dass - aber Fenia habe natürlich absolut recht, wenn sie erwarte, dass. Was seien die Fehler bei bisherigen Jubiläen gewesen? Es habe keine andere Idee gegeben, als diese: anlassbedingt ein Jubiläum zu feiern. Aber der Anlass allein sei eben noch keine Idee. Dass eine Institution so und so viele Jahre existiere - gut und schön, aber was ist die Idee, welche Idee stellt man in den Mittelpunkt? Sie muss überzeugend sein, sie muss die Menschen so begeistern, dass sie zu diesem Anlass wirklich feiern wollen. So war Martin Susman in die Falle getappt. Nach einigem Hin und Her sagte Fenia Xenopoulou: Schluss jetzt, der Einzige, der sich offenbar Gedanken gemacht habe, sei Martin. Es sei absolut logisch, was er gesagt habe. Das Um und Auf sei eine zentrale Idee. Sie beauftragte Martin, die Idee zu entwickeln und ein entsprechendes Papier zu schreiben. Wie viel Zeit er dafür veranschlage? Zwei Monate!? Das müsse gründlich überlegt, mit Kollegen auch anderer Generaldirektionen diskutiert werden. Eine Woche, sagte Fenia. Unmöglich. Nächste Woche habe er die Dienstreise, die auch einige Vorbereitung erfordere und — Also gut, zwei Wochen, einige Bull et-Points, das wirst du doch schaffen! Und mit den Kollegen werden wir erst diskutieren, wenn wir das Papier vorgelegt haben. Alles klar? Wir legen vor! Martin Susman war wütend und gereizt, als er um sechs nach Hause fuhr, nachdem er den wichtigsten Tageskram erledigt harte. Auf halber Strecke begann es zu regnen, den Regenponcho hatte er in der Fahrradtasche, die Fahrradtasche aber hatte er im Büro vergessen. Er kam völlig durchnässt und frierend zu Hause an und ging sofort unter die Dusche. Allerdings wurde das Wasser nicht richtig heiß, und der Dusch- vorhang, wie magnetisch angezogen, schmiegte sich kalt an seinen Rücken. Wütend schlug er ihn weg, wodurch er ihn halb von der Stange riss. Sofort am nächsten Tag musste er veranlassen, diesen blöden Vorhang durch eine Duschkabinentür zu ersetzen, und er wusste, dass dies nur wieder eine der Ideen war, die er nie in die Tat umsetzen würde. Er schlüpfte in den Bademantel, holte eine Flasche Jupiter aus dem Kühlschrank und setzte sich in den Fauteuil vor dem offenen Kamin. Er musste sich beruhigen, einatmen ausatmen, entspannen. Er starrte auf die Bücher im offenen Kamin. Als Martin Susman hier eingezogen war, hatte er zunächst seinen Augen nicht getraut. Der Kamin war nicht mehr in Betrieb, seit die Wohnung mit einer Zentralheizung ausgestattet worden war. Der Vermieter hatte zwei Bretter in den Kamin montiert und Bücher dar aufgestellt. Fand er wahrscheinlich nett und heimelig. Martin hatte das später auch bei Freunden und Bekannten in anderen Brüsseler Altbauwohnungen gesehen: Bücher in den nicht mehr benutzten Kaminen. In Martins Kamin standen verschiedene Brüsseler Stadtführer, alte, zerfledderte Ausgaben, wahrscheinlich von Vormietern zurückgelassen, ein paar Bände eines Konversationslexikons aus dem Jahr 1914, drei Adanten, einer von 1910, einer von 1943, der dritte von 1955, und ein gutes Dutzend Bände aus der Reihe »Klassiker der Welditeratur« vom Flämischen Buchclub: »In jedem Band vier klassische Werke in zeitgemäßer Kürzung«, erschienen in den sechziger Jahren. Als Martin die Wohnung bezogen und eines Abends die Bücher durchgesehen hatte, war er schockiert gewesen, nein, das ist ein zu großes Wort, unangenehm berührt: Sollte das der Fortschritt sein — Bücher nicht mehr zu verbrennen, sondern bloß »zeitgemäß gekürzt« in einen kalten Kamin zu stellen? Jetzt starrte er auf die Buchrücken, trank sein Bier, rauchte 64 65 dass — aber Fenia habe natürlich absolut recht, wenn sie erwarte, dass. Was seien die Fehler bei bisherigen Jubiläen gewesen? Es habe keine andere Idee gegeben, als diese: anlassbedingt ein Jubiläum zu feiern. Aber der Anlass allein sei eben noch keine Idee. Dass eine Institution so und so viele Jahre existiere - gut und schön, aber was ist die Idee, welche Idee stellt man in den Mittelpunkt? Sie muss überzeugend sein, sie muss die Menschen so begeistern, dass sie zu diesem Anlass wirklich feiern wollen, So war Martin Susman in die Falle getappt. Nach einigem Hin und Her sagte Fenia Xenopoulou: Schluss jetzt, der Einzige, der sich offenbar Gedanken gemacht habe, sei Martin. Es sei absolut logisch, was er gesagt habe. Das Um und Auf sei eine zentrale Idee. Sie beauftragte Martin, die Idee zu entwickeln und ein entsprechendes Papier zu schreiben. "Wie viel Zeit er dafür veranschlage? Zwei Monate!? Das müsse gründlich überlegt, mit Kollegen auch anderer Generaldirektionen diskutiert werden. Eine Woche, sagte Fenia. Unmöglich. Nächste Woche habe er die Dienstreise, die auch einige Vorbereitung erfordere und — Also gut, zwei Wochen, einige Bullet-Points, das wirst du doch schaffen! Und mit den Kollegen werden wir erst diskutieren, wenn wir das Papier vorgelegt haben. Alles klar? Wir egen vor! Martin Susman war wütend und gereizt, als er um sechs nach Hause fuhr, nachdem er den wichtigsten Tageskram erledigt hatte. Auf halber Strecke begann es zu regnen, den Regenponcho hatte er in der Fahrradtasche, die Fahrradtasche aber hatte er im Büro vergessen. Er kam völlig durchnässt und frierend zu Hause an und ging sofort unter die Dusche. Allerdings wurde das Wasser nicht richtig heiß, und der Dusch- vorhang, wie magnetisch angezogen, schmiegte sich kalt an seinen Rücken. Wütend schlug er ihn weg, wodurch er ihn halb von der Stange riss. Sofort am nächsten Tag musste er veranlassen, diesen blöden Vorhang durch eine Duschkabinentür zu ersetzen, und er wusste, dass dies nur wieder eine der Ideen war, die er nie in die Tat umsetzen würde. Er schlüpfte in den Bademantel, holte eine Flasche Jupiler aus dem Kühlschrank und setzte sich in den Fauteuil vor dem offenen Kamin. Er musste sich beruhigen, einatmen ausatmen, entspannen. Er starrte auf die Bücher im offenen Kamin. Als Martin Susman hier eingezogen war, hatte er zunächst seinen Augen