•28- •29- Er ging hinaus. Ich horchte. Er kramte. Etwas fiel zu Boden. Er schimpfte leise, dann hustete er. Endlich kehrte er mit einem unförmigen Brotlaib wieder. Ich schloss die Augen und sagte: Eier. Wieder hörte ich die Tür, dann sein Husten von nebenan. Ich sah auf die Uhr meines Telefons. Ich war schon fünfzehn Minuten da. Stück für Stück arbeiteten wir die Liste ab. Jeden Gegenstand holte er einzeln, und obgleich es die gängigsten Nahrungsmittel waren, suchte er nach einigen so lange, als wären sie noch nie von jemandem verlangt worden. Er brachte in Plastik eingeschweißte Wurst und ein paar knotige Äpfel und zwei sehr fleckige Bananen und Filterkaffee und Kaffeefilter und Milch, und schließlich sagte ich: Danke, das ist alles. Er nickte, zeigte auf einen Punkt über meinem Kopf und fragte: Ihr wohnt da oben? Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass die Geste unserem Ferienhaus galt. Entschlossen, es ihm an Einsilbigkeit gleichzutun, nickte ich. Ah, sagte er. Ja, sagte ich. So, sagte er. Doch, sagte ich. Schon was passiert? Bitte? Er schwieg. Was soll passiert sein? Ihr habt gemietet? Ich nickte. Vom Steller? Ist das der Besitzer? Der Steller, sagte er. Heißt der Besitzer so? Na, der Steller, sagte er in einem Ton, als wäre es unmöglich, dass es auf der Welt Menschen gab, denen der Name nichts sagte. Ich weiß nicht, wie er heißt, sagte ich. Wir haben über AirBnB gemietet. Ich sah seinen Blick und fügte hinzu: Internet. Die Tür zur Straße öffnete sich, und eine Frau kam herein, die so klein war, dass sie mir kaum bis zur Brust reichte. Sie hatte kurze weiße Haare und trug eine riesige Sonnenbrille. Grüß schön Gott, sagte er - oder etwas Ähnliches, ich verstand es nicht, denn er war sofort in Dialekt gefallen. Fehringer muss ihn spielen, dachte ich. Das alles kann ich gebrauchen, und Fehringer wäre perfekt! Grüß auch schön, sagte sie, oder etwas Ähnliches. Dann sprach sie eine Weile im Dialekt. Als sie fertig war, nickte er, sagte: Ja, das stimmt schon, oder etwas Ähnliches, und schlurfte hinaus. Wir hörten ihn kramen. Die Frau sagte etwas, ohne mich anzusehen. Da kein 30 anderer im Raum war, musste ich davon ausgehen, dass sie zu mir gesprochen hatte. Wie bitte? Sie sagte wieder etwas. Wie bitte? Sie schwieg. Die Tür ging auf, und er kam zurück. Sein Gesicht war noch stärker gerötet, und er atmete schwer. In der Hand hielt er ein Päckchen Butter in Silberpapier. Die Frau nahm es. Er sagte etwas, sie antwortete, beide lachten. Sie verließ den Laden, ohne zu bezahlen. Also habt ihr ihn nicht gesehen, sagte er. Ich verstand nicht gleich. Nein, sagte ich dann. Internet. Den Steller nie gesehen. Nie? Nie, sagte ich. Er schrieb eine Zahl auf einen gestempelten Zettel, reichte ihn mir und sagte: Siebenundvierzig dreißig. Ich steckte die Rechnung ein, holte meine Börse hervor und gab ihm einen Fünfziger, den er seufzend in die Hosentasche schob. Die Registrierkasse rührte er nicht an. Es sah nicht so aus, als ob er vorhätte, mir Wechselgeld zu geben. Wie ist der Steller denn so?, fragte ich. Der kommt fast gar nicht mehr her. Drum hab ich gemeint. Ob ihr ihn kennt. Aber er kommt fast gar nicht 31 Wo wohnt er? Er zuckte die Achseln. Der kommt fast gar nicht mehr her. Das Haus ist neu, nicht wahr? Er lachte, dann begann er, meine Einkäufe in eine Plastiktasche zu stecken. Na, älter als zehn Jahre kann es nicht sein, sagte ich. Geschenk, sagte er und legte etwas vor mich hin. Es war ein kleines Geodreieck: ein Winkellineal aus durchsichtigem Plastik, wie ich es früher in der Schule verwendet hatte. Danke, sagte ich, aber unsere