis und Synthesis nahe30. Die Religion läßt sich als Negation des Staates interpretieren, der seinerseits Inbegriff des »Positiven«, der physischen Selbstbehauptung gesellschaftlicher Systeme, ist. Die Religion negiert diese Positivität, indem sie menschliches Handeln in den Systemen physischer Selbstbehauptung an etwas Meta-physischem, Übersinnlichem orientiert. Sie setzt gegen die Positivität des Staates, seinen Zwangscharakter reproduzierend, die Negativität des Geistigen. Die Kultur schließlich negiert die zwanghafte Negativität der Religion. Sie löst dabei die Antithetik zwischen materieller und geistiger Handlungsorientierung des Menschen auf in eine Einheit von beiden. In dieser " VII, 28. * VII, 20. Auf die Nähe Burckhardts zu Hegel in systematisch-geschichtsphilosophi-scher Sicht hat u.a. Stadelmann hingewiesen: Jacob Burckhardts Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 63 f. Wie immer diese Nähe im einzelnen bestimmt werden muß - Löwiths wirkungsvolle Interpretation Burckhardts als Antipoden Hegels dürfte sich nicht uneingeschränkt aufrechterhalten lassen: Karl Löwith, Jacob Burckhardt. Der Mensch inmitten der Geschichte. Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1)66; ders., Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart, 3. Aufl. 1953, S. 27ff. und ders., Burckhardts Stellung zu Hegels Geschichtsphilosophie. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 6 (1928). Zum Verhältnis von Burckhardt und Hegel vgl. auch Eckhard Heftrich, Hegel und Jacob Burckhardt. Zur Krisis des geschichtlichen Bewußtseins. Frankfurt 1967; s. auch unten S. 203ff. l99 Einheit erscheint die Freiheit als das Resultat, um dessentwilletl Religion und Staat in Widerspruch zueinander treten. Die hier nicht weiter auszuführende Analogie zu Hegel kann deutlich machen, daß bei Burckhardt die Kultur den eigentlich geschichtlichen Charakter des menschlichen Lebens ausmacht, Sie ist »die Uhr, welche die Stunde verrät«3'. Unter dem Begriff »Kultur« erfaßt Burckhardt Antriebspotential, Erscheinungsweise und Resultat menschlichen Handelns anthropologisch so, daß dessen innere Dynamik sichtbar wird - dasjenige also, was den zeitlichen Abläufen menschlichen Handelns Prozeßcharakter verleiht. Kultur ist, so sagt es Burckhardt selbst, »Prozeß«32. Damit ist nun kein universaler Ablauf etwa in dem Sinne gemeint, daß Weltepochen des Staates, der Religion und der Kultur aufeinander folgten. Es ist vielmehr eine abstrakte Beziehung zwischen den auf natürlich gegebenen Antriebspotentialen beruhenden Hauptfaktoren alles möglichen menschlichen Handelns angegeben, die am zeitlichen Ablauf wirklichen Handelns, eine innere Folgerichtigkeit, eine in der Sache selbst liegende Notwendigkeit ausmachen läßt. Natürlich sind in jedem Akt menschlichen Handelns alle drei Faktoren wirksam; sie stehen im Verhältnis einer wechselseitigen Bedingtheit. Burckhardt hat daher »die Betrachtung der sechs Bedingtheiten«33 als anthropologische Alternative zur »chronologisch verfahrenden Geschichtsphilosophie«34 vorgeschlagen, als differenzierten Bezugsrahmen der historischen Interpretation ausgeführt und dabei gezeigt, daß und wie man mit ihm zu empirisch gehaltvoller historischer Erkenntnis kommen kann. Er hat allerdings die theoretische Bedeutung des von ihm entwickelten Bezugsrahmens geradezu penetrant heruntergespielt: er nennt ihn »einen halb zufälligen Gedankengang«3' und meint, seine Betrachtung sei »ohne systematischen Wert«36: »Notwendig müssen wir auf alles Systematisch-Wissenschaftliche verzichten.«37 Er gibt aber metaphorisch dennoch sehr genau an, was seine gegenstandstheoretischen Überlegungen leisten sollen und können. Sie sind " VII, 43-3* Ebd. 3J VII, 6z ff. » VII, 6z. 3! VII, I. >6 VII, 6z. 3ľ VII, ifiO. 200 * »nur derjenige Stoß an das Wasserglas, der die Eiskristalle anschießen macht«38. Burckhardts Theorie der drei Potenzen und der sechs Bedingtheiten ist also nicht weniger als die notwendige Voraussetzung dafür, daß aus der empirischen Überlieferung der menschlichen Vergangenheit allererst Geschichte erkennend gewonnen werden jcann. Was hier prinzipiell als Geschichte in den Blick kommt, ist eben diejenige (schon skizzierte) innere Folgerichtigkeit im zeitlichen Ablauf menschlichen Handelns, deren Indikator die Kultur ist. Burckhardt ist also kein Kulturhistoriker in dem Sinne, daß er sich eine Spezialdisziplin der Geschichtswissenschaft als Metier ausgesucht hätte, sondern nach Auskunft seiner »Winke zum Studium des Geschichtlichen«39 muß alle Historie Kulturgeschichte sein, wenn sie menschliches Handeln als geschichtlichen