nicht getraut. Der Kamin war nicht mehr in Betrieb, seit die Wohnung mit einer Zentralheizung ausgestattet worden war. Der Vermieter hatte zwei Bretter in den Kamin montiert und Bücher daraufgesteilt. Fand er wahrscheinlich nett und heimelig. Martin hatte das später auch bei Freunden und Bekannten in anderen Brüsseler Altbauwohnungen gesehen: Bücher in den nicht mehr benutzten Kaminen. In Martins Kamin standen verschiedene Brüsseler Stadtführer, alte, zerfledderte Ausgaben, wahrscheinlich von Vormietern zurückgelassen, ein paar Bände eines Konversationslexikons aus dem Jahr 1914, drei Atlanten, einer von rtjio, einer von 1943, der dritte von 1955, und ein gutes Dutzend Bände aus der Reihe »Klassiker der Weltliteratur« vom Flämischen Buchclub: »In jedem Band vier klassische Werke in zeitgemäßer Kürzung«, erschienen in den sechziger Jahren. Als Martin die Wohnung bezogen und eines Abends die Bücher durchgesehen hatte, war er schockiert gewesen, nein, das ist ein zu großes Wort, unangenehm berührt: Sollte das der Fortschritt sein — Bücher nicht mehr zu verbrennen, sondern bloß »zeitgemäß gekürzt« in einen kalten Kamin zu stellen? Jetzt starrte er auf die Buchrücken, trank sein Bier, rauchte E3 64 65 '""Uli' 11111,11 In Brl Schwi Fenia tion Í Sie so poliei Mart. nimn aus d Instit in ein Friedj von e EI cen was e sar Bj Er m| auf si zu vii Alois in eir, Denl die se Und für di Und das si Epoc ein paar Zigaretten. Das Papier für das Jubiläumsprojekt — das war eine Zumutung. Als wäre er ein Werbetexter, der das Produkt EU-Kommission verkaufen soll. Er sah hinüber zu seinem Schreibtisch, da stand immer noch der Teiler mit dem eingetrockneten und verkrusteten Senf. Was ist die Idee von Senf? Wir geben ihn dazu. Genial. Überzeugende Fernsehwerbung: Junge schöne Menschen drücken selig lachend Senf auf Teller, singen verzückt: Juhu, Juhu, wir geben ihn dazu! Und können sich nicht einkriegen vor Glück. Und die Senfkringel auf den Tellern schrauben sich rhythmisch in die Höhe, beginnen zu tanzen, wie zu den Flötentönen eines Schlangenbeschwörers: Juhu, Juhu, wir gehören dazu! Das war doch — er gab sich einen Ruck, zog sich an und machte sich auf den Weg ins Marriott. Er nahm den klassischen »Long«, der bot im Regen auch Schutz für zwei. Es hatte zu regnen aufgehört. Der nasse Asphalt, die Hausfassaden und die Passanten schimmerten im Licht der Laternen und der Leuchtröhren der Frittenbude, als hätte ein flämischer Meister soeben den Firnis auf dieses Bild aufgetragen. Martin hatte diese Abendstimmung nach Regentagen in Brüssel mittlerweile schon so oft erlebt, dass sie ihm bereits eine Art Heimatgefühl gab. ja, hier war er zu Hause. Er kaufte Zigaretten beim Inder im Night-Shop Ecke Rue Sainte-Catherine. Nach dem Bezahlen sagte der Inder immer »Dank u wel«, wenn Martin Französisch sprach, und »Merci, Monsieur«, wenn Martin auf Flämisch um seine Zigarettenmarke gebeten hatte. Das könnte man interpretieren, aber vielleicht gab es da auch nichts zu interpretieren» es war so, und irgend-wann gehörte es, wie viele andere Kleinigkeiten, einfach dazu: zu Martins Gefühl, hier irgendwie zwischen vielen Welten zu Hause zu sein. Der Wind war zwar nicht stark, aber kalt, Martin ging sehr schnell und kam natürlich viel zu früh am Marriott an. Sein Bruder aber wartete bereits in der Hotel-Lobby, mit einem Gesichtsausdruck — so streng und selbstgerecht, ein Gesicht, das sagte: Ich habe immer die Gebote Gottes befolgt, da kann ich doch erwarten, dass. Martin, kannte dieses Gesicht nur zu gut. Immer wenn er seinen Bruder traf, sah er in ihm den Vater. Sie begrüßten sich mit einer Umarmung, die noch sperriger ausfiel als sonst, weil Florian dabei eine Mappe an sich drückte. Nehmen wir ein Taxi? Nein. Ich habe im Belga Queen reserviert. Fünf Minuten zu Fuiä. Sie gingen schweigend. Schließlich fragte Martin: Wie geht es Renate? Gut. Und den Kindern? Sie sind fleißig. Gott sei Dank! Nicht dass Martin sich seiner Herkunft schämte. Er wusste bloß nicht, ob er ein Problem damit hatte., dass sie ihm so fremd geworden war, oder damit, dass sie ihn, obwohl sie ihm so fremd geworden war, immer wieder einholte. Der Vater war vor achtzehn Jahren am i. November gestorben, also just am Allerseelentag. Viel zu früh und so entsetzlich tragisch. Solange Martin in Osterreich gelebt hatte, musste er das Trauma an jedem 2. November aufs Neue durchleben. Wenn er Zeitung las, fernsah oder auch nur das Haus verließ, wurde er schon Tage vor jedem 2. November daran erinnert: Es kommt Allerseelen. Und damit: Vaters Todestag. Und es war klar, dass er nach Hause fahren musste, da gab es keine Ausrede, weil es ein staadicher Feiertag war, ein allgemeiner morbider Gedenktag. In Brüssel gab es am 2. November keinen Feiertag. Die eigene, die private Geschichte konnte hier absinken oder könnte, aber wenn sein Bruder kam, war au- 66 67 «SÄ ■■■Hill ■Ii,|M' "■■■■I» In Brü Schwe Fenia ] rion K Sie sol polier< Marti nimm aus de Institl in ein Fried! von ei Elterf was e sar Bi Er mi auf si zu vi* Alois in eir Denl die s( Und fürd Und das s Epot genblicklich Allerseelenrag. Unausgesprochen. Der Vater war in die Maschine gekommen. Immer wieder hieß es, er sei in die Maschine gekommen. Als hätten sie nur eine Maschine gehabt. Es war der Feinbrecher. Wie immer es geschehen konnte, er ist mit dem Arm in das Mahlwerk gekommen, die Maschine hat ihn regelrecht gefressen, und er ist verblutet. Er hat geschrien wie ein Schwein. Das war der Satz: Er hat geschrien wie ein Schwein. Später gab es Stimmen, die sagten, ja, sie hatten es gehört. Aber warum war keiner zu Hilfe gekommen? Weil es das Natürlichste, das Normalste, das Gewohnte auf diesem Hof war: die Schreie der Schweine. Bei rund eintausendzweihundert Schweinen und täglichen Schlachtungen auf diesem Hof, da intetpretiert man doch einen einzelnen Schrei nicht mehr heraus. Das hatte der Felbel gesagt, der Schlachtmeister. »Herausinterpretieren« hat er