Tochter ist noch zu klein für - Probier den rechten Winkel, sagte er. Vier Jahre! Sie meinen, das Haus wurde vor vier Jahren gebaut? Allmählich gewöhnte ich mich an seine Art zu sprechen. Aber vorher war da ein anderes. An derselben Stelle? Er nickte. Der Steller hat's gekauft und abgerissen und ein neues gebaut. Ihr zahlt viel? Ja, schon, sagte ich. Was zahlt ihr? Viel, sagte ich, nahm die Tasche und drehte mich zur Tür. Und die Straße?, fragte er. Die ist zu steil, sagte ich. Das ist doch wirklich ge- ■ 32 ■ •33- fährlich. Ich frage mich, warum man keine Absperrungen gebaut hat. Gut, dass dir keiner entgegengekommen ist. Woher wissen Sie das? Er lächelte. Da begriff ich. Die Straße führt nur dorthin, oder? Nur zu unserem Haus! Er lächelte. Was war vorher da? Vor dem alten Haus, das vor dem neuen da war, was stand da? Er schwieg, und es war unklar, ob er nichts sagte, weil er die Antwort nicht wusste, oder ob er aus irgendeinem Grund nicht antworten wollte. Auf Wiedersehen, sagte ich und ging zögernd hinaus. Neben meinem Auto stand die Frau, die vorhin im Geschäft gewesen war. Der dunklen Brille wegen konnte ich nicht erkennen, wo sie hinsah. Glauben Sie, wir bekommen noch Schnee? Sie antwortete nicht. Auf jeden Fall ist es zu warm für die Jahreszeit, sagte ich. Im Dezember müsste hier oben schon Schnee liegen, oder? Geht schnell weg, sagte sie. Was? Schnell, sagte sie. Schnell, geht weg. Ich war mir sofort nicht mehr sicher, ob sie nicht etwas ganz anderes gesagt oder sich bloß geräuspert hatte, wie konnte man das wissen bei diesem Dialekt! Ich wartete, aber sie sprach nicht weiter. In ihren Brillengläsern sah ich mein Spiegelbild. Ich nickte ihr zu, stieg ins Auto und ließ den Motor an. Die Fahrt hinauf war weniger schlimm als die Fahrt hinunter. Die Sonne stand bereits halb hinter dem Felskamm zwischen den Gletschern, der kurze Wintertag näherte sich dem Ende, das Tal lag im Schatten, aber weiter oben leuchteten noch die grünen Hänge. Ich bemerkte Dinge, die ich zuvor nicht gesehen hatte: einen Steinhaufen neben der verfallenen Scheune, einen durchgerosteten Traktor, den langen Schatten, den das Auto auf der Fahrbahn vor mir dahingleiten ließ. Aus einem Busch flatterte ein Schwärm kleiner Vögel auf wie eine Explosion, ihre Leiber erhoben sich, wurden vom Wind erfasst, wirbelten davon. Eine Wolke glänzte in sattem Orange. Kurz darauf erreichte ich das Haus, stellte die Einkäufe in den Kühlschrank und setzte mich zum Schreiben an den Tisch. •58 59- könnte Chirurg sein oder Meteorologe. Ist auch egal. Es kommt nicht darauf an. Aber wer ist es? Einer ihrer Kollegen aus dem letzten Film vielleicht, ich muss nachsehen, ob jemand namens David dabei war. Aber was besagt das schon? Es kommt darauf nicht an. Aber wer ist es? Morgen früh muss ich es schaffen, vor Esther so zu tun, als wäre alles normal. Den Anwalt muss ich anrufen und fragen, ob wir eigentlich Gütertrennung oder Gütergemeinschaft haben; verrückt, dass ich das nicht weiß, aber es ist wohl noch zu früh, um darüber nachzudenken, ich meine, wer denkt so schnell an Scheidung. Obwohl ich mich andererseits frage, wie das denn wieder aus der Welt verschwinden soll. Wenn ich mir das nur vorstelle, sie und er, aber ich darf nicht, das ist das Wichtigste: dass ich es mir nicht vorstelle. |<^)| Immer noch Nacht. Keine Ahnung, wie spät es ist. Ich finde mein Telefon nicht. Eine Armbanduhr trage ich schon lange nicht mehr. Ich brauchte das Telefon auch, weil es ja sein kann, dass sie anruft. Ich muss es nachlesen. Die letzten Tage, all die Lügen. Ich habe es ja aufgeschrieben. Ich blättere zurück, und