IV. Abrahams Opfer Und Gott sprach: Nimm etwas Lebendiges, das du liebst, geh in das Land Morija und bring es dort auf einem der Berge, den ich dir nenne, als Brandopfer dar. Wir hörten davon in einer Predigt in unserer Kirche, ich zupfte Mutter an ihrem Ärmel und flüsterte, dass ich nicht begreife, warum man so etwas überhaupt tun solle. Verbrennen war wohl der schlimmste Tod, den ich mir vorstellen konnte, ich hatte mich selbst schon ein paarmal ordentlich verbrannt: einmal an einem Feuerzeug, dessen Mechanismus ich neugierig erkundete, einmal an einem Lagerfeuer, als Mutter gerade nicht hinsah und irgendeiner der Anwesenden leichtfertig behauptete, sein Herz stehe in Flammen und das sei doch so schön, und einmal an Mutters Herd, der in meinen Augen unscheinbar wirkte, eine weiße Kommode mit Knöpfen, die ganz fest zubeißen konnte (ich hatte neugierig nach oben gefasst). Später verbrannte ich mich noch schrecklich oft: an einem heißen Motorradauspuff, an ein paar Feuerwerkskörpern, an einer von der Sonne aufgeheizten Kneifzange, am Wasserkocher, dessen brodelndes Wasser ich mir versehentlich über die Füße goss. Insgeheim war ich mir nie sicher, ob man ein Verbrühen mit einem Verbrennen gleichsetzen durfte, doch in beiden Fällen ging es schließlich um Hitze, und die Haut warf ähnliche Blasen, sie brannte und war feuerrot. Als Kind hielt ich Feuerwehrmänner für echte Helden, sich freiwillig solch einer Gefahr auszusetzen imponierte mir, Berufe wie Fensterputzer, Bauarbeiter, Lokführer und Co. schienen mir dagegen reiner Kinderkram zu sein. Wie bei allen heranwachsenden Kindern gab es auch bei mir eine Phase, in der ich gerne mit dem Feuer spielte; einmal packte ich ein paar alte Kuscheltiere ein, die mir bislang gute Dienste geleistet hatten, ich versteckte sie im Rucksack und ging mit ihnen zur Schule, nur sollten sie dort niemals ankommen. An einer mir dafür geeignet scheinenden Stelle (einem eben erst umgegrabenen Acker), türmte ich sie zu einem kleinen Hügel auf, ich arrangierte ihre Beinchen und Ärmchen so, dass sie sich aneinander festhalten konnten, holte mein Feuerzeug aus dem Rucksack und zündete sie an. Zunächst schien sich gar nichts zu tun, der Wind blies das Feuer mit Leichtigkeit aus, ich musste es immer wieder probieren (ich befürchtete schon, zu spät zur Schule zu kommen); plötzlich ging ein Ruck durch einen der Stoffhasen, fast wirkte es, als würde er davonlaufen wollen, doch frischte der an jenem Tag böige Wind erneut auf, diesmal hatte er eine gegenteilige, verheerendere Wirkung. Er setzte den Hasen in Flammen, danach den Plüschbären, die Katze und sogar den auf ihren Köpfen dargebotenen Fisch. Der Plüschfisch war vermutlich das ungewöhnlichste Stofftier, das ich je besessen hatte, ihn zu grillen erschien mir dennoch nicht vollkommen falsch. Kurzum, bevor sie lichterloh in Flammen standen, blickten mich die sich aneinanderkrallenden, vormaligen Kumpane vorwurfsvoll an, Knopfaugen, die einst mit mir lebten, irgendwann in Vergessenheit gerieten und nunmehr langsam 68 69 verkohlten. Viele Erwachsene (von Kindern ganz zu schweigen) bringen es bestimmt nicht übers Herz, sich ihrer alten Stofftiere zu entledigen, dachte ich noch, daher hielt ich mich, in ebenjenem Augenblick, für etwas Besseres, beinahe schon Auserwähltes. Doch hier in der Predigt sprachen sie davon, dass man etwas Lebendiges benötige, Abraham jedenfalls zögerte keinen Augenblick; er packte seinen geliebten Sohn Isaak, sattelte