gesagt. Aber wieso weiß man dann, dass er geschrien hat wie ein Schwein? Er muss doch geschrien haben - das haben alle gesagt. Da waren sich alle einig. Er muss unglaublich geschrien haben. Aber nur kurz. Man verliert da ja sehr schnell das Bewusstsein. Das war es eben. Es geht so schnell. Natürlich begreifen die Schweine etwas, wenn sie — aber ruck, zuck sind sie betäubt. Und schon frisst sie die Maschine. So fleißig ist der Vater gewesen, hat zwischendurch noch liegengebliebene Tierabfälle zermahlen wollen. Der Betrieb war damals zwar schon unglaublich gewachsen, aber noch nicht so logistisch perfekt durchorganisiert wie heute. Die Mutter hat den Arzt angerufen, abet sie war natürlich völlig von Sinnen - und hat den Dr. Schafzahl angerufen, den Tierarzt. Aber es war ohnehin schon alles zu spät. Einige Tage später hat der sechzehnjährige Martin in der Schule lachend erzählt, dass die Mutter den Dr. Schafzahl gerufen hat, und als keiner gelacht hatte, noch einmal: den Schafzahl zum Schweinebauern. Dann ist er tagelang still gewesen und schließlich zum Pfarrer beich- ten gegangen, um für die Sünde, nach dem Tod seines Vaters einen Witz gemacht zu haben., Absolution zu erhalten. Der vier Jahre ältere Bruder hat dann den Hof übernommen, der Kronprinz, das war ohnehin immer so ausgemacht und geplant gewesen, nur eben nicht so bald, und er, Martin, der Zweitgeborene, der »Narrische«, der Ungeschickte (»Kein Wunder, wenn er immer nur liest!«), durfte studieren, das war auch immer klar gewesen: Er durfte studieren, was er wollte, und »was er wollte« bedeutete, dass der Familie egal war, was er machte, solange er keine Ansprüche stellte und nicht zur Last fiel. Archäologie. Als die Susman-Brüder das Restaurant Belga Queen betraten, ging Florian langsam in die Mitte des Saals, ignorierte den Kellner, der sich ihm in den Weg stellte, und rief: He! Was ist das denn? Eine Kathedrale? Martin sagte dem Kellner, sie hätten reserviert, Dr. Susman, und zu Florian: Nein, eine ehemalige Bank. Schönstes Art deco. Wir essen hier im ehemaligen Kassensaal, und dann gehen wir in den Keller, in den Tresorraum, das ist jetzt die Raucherlounge. Martin war abgefunden worden, als Florian den Hof ganz übernommen hatte und die Mutter in Pension gegangen war, ausbezahlt mit einer Summe, die bis zu seiner Volljährigkeit treuhänderisch verwaltet worden war und die er nie in Frage gesteilt und über die er nie diskutiert hatte. Dieses Geld hatte ihm ermöglicht, bequem zu studieren und sich dann auch noch ohne Druck umzuschauen, was er beruflich machen wollte. Es ist, wenn man vom Betriebswert ausging, sicherlich nicht gerecht zugegangen, aber Martin ist das egal gewesen, es hatte gereicht, Möglichkeiten zu eröffnen, und er hatte sie nutzen können. Aber jetzt wurde so getan, als hätte die Familie Martin studieren lassen und ihm diesen Superjob in der Europäischen Kommission verschafft, damit er in 68 6s dieser Position Lobbyismus für die wirtschaftlichen Interessen seines Bruders betreiben konnte. Das war der Grund, warum Martin sich immer davor fürchtete, wenn Florian sich ansagte und ihn in Brüssel treffen wollte. Florian hatte den Hof, der schon zu Lebzeiten des Vaters sehr stattlich war, zum größten österreichischen Schweineproduktionsbetrieb, zu einem der größten in Europa ausgebaut, schon längst sagte er nicht mehr »Hof«, wie noch der Vater, sondern »Betrieb« — und er war der Meinung, dass es nichts Absurderes gab als die Politik der EU in Hinblick auf Schweineproduktion und -handel. Seiner Meinung nach waren da lauter Ahnungslose oder Verrückte am Werk, bestochen oder erpresst oder ideologisch verblendet von der Tierschützer-Mafia und der Vegetarier-Lobby. Es hatte keinen Sinn, mit ihm darüber zu diskutieren, er meinte das ernst, er sah ja, wie es lief, er kannte die Praxis. Er hatte seine Erfahrungen. Er begann sich politisch zu engagieren, eroberte hohe Ämter in Interessenvertretungen und kam so immer wieder zu Verhandlungen nach Brüssel. Vor kurzem wurde er zum Präsidenten von »The European Pig Producers« gewählt, einem Netzwerk der fuhrenden Schweineproduzenten des Kontinents. In dieser Funktion und zugleich als Bundesinnungsmeister der österreichischen Schweinezüchter hatte er an diesem Tag mehrere Termine mit Abgeordneten des Europäischen Parlaments und mit Beamten der Europäischen Kommission gehabt. Da schau her!, sagte Florian, als er die Speisekarte studierte, Schweinegulasch in Kirschenbier. Interessant. Wenn das schmeckt» lasse ich mir das Rezept geben. Stelle ich dann auf die Homepage. Martin bestellte Moides et Frites. Und eine Flasche Wein. Dann sagte er: Wie war dein Tag? Es war eine blöde Phrase, und er versuchte gar nicht, die Frage so zu stellen, als wäre er wirklich interessiert. Er wusste, dass er damit eine Lawine 70 lostrat, aber darum ging es ja, und Martin wollte es hinter sich bringen. Wie wird mein Tag schon gewesen sein? Was glaubst du denn? Ich hatte mit Idioten zu tun. So ist mein Tag gewesen! Sie begreifen nichts. Sind nicht imstande, ihre Politik zu ändern, aber fordern heute von mir eine Namensänderung! Namensänderung? Warum sollst du deinen Namen ändern? »Nicht ich. Erkläre ich dir gleich. Du musst zuerst Folgendes wissen: Jeder Schweineproduzent will natürlich auf den chinesischen Markt. China ist der weltweit größte Importeur von Schweinefleisch. Die Nachfrage aus China ist enorm, das ist der Wachstumsmarkt. Ist doch gut. Oder? Ja. Wäre gut. Aber die EU ist unfähig, ein entsprechendes Handelsabkommen mit China zu verhandeln. Die Chinesen verhandeln nicht mit der EU, sondern nur mit jedem Staat einzeln. Und jeder Staat glaubt, er kann für sich allein einen super bilateralen Vertrag abschließen, die anderen ausstechen und alleine größeren Profit machen, aber in Wirklichkeit spielt China nur alle gegeneinander aus. Dabei kann kein einziges Land allein die Größenordnungen stemmen, um die es da geht. Auch in Jahren nicht. Ich gebe dir