Sachverhalt in den Blick bekommen will. Staat und Religion sind für sich genommen »stabil«; sieht man als Historiker ausschließlich auf politische oder religiöse Phänomene, dann bekommt man den Aggregatzustand des menschlichen Lebens überhaupt nicht - und zwar a priori durch die Wahl des Bezugsrahmens nicht - in den Blick, der den geschichtlichen Charakter jeden menschlichen Handelns konstituiert, r Dies soll kurz am Beispiel des Staatsbegriffs erläutert werden. Würde man allein von ihm her den zeitlichen Ablauf menschlicher Handlungen rekonstruieren, dann ergäben sich im wesentlichen quasi-natürliche Prozesse, ein »Kampf ums Dasein« und nicht viel mehr. Es würde gar nicht sichtbar, in welchem Zusammenhang die Intentionalität, die das politische Handeln vergesellschafteter Menschen allgemein auszeichnet, zum zeitlichen Ablauf ihrer Realisationen, zur politischen Geschichte im engeren Sinne, steht. Man würde übersehen, daß die politische Intentionalität menschlichen Handelns sich abstrakt religiös negiert, um sich als kulturelle zu vollenden; d.h. man würde eben den Gesamtzusammenhang von Handeln übersehen, aus dem erst die erforschten politischen Veränderungen verständlich werden. Nach Burckhardt müßte eine politische Geschichtsschreibung, die sich auf die Gründe staatlicher Veränderungen vorbehaltlos einläßt, notwendig zu einer Kulturgeschichtsschreibung werden. Kultur ist also für Burckhardt die eigentlich geschichtliche »Potenz« des menschlichen Handelns. Sie ist die Bewegung, die " VII, 6z. »VII, i. 201 dem Handeln als »Prozeß« die Eigenschaft eines genuin ge_ schichtlichen Gegenstandes verleiht. Nur als Kultur erfüllt die überlieferte Vergangenheit die Bedingung, geschichtlich, d.h. erinnerungswürdig zu sein für eine Zeit, die zu ihrer Selbstidentifizierung der Erinnerung an eine Vergangenheit bedarf, die mit ihr nicht identisch ist. Kultur ist die Leuchtspur der Vergangenheit, mit der sie ihren Zusammenhang mit der Gegenwart und deren Zukunftsperspektive signalisiert. Worin besteht dieser Prozeß? Burckhardt charakterisiert ihn als eine unaufhörliche Modifikation und Zersetzung des zwanghaften Charakters menschlichen Handelns in Staat und Religion40. Durch diese Modifikation verwandle sich menschliches Handeln qualitativ: Die Kultur »ist derjenige millionengestaltige Prozeß, durch welchen sich das naive und rassenmäßige Tun in reflektiertes Können umwandelt«41. Geschichte als Prozeß ist also eine aus einer dauernden anthropologischen Konstellation der Antriebskräfte menschlichen Handelns erfolgende Veränderung des Charakters dieses Handelns durch es selbst. Geschichte ist der Prozeß, in dem menschliches Handeln sich selbst behandelt und sich dadurch so verändert, daß ein bestimmtes Selbstverhältnis der Handelnden zu sich selbst und zu den anderen ein integrales Moment ihrer Vergesellschaftung wird. Man könnte auch sagen, Geschichte ist der Prozeß, in dem den handelnden und leidenden Menschen der gesellschaftliche Charakter ihres Handelns und Leidens bewußt wird und sich dadurch qualitativ verändert. Für Burckhardt ist Kultur nichts anderes als eine Veränderung von Gesellschaft durch deren Selbstreflexion. Sie ist das gesellschaftliche Verhältnis, in dem sich eine Gesellschaft zu sich selbst verhält; in ihr erscheint den in einem gesellschaftlichen System zwanghaft befangenen Menschen dieses System noch einmal: im Medium einer freien Geistigkeit. Gesellschaft ist »eine irgendwie freie, auf bewußter Gegenseitigkeit beruhende Vereinigung«42. Nimmt man diese Definition ernst, so sind Staat und Religion aufgrund ihres Zwangscharakters nur verstümmelte Gesellschaft. Anders die Kultur: »Ihre äußerliche Gesamtform aber gegenüber von Staat und Religion ist die Gesellschaft im weitesten Sinne.«43 Daraus läßt sich für Burckhardts Bestimmung von <°VII,42. 4" VII, 43. entzeitlichte<, die >verräumlichte< Darstellungsweise« Burckhardts bei Heinz Schlaffer, Jacob Burckhardt oder das Asyl der Kulturgeschichte. In: Hannelore und Heinz Schlaffer, Studien zum ästhetischen Historismus. Frankfurt 197$, S. 7j. Schlaffers These, an Burckhardts Zeitflucht lasse sich ein historisches Stillstehen von Geschichte als Charakteristikum »für die generelle Form des historischen Bewußtseins im 19. Jahrhundert« (S. 76) ausmachen, überzeugt nicht. Burckhardt wird umstandslos mit den politischen Historikern seiner Zeit in einen Topf geworfen; eine Spielart des Historismus wird mit seiner umfassenderen Konditionierung des historischen Denkens verwechselt. Vgl. auch unten Anm. 82. "VIII, 2. 