da sind wir im Wohnzimmer, am ersten Nachmit- tag, und streiten in altvertrauter Weise, und da stehen wir nachts am Fenster, als wäre alles wie immer und als dächte sie nicht unterdessen an ihn, und da sitzen wir beim Frühstück, und ich beschreibe ihre Augen, nicht eigentlich blau, eher türkis, mit schwarzen Einsprengseln, und neben ihr liegt das Telefon, und David schreibt ihr und sie ihm und er ihr und sie ihm und er ihr, während ich - warum steht da Geh weg? Das habe nicht ich geschrieben. Das war ich nicht. Aber wer denn sonst, wer sollte es gewesen sein, bleib ruhig - bestimmt war sie es! Zumal sie meine Schrift nachmachen kann, ich weiß das. Ich blättere weiter, und da fahre ich ins Tal einkaufen, während sie im Haus bleibt und Zeit hat, mit David zu telefonieren, und da komme ich zurück- warum steht da wieder Geh weg? Denk doch logisch. Wenn sie es in dein Notizbuch geschrieben hätte, wie könnte es sich dann in die Zeile einfügen, hätte sie es nicht höchstens an den Rand schreiben können? Ich kann mich jetzt nicht darum kümmern, ich kann es nicht klären, ich kann es einfach nicht. Ich blättere weiter, lese von unserer Wanderung. In meiner Arglosigkeit habe ich sogar aufgeschrieben, dass sie ständig auf dem Telefon Gleich muss es Morgen werden. Ich schreibe ganz schnell, schreibe auf, was vorhin passiert ist. Ich muss ■60- es aufschreiben, um nicht verrückt zu werden. Oder für den Fall, dass mir etwas zustößt. Esther liegt auf dem Sofa. Sie schläft wieder. Es war furchtbar. Ich hatte dagesessen und in meinem Notizbuch gelesen und plötzlich ein Geräusch gehört. Es klang wie eine Menschenstimme, nur sehr hoch, und sie formte Worte, die ich nicht verstand, ein Singsang, steigend, fallend und wieder steigend, wie ich ihn noch nie gehört hatte. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass er aus dem Babymonitor kam. Aber auf dem Bildschirm sah ich Esther fest schlafen: ihr Kopf auf dem Kissen, die Hand, die unter der Decke hervorragte, keiner bei ihr. Ich lief hinaus, die Treppe hoch, den Korridor entlang, ich taumelte ins Kinderzimmer und schaltete das Licht an. Keiner da. Sie schlief fest. Was denn sonst. Ich horchte. Alles war still. Also das Licht wieder aus, die Tür leise schließen, die Treppe hinunter, aber als ich den Flur entlang zum Wohnzimmer ging, hörte ich die Stimme wieder, und sie sprach Worte, fremd und alt, ein Flüstern halb, halb ein Seufzen, und als ich das Zimmer erreichte und auf dem Bildschirm eine große Gestalt sah, die sich über Esthers Bett beugte, war mir, als bliebe mein Herz stehen. Dann erst sah ich, dass ich das war. Auf dem Bildschirm, neben dem Bett, ich war es selbst. Offenbar eine Verzögerung der Übertragung; es war das Bild von vor einer Minute, und was ich hörte, war wohl ein Radiosignal, und während ich das begriff und aufatmete, sah ich, wie meine Tochter sich mit einem Ruck aufsetzte, die Augen öffnete, die Gestalt, die ich war, anstarrte und zu schreien begann. Ich rannte die Treppe hinauf, stolperte, stieß mit dem Knie an eine Stufe, raffte mich auf, humpelte weiter und rief: Ich komme, ich komme! Tür auf, Licht an, da lag sie und schlief. Ich zog einen der bunten Kinderstühle heran, setzte mich, atmete schwer und dachte mit einer Klarheit, als spräche ein anderer zu mir: Du hättest gehen sollen. Jetzt ist es zu spät. Langsam stand ich auf. Ich konnte Esther nicht allein lassen, aber ich konnte auch nicht den Rest der Nacht auf dem winzigen Stuhl sitzen. Also hob ich sie sachte aus dem Bett. Sie murmelte im Schlaf, dann bewegte sie sich ein wenig, um sich enger an mich zu schmiegen; ihr