ein Beispiel: Unlängst in der Innung bekomme ich einen Anruf, Wie viele Schweinsohren kann Osterreich liefern? — Schweinsohren? Ja, Schweinsohren. Das war jemand vom chinesischen Handelsministerium. Sage ich: Wir schlachten in Osterreich jährlich fünf Millionen Schweine. Also zehn Millionen Ohren. Sagt er: zu wenig. Verabschiedet sich höflich und legt auf. Verstehst du: Wenn China sagen wir hundert Millionen Schweinsohren braucht, und es gäbe einen EU-Vertrag mit China, dann könnten wir zehn Prozent der Menge hefern. Aber wie 71 ■■■■I'' InBn Schw Fenia tion 1 Sie s< poliei Mart nimri aus d Instil in di Fried von I ElteJ was I sar E Err* auf s zu v: Aloi in ei Der die : Unc fur. Unc das Epe ist die Situation? Österreich hat noch keinen bilateralen Vertrag mit China, ein gemeinsamer Vertrag der EU-Staaten wird nicht verhandelt - und ich kann meine Schweinsohren wegwerfen, in Österreich ist das Schiachtabfall. Dabei sind Schweinsohren in China eine Spezialität, es gibt eine irrsinnige Nachfrage danach, aber wir werfen sie weg oder sind froh, wenn ein Katzenfutterfabrikant sie kostenfrei bei uns abholt. Aber selbst wenn es Verträge gäbe — man kann ja nicht nur Schweinsohren produzieren, man braucht doch das ganze Schwein dazu. Man kann ja nicht wegen der chinesischen Nachfrage nach Schweinsohren solche Mengen von ganzen Schweinen züchten und füttern und — und was machst du mit dem Rest? Bist du blöd oder was? Es gibt dann keinen Rest mehr. Den Rest haben wir jetzt. Schlachtabfall. Schweinsohren sind nur ein Beispiel. Die Chinesen nehmen ja nicht nur Schinken, Filet, Speck, Schulter, das sowieso, sondern eben auch die Ohren, Köpfe, Schwänze, die essen alles, die nehmen alles. Was bei uns Schlachtabfall ist, kaufen die auch noch zum Filetpreis. Mit anderen Worten, ein Abkommen für Schweine-handei mit China würde bedeuten: 20 Prozent mehr Umsatz pro Schwein, und auf Grund der Nachfrage mittelfristig ein Wachstum von hundert Prozent, also eine Verdopplung der europäischen Schweineproduktion. Das, verstehst du, das wäre der Wachstumsmarkt. Es gibt keinen Industriezweig, der solche Prognosen hat. Ich verstehe, sagte Martin» und das war nicht gut, dieses ge-langweiite, bemüht geduldige, schlecht gespielt höfliche »Ich verstehe!« Sein Bruder sah ihn auf eine Weise an, dass er erschrak. Schnell sagte er: Ich verstehe nicht. Wenn es diese Möglichkeit gibt und aus China diese Nachfrage, war- 7z Weil deine Kollegen verrückt sind. Völlig ahnungslos. Statt die Mitgliedstaaten zu zwingen, der Kommission die Kompetenz zu übertragen, einen EU-Handelsvertrag mit China zu machen, und zugleich mit Förderungen den Ausbau der Schweineproduktion zu finanzieren, schauen sie zu, wie China Teile und Herrsche spielt, und sie treffen Maßnahmen, um die Schweineproduktion in Europa zu reduzieren. Die Kommission ist der Meinung, es gibt in Europa zu viele Schweine. Das führt zu Preisverfall und so weiter. Also was machen sie? Weniger Förderung. Sogar Stilllegungsprämien. So, und jetzt haben wir in Europa folgende Situation: eine Überproduktion für den Binnenmarkt, die zu Preisverfall führt, und zugleich eine Blockade gegenüber einem Markt, für den wir zu wenig produzieren. Maßnahmen, die die Produktion weiter einschränken, gleichzeitig keine Maßnahmen, um auf den Markt zu kommen, auf dem wir doppelt so viel absetzen konnten. Inzwischen war das Essen gekommen. Wie schmeckt dein Schwein in Kirschenbier? Wie? Ach so. Ja, geht. Jedenfalls: Was jetzt also nötig wäre, sind Investitionen, in einer Größenordnung, die kein Betrieb alleine leisten kann. Also Förderungen. Nicht Reduktion. Förderungen, offensive Wachstumspolitik. Verstehst du? Stattdessen bekommen wir Auflagen. Tierschutz. Kastenhaltung wird verboten, Zuluftboxen mit Diffusoren werden verpflichtend. Hdt-System — Ich will gar nicht fragen, was das ist. Es ist teuer. Es frisst den Gewinn auf. Hier, ich zeige dir etwas. Er öffnete die Mappe, die er mitgebracht hatte, blätterte, zog ein Blatt heraus. Hier: EU-Schweinepreis-Statistik des letzten Halbjahres, 15.7.: Preisverfall in Europa: Minus von 18 Prozent. 2.2.7.: Talsohle erreicht. - Denkste! 19. 8.: Wenig Bewegung auf den Märkten. 9.9.: Schweinepreis um 21 Prozent gefallen. 16.9.: Notierungen stark rückläufig. 21.10,; Schweinepreis gibt 14 Prozent nach - soll ich weiterlesen? Nein. Rückläufig;, Preisverfall, Talsohle, wieder Preisverfall. Und keine Reaktion von Seiten der EU. Seit Jahresbeginn - schau her! Da! Hier steht es! - seit Jahresbeginn schließen europaweit im Schnitt täglich 48 Schweinebauern die Stalltür für immer. Und Tausende, die versucht haben durchzuhalten, haben ein Verfahren wegen Konkursverschleppung am Hals. Dabei könnten wir doppelt so viel produzieren bei 20 Prozent höheren Abnehmerpreisen für das Schwein als Ganzes -man müsste nur einmal koordiniert in die Infrastruktur investieren und mit China reden. Aber erkläre das einmal dem Herrn Frigge. Der sagt mir, die EU habe in der Schweineproduktion leider eine andere Agenda. Zugleich verbieten sie den Mitgliedstaaten Subventionen, denn das wäre Verzerrung des Wettbewerbs. Kennst du diesen Frigge? Nein. Gibt es nicht. Ist ein Kollege von dir. Ich durchschaue sein Spiel nicht. Hör zu: Du musst einmal mit ihm ein Wörtchen reden, du musst ihm so ganz unter euch klarmachen, dass -Florian! Die Kommission funktioniert nicht wie der österreichische Bauernbund! Komm mir nicht so! Wozu haben wir dich da drinnen sitzen? Ich verstehe jetzt eines nicht: Du sagtest etwas von einer Namensänderung ... ? Was wollte Herr Frigge, welchen Namen sollst du ändern? Nein, das war nicht der Frigge. Das waren die Herren Abgeordneten vom Parlament. Keine Frau dabei. Da hätte ich vielleicht ein bisschen charmieren können, aber nur Männer, und die waren in ihrer Blödheit knallhart. Die waren von der Fraktion der Europäischen Volkspartei. Verstehst du? Nein-Europäische Volkspartei. Ich habe erwartet, das wird ein Heimspiel