205 eignisfolge; als solcher hat sie nicht deren Eigenschaft zeitlicher Bewegtheit. Im Unterschied zur Bewegung der Ereignisse ist sie das unbewegte System dieser sich bewegenden Teilchen. Kulturgeschichte stellt in dieser Hinsicht die Ereignisfolge konkreten menschlichen Handelns und Leidens still, um dessen Strukturzusammenhang sichtbar zu machen, der gegenüber dem Wechsel der Ereignisse im Ablauf des betreffenden Handelns und Leidens die Eigenschaft der Dauer hat. Die zeitliche Bewegung von Ereignissen menschlichen Handelns macht also nicht mehr dessen geschichtlichen Charakter aus. Geschichte ist in den »Kultur« genannten Bedingungszusammenhang ereignishaften Handelns und Leidens zurückgenommen. Nach Burckhardt geht die Kulturgeschichte »auf das Innere der vergangenen Menschheit und verkündet, wie diese war, wollte, dachte, schaute und vermochte. Indem sie damit auf das Konstante kommt, erscheint am Ende dieses Konstante größer und wichtiger als das Momentane, erscheint eine Eigenschaft größer und lehrreicher als eine Tat; denn die Taten sind nur Einzeläußerungen des betreffenden inneren Vermögens, welches dieselben stets neu hervorbringen kann. Das Gewollte und Vorausgesetzte also ist so wichtig als das Geschehene, die Anschauung so wichtig als irgendein Tun; denn im bestimmten Momente wird sie sich in einem solchen äußern: >Hab ich des Menschen Kern erst untersucht, so weiß ich auch sein Wollen und sein Handeln<«'\ Die methodologische Konsequenz dieses Interpretationsansatzes liegt auf der Hand. Nicht mehr werden die Quellen kritisch auf Tatsachen im Sinne von Ereignissen geprüft, und nicht mehr werden die quellenkritisch ermittelten Ereignis-Tatsachen als Geschichte interpretiert, indem eine zeitliche Ereignisfolge quellenkritisch hergestellt und narrativ dargestellt wird. Dieselben Quellen werden nun vielmehr auf Tatsachen von nicht-ereignishaftem Charakter - wir würden heute sagen: auf »Struk-hin befragt, und diese anderen Tatsachen werden da- turen« durch historisch interpretiert, daß sie in ein allgemeines Bedingungsverhältnis zueinander gesetzt werden. Erst innerhalb dieses Zusammenhangs werden Zeitabläufe interpretatorisch wichtig. Burckhardt hat die methodologischen Neuerungen, die sich daraus ergeben, nur angedeutet und nicht ausführlicher erörtert. Er hat darauf hingewiesen, daß »die Quellen ... ganz anders sprechen« und daß die Quellenkritik mit einer höheren Evidenz " VIII, 3. 206 arbeiten kann als bisher». Er hat damit einen Erkenntnisfortschritt der Geschichtswissenschaft angedeutet (und zugleich mit jer Bemerkung von der Unwissenschaftlichkeit seines Vorgehens wieder verstellt), der als idealtypisches Vorgehen erst später (und bis heute noch nicht in ausreichendem Maße) in der Geschichtswissenschaft allgemein realisiert werden konnte. 7, Struktur und Prozeß Die typologisch ermittelten Strukturzusammenhänge menschlichen Handelns sind aber nicht zeitlos. Der von Burckhardt an den kulturgeschichtlichen Tatsachen betonte Charakter des konstanten, Dauernden, ja Ewigen ist als eine Kennzeichnung zu verstehen, die gegen die Zeitqualität eines Ereignisses im Ablauf von Handlungen erfolgt ist. Seine anfangs zitierte54 Leitvorstellung für historische Erkenntnis beinhaltet den »Gang der Kultur, die Sukzession der Bildungsstufen bei den verschiedensten Völkern und innerhalb der einzelnen Völker selbst«" - also etwas durchaus nicht Konstantes. Burckhardt hat zwar gegen das (Hegeische) Konzept, das der historischen Erkenntnis den Bezugsrahmen einer weltgeschichtlichen Chronologie des seiner selbst sich bewußt werdenden Geistes vorschreibt, seine typologische Betrachtungsweise entwickelt; er kann aber bei der Ausarbeitung des kulturellen Zusammenhangs menschlichen Handelns auf eine zeitliche Qualifizierung nicht verzichten. Burckhardt ist kein Strukturalist. Die Frage stellt sich daher, welche Alternative er zur zeitlichen Totalität der idealistischen Geschichtsphilosophie entwickelt hat. Seine Ablehnung einer raum-zeitlich konkreten Chronologie im Bezugsrahmen der historischen Interpretation (eines »antizipierten Weltplans«) beruht auf der Einsicht, daß der typologisch ermittelbare Kulturzusammenhang menschlichen Handelns und Leidens sich in seiner Zeitqualität fundamental von derjenigen einer handelnd und leidend vollzogenen Ereignisfolge unterscheidet. Dieser Unterschied kann nicht preisgegeben werden, wenn der Historiker hinter die Ereignisse blicken will, um ihren kulturellen Bedingungszusammenhang zu erkennen. Andererseits aber sind die Ereignisse für die Kulturgeschichte nicht »VIII, 3. " S. oben S. 190. " VII, 225. 