Gesicht sank in meine Halsbeuge, ich spürte ihren Atem warm auf meiner Haut. Während ich vorsichtig die Treppe hinabstieg, Schritt für Schritt, um nicht zu fallen, begann sie, leise zu schnarchen. Ich ging ins Wohnzimmer und legte sie aufs Sofa. Mit einem Seufzen rollte sie sich zusammen. Und hier schläft sie jetzt. Ich habe die Tür des Wohnzimmers abgeschlossen. Esther ist hier, das ist alles, was zählt. Wer oder was dort oben ist, will ich nicht wissen. Gerade eben habe ich sie noch auf dem Bild- •62' schirm gesehen, ruhig schlafend, während die fremde Stimme zu ihr sang - und während sie unleugbar neben mir auf dem Sofa lag. Es war nicht zu ertragen. Ich habe den Stecker gezogen. Dann habe ich noch einmal nachgemessen. Bei dem einen Winkel ist das Ergebnis das gleiche geblieben, bei dem anderen hat es sich verändert: Der untere beträgt jetzt neununddreißig Grad und der obere einundvierzig. Ich habe die Seite aus dem Notizbuch gerissen, zu einer Kugel geknüllt und weggeworfen. Mein Knie schmerzt von dem Sturz auf der Treppe. Wie gern würde ich das Licht ausschalten, um die Spiegelung im Fenster verschwinden zu lassen, aber die Dunkelheit wäre noch schlimmer. Eben habe ich doch kurz hingesehen. Alles war, wie es sein soll, auch mich selbst und das Kind konnte ich sehen, nur die Tür stand weit offen. Die Tür, die ich abgeschlossen hatte. Es sind nur Bilder, sage ich mir wieder und wieder, nur Phantome, sie können nichts anfassen und nichts ausrichten, nicht gegen dich, nicht gegen das Kind. Ganz still ist es. Nur mein Atem zu hören. An der Wand hängt ein Bild. Ein dünner Metallrahmen um ein Foto. Es hängt neben der stählernen Oberfläche des Küchenschranks gegenüber dem Fernseher. Ein wenig schief hängt es, und es zeigt einen Mann, der an einem Baum lehnt. Er trägt einen Anzug, wie er schon sehr lange nicht mehr •63- in Mode sein kann, in der Hand hält er einen Hut, und sein bärtiges Gesicht sieht mehr als ernst aus, verzweifelt ist es. Die Farben sind schon ausgeblichen. Ich erinnere mich daran, aufgeschrieben zu haben, dass im ganzen Haus kein Bild hängt. Ich könnte nachblättern, aber ich will jetzt nicht. Ich erinnere mich nicht an diese Wand, ich könnte das Bild auch übersehen haben. Aber hätte ich solch ein Bild übersehen? Und ich weiß, ich habe aufgeschrieben: Nirgendwo im Haus hängt ein Bild. Hätte ich das geschrieben, wenn hier ein Bild gewesen wäre? Irgendwann wird die Nacht enden. Wie lange habe ich geschlafen, ausgestreckt auf dem Boden? Mein Rücken schmerzt. Immer noch Nacht. Schreib den Traum auf. Ich stand draußen auf dem Hang und sah ins Tal. Dann blickte ich auf, schräg über die Gletscher, und sah den anderen Berg. Er war ungeheuer groß, und es ging an ihm tiefer hinab, als ich je einen Abgrund gesehen hatte. Stunden hätte man fallen können, ehe man den Grund erreichte, vorbei an Felsen und noch mehr Felsen und Spalten und Zacken und tieferen Spalten und mehr und immer mehr Gestein, und all das verlor sich in einer Ferne, die mich schwindeln ließ. Während ich ihn anstarrte, spürte ich ein Ziehen - einen schwachen Sog, der sich •64- wie ein Strom von Zugluft anfühlte, aber es war die Schwerkraft. So viel Masse hatte der Berg, dass man seine Schwerkraft spürte, und mir wurde klar, dass man nur springen musste, dann würde einen das eigene Gewicht zu ihm ziehen, dann hielte einen nichts. Und jetzt, da ich am Tisch sitze und ins Notizbuch kritzle, mit schmerzenden Gliedern, fällt mir das Wort Weltenberg ein. Ich weiß nicht, was es bedeuten soll, aber ich kann es nicht wegschieben, denn das ist er; das ist, was ich gesehen habe. |^^| 