für mich, ich bin ja von der Österreichischen Volkspartei. Hier im Europäischen Parlament heißt die Fraktion EPP, European People's Party. Und? Na ja, ich komme hierher als Präsident der European Pig Producers, also auch EPP — verstehst du? Ich hatte das Mandat, zwei Punkte zu verhandeln: Subventionen für den Ausbau der Schweineproduktion und Koordinierung des europäischen Schweineexports. Wir haben keine Minute darüber geredet. Die Abgeordneten sagten, wir müssten zuallererst unseren Namen und unser Logo ändern. Es geht nicht an, dass auf Google, wenn man die Europäische Volkspartei sucht, EPP, sofort nur Schweine auftauchen. Lach nicht! Ich sagte, das ist schwierig. Wir sind eine transnationale Organisation, vereinspolizeilich registriert in jedem einzelnen Mitgliedstaat. Das ist ein enormer Aufwand. Weißt du, was sie vorgeschlagen haben? Wir heißen ja The European Pig Producers, und wir sollen also auch das The ins Kürzel aufnehmen -dann hießen wir TEPP. Unfassbar, diese Zyniker! Ihr habt aber nicht auf Deutsch verhandelt? Nein, es war kein Deutscher dabei. Dann war das nicht zynisch. Die wissen nicht, was TEPP bedeutet. Florian wischte mit Brot den letzten Rest Gulaschsaft auf, so hatte er es schon als Kind gemacht. Den Teilet vom Florian muss man nach dem Essen gar nicht mehr abwaschen, hatte die Mutter immer gesagt. Ein bisschen süß, diese Kirschenbiersoße. Hast du nicht gesagt, man kann da im Tresor rauchen? Zeig mir das! Ich brauche jetzt dringend eine Zigarette. 74 Ü s F P Heim gingen sie wie Brüder, Arm in Arm, harmonisch über das Brüsseler Pflaster wankend und schwankend. Sie hatten noch Gin Tonics getrunken und, verfuhrt vom Angebot, Zigarren geraucht. Das zeigte Wirkung, als sie aus- den Club-fauteuils aufstanden, und noch heftiger, als sie an die frische Luft kamen. Nachdem Martin seinen Bruder im Hotel abgeliefert hatte, begann es wieder zu regnen und er merkte, dass er den Schirm im Belga Queen vergessen hatte. Er kam völlig durchnässt zu Hause an, zog Jacke und Hose aus, öffnete den Kühlschrank, zögerte kurz, holte dann doch ein Jupiler heraus und setzte sich an den Kamin. Sein Bruder hatte ihm eine Zeitschrift mitgegeben (»Schau, was ich dir mitgebracht habe : Ich bin auf dem Cover!«), die er nun — nicht las, anschaute: »THINK PIG! Das Informationsbulletin der EPP« Drittes Kapitel Letztlich ist der Tod auch nur der Beginn von Folgeerscheinungen. A] q dj U: tl da und lächelte. Das war ein Reflex. Er hatte immer gelächelt, wenn er Kinder sah. Beglückt, oder verständnisvoll, oder einfach aus Höflichkeit. Da sah er, dass ein Mädchen neugierig zu ihm hersah. Wie alt mochte sie sein? Vielleicht acht. Ihre Blicke trafen sich. Da kam sie zu ihm an den Tisch. Bitte, nein! Dachte er. Cool!, sagte sie und zeigte auf die tätowierte Nummer auf de Vriends Arm. Ist das echt? Ja, sagte er und zog sein Sakko an. Cool!, sagte sie und zeigte ihm ein Klebetattoo auf ihrem Unterarm. Vier chinesische Schriftzeichen. Ist aber nicht echt, sagte sie. Ich darf noch nicht echt. Weißt du, was das heißt, fragte de Vriend. Nein? Aber es gefällt dir? Ja? Er tippte auf die Zeichen. Auf das erste: Alle Das zweite: Menschen Das dritte: sind Das vierte: Schweine Hab mich verlesen, sagte er und tippte auf das erste: alte nd das vierte: schweigsam. Prof. Alois Erhart folgte Antonio Oliveira Pinto in den Meeting Room. Er sah die Mitglieder der Reflection Group im Halbkreis um den Stuhl hemm sitzen, auf dem er Platz nehmen sollte: Ein Halbkreis von Laptops und Tablets, dahinter gesenkte Blicke, auf die Bildschirme gerichtet, er hörte das leise schnelle Klicken von Tastaturen. 384 Erhart stand da, schließlich setzte er sich. Nach und nach richteten sich die Blicke auf ihn. Hier sollte nur eine Diskussion stattfinden? Das täuschte. Es ging um seine Hinrichtung, um das Ende seines Lebens in der Expet tenwelt. Aber hatte Erhart es nicht darauf angelegt? Was sagt man in Erwartung einer Hinrichtung? Letzte Worte. Jetzt ist es so weit, dachte er, genau darauf wollte er seit langem hinaus: Letzte Worte. Wie fröhlich Herr Pinto alle Anwesenden begrüßte! Nur der griechische Professor, der in Oxford lehrte, tippte noch schnell etwas in seinen Laptop, es musste ganz wichtig und dringend sein, zumindest war es eine Demonstration von Wichtigkeit und Dringlichkeit. Erhart lächelte, sagte: Sind Sie fertig, Herr Kollege? Können wir beginnen? Letzte Worte. Das war eine Geschichte, die auf Erharts erste wissenschaftliche Publikation zurückging, die in der Vierteljahreszeitschrift zur Wirtschaftsforschung der Universität Wien erschienen war. Damals war er noch Wissenschaftliche Hilfskraft. In dieser Publikation referierte er die Theorie der nachnationalen Volkswirtschaftslehre von Armand Moens und unterkellerte sie mit einigem neuen statistischen Material über die Entwicklung des Welthandels. Voll Stolz hatte Erhart damals ein Exemplar seines Aufsatzes an Armand Moens geschickt - der, zu Erharts Verblüffung, umgehend antwortete. Den Antwortbrief hatte Alois Erhart an diesem Tag mit, und ein Auszug daraus war Teil des kleinen Referats, das er nun hielt. Zunächst begann Erhart mit dem Zitat von Armand Moens: »Das 20. Jahrhundert hätte die Transformation der Nationalökonomie des 19. Jahrhunderts in die Menschheitsökonomie des ZI. Jahrhunderts sein sollen. Das ist auf so grauenhaf- 385 te und verbrecherische Weise verhindert worden, dass danach die Sehnsucht neu und noch dringlicher wiedererstand. Allerdings nur im Bewusstsein einer kleinen politischen Elite, deren Nachfolger bald beides nicht mehr verstanden: die kriminelle Energie des Nationalismus und die Konsequenzen, die aus den Erfahrungen mit dem Nationalismus bereits gezogen worden waren.