207 unwesentlich. Einzig ihnen können Auskünfte über den in Frage stehenden Kulturzusammenhang abgewonnen werden. Sie müssen ins »Zeugenverhör über das Allgemeine«'6 genommen wer. den. In diesem Zeugenverhör hat das Ereignis über den Prozeßcharakter seiner kulturellen Strukturbedingungen zu zeugen, sonst hätte es ja auch als Ereignis nichts zu sagen. Wenn Burckhardt den Prozeßcharakter von Kultur als Selbst-bewußtwerdung des Geistes charakterisiert, dann kann er auf <Üe Zeitvorstellung nicht verzichten, die er als strukturierendes Prinzip des Bezugsrahmens der historischen Interpretation kritisiert und durch eine anthropologisch entwickelte zeitlose Typologie zu ersetzen versucht. Der von ihm vorgeschlagene Bezugsrahmen sollte ja auch gerade dazu dienen, einen inneren sinnhaften Zusammenhang im zeitlichen Ablauf menschlichen Handelns und Leidens sichtbar zu machen (nur eben anders als im Rahmen einer weltgeschichtlichen Entwicklungstheorie). Auch für ihn stellen sich die typologisch ermittelten Strukturzusammenhänge des menschlichen Handelns und Leidens in der Bewegung eines »Weltprozesses«'7 dar. Das bekannte Kapitel über >Die geschichtlichen Krisen< in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen ist nichts anderes als eine Theorie der zeitlichen Verlaufsform von Kulturprozessen. In dieser Theorie wird eine bestimmte Seite - die der Beschleunigung - des Prozeßcharakters herausgearbeitet, der den inneren Vermittlungszusammenhang zwischen Staat, Religion und Kultur auszeichnet. Krisen sind nichts anderes als Beschleunigungen der Prozesse, in denen sich der Kulturzusammenhang menschlichen Handelns und Leidens herstellt. Im Unterschied zu einer teleologisch orientierten Geschichtsbetrachtung wird aber von Burckhardt der Prozeßcharakter der kulturellen Selbsthervorbringung des menschlichen Geistes rein formal bestimmt. Der diesen Prozeßcharakter zum Ausdruck bringende Interpretationsrahmen wird frei von narrativen Aussagen mit raum-zeitlich festliegenden Inhalten gehalten. Insofern hält Burckhardt auch hinsichtlich der Zeitqualität des Kulturzusammenhangs menschlichen Handelns und Leidens seinen typo-logischen Ansatz durch. Dadurch aber verliert er (mindestens auf der Ebene seiner theoretischen Explikation des historischen Interpretationsrahmens) die Geschichte aus den Augen, die, in der zeitlichen Folge von Kulturprozessen besteht. >« VIII, 2. " VII, 129. 208 ■ '?X Die verlorene Zeit im Mythos der historischen Erinnerung ßurckhardts typologische Bestimmung von Geschichte bringt die Gegenwart mit der Vergangenheit in ein ganz anderes Verhältnis als die von ihm kritisierte teleologische Subsumtion der Vergangenheit unter die Genese gegenwärtiger Handlungsbedingungen. Gegenwart und Vergangenheit begegnen sich typologisch auf der zeitlosen Ebene vergleichbarer Kulturentwicklungen. Diese Begegnung macht aber noch nicht den von Burckhardt selbst hervorgehobenen Kern aller historischen Betrachtungen aus, daß nämlich Geschichte diejenige Vergangenheit ist, »welche deutlich mit Gegenwart und Zukunft zusammenhängt«'8. »Zusammenhang« ist hier nicht bloß typologisch gemeint, sondern als innerer Sinn von Kulturentwicklung. Dies geht mit hinreichender Deutlichkeit daraus hervor, daß Burckhardt ihn als »Gang der Kultur« und »Sukzession der Bildungsstufen« charakterisiert'9. Geschichte als Inbegriff der typologisch ermittelbaren prozeßhaften Kulturentwicklungen hat also noch einen Prozeßcharakter, der nicht identisch mit dem typologisch vorentworfenen ist. Mit dieser, der Bestimmung einzelner Kulturentwicklungen als Prozeß übergeordneten Bestimmung wird bei Burckhardt der Zusammenhang möglicher Kulturentwicklungen konzipiert, in dem die Gegenwart ihren Ort finden und durch den ihr im Medium der kulturellen Selbstidentifikation handelnder (und leidender) Individuen und Gruppen eine 'Zukunftsperspektive eröffnet werden soll. Burckhardt hat diesen Gesamtzusammenhang zeitlich aufeinander folgender Kulturentwicklungen als das »Weltgeschichtliche«, das »große Weltganze«60, als »Universalgeschichte«6', als »Lebensgeschichte und Leidensgeschichte der Menschheit als eines Ganzen«62 bezeichnet. Hier spricht er die Inhalte des allgemeinen Bezugsrahmens der historischen Interpretation an, die zu erkennen im lebensweltlichen Interesse des Historikers (und seines Publikums) an einem freien Selbstverhältnis liegt: »Nun ist es aber die spezielle Pflicht des Gebildeten, das Bild von der Kontinuität der Weltentwicklung in sich so vollständig zu ergänzen als möglich; dies unterscheidet ihn als einen Bewußten vom Barbaren als einem . '*VII, 22$. »VII, 225. & VII, 9. ''VIII, 2. : " vii, 227. 