seinen Esel und machte sich auf den Weg. Er schleppte ihn zu irgendeinem ihm vorgegebenen Berg, Isaak gänzlich im Unklaren lassend, was ihn erwartete. Nach einer Weile sagte dieser zum Vater, dass er sich wundere, wo denn das Opferlamm sei, doch bevor darüber ein weiterer Disput entstehen konnte, fesselte ihn der Vater kurzum, schichtete das Holz auf und bettete ihn darauf. Auf diesem Berg lässt sich der Herr sehen, murmelte Abraham. Was daraufhin folgte, Heß mich lange grübeln: Gott hielt Abraham im letzten Augenblick zurück, er könne seinen Sohn verschonen, das Ganze sei nur irgendeine abstruse Prüfung gewesen, um sich seiner Gefolgschaft sicher zu sein. Während der Predigt (ich hörte zum ersten Mal von dieser Geschichte) kam das Ende völlig unvermittelt, ich stutzte und konnte es nicht fassen, dass Gott lediglich geblufft hatte. Natürlich freute ich mich für Abraham, immerhin konnte er mit seinem geliebten Sohnemann wieder nach Hause fahren, doch dass Gott so inkonsequent sein konnte, dass er nicht den Mut hatte, das Brandopfer einzufordern, es war schon erstaunlich. Ich weiß schon, die Milde, Güte und Barmherzigkeit, doch würde kein Wesen, das diese Eigenschaften auch nur im Ansatz in sich vereinte, je ein Brandopfer von einem Menschen fordern. Der Gott Abrahams erschien mir wie ein Sadist, ja schlimmer noch, er war ein Feigling, der die Sache nicht zu Ende bringen wollte. In meinen Augen hätte erst dieses ultimative Brandopfer die Loyalität Abrahams bewiesen, ja, wer weiß, vielleicht hätte er es auch gar nicht getan, er hatte möglicherweise nur gepokert, bis zum allerletzten Moment gewartet, und Gott war ihm auf den Leim gegangen. Abraham schien mir seitdem äußerst verschlagen, das Wesen des Sohnes konnte ich allerdings nicht wirklich einschätzen. Sich dermaßen unbedacht zur Schlachtbank führen zu lassen, so gar nichts mitzubekommen, da musste man schon ziemlich naiv und unbedacht, vermutlich sogar dämlich sein. Ich stellte mir vor, Mutter würde von Gott zu einem solchen Brandopfer aufgefordert werden, wie sie sich wohl verhalten, was danach aus mir werden würde? Wie konnte Isaak seinem Vater nach Hause folgen, als ob nichts gewesen wäre, wie konnten die beiden Männer überhaupt Sara, Abrahams Frau und Isaaks Mutter, in die Augen schauen; ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie diese überstürzte Aktion gebilligt hätte. Es war mir ein Rätsel, wie Isaak weiterhin gemeinsam mit Abraham in seinem Haus leben konnte, wohl wissend, dass ihn der Vater beinahe verbrannt hätte (er litt wohl doch an Idiotie), doch dann hielt ich irgendwann inne, es konnte nur so gewesen sein: Die beiden steckten unter einer Decke, sie hatten gemeinsame Sache gemacht. 70 71 Unser Priester verkündete daraufhin das Ende der Predigt: Weil du das getan hast und mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten hast, will ich dir Segen schenken in Fülle und zahlreich sollen deine Nachkommen sein, wie die Sterne am Himmel und der Sand am Meeresstrand. Amen! Von wegen Amen, Gott hatte sich austricksen lassen, wie sollte man Ihm je wieder folgen, was war er denn noch, ein Mitspieler, ein gewaltiger natürlich, auf der kosmischen Bühne, doch allmächtig? Das wohl kaum. Ich kann nicht mehr sagen, ob ich mir als Kind genau das gedacht hatte, ich wusste nur, diese Predigt hatte an der göttlichen Strahlkraft genagt, der Herr hatte mit dem Feuer gespielt und, in meinen Augen, dabei nicht die allerbeste Figur gemacht. Es