« Einige tippten in ihre Laptops. Erhart wusste nicht, ob sie mitschrieben oder Mails beantworteten. Es war ihm egal. Er hatte noch dreizehn bis fünfzehn Minuten, er hatte Zeit, sein Moment kam noch. Erhart erläuterte ganz kurz die globale Wirtschaftsentwicklung bis zum Ersten Weltkrieg und mit einigem Zahlenmaterial den radikalen Rückschlag durch Nationalismus und Faschismus — und er sah, dass bereits jetzt, in Minute 5 seines Referats, einige sich langweilten. Nichts langweilte sie so sehr wie die Erinnerung an Faschismus und Nationalsozialismus. Das war ein finsteres Kapitel, das Buch mit diesem Kapitel ist zugeschlagen, ein neues Buch ist längst aufgeschlagen, diese Buchhaltung ist jetzt super, außer in einigen faulen Staaten, dort muss man durchgreifen, das ist unsere Aufgabe, wir halten nichts von Kapiteln in alten Büchern, wir sind die neuen Buchhalter. Nur ein Beispiel, sagte Erhart, für die Zäsur durch die Jahre 1914 bis 45: Wenn sich der Welthandel in den nächsten Jahren linear so weiterentwickelt wie in den vergangenen zwanzig Jahren - wobei wir nicht einmal sicher davon ausgehen können -, dann wird im Jahr 2020 das Volumen des Welthandeis von 1913 erreicht sein. Das heißt, wir nähern uns erst langsam wieder dem Stand der Globalisierung der Vorkriegszeit. Das ist Unsinn! Das kann doch nicht sein! Sie wachten auf! Ach, wenn sie wüssten, dass sie noch lange nicht aufgewacht waren! 386 Warum sagen Sie »Unsinn«, Herr Kollege? Das ist gesichertes statistisches Material, sagte Erhart. Ich wollte Sie nur daran erinnern, ich hätte nicht gedachr, dass Sie es gar nicht kennen. Dann brachte Erhart noch drei Moens-Zitate, mit denen er aus der Entwicklung der transnationalen Ökonomie die Not-wendigkeir neuer demokratischer Institutionen ableitete, die die nationalen Parlamente ablösen mussten. Gut, der Bogen war da jetzt sehr verkürzt, aber Erhart hatte nicht mehr viel Zeit, und er wollte zum Schock kommen. Er atmete tief durch, dann sagte er: Und nun möchte ich Ihnen etwas erzählen. Ich habe jetzt ein paat Mal Armand Moens zitiert. Das haben Sie geschluckt. Sie haben sich vielleicht gedacht, okay, Moens ist nicht Mainstream, aber es sind doch Zitate eines bekannten Ökonomen, und Sie, meine Damen und Herren, zitieren in Ihren Arbeiten und Ihren Wortmeldungen eben andere, Sie zitieren die Namen, die jetzt Mainstream sind. Sie suchen nicht nach der Wahrheit, weil Sie den Mainstream für den letzten Stand der Wahrheit halten. Warten Sie! Warten Sie! Ich sage nicht, dass ich weiß, was die Wahrheit ist. Ich sage nur, dass wir uns das fragen müssen, Und ich sage, dass wir ihr nicht unbedingt näher kommen, wenn wir uns am Zeitgeist orientieten, also an den gegenwärtig machtvollen Interessen von Wenigen, für die die Mehrheit der Menschen nur ein Abschreibposten in ihrer Buchhaltung ist. Egal. Was ich erzählen will: In meiner allerersten wissenschaftlichen Publikation habe ich mich mit der Theorie von Armand Moens auseinandergesetzt. Voll Stolz schickte ich ihm diesen Aufsatz. Ich hatte es nicht erwartet, aber er antwortete. Ich möchte Ihnen eine Stelle aus seinem Brief vorlesen: Lieber Herr Erhart und so weiter und so weiter, ja, hier: Was Sie getan haben, ist für mich schmeichelhaft und stellt Ihnen ein gutes Zeugnis aus. Sie haben mich zu- 387 stimmend zitiert und dabei alle Zitierregeln eingehalten. Was Sie geliefert haben, ist eine perfekte erste Publikation, nach den Spielregeln unseres Betriebs. Aber stellen Sie sich vor, Sie müssten jetzt sterben, und diese Publikation wäre das, was von Ihnen bleibt. Wären Sie dann noch immer damit zufrieden? Haben Sie keine Gedanken, keine Visionen, die weit über das hinausgehen, was Sie zitiert haben? Ist dieser Aufsatz wirklich das, was Sie der Welt mitteilen wollten, das, was nur Sie sagen können, das, was weiterwirken soll, falls Sie keine Gelegenheit mehr haben, noch etwas zu sagen? Ich sage: NEIN! NEIN in Großbuchstaben geschrieben, sagte Erhart. Und jetzt sage ich Ihnen noch etwas: Wenn Sie sich wirklich, wie Sie in Ihrem Begleitbrief schreiben, als mein Schüler verstehen, dann müssen Sie zuallererst dies lernen: Bei allem, was Sie Öffentlich sagen, bei allem, was Sie publizieren, müssen Sie von der Vorstellung ausgehen, dies könnten Ihre letzten Worte sein. Bei Ihrem nächsten Vortrag - stellen Sie sich vor, Sie wüssten, dass Sie unmittelbar danach sterben müssen — was würden Sie in diesem Fall sagen? Einmal noch können Sie etwas sagen, einmal noch, auf Leben und Tod. Was wäre das? Ich bin sicher, Sie würden etwas anderes sagen als das, was Sie in diesem Aufsatz geschrieben haben. Und wenn nicht, dann hätten Sie auch diesen Aufsatz nicht schreiben müssen. Verstehen Sie mich? Es gibt zahllose Sätze, mit denen man sein Leben behaupten, einen Dienstposten erobern und ihn verteidigen kann, Sätze, die am Ende in Gesammelte Werke und in Festschriften eingehen, und ich sage nicht, dass sie alle falsch sind oder unnötig, aber was wir dringend brauchen, sind Sätze mit dem existentiellen Anspruch letzter Worte, die dann nicht in einem Archiv schlummern, sondern Menschen aufwecken, vielleicht sogar Menschen, die heure noch gar nicht geboren sind. Also, lieber Herr Er- hart, schicken Sie mir noch einen Text. Ich möchte gerne wissen, was Sie schreiben unter der Voraussetzung: Das ist meine letzte Chance, noch etwas zu sagen. Und dann sage ich Ihnen, ob es sinnvoll ist, dass Sie weiter publizieren. Erhart blickte auf. Er erzählte nicht, dass er nach diesem Brief wochenlang unfähig gewesen war zu schreiben, bis er erfuhr, dass Armand Moens gestorben war. Er sah, dass eine eigentümliche Stimmung im Raum herrschte, die er nicht einschätzen konnte. Antonio Pinto rief: Vielen Dank für diese interessante — ah, Anregung, Professor Erharr, will jemand — Moment, bitte, sagte Erhart, ich bin noch nicht fertig. Pardon, sagte Pinto, es kommen also noch last words, sozusagen. Bitte, Professor! Ich habe, sagte Erhart, zu zeigen versucht, dass wir etwas völlig Neues brauchen, eine nachnationale Demokratie, um eine Welt gestalten zu können, in der es keine Nationalökonomie mehr gibt. Bei dieser These, die ich bis zu meinem Tod vertreten werde, gibt