209 Unbewußten, so wie der Blick auf Vergangenheit und Zukunft überhaupt den Menschen vom Tier unterscheidet.«6' Hier wird der Punkt sichtbar, wo Burckhardts Geschichtskonzeption zerbricht. Einerseits ist es ihm gelungen, »Entwicklung« jenseits einer Teleologie des Geschichtsganzen so zu denken, daß neue, typologische Einsichten in den Strukturzusammenhang menschlichen Handelns und Leidens und in seine prozessuale Dynamik möglich wurden. Zugleich aber ist damit die Prozeßdynamik menschlicher Vergesellschaftung, die typologisch als geschichtliche Tatsache höherer Ordnung erkennbar geworden ist, auf einzelne geschichtliche Abläufe partialisiert worden. Der selbst prozeßhafte Zusammenhang dieser Abläufe, den Droysen die »Geschichte über den Geschichten«64 oder »die Geschichte der Geschichte«6' genannt hatte, bleibt unbestimmt66. Dieser. Zusammenhang wird zwar noch angesprochen, aber nicht mehr so stringent im Bezugsrahmen der historischen Interpretation entwickelt wie die Prozeßdynamik der einzelnen Geschichten. Dabei sollen aber durch ihn diese Geschichten in denjenigen Zusammenhang mit der Gegenwärt gebracht werden, der »Bildung« als historische Selbstidentifikation allererst ermöglicht. Burckhardt bezeichnet mit »Kontinuität der Weltentwicklung« den Faktor der historischen Interpretation, der die jeweils in einzelnen Kulturen ablaufenden Entwicklungsprozesse einer geistigen Bewußtwerdung von Gesellschaften zusammenschließt zu. einer universalgeschichtlichen kulturellen Evolution der Menschheit. Nur als ein solcher Zusammenhang ist der »große Ubergang« von einer Kultur zur anderen zu denken, der allein die Gegenwart mit den vergangenen Kulturen so verknüpfen kann, daß deren Erkenntnis und Erinnerung zu einer zukunftsfähigen kulturellen Selbstidentifikation gegenwärtig handelnder und leidender Menschen führt. Burckhardt selbst hat die Einbettung der typologischen Kulturkonstruktion in eine solche universalgeschichtliche Evolution von Kultur in der schon zitierten Ausführung über die typologische Innovation seiner Kulturgeschichte betont. »Nicht erzählend, wohl aber geschichtlich, 6> VIII, ii. ** Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Hrsg. von R. Hübner, 4. Aufl. Darmstadt i960, S. 3 J4. 6> Ebd. S. 221. 66 Zur logischen Problematik einer solchen Annahme (wenn sie als gegenständliche verstanden wird) vgl. Hans Michael Baumgartner, Narrative Struktur und Objektivität. Wahrheitskriterien im historischen Wissen. In: Historische Objektivität. Aufsätze zur Geschichtstheorie. Hrsg. von J. Rüsen, Göttingen 1975, S. 54^ und zwar in erster Linie, insofern ihre Geschichte einen Teil der Universalgeschichte ausmacht, haben wir die Griechen in ihren wesentlichen Eigentümlichkeiten zu betrachten, in denen, worin sie anders sind als der alte Orient und als die seitherigen Nationen, und doch den großen Ubergang nach beiden Seiten bilden, fiierauf, auf die Geschichte des griechischen Geistes, muß das ganze Studium sich einrichten.«6? Was aber ist diese »Geschichte«, in der der griechische Kulturprozeß ein »Ubergang« ist, in der die griechische ÄWtargeschichte eine Kuhurgeschichte ist? piese Frage zielt ins Zentrum der Burckhardtschen Geschichtskonzeption, denn sie zielt auf die »Kontinuität der Weltentwicklung«) die Burckhardt als Kontinuität des Geistes über alle ein-zelnen Kulturentwicklungen hinweg als obersten Gesichtspunkt des historischen Denkens annahm. Burckhardt beantwortet diese Frage nicht mehr mit der Behauptung, die Geschichte sei ein Prozeß, der einzelne Kulturprozesse als innere Ordnung ihrer zeitlichen Sukzession umgreift. Wo eine solche Vorstellung zu entwickeln wäre, steht bei ihm die Natur als unergründliche Macht kultureller Schöpfungen. Auf sie wird die historische Erinnerung an einzelne kulturelle Prozesse letztinstanzlich verwiesen: Die Kontinuität des sich in Kulturprozessen manifestierenden Geistes über einzelne Kulturentwicklungen hinweg wird nicht mehr geschichtlich, sondern ursprungsmythisch gedacht. Burckhardt will Geschichte nicht nur als je partiellen Kultur-prozeß, sondern als Totalität, als »großes Weltganzes«, als »Weltentwicklung« im Bezugsrahmen der historischen Interpretation entwerfen. Dazu wird er weniger durch wirksame Traditionen solcher Totalitätskonzeptionen im deutschen Historismus genötigt als vielmehr durch das sachliche Erfordernis, lebensweltliche Erfahrungen der Gegenwart durch historisches Denken geistig verarbeiten zu müssen. Der zeitliche Ablauf menschlichen Handelns und Leidens soll als Kulturentwicklung mit Einschluß der Gegenwart entworfen werden. Denn erst dann kann der gegenwärtig Handelnde und Leidende sich frei zu den gesellschaftlichen Prozessen verhalten, denen er handelnd und leidend unterworfen ist. Indem er sie als Momente einer umfassenden Kulturentwicklung begreift, verlieren sie für ihn den Schrecken ihrer Zwanghaftigkeit und werden zu Voraussetzungen kultureller Selbstverwirklichung des menschlichen Geistes. ''VIII, 2. 