6. Dezember In aller Eile, während Esther ihren Zeichentrickfilm sieht. Sie hat mich aufgeweckt, als die Morgendämmerung kam, und natürlich wollte sie gleich wissen, wo Susanna ist. Mami muss was in der Stadt besorgen, sagte ich, das ist doch lustig, nur du und ich, das ist doch schön. Warum habe ich auf dem Sofa geschlafen? Weil das doch auch mal lustig ist, auf dem Sofa schlafen! Warum ist das lustig? Warte hier, sagte ich, ich muss mein Telefon suchen. Beim Hinausgehen sah ich auf die weiße Wand neben dem Küchenschrank. Das Bild von dem Mann neben dem Baum hing da, als wäre das immer so gewesen. Schon als ich die Treppe hinaufstieg, hörte ich Esther wieder nach mir rufen. Komme gleich, rief ich und ging ins große Schlafzimmer. Da standen die gepackten Koffer, sie hatte nichts mitgenommen. Und hier, am Ladekabel an der Steckdose, war auch mein Telefon. Ich rief Susanna an, sie hob nicht ab, ich hinterließ 84- •85- paar Schritte, dann blieb ich stehen. Einen Moment hoffte ich noch mit aller Kraft, es wäre nur eine Ähnlichkeit und also ein Irrtum: das spitze Dach, die breite Haustür, der leere Parkplatz davor und das große, erleuchtete Fenster, durch das man den langen Tisch und die Küche und die offen stehende Tür zum Flur sah. Es war kein Irrtum. Wir sind zurück, sagte ich. Was? Zurück, sagte ich und setzte sie ab. Mir war, als müsste ich mich übergeben, aber ich kämpfte dagegen an, das durfte nicht passieren. Nicht vor dem Kind. Aber wir sind doch immer hinunter - Das ist kompliziert, sagte ich heiser. Ich erkläre es dir morgen, jetzt musst du schlafen. Aber - Ganz spät ist es, sagte ich. Abenteuer vorbei. Das war doch lustig! Jetzt musst du schlafen. Aber ich habe Hunger! Ist doch kein Problem, krächzte ich. Der Kühlschrank ist voll. Ich mach dir Essen. Wir sind zu Hause. Jetzt schläft sie auf dem Sofa, ich habe sie mit meiner Jacke zugedeckt. Vorhin war ein Mann im Zimmer. Er sah nicht gefährlich aus, eher müde. Es war nicht der von dem gerahmten Foto, denn er hatte keinen Bart, aber ich glaube, er sah der Frau mit den schmalen Augen ähnlich. Ich konnte es nicht gut erkennen, weil er nicht auf dem Fußboden stand, sondern an der Decke, und er sah auf mich herunter, als wollte er um Hilfe bitten. Aber er war nur kurz hier, und ich bin so erschöpft, dass ich ihn mir auch eingebildet haben könnte. Ebenso, wie ich mir vielleicht eingebildet habe, dass der leere Raum mit der Glühbirne und dem zerbrochenen Stuhl jetzt noch eine zweite Tür auf der anderen Seite hatte. Ich habe es gesehen, als ich Esther durch den Flur trug, die andere Tür stand offen, und dahinter war ein zweiter leerer Raum mit Glühbirne und offener Tür und hinter dem ein dritter; ich habe es nur für einen Moment gesehen, daher bin ich auch nicht sicher, ob sich in dem dritten wirklich etwas auf dem Fußboden bewegt hat. Wir waren sofort im Wohnzimmer, und die Tür habe ich abgeschlossen. Es ist der Ort selbst. Es ist nicht das Haus. Das Haus ist harmlos, es steht einfach nur dort, wo besser nichts stehen sollte. Ich vermute, es gibt noch mehr Orte wie diesen, aber die anderen sind wohl unerreichbar, auf dem Meeresgrund oder in Berghöhlen, die noch keiner betreten hat. Oder aber es gibt hier wirklich nur einen, und der nächste ist Lichtjahre entfernt im unendlichen Universum. Ganz wirr wird einem von dem Gedanken - keine erfundene, sondern eine reale Unendlichkeit, erfüllt von Dingen und Wesen und Galaxien •86- •87- und Galaxienhaufen und Haufen von Galaxienhaufen und immer so weiter, ohne ein Ende in irgendeiner Richtung. Und dann und wann Stellen, wo die Substanz dünn