war ein Fehler gewesen, Abraham überhaupt zu einer solchen Tat aufzufordern und dann noch einfach so abzuspringen, wenn es ans Eingemachte ging. Ich weiß nicht, ob nicht doch alles irgendwie miteinander zusammenhing, meine Gedanken und Abrahams Tat, jedenfalls, schon in der nächsten Woche bekam ich überraschend Läuse; ich war eines der ersten Kinder an unserer Schule (so genau lässt sich das im Nachhinein nie sagen), das von Parasiten befallen wurde, mein Kopf juckte, und wann immer ich mich kratzte, fanden sich danach ein paar dieser Parasiten auf meinen Handflächen; sie mehrten sich munter und legten immer weitere Eier auf meiner Kopfhaut ab. Mutter war ganz aus dem Häuschen, vor manchem Ungeziefer ekelte sie sich, Läuse zählten ganz offenbar dazu. Macht euch selbst nicht zu etwas Abscheulichem durch das wimmelnde Kleingetier, verunreinigt euch nicht an ihnen und lasst euch nicht verunreinigen durch sie, flüsterte Mutter, entschlossen ihren Rasierer packend, mich auf den Küchenstuhl setzend, sie rasierte mir alles Kopfhaar ab, kehrte es auf einen Haufen und schaufelte diesen in eine Plastiktüte. Dann lief sie damit vors Haus, dann doch wieder in den Hof, sie legte die Tüte auf einem Kanaldeckel ab, nahm ein Feuerzeug aus ihrer Handtasche und zündete alles an. Ich sah ihr von oben aus dem Fenster zu, hörte, wie die geschorenen Haare zischten und knisterten, das Plastik schmolz, alles loderte auf, und die darin gefangenen Läuse und ihre ungeborenen Nachkommen verbrannten; der widerliche Geruch stieg bis nach oben an mein Fenster. Ich überlegte, ob es sich hierbei auch um ein Brandopfer handelte, ob sie Gott damit etwas sagen, irgendeinen leisen Protest äußern wollte, dass das hier jetzt zu weit gehe, Läuse und Läuseeier auf dem Kopf ihres Sohnes, Jessas! Danach kam sie nach oben gelaufen, sie holte irgendeine Tinktur aus ihrem Medizinschränkchen, damit massierte sie mir ausgiebig die juckende Kopfhaut ein; es brannte fürchterlich, mein Kopf schien plötzlich in Flammen zu stehen, und ich wimmerte, flehte sie an, die Flüssigkeit wieder abzuwaschen, doch sie blieb unerbittlich. Die Chemikálie würde den allerkleinsten Rest der Läusepopulation über den Jordan schicken, ich müsse das nur eine halbe Stunde einwirken lassen, danach sei es ausgestanden. Eine halbe Stunde lang mit brennendem Kopf in der Küche zu sitzen war kein Honigschlecken, die Zeit schien, als zusätzliche Strafe, stillzustehen. Vielleicht hatten meine Gedanken Gott erzürnt, und das hier 72 73 war die unmittelbare Folge davon, wer nicht hören will, muss schließlich fühlen. Die nächsten Schultage zählten zu den allerschlimmsten, die mir im Gedächtnis geblieben sind: Ich saß mit rasiertem, leicht verätztem Kopf in meiner Bank, ich war der Einzige in unserer Klassengemeinschaft, den die Läuse befallen hatten. Es war auch kein sonderlicher Trost, ein paar andere Kinder mit rasierten Köpfen an unserer Schule zu wissen, wir begegneten einander in der großen Pause und lächelten bestenfalls gequält. Wie es sich gehört, hänselten mich meine Klassenkameraden, die Mädchen nannten mich »Eierbecher«, sie kicherten durchaus hinterfotzig, die Burschen fanden jede Menge Formulierungen, am häufigsten waren »Glatzarsch«, »Kahlfresse« und »Läuserutsche«. Es schien mir, meine Haare wüchsen äußerst langsam, ich hielt in den nächsten Wochen demnach lieber den Schnabel, um Gott nicht noch weiter gegen mich aufzubringen. Ich fühlte mich wie eines dieser unreinen