210 211 (So etwa hinsichtlich politischer Zwänge: »Die Macht kann auf Erden einen hohen Beruf haben; vielleicht nur an ihr, auf dem von ihr gesicherten Boden können Kulturen des höchsten Ran, ges emporwachsen .. .«6S) Primäre Erfahrung von Geschichte als Prozeß ist für Burckhardt der Emanzipationsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft und der sie bestimmenden kapitalistischen Wirtschaftsweise aus allen traditionell vorgegebenen politischen, religiösen, kulturellen Schranken des gesellschaftlichen Lebens. Kapitalismus aber ist für ihn identisch mit Kulturverfall, und der unübersehbare Prozeß seiner Entwicklung,'zum dominierenden Prinzip des menschlichen Handelns seiner Gegenwart ist daher ein Prozeß fortschreitenden Kulturverfalls. Da Burckhardt sich die Illusionen des politischen Historismus über eine historisch legitimierte kulturelle Regulation aktuellen gesellschaftlichen Handelns durch einen durch bürgerliche freie Mitbestimmung versittlich-ten Staat aus dem Kopf geschlagen hat, steht am Ende dieses Verfallsprozesses für ihn der »große Jammer« eines »Weltkrieges«6'. Gegen diese lebensweltliche Erfahrung konstruiert Burckhardt anthropologisch sein Konzept aller möglichen Geschichte als Prozeß einer kulturellen Selbstbewußtwerdung des menschlichen Geistes. Im Verhältnis zur wirklichen gesellschaftlichen Entwicklung seiner Zeit (die auch als Geschichte muß gedacht werden können) ist seine Konzeption von Geschichte als Prozeß aber kontrafaktisch. Nur um diesen Preis der Unzeitgemäßheit ist es ihm möglich, Vergangenheit und Gegenwart in ein Verhältnis zu setzen, in dem für die Gegenwart aus der Vergangenheit Muster zur kulturellen Selbstidentifikation entwickelt werden können, dieses Verhältnis aber ist kein geschichtliches; denn die Muster sind »der bestimmten einzelnen Zeitlichkeit enthoben«?0, Der Vergangenheit sollen Muster einer kulturellen Selbstideri-tifikation für die Gegenwart entnommen werden können; dies kann Burckhardt angesichts seiner Gegenwartserfahrung nicht mehr damit begründen, daß er die Gegenwart in einen weltgeschichtlichen Prozeß der kulturellen Evolution einbindet - steht doch die Gegenwart als Negation der Resultate bisheriger kultureller Entwicklung da. Begründet wird die Erinnerungswürdigkeit vergangener Kulturprozesse anthropologisch: Alles mog- 68 VIII, 9$. * Ziegler, Burckhardts Vorlesung, S. 19. 7° VII, 46. jiche menschliche Handeln wird »bestrahlt von denselben Gestirnen, die auch anderen Zeiten und Völkern geleuchtet haben, und bedroht von denselben Abgründen und einst heimfallend derselben ewigen Nacht und demselben Fortleben in der großen allgemeinen Uberlieferung«71. So rettet Burckhardt anthropologisch die Erinnerungswürdigkeit der menschlichen Vergangenheit und vindiziert der Gegenwart die Möglichkeit einer kulturellen Selbstidentifikation; letzteres führt er als »Befähigung des 19. Jahrhunderts für das historische Studium« aus72. Den inneren Sinnzusammenhang im zeitlichen Ablauf menschlichen Handelns aber, den die historisch erinnerten Kulturtatsachen höherer O.rdnung darstellen, muß er für das allgemeine Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit preisgeben. An seine Stelle tritt »Werden, Blühen, d. h. völliges Sichverwirklichen, Vergehen und Weiterleben in der allgemeinen Tradition«73. Natur ist der Prozeß, der die einzelnen Kulturentwicklungsprozesse zur Weltgeschichte verbindet. Der Gesamtprozeß der geschichtlichen Entwicklung, die »Kontinuität der Weltentwicklung«74, ist ein reiner Naturprozeß. Von ihm her gesehen stellen sich auch die partiellen Kulturentwicklungsprozesse nicht anders dar denn als Abläufe, die nach einem organo-logischen Schema geordnet werden können: »Rassenmäßiges Tun« verwandelt sich in »reflektiertes Können«, bis schließlich die Reflexion das Antriebspotential zu ihr hin durch sich selbst verzehrt, die entwickelte Kultur mangels innerer Lebenskraft verfällt und lebenskräftigeren Gebilden Platz macht. Burckhardt fällt nur deshalb nicht einem historischen Biolo-gismus7' zum Opfer, weil er einen Transfer errungener Kulturleistungen über den jeweiligen Kulturverfall hinweg in neue Kulturentwicklungsprozesse hinein annimmt und darin den weltgeschichtlichen Charakter jeder Kulturentwicklung sieht. Von der geschichtstheoretischen Annahme dieses Transfers hängt der geschichtliche Charakter der typologisch erkennbaren partiellen Kulturentwicklungsprozesse ab, d.h. nicht mehr und ."VII, 9. "VII, 9ff. "VII, 43. »VIII, Ii. -ß< Vgl. Stadelmanns Hinweis auf »Elemente einer biologischen Kreislauftheorie bei Burckhardt« (Burckhardts Weltgeschichtliche Betrachtungen, S. 66); vgl. auch die Belege bei W. E. Mühlmann, Biologische Gesichtspunkte in J. Burckhardts •Griechische Kulturgeschichte<. Archiv für Kulturgeschichte 24 (1934); ein Versuch, Burckhardt für eine Rassenideologie zu reklamieren. 