wird. Worte. Sie treffen nicht, wie es wirklich ist. Aber ich weiß jetzt, warum sie alle solche Gesichter haben. Warum sie aussehen, wie sie aussehen. Das ist wegen der Dinge, die sie gesehen haben. Wenn ich die Augen schließe, sind da Muster: Scharf gestochen kriechen sie dahin wie Insekten. Der Ort ist nicht böse, aber er ist eine Falle - wie eine Felsspalte, aus der du zunächst noch hinausklettern könntest, aber du siehst den Himmel über dir und denkst, es ist nicht gefährlich, daher trödelst du und siehst dich um, weil da interessante Kristalle sind, und als du dann doch hinausklettern willst, merkst du zu spät, dass du die Griffe nicht mehr findest. Ich glaube, es hat mit dem Bewusstsein zu tun. Deshalb hält es nicht jeden gleich stark fest, mich etwa mehr als das Kind, vielleicht hätte ich Esther allein auf den Weg hinunter schicken sollen, aber vielleicht wäre das auch falsch gewesen, wie kann ich das wissen? Ich habe alles aufgeschrieben. Vielleicht findet es jemand. Und wenn sie es finden? Na, sie werden es trotzdem für einen klaren Fall halten. Esther rührt sich nicht. Ganz gelöst liegt sie da. Wie befreit. Atmet tief und regelmäßig. Es gibt absolut nichts, was ich tun kann. Auch das mit dem Winkel verstehe ich jetzt besser. Es lässt sich nicht gut in Worte fassen. Nicht in diese Worte jedenfalls. Mit neuen Worten ginge es. Aber wozu die Mühe. Wenn ich sage, dass man sich zu den drei Dimensionen noch drei von der anderen Seite, oder eigentlich von innen, dazudenken muss ... Aber wem soll ich das erklären? Den anderen, die auch für immer hier sind? Sie wissen das längst, sie wissen schon viel mehr. Aber vielleicht kann ich ihn, also mich, also den, der ich eben noch war, auf diese Art warnen; vielleicht ihm durch die wellenschlagende Zeit zurufen: Geh weg. Ihn anschreien: Geh weg, bevor es zu spät ist, es flüstern, es brüllen, dass er sich nicht um seinen Film kümmern, sondern die Augen aufmachen und sehen soll, wo er ist. Irgendwie zu ihm durchdringen, bis er mich hört, bis er es liest, bis er es sieht, bis er versteht. Es hat nicht funktioniert. Ich habe es versucht. Ich bin noch hier. Also ist er nicht weggegangen, als er noch konnte, also bin ich geblieben. •88- •89- Schritte im ersten Stock. Aber das erschreckt mich nicht mehr. Jetzt habe ich Angst vor ganz anderen Dingen. Jemand ist oben den Korridor entlanggegangen, etwas ist zu Boden gefallen und klirrend zerbrochen, dann hat die Treppe geknarrt, dann ist die Haustür zugefallen. Nun ist es wieder still. Draußen wird es hell. Wie erkläre ich es ihr, wenn sie aufwacht, wie erkläre ich es? Wir haben noch für zwei Tage Lebensmittel, aber etwas sagt mir, dass Essen bald nicht mehr wichtig ist. Ich glaube, ich höre Sie ist weg. Ich bin allein, mein Gott, sie ist weg. Jetzt heißt es warten. Ich habe keine Uhr, der Akku meines Telefons ist leer, und das Kabel, das vorhin noch auf dem Tisch lag, liegt dort jetzt nicht mehr. Es muss schon eine halbe Stunde sein, was auch immer das heißt, denn die Zeit ist ja Jetzt eine Dreiviertelstunde. Wenn sie nicht bald wieder auftauchen, dann haben sie es Ich glaube, sie Sie haben es geschafft. Als es hell wurde und Esther sich schon im Schlaf bewegte, kurz vor dem Aufwachen, hörte ich plötzlich das Geräusch eines Motors. Ich wusste sofort, was es war, und ich wusste, dass ich schnell sein musste. Ich riss Esther in die Höhe, stieß die Tür auf und trug sie durch den Flur, der nun aber nicht der vor dem Wohnzimmer, sondern der im ersten Stock war und dazu viel länger, als er hätte sein sollen. Ich lief an der Tür zum Kinderzimmer vorbei, die zum Glück