es zwei Probleme. Erstens: Nicht einmal Sie, die Eliten der internationalen Wirtschaftswissenschaften, Mitglieder unzähliger Think-Tanks und Beratergremien von EU-Staaten, können sich das vorstellen, können diesen Gedanken akzeptieren. Sie alle denken immer noch in den Kriterien nationaler Haushalte und nationaler Demokraten. Als gäbe es keinen gemeinsamen Markt und keine gemeinsame Währung, als gäbe es keine Freizügigkeit für die Finanzströme und die Wertschöpfungsketten. Sie glauben im Ernst, dass irgendetwas in Europa besser wird, wenn man den griechischen Staatshaushalt, also einen nationalen Staatshaushalt, auf eine Weise saniert, dass das Gesundheitssystem und das Bildungssystem und das Pensionssystem in Griechenland zusammenbrechen. Dann ist für Sie alles in Ordnung. Wissen Sie, was Ihr Problem ist? Sie sind Katzen in einer Box, und es ist nicht einmal sicher, dass Sie existieren. Sie und Ihre Theorien werden als Realität bloß vorausgesetzt. Diese Voraussetzung ermöglicht, dass man Rechnungen anstellen kann, und weil diese Rechnungen möglich sind, gilr das gleich als Beweis, dass diese Rechnungen die Realität widerspiegeln und es gar nicht anders sein kann. Warten Sie, warten Sie! Sie können sich gleich aufregen, ich möchte nur noch ein paar Sätze sagen. Okay, ich anerkenne: Sie sind Experten des Status quo. Niemand kennt ihn besser als Sie, niemand hat mehr Insider-Wissen als sie! Aber Sie haben keine Ahnung von der Geschichte, und Sie haben kein Bild von der Zukunft. Oder? Warten Sie, Professor Stephanides, eine Frage: Wenn Sie zur Zeit der griechischen Sklavenhaltergesellschaft gelebt hätten und man hätte Sie gefragt, ob Sie sich eine Welt ohne Sklaven vorstellen können - Sie hätten gesagt: Nein. Nie und nimmer. Sie hätten gesagt, die Sklavenhaltergesellschaft ist die Voraussetzung der Demokratie! Oder? Nein, nein, Professor Matthews, warten Sie. Bitte. Sie stelle ich mir vor in Manchester, zur Zeit des Manchester-Kapitalismus. Wenn man Sie damals gefragt hätte, was man tun müsse, um den Standort Manchester zu sichern, Sie hätten gesagt: Auf keinen Fall darf man diesen Gewerkschaften nachgeben, die statt eines 14-Stunden-Tags einen 8-Stunden-Ar-beitstag fordern, ein Verbot der Kinderarbeit und die sogar eine Alters- und Invalidenrente wollen, denn das würde die Attraktivität des Standorts total gefährden - und, Professor Matthews, was ist jetzt? Gibt es Manchester noch? Und ersparen Sie sich dieses überhebliche Grinsen, Herr Mosebach. Mit der Radikalität, mit der Sie heute deutsche Interessen verteidigen, wären Sie mit früherer Geburt als Angeklagter bei den Nürnberger Prozessen gelandet. Und das ist Ihnen nicht einmal klar. Aber zittern Sie nicht, lieber Mosebach, Menschen wie Sie werden immer begnadigt, denn das sieht 390 doch jeder Gutachter: Sie meinen es nicht böse, Sie sind nur verblendet. Sie sind ein Mitläufer. Und das ist das Problem von Ihnen allen. Sie alle sind Mitläufer. Sie sind entrüstet, wenn Ihnen das heute einer sagt, aber Sie sind genau die, die morgen, wenn es eine Katastrophe und dann gar einen Prozess gibt, zu Ihrer Entschuldigung sagen werden, dass Sie doch nur Mitläufer gewesen sind, kleine Rädchen. Und jetzt frage ich Sie: Wissen Sie überhaupt, worüber wir diskutieren? Wir diskutieren über die Weiterentwicklung der Europäischen Union — einer nachnarionalen Gemeinschaft, geboren aus der Einsicht in den historischen Fehler, den Sie wieder für »normal« halten: So ist die Welt, so sind die Menschen, sie wollen sich über die Zugehörigkeit zu einer Nation definieren, sie wollen definieren, wer dazugehört und wer die anderen sind, und sie wollen sich besser fühlen als andere und sie wollen, wenn sie sich vor anderen furchten, diesen den Schädel einschlagen, das ist ganz normal, so sind die Menschen, Hauptsache das nationale Budget ist im Rahmen der vereinbarten Kriterien. Danke, vielen Dank, Professor Erhart, sagte Antonio Pinto, gibt es Fragen von Seiten - Bitte, Mr Pinto, ich bin noch nicht fertig. Bitte noch zwei Minuten. Die Schultasche war Erhart vom Schoß gerutscht und zu Boden gefallen, ebenso die Blätter mit seinem Vortrag, er sprach schon die längste Zeit frei, sein Referat war ihm aus dem Ruder gelaufen, aber das, worauf er hinauswollte, die Pointe seiner radikalen Intervention, die wollte er unbedingt noch anbringen. Bitte noch zwei Minuten, für mein Resümee. Nein, für meine Vision. Wirklich Last words. Okay? Okay! Also, ich fasse zunächst zusammen: Konkurrierende Nationalstaaten sind keine Union, auch wenn sie einen gemeinsamen Markt haben. Konkurrierende Nationalstaaten in einer 391 Union blockieren beides: Europapolitik und Staatspolitik. Was wäre jetzt notwendig? Die Weiterentwicklung zu einer Sozialunion, zu einer Fiskalunion — also die Herstellung von Rahmenbedingungen, die aus dem Europa konkurrierender Kollektive ein Europa souveräner, gleichberechtigter Bürger machen würde. Das war ja die Idee, das war es, wovon die Gründer des europäischen Einigungsprojekts geträumt haben - denn sie hatten ihre Erfahrungen. Aber das alles ist nicht durchsetzbar, solange das Nationalbewusstsein gegen alle historischen Erfahrungen weiter geschürt wird und solange der Nationalismus weitgehend konkutrenzlos ist als Idenüfikationsangebot an die Bürger. Wie kann man also das Bewusstsein fördern, dass die Menschen auf diesem Kontinent europäische Bürger sind? Da gäbe es viele kleine Maßnahmen. Zum Beispiel könnte man alle nationalen Pässe durch einen Europäischen Pass ersetzen. Ein Pass der Europäischen Union, in dem der Geburtsort vermerkt ist, aber nicht die Nationalität. Ich glaube, dass allein dies etwas im Bewusstsein der Generation bewirken würde, die mit einem solchen Pass aufwächst. Und das würde nicht einmal etwas kosten. Erhart sah, dass die Idealisten in der Runde zwar die Köpfe wiegten, aber bereit waren, über diese Idee zumindest nachzudenken. Aber das ist nicht genug, setzte er fort. Wir