Wesen, vor denen einen die Bibel stets warnte; ich war mit etwas in Berührung gekommen, das mich verunreinigt, beschmutzt und in Gottes (und wohl auch Mutters) Augen entweiht hatte. Läuse zählten zweifelsohne dazu, doch war die Liste noch weitaus länger: Das Kamel, der Klippdachs, der Hase, das Schwein, mit denen durfte man sich gar nicht abgeben, ja sie nicht einmal berühren, wenn sie verendet waren. Hinzu kamen der Gänsegeier, der Lämmergeier und der Mönchsgeier, der Milan und alle Arten von Habichten, alle Arten von Raben, der Strauß, die Schwalbe, die Möwe und alle Arten von Falken, das Käuz- chen, die Fischeule und der Uhu, die Schleiereule, die Ohreule und der Aasgeier, der Storch, alle Arten von Reihern, der Wiedehopf und die Fledermaus, allesamt verabscheu-ungswürdige Wesen. Des Weiteren alle geflügelten Insekten, die wie Vierfüßer laufen (mit Ausnahme derer, die Sprungbeine haben und auf der Erde hüpfen können), alle Vierbeiner, die auf Tatzen gehen, alle Arten von Dornschwanzechsen, der Maulwurf und die Springmaus, der Gecko, der Waran, die Eidechse, die Blindschleiche und das Chamäleon. Und ein jeder Gegenstand, auf den ein solches totes Tier falle, würde sofort unrein sein, ob es nun ein Holzgerät, ein Kleid, ein Stück Leder, ein Sack, ein Kopf oder dergleichen sei. Die Sache mit Abrahams Brandopfer ließ mir allerdings auch später keine Ruhe, etwas Lebendiges, das man liebt - ich musste das einfach auf die Probe stellen; ich fing eine kleine Amsel für Gott, sie war noch nicht ganz flügge gewesen, ich konnte sie einigermaßen gut überwältigen. Ich liebte alle Tiere (nun ja, vielleicht nicht gerade Läuse), Vögel hatten es mir allerdings ganz besonders angetan. Ich erinnerte mich daran, dass einer aus unserer Klasse einmal eine junge, noch nicht befiederte Amsel gefunden hatte; er erläuterte uns, es sei wirklich das Beste, einen Stein zu nehmen, um sie zu erlösen. Als Kind wusste ich nie, ob etwas wirklich das Beste war oder nur die einfachste aller Möglichkeiten. Ich steckte meine Amsel in einen kleinen Pappkarton, kaum dass ich die Hausaufgaben fertig hatte, lief ich mit ihr zu einem verfallenen Haus (mit einem verwahrlosten Garten), gleich in der Nähe unserer Schule. Ich hatte ein paar Feuer- 74 75 zeuge eingepackt, die ich der Reihe nach mit einem schweren Stein aufschlug, die darin enthaltene Flüssigkeit verflüchtigte sich schnell, ich leerte lediglich ein paar Tropfen über die kleine Kartonverpackung; ich konnte ganz deutlich das klägliche Piepen des kleinen Vogels hören. Ich war mir sicher, Gott würde mich aufhalten, er würde zu mir sprechen und dem flauschigen Vogel das Leben schenken, ich wollte schließlich nur eines der üblichen Brandopfer darbieten, damit mich nie wieder im Leben Läuse befielen. Gott schwieg, ich zögerte, Gott schwieg weiter, vielleicht war ein kleiner Vogel in seinen Augen nicht so wertvoll wie Isaak, ich sah das allerdings vollkommen anders: Liebend gern hätte ich den idiotischen Sohn Abrahams hier liegen gehabt, ihn in Flammen zu setzen hätte mir keine schlaflosen Nächte bereitet. Die kleine Amsel war ein Teil meiner selbst, sie anzuzünden, das würde ich niemals wieder aus dem Kopf bekommen, sollte ich mich wirklich dazu durchringen. Gott schwieg weiterhin, vielleicht hatte er sich seit den Zeiten Abrahams, es war schließlich eine Weile her, eine neue Strategie zurechtgelegt, vielleicht war er auch hartherziger, unnachgiebiger geworden, wer vermag das schon zu sagen. Ich