212 213 nicht weniger als die Plausibilität der Burckhardtschen Geschichtskonzeption im ganzen. Dieser Transfer und die durch ihn mögliche Stufung von Kulturentwicklung müssen aus der Prozeßdynamik der kulturellen Strukturierung menschlichen Handelns und Leidens stringent folgen, damit die historische Erkenntnis so in Kraft treten kann, wie Burckhardt sie ansetzt: Nur dann ist der genuin geschichtliche Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gewährleistet. Denn nur als sich transferierende können vergangene Kulturleistungen als Muster gegenwärtiger Selbstidentifikation dienen, und die historische Erinnerung kann nur dann eine Zukunftsperspektive eröffnen, wenn sie ein notwendiges Moment des kulturbilden^ den Transfers selber ist. Beides wird von Burckhardt als wesentliche Voraussetzung seines historischen Denkens angenommen; beides läßt sich aber durch seine Geschichtstheorie nicht mehr begründen. Dort werden die partialen Kulturentwicklungsprozesse nur einem naturhaften Werden und Vergehen subsumiert, und die historische Erinnerung produziert in der Form ursprungsmythischer Stiftung über dieses Werden und Vergehen nur den Schein einer kulturellen Evolution. Dennoch ist bei Burckhardt das »Bild von der Kontinuität der Weltentwicklung«76 keine bloß dezisionistische Sinngebung des Sinnlosen. Vielmehr zeigt seine Geschichtsschreibung, daß die kulturhistorisch beschworene kulturelle Selbsthervorbringung eines freien Verhältnisses vergesellschafteter Menschen zur Natur und zu sich selbst objektiv der Fall war. Die im vorgegebenen Rahmen der Typologie ermittelbaren, jeweils partiellen Prozesse der Kulturbildung sind also keine bloßen Projektionen einer Gegenwart, die ihre Identität sucht. Diese Objektivitätssicherung von Kulturentwicklung aber reicht nicht aus; die Gegenwart als unübersehbarer Prozeß der Zerstörung aller bisherigen kulturellen Regulationen des menschlichen Lebens soll nicht aus aller möglichen Geschichte herausfallen, wie sie durch die Typologie der Kulturentwicklung als Rahmenbestimmung der historischen Interpretation festgeschrieben wird. Dann aber muß für die Gegenwart eben der »Übergang« als ein zeitlich-prozeßhaftes Geschehen konzipiert werden können, als den Burckhardt das kulturelle Geschehen des antiken Griechenland charakterisiert hat. Einen solchen Ubergang aber kann er nur in Form einer remythisierten Natur denken: »Die Natur schafft so gütig wie "VIII, ii. 214 jemals.«77 Die (schon mehrfach beschriebene, hier nicht auszuführende) Ästhetisierung der Geschichte bei Burckhardt78 ist der geschichtstheoretische Vollzug einer solchen Remythisierung7'. 9. Schlußfolgerungen jjurckhardt stimmt mit dem deutschen Historismus darin über-gjn, daß Geschichte ein universaler Prozeß der Kulturentwicklung ist- Er weicht vom Historismus seiner Zeit ab, indem er diesen Prozeß nicht mehr theologisch-metaphysisch, sondern anthropologisch konzipiert. Diese Abweichung führt in eine Aporie: Der einheitliche Prozeßcharakter von Geschichte wird partialisiert; der Zusammenhang partieller Kulturentwicklungen zu einer Geschichte, an dem Burckhardt sachlich festhält, wird im allgemeinen Bezugsrahmen der historischen Interpretation abgeblendet und verfällt einer Renaturalisierung und Mythisie-rung. Ungeachtet dieser Aporie aber muß die gegenwärtige Geschichtstheorie m.E. mindestens in einem Punkt an Burckhardt anknüpfen: Spätestens seit Max Weber dürfte es unbestreitbar sein, daß die von Burckhardt geschichtstheoretisch freigesetzten typologischen Verfahren einen Erkenntnisfortschritt darstellen gegenüber dem bis dahin ausgebildeten hermeneutischen Arsenal der Geschichtswissenschaft. Allerdings muß hier kritisch gegen Burckhardt der konstruktiv-systematische Charakter der Typenbildung betont werden. Man kann also nicht hinter Burckhardt zurückgehen, um seine gegenstandstheoretische Aporie zu überwinden. Es kommt vielmehr darauf an, auf dem Wege einen entscheidenden Schritt weiterzugehen, den er mit seiner Bestimmung von Kulturentwicklung als