geschlossen war, und vorbei auch an den anderen Schlafzimmern und lief und lief, während das Kind sich auf mir zu regen begann und verwirrt um sich sah. Der Flur dehnte sich aus, und ich lief, stolperte, fing mich, lief weiter auf die Treppe zu, da hörte ich draußen eine Hupe. Esther streckte sich schlaftrunken und stieß einen Schmer-zensschrei aus, als sie gegen ein Bild an der Wand stieß, ich hörte Glas zerbrechen. Ich lief und lief und konnte nicht glauben, dass ich noch immer lief, Esther begann zu jammern. Plötzlich wurde mir klar, dass es durchaus ohne Ende so weitergehen konnte, aber dann erreichte ich doch die Treppe und hastete hinunter. Ich riss die Tür auf und taumelte ins Freie. Da stand mein Auto. Die Scheinwerfer waren noch eingeschaltet, die Scheibenwischer zuckten, feiner Nieselregen erfüllte die Luft. Hinter dem Steuer saß Susanna. Sie stieg aus, ohne den Motor abzuschalten. Sie war bleich, ihr Gesicht war zerfurcht, und sie begann sofort zu reden: Große Sorgen habe sie sich gemacht, hun- •90- •91- dertmal habe sie angerufen, das könne ich doch nicht tun, einfach nicht mehr ans Telefon gehen, das mache man doch nicht, wenn man gemeinsam ein Kind habe! Ich öffnete die hintere Tür und setzte Esther auf die Rückbank. Sie sah mich mit aufgerissenen Augen an. Ich beugte mich vor und gab ihr einen Kuss. Ihre Wange war heiß. Sie hatte Fieber. Ich öffnete den Mund, um etwas zu ihr zu sagen, aber mir fiel nichts ein. Es gab nichts, das angemessen war. Also schloss ich die Autotür. Er ist nicht wichtig, sagte Susanna. Er ist mir egal. Er bedeutet mir nichts, ich will ihn nie wiedersehen. Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, von wem sie sprach. Es war ein Fehler, sagte sie, ein entsetzlicher Fehler. Fahr los, sagte ich. Aber - Ich muss jetzt Zeit für mich haben, sagte ich. Ich kann nicht reden. Ich muss nachdenken. Ja, nachdenken muss ich. Über alles. Aber doch nicht hier! Hier ist es gut, sagte ich. Hier fühle ich mich wohl, hier kann man gut nachdenken. Über alles. Bitte fahr jetzt. Fahr schnell! Ich melde mich. Fahr. Sie setzte zum Sprechen an. Nein, sagte ich. Vertrau mir. Fahr los! Sie nickte. Als wir uns ansahen, fühlte ich mich wie in zwei Wesen gespalten. Das Wissen darum, dass ich sie und Esther nie mehr sehen würde, lastete wie ein unerträgliches Gewicht auf mir; es schnürte meine Kehle zu, es nahm mir den Atem, es war nicht auszuhalten. Zugleich aber waren sie mir beide so fern, dass ich nicht einmal wusste, ob ich dorthin, wohin ich nicht zurückkonnte, überhaupt hätte zurückkehren wollen. Ich legte die Arme um meine Frau, und mir war, als täte es ein anderer, mit dem ich nur den Namen gemeinsam hatte. Welchen Namen eigentlich? Ich versuchte, mich zu erinnern. Wir hielten einander mehrere Sekunden. Zu lange schon. Ich ließ los, schob sie von mir, trat zurück und sagte mit zitternder Stimme: Geh! Sie nickte und stieg ins Auto. Es setzte sich in Bewegung und entfernte sich. Für einen Moment sah ich Esthers Gesicht blass im Rückfenster, dann waren sie hinter der Kurve verschwunden. Eine Weile hörte ich noch das Motorengeräusch. Der Regen lief mir über den Kopf. Ich blickte an dem Haus empor. Wie anders es jetzt aussah. Langsam ging ich hinein. So ist alles berichtet. Das Wasser zieht am Fenster seine Regenlinien. Die Wolken sind so dicht, dass ich das Zimmer wieder sehr deutlich im Spiegelbild sehen kann - den langen Tisch, den Schrank, die Küche, die •92- Tür. Im Raum, der sich da spiegelt, ist keiner. Aber auf dem Tisch liegt ein Notizbuch. Und dabei bin ich erst ganz am GOETHE %MJ) INSTITUT PAÄTKEEBIBtlOTOEK