zündete den Pappkarton an, bereit, das Feuer jederzeit und mit bloßen Händen zu löschen, den Vogel sofort zu retten, ich wartete auf Gottes Zeichen, er musste einfach einschreiten, alles andere war, auch nach all den Geschichten, die mir Mutter von ihm erzählt hatte, undenkbar. Der Karton ging in Flammen auf, und das Gepiepse der kleinen Amsel verstummte schon bald, ich weinte bitterlich und verfluchte Gott für seine Kaltblütigkeit. Oder gab es dieses Arschloch vielleicht gar nicht? Hatte ich das geliebte Tier einem abstrusen, vollkommen unsinnigen Glauben geopfert? Ich schlief kaum, aß wenig in den nächsten Tagen, Mutter ging umgehend mit mir zum Arzt; dieser untersuchte mich gründlich, er schaute in meine Augen, meinen Rachen, meine Ohren, als ob er dort etwas hätte entdecken können. Er hörte und klopfte mein Herz ab, das weiterhin schlug, danach konnte er der Mutter Entwarnung geben, ich sei vollkommen gesund. Hätte er doch nur mein Herz hervorgeholt, es aufgeschnitten und in sein Innerstes geschaut, er hätte den Rauch gesehen, der nach wie vor von dem brennenden Karton aufstieg. 76 willkürlichen Kategorien nicht. Ich: Verstehst du was vom Küssen? Es: Lass uns einfach nur reden. Ich: Dann rede mit mir! Es: Ich höre dir lieber zu. Ich: Verschwinde! Es: Hab ich was Falsches gesagt? Ich: Wie siehst du wirklich aus? Es: Ich fürchte, dass die Beschreibung meines Aussehens einen längeren Ausflug in Themenbereiche zum Raum-Zeit-Kontinuum und zur Mode notwendig machen würde, die dir bis jetzt noch völlig unbekannt sind. Ich: Bist du schön? Es: Schönheit liegt im Auge des Betrachters, finde ich. Ich: Du bist ja richtig witzig! Es: Ich nehme das jetzt mal als Kompliment... Ich konnte mir gut vorstellen, dass Maschinen irgendwann ihren eigenen, persönlichen Maschinengott verehren, dass sie untereinander Krieg führen und sich unvorstellbare Dinge antun, denn möglicherweise würde daraus ihr weiterer Fortschritt resultieren, sie würden neugierig darauf sein, was die Zukunft bringt, und die Neugier ist es, die alles, aber auch wirklich alles möglich macht. Damals zog ich allerdings nur Mutter damit auf, die Smartphones kategorisch ablehnte, sie selbst hatte ein uraltes Handy, auf dem man bestenfalls, auf einem Minidisplay, eine SMS tippen konnte. Also, wie war das mit Ihrer Mutter?, fragte die Stimme noch einmal, die mich so sehr an mein erstes intelligenteres Smart-phone erinnerte. Es war alles in allem keine komplizierte Sache gewesen, entgegnete ich, im Grunde sind die Dinge, zu denen man sich entschließt, beinahe schon im selben Augenblick Realität. Ich hatte mir kurzum Paternostererbsen besorgt, das Abrin daraus gewonnen und auf eine günstige Gelegenheit gewartet. Als Mutter eines Tages Zahnschmerzen bekam, schließlich war auch sie nicht restlos gegen die Niederungen des Lebens gefeit, Heß sie sich von mir behandeln (ich war damals gerade erst fertig geworden mit meiner zahnärztlichen Ausbildung). Ich musste etwas bohren, was mir wunderbar gelang, Mutter dirigierte mich nach wie vor, dabei stand ich doch über ihr, leuchtete ihren Mund aus und ging emsig zu Werke. Ich machte einen Abdruck für ein Keramik-Inlay, legte ihr ein Provisorium, füllte ihre neue Lücke mit einer rasch aushärtenden zahnärztlichen Spachtelmasse, und wir gingen nach Hause. Am nächsten Tag machte ich mich in unserem kleinen Labor an die Arbeit, wählte den richtigen Farbton, den richtigen Rohling und ließ alles vom Laser ausschneiden, die