brauchen auch und vor allem ein starkes Symbol für den Zusammenhalt, es muss ein konkretes gemeinsames Projekt sein, das als gemeinsame Anstrengung das Gemeinsame in die Welt setzt, wir btauchen etwas, das allen gehört und sie als Bürger der Europäischen Union verbindet, weil es die Bürger des gemeinsamen Europas waren, die es wollten und produzierten und nicht bloß geerbt haben. Eine erste, kühne, große, bewusste Kulturleistung der nachnationaien Geschichte, und 392 sie muss zugleich von politischer Bedeutung und psychologischer Symbolkraft sein. Worauf will ich hinaus? Erhart sah, dass einige nun doch den Eindruck erweckten, als wären sie gespannt, was nun kommen werde. Er holte tief Luft und sagte: Die Europäische Union muss eine Hauptstadt bauen, muss sich eine neue, eine geplante, eine ideale Hauptstadt schenken. Professor Stephanides lächelte: Die Diskussion, welche Stadt in Europa den Status einer Hauptstadt der Union erhalten soll, ist tot. Das ist Schnee von gestern. Es war eine vernünftige Entscheidung, keiner Stadt, auch Brüssel nicht, diesen Titel zu geben, sondern die europäischen Institutionen auf verschiedene Städte in verschiedenen Ländern zu verteilen. Sie haben mich nicht verstanden, Kollege Stephanides. Ich sagte nicht, eine Stadt sollte den Titel Hauptstadt bekommen. Mir ist schon klar, dass das nur weiter den Nationalismus anheizt, in den Ländern, deren Bürger sich dann von der Hauptstadt, die zugleich Hauptstadt einer anderen Nation ist, fremdbestimmt fühlen. Das ist ja auch das Problem von Brüssel. Obwohl ich ja Brüssel als EU-Hauptstadt zunächst für sinnig hielt: die Hauptstadt eines gescheiterten Nationalstaats, die Hauptstadt eines Landes mit drei Amtssprachen. Abet nein, ich meinte: Europa muss eine neue Hauptstadt bauen. Eine neue Stadt, deren Errichtung die Leistung der Union ist, und nicht eine alte Reichs- oder Nations-Hauptstadt, in der die Union nur Untermieterin ist. Und wo wollen Sie diese Stadt bauen? In welchem Niemandsland? In der geographischen Mitte des Kontinents? Die reichste und mächtigste Nation Europas schafft es nicht einmal, einen Flughafen für eine Hauptstadt zu bauen, und Sie träumen gleich vom Bau einer ganzen Stadt? Mosebach schüttelte milde lächelnd den Kopf. Also eine Art europäisches Brasilia? Ich finde das als Gedan- 393 kenexperiment interessant, sagte Dana Dinescu, die rumänische Politikwissenschaf tierin, die in Bologna lehrte. Natürlich, sagte Erhart, kann man diese Stadt nicht in ein Niemandsland bauen. Es gibt in Europa kein Niemandsland mehr, keinen Quadratmeter Boden, der nicht eine Geschichte hat. Und deshalb muss die europäische Hauptstadt natürlich an einem Ort gebaut werden, dessen Geschichte maßgeblich für die Einigungsidee Europas war, eine Geschichte, die unser Europa überwinden will, zugleich aber niemals vergessen werden darf. Es muss ein Ort sein, wo die Geschichte spürbar und erlebbar bleibt, auch wenn der letzte gestorben ist, der sie erlebt oder überlebt hat. Ein Ort als ewiges Fanal für die künftige Politik in Europa. Erhart sah in die Runde. Gab es jemanden, der schon ahnte, was nun kommen würde? Dana lächelte und bückte ihn neugierig an. Stephanides schaute betont gelangweilt zum Fenster. Mosebach tippte etwas in seinen Laptop. Pinto sah auf die Uhr. Aber zehn Sekunden später starrten sie alle Erhart mit offenen Mündern an. Fassungslos. Dreizehn Sekunden später war Erharr, der renommierte Professor Emeritus, als Mitglied des Think-Tanks »New Pact for Europe« Geschichte. Er sagte: Und deshalb muss die Union ihre Hauptstadt in Auschwitz bauen. In Auschwitz muss die neue europäische Hauptstadt entstehen, geplant und errichtet als Stadt der Zukunft, zugleich die Stadt, die nie vergessen kann. »Nie wieder Auschwitz« ist das Fundament, auf dem das Europäische Einigungswerk errichtet wurde. Zugleich ist es ein Versprechen für alle Zukunft. Diese Zukunft müssen wir errichten, als erlebbares und funktionierendes Zentrum. Haben Sie den Mut, über diese Idee nachzudenken? Das wäre doch ein Ergebnis unserer Reflection Group: eine Empfehlung an den Präsidenten der Kommission, einen Architekturwettbewerb 394 auszuschreiben, für die Planung und Errichtung einer europäischen Hauptstadt in Auschwitz. Alois Erhart legte den Koffer auf sein Bett im Hotel Atlas, um zu packen. Er hatte ein heißes Gesicht, dachte, dass er fieberte. Das eben Erlebte brannte in ihm. Er zog die Vorhänge zur Seite und schaute aus dem Fenster, hinunter auf den Platz. Zeitlupe, dachte er. Es war da unten ein Gewimmel in Zeitlupe. Bei drückender Hitze bewegte sich alles ganz langsam, als wären die Bewegungen aller eine gemeinsame Bewegung mit einem gemeinsamen Ziel - das möglichst lange nicht erreicht werden soll. Erhart hatte gelernt, dass das europäische Einigungsprojekt auf diesem Konsens beruhte: Nationalismus und Rassismus hatten zu Auschwitz geführt und durften sich nie mehr wiederholen. Dieses »Nie wieder!« begründete alles Weitere, die Souveränitätsabgabe der Mitgliedstaaten an supranationale Institutionen und die bewusste Gestaltung einer transnationalen, verflochtenen Ökonomie. Das begründete auch das Hauptwerk von Armand Moens, der als Ökonom darüber nachzudenken begann, wie nachnationale Ökonomie politisch, organisiert werden müsse. Dieser Frage hatte auch Professor Erhart sein Leben als Wissenschaftler gewidmet. Sein Leben, das Leben seines Lehrers, die erlebte Zeitgeschichte, die Wahrung von sozialem Frieden, die Zukunft des Kontinents, das alles beruhte auf zwei Worten: »Nie wieder!« So sah das Erhart. »Nie wieder!« ist ein Versprechen auf Ewigkeit, ist ein Anspruch, der ewige Gültigkeit behauptet. Jetzt starben die letzten, die überlebt hatten, was nie wieder geschehen sollte. Und dann? Hatte selbst die Ewigkeit ein Ablaufdatum? Jetzt hatte eine Generation die Verantwortung übernommen, die sich wenigstens in Sonntagsreden noch verpflichtet fühlte, raunend und mahnend dieses »Nie wieder«