Prozeß gegangen ist. Geschichte muß als Prozeß auch dort gedacht werden, wo der zeitliche Zusammenhang einzelner Prozesse (Kulturgeschichten) ausgemacht werden soll. Gemeint ist der von Burckhardt selbst angesprochene Zusammenhang80, in den die Gegenwart eingerückt werden muß, damit ihr eine Zukunftsperspektive im Medium eines freien Selbstver- ,"VII, 426. ,71 Vgl. Klaus Oettinger, Poesie und Geschichte. Bemerkungen zur Geschichtsschreibung Jacob Burckhardts. Archiv für Kulturgeschichte j 1 (1969); ausführlich Hardtwig, Geschichtsschreibung, S. 148fr., S. iZiíí., S. 193ff. " Zur Bedeutung des Mythos für Burckhardt vgl. Löwith, Burckhardt, S. 192. '•VII, 225. Utr' J hältnisses der unter gesellschaftlichen Zwängen Handelnden und Leidenden eröffnet werden kann. Burckhardt hat diesen Prozeß der Prozesse als Natur gedacht. Er konnte ihn der gesellschaftl^ chen Entwicklung seiner Zeit nur ursprungsmythisch zusprechen. Zwar hat auch das Geschehen der Gegenwart im Rahmen einer Theorie aller möglichen Geschichte Prozeßcharakter. AU wirkliche Geschichte aber hat dieses Geschehen, weil in ihm Kultur als Kultur negiert wird, gerade nicht die immanente kulturelle Dynamik, die alle mögliche Geschichte hat. Burckhardt kondensiert vielmehr den kulturellen Charakter seiner Zeit auf die Existenz von Historikern, die vergangene Kultur erinnern und dadurch die drohende Geschichtslosigkeit ihrer Gegenwart bannen wollen .und denen zugleich doch nichts anderes übrigbleibt, als eben die Barbarei zu prognostizieren, die identisch mit der Geschichtslosigkeit ist. »Wenn aber beim Elend noch ein Glück sein soll, so kann es nur ein geistiges sein, rückwärts gewandt zur Rettung der Bildung früherer Zeit, vorwärts gewandt zur heiteren und unverdrossenen Vertretung des Geistes in einer Zeit, die sonst gänzlich dem Stoff anheimfallen könnte.«81 Diese Aporie kann nur dann überwunden werden, wenn auch diejenige Geschichte als Prozeß formuliert wird, die in der zeitlichen Folge der idealtypisch ermittelbaren einzelnen Kulturprozesse besteht. An Burckhardt läßt sich dort anknüpfen, wo er sich mit der von ihm sonst kritisierten Geschichtskonzeption des Historismus seiner Zeit einig weiß: darin nämlich, daß sich zumindest ein Kulturzusammenhang weltgeschichtlicher Art denken läßt, die Weltgeschichte Europas: »Hier allein verwirklichen sich die Postuláte des Geistes; hier allein waltet Entwicklung und kein absoluter Untergang, sondern nur Ubergang ... Durch langsame Entwicklung, wie durch Sprünge und durch Weckung der Gegensätze hängen wir geistig mit ihnen (den Völkern des Altertums) zusammen. Es bedeutet ein hohes Glück, dieser aktiven Menschheit anzugehören.«82 Burckhardt hat den Gesamtprozeß, der die zeitliche Folge partieller Kulturentwicklungsprozesse umgreift, als Sachverhalt auf doppelte Weise zum Ausdruck gebracht: einerseits als an- " VII, 426. '* VII, 226 (Zusatz in Klammern von mir). Diese Seite des Geschichtsdenkens Burckhardts hat Schlaffer übersehen, wenn er behauptet: »Nicht als welthistorischen Prozeß, nicht als Entwicklung zur Einheit des Menschengeschlechts, nicht als Weg zur Gegenwart versteht Burckhardt Geschichte ...« (Burckhardt, S. 78). '' thropologische Identität des menschlichen Handelns und Lei-Jens (sie garantiert die Applizierbarkeit vergangener kultureller fjervorbringungen des Geistes auf die Gegenwart); andererseits ajs Natur, d.h. Kampf ums Dasein, Rasse, Machttrieb und dergleichen (sie garantiert die Hoffnung, daß die historische Applikation gesamtgesellschaftlich nicht folgenlos bleibt). Beides ist ^-historisch. Dagegen wäre zu versuchen, diesen Zusammenhangais Prozeß zu denken. Geschichtstheoretisch bedeutet dies, Jie idealtypische Rekonstruktion vergangener gesellschaftlicher Prozesse um einen Gesichtspunkt zu erweitern: um den einer Stufung, einer zeitlichen Reihung dieser Prozesse, die ihnen nicht bloß äußerlich wäre, sondern ihren Prozeßcharakter selber beträfe. Burckhardt selbst hat mit seinem Begriff der »Bildungsstufen« einen solchen Gesichtspunkt angedeutet; er hat ihn aber ' nicht systematisch in seinen Bezugsrahmen der historischen Interpretation einbringen und dort systematisch entfalten können. Die Einführung eines solchen Gesichtspunktes braucht nicht identisch zu sein mit einer Erneuerung der Teleologie, gegen die Burckhardt sich wendet. Dies ist dann ausgeschlossen, wenn an den Erkenntnismöglichkeiten festgehalten wird, die die Einführung der Typologie in die historische Interpretation eröffnet. Damit ist m. E. eine der Hauptaufgaben der gegenwärtigen Historik in gegenstandstheoretischer Hinsicht bezeichnet. 216 217