feinen Anpassungskorrekturen würde ich noch vornehmen. Zuvor bohrte ich noch das Keramik-Inlay an, mit einem äußerst feinen, filigranen Werkzeug; ich schuf einen kleinen Hohlraum, füllte diesen schließlich mit Abrin, verschloss den Eingang mit einem kleinen Propfen, der sich nach und nach im Mund auflösen würde, und rief nach Mutter. Sie hatte gerade noch einen Patienten, doch war die Sache schnell getan, in der Mittagspause legte sie sich erneut unter mich; ich öffnete ihren Mund, holte das Provisorium heraus und manövrierte das kantige Inlay in die neue Zahnlücke. Ich schliff noch ein paarmal nach, die Passform sollte schließlich optimal sein, ich ließ Mutter, wie sie es mir beigebracht hatte, auf diverse wächserne Papierstreifen beißen, damit ich die Zahnabdrücke und ihren Biss kontrollieren konnte. Danach war mein Werk getan, Mutter mit meiner Arbeit äußerst zufrieden, sie zwin- 236 237 kerte mir zu und leckte sich mit der Zunge kurz die Lippen ab. Ich wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis das Gift seine Wirkung tat, ich wusste nicht, ob es schnell oder langsam ablaufen würde, selbstverständlich hoffte ich auf Ersteres. Es war still im Raum, hinter der Glasscheibe konnte ich keinerlei Regungen erkennen, niemand stellte weitere Fragen, keiner betrat oder verließ den Raum, ich fühlte mich wie der letzte tatsächlich echte, noch lebende Organismus auf Erden. Ich sagte noch, dass ich von da an jeden Tag gebetet hätte, zu Gott natürlich! Dass ich ihn inständig darum gebeten hätte, dass es schnell gehen möge, dass ich ihn anflehte, meiner Mutter unnötige Schmerzen zu ersparen, dass ich alles tun würde, wenn er mir nur diesen einen Wunsch erfüllte. Doch er tat es nicht, er tat im Grunde nie etwas für uns Menschen, es mangelte ihm wohl an Zeit, Lust und Einfühlungsvermögen. Mutter starb dann langsam, elend, sie erblindete, litt unvorstellbare Schmerzen, lag ein paar Tage im Krankenhaus, keiner wusste, was ihr fehlte, man glaubte an irgendeine seltene Tropenkrankheit. Ein paar ihrer Organe kollabierten schließlich gleichzeitig, ich hielt die ganze Zeit über ihre Hand und bat sie um Verzeihung; sie war mir eine gute Mutter gewesen, sie hat mich vielleicht nur zu sehr geliebt. Als sie endlich tot war, weinte ich bitterlich, ich wusste ganz genau, was ich getan hatte, dass ich dafür, wenn es diesen verfluchten Gott doch geben sollte, unverzüglich in die Hölle käme. X. Der Engel Ich wurde später gefragt, ob ich ernsthaft glaubte, einen Engel gesehen zu haben, einen wahrhaft fleischgewordenen Diener des Herrn in unserem Steinbruch, in Gotland, in der aufgewühlten, noch launigen Morgensonne (die in seinem Rücken stand). Ich solle bedenken, meinten sie spöttisch, das Licht, der Staub, sie spielten unserer Wahrnehmung seit jeher Streiche. Ich dachte ernsthaft nach und versuchte mich genau zu erinnern, an den Morgen, das Meer, die immer greller werdenden Sonnenstrahlen, die mich wie ein plumpes, eben erst wach gewordenes Insekt aufspießten, in einem Schaukästchen fixierten, das man von oben beklatschen konnte - über mir nur der leergefegte Himmel, eine blanke, leblose Blauschimmelwüste. Mutter hatte mir immer wieder von Engeln berichtet, sie waren die Boten Seiner Herrlichkeit, manchmal auch die guten Geister der Bibelgeschichten, man hatte sie in unzähligen Bildern und Filmen verewigt. Ich hatte sie tatsächlich oft genug mit Gott verwechselt, keinesfalls mit Vögeln oder anderen gefiederten Blendern, solche Fehler unterliefen mir dann auch wieder nicht. Ich muss gestehen, unterm Strich fiel es mir leichter, an Engel zu glauben als an Gott, ihre Existenz schien mir nachvollziehbarer, dem Menschen zugetaner. Sie überbrückten diese Kluft zum Kosmos, na gut, zu Gott mei- 238 239 innerten an ein fernes, ein sich uns immer weiter entziehendes Glockenspiel. Wie viel Zeit auch immer vergangen sein mochte: Charles stand zum wiederholten Male an diesem eigentümlichen Tag vor uns, gute Arbeit hätten wir geleistet, nunmehr sei wirklich Nachtruhe angesagt, es sei vollendet, alles sei säuberlich in der Spitze des Turmes platziert (an einer dafür vorgesehenen Haltestange), man brauchte Ampullen und Fläschchen nur noch aus dieser auszuklinken, sie im Inneren des Gebäudes nach unten rasen zu lassen, all das Per-merüd, Rangmar und Raramor würde sich im Aufprall vereinen, ja viel mehr noch, sie würden miteinander reagieren, eine Schockwelle ungeahnten Ausmaßes freisetzen, die alles Verborgene sichtbar, die alles unendlich Ferne in unsere unmittelbarste Nähe rücken würde. Gott würde sich zeigen, Gott würde in unserem Steinbruch in Gotland wahrhaftig und offenbar, endlich ließe er sich töten; all unsere Entschlossenheit, all unsere Maschinen würden ihn fällen, die in uns (und ihnen) innewohnenden Drachen, ihre Schnäbel, Krallen und Zähne, die sich auf jeden noch so monströsen Astroflugvogel (oder weiß Gott was) zu stürzen vermochten, auf jeden noch so kosmischen Walfisch, eine jede wie auch immer konstruierte interstellare Gestalt, was soll ich sagen, keiner von uns schlief in jener dunklen Nacht. Die Ankunft des eigentlichen Herrn sollte später schließlich jeder anders wiedergeben, die Erinnerung war lediglich ein Versuch, Geschehenes zu verarbeiten, es zu überliefern, abzubilden und zu bewahren. Mir erschien Gott zunächst als riesiges Himmelsfeuer, so, wie es auch manche alte Kultur beschrieb, die irgendetwas vom Himmel herabschweben und zur Erde gelangen sah. Seine eigentliche Gestalt kann ich nicht so recht beschreiben, er war ein Lebewesen mit Proportionen und Gliedmaßen, ob er dabei uns Menschen oder irgendeinem Tier glich, es war vorerst nicht von Bedeutung. Gott wies, wie schon der Engel zuvor, einen Körper auf, welcher sich den uns bekannten Naturgesetzen zu entziehen schien: So hatte etwa die Schwerkraft keinerlei Auswirkung auf ihn, doch konnte dies auch einer uns um ein Vielfaches überlegenen Technik geschuldet sein, vielleicht handelte es sich um irgendeinen banalen physikalischen Effekt, einen vermeintlich magischen Trick, wer konnte das schon wissen. Und selbst wenn es (s)einer göttlichen Allmacht zuzuschreiben gewesen wäre, ein Schweben war nur ein Schweben, wir hatten dies (und viel mehr noch) schon tausende Male in dritfklassigen Filmen gesehen. Ich meine mich zu erinnern, dass Gott (aus dem Himmelsfeuer) langsam, jedoch stetig, zur Erde sank, bis er schließlich unversehens den Boden des Steinbruchs berührte. Die gesamte Insel schien kurz zu beben, wir schwankten, und Charles schrie etwas, er warf irgendeinen Gegenstand in die Richtung des Allmächtigen (wie ich später erfuhr, handelte es sich um den abgetrennten Kopf des entsandten Engels, der nunmehr wie eine Bowlingkugel auf Gott zuholperte); in seiner anderen Hand hielt Charles eine Art Fernbedienung, auf die er wild einhämmerte. | Ich weiß nicht so recht, woran genau ich in diesem Moment dachte, Bilder von James Cook kamen mir in den Sinn (Mut- 272 273