76. Audiomediale Texte 1971 prägte Katharina Reiss neben den drei grundlegenden Texttypen (inhaltsbetont, formbetont und appellbetont) auch den Begriff der „audiomedialen Texte", die sie als Texte charakterisierte, „...die zwar schriftlich fixiert, aber mit Hilfe eines nicht-sprachlichen Mediums in gesprochener (oder gesungener) Form an das Ohr des Empfängers gelangen" (1971:34). Diese „audio-medialen Texte", die Reiss damals noch als vierten Texttyp verstanden hat, lösten in der Fachliteratur eine lebhafte Diskussion aus, so daß sie sich veranlaßt sah, ihren Standpunkt zu modifizieren. Zum einen räumte sie (1990) ein, es handle sich bei solchen Texten doch nicht um einen gesonderten Texttyp in ihrem ursprünglichen Sinne, denn Elemente der Darstellung, des Ausdrucks und des Appells können hier nebeneinander vorhanden sein, so daß eine Abgrenzung kaum relevant oder möglich wäre. Und zum andern änderte sie die Bezeichnung „audio-medial" in „multi-medial" um, wobei auch das Medium der bildlichen Darstellung einbezogen wurde, wie etwa bei Comics. Als multimediale Texte dienen in dieser Definition z.B. auch die Textvorlagen zu Bühnenstücken (s. Art. 70) und Filmen (s. Art. 72,73) sowie Opernlibretti (s. Art. 71) und Liedertexte, aber auch Comics und Werbematerial (s. Art. 74, 65). In den letzten Jahren hat sich aber im gemeinsprachlichen Gebrauch der Begriff multimedial - en. audiovisual - im eher technischen Sinn (v.a. in Verbindung mit Computern, Videoaufzeichnungen etc.) durchgesetzt und - zumindest in der übersetzungswissenschaftlichen Literatur - für terminologische Verwirrung gesorgt. In der Übersetzungswissenschaft ist der Terminus audiomedial inzwischen durch multimedial völlig verdrängt worden. Allerdings gibt es Textsorten, die zwar schriftlich fixiert, aber in gesprochener Form an das Ohr des Empfängers gelangen, jedoch nicht multimedial sind. Es sind Texte, die gezielt zum Sprechen geschrieben bzw. verwendet werden und somit sehr wohl als audiomedial bezeichnet werden könnten: politische Reden, wissenschaftliche Vorträge, auch Textstellen aus der Bibel, die zu liturgischen Zwecken vorgelesen werden (s. Art. 77). Sie gelangen akustisch über die menschliche Stimme an den Rezipienten statt visuell über das gedruckte Wort. Somit entstehen für den Textproduzenten bzw. Übersetzer spezifische Probleme, z.B. hinsichtlich der Rhetorik und der Sprechbarkeit (s. Art. 12, 66, 70). Im audiomedialen Text werden solche Elemente – im Gegensatz zum spontanen mündlichen Diskurs – gezielt eingesetzt, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen, und sie variieren mit den verschiedenen Sprachen und Kulturräumen. Die rhetorische Wirkung einer Rede im Englischen ist z.B. mit dem Prinzip des End-focus im Satz verbunden (s. Art. 19), im Deutschen spielt hingegen der kontrastive Fokus eine entscheidende Rolle. Bei wissenschaftlichen Vorträgen bestehen verschiedene Konventionen (s. Art. 63): während ein wissenschaftlicher Text im Deutschen durch einen eher abstrakten argumentativen Nominalstil, durch Hypotaxe (Schachtelsätze) und Prämodifikationen gekennzeichnet ist, sind in englischen Vorträgen eher konkrete Beispiele, parataktische Gruppierungen mit Postmodifikationen und End-weight angebracht (s. Art. 19). Vor allem bei Vorträgen, die im Englischen von Nichtmuttersprachlem gehalten (und zu diesem Zweck übersetzt) werden, sind Verständlichkeit und Akzeptanz sehr häufig durch solche Kriterien bestimmt, die deshalb in die Strategie der Übersetzung eingebaut werden sollten. Das geht aus einem Vergleich der folgenden Textstelle aus einem Kongreßvortrag (dt. Original und en. Übersetzung) hervor: Diese Entwicklung wurde durch einen mit großem Einsatz betriebenen Ausbau (1) der Verkehrswege und der Transportmittel unterstützt und vorangetrieben (2); vor allem der Bau der Eisenbahn zeitigte in der Folge wirtschaftliche Auswirkungen (3) von unabsehbarem Ausmaß (4). Further impetus was provided (2) by a massive expansion (1) in transport and communications', the railways in particular had an immeasurable (4) effect (3) on the economic development. Durch die Beseitigung der Prämodifikation (1) und der Tautologie (2) sowie die Verkürzung umständlicher Phrasen (3) und die Ersetzung eines Wortverbandes durch ein Lexem (4) wird der Text nicht nur kürzer, sondern auch sprechbarer. Zu den Grundregeln solcher Sprechbarkeit gehören: lineare Satzprogression (s. Art. 66) mit Endfokus; eine rhythmische Sprache mit stark betonten Vokalen; Vermeidung komplexer Konsonantenbündel mit zu vielen unbetonten Vokalen (wie etwa: zeitigte in der Folge). In der politischen Rede kommt der Rhetorik eine besondere Rolle zu, auch in der heutigen Zeit, wie aus diesem Ausschnitt aus Bill Clintons Rede vom 12. Juli 1993 vor dem Brandenburger Tor hervorgeht: Half a century has passed since Berlin was first divided, thirty-three years since the wall went up. In that time, one half of this city lived encircled and the other half enslaved (1). But one force endured: your courage. Your courage has taken many forms. The bold courage (2) of June 17^th 1953, when those trapped in the East threw stones at the tanks of tyranny (3). The quiet courage (2) to lift children above the wall so that their grandparents on the other side could see those they loved but could not touch (1). The inner courage (2) to reach for the ideas that make you free. And the civil courage (2), Zivilcourage, of five years ago, when starting in the strong hearts and candlelit streets of Leipzig, you turned your dreams of a better life into the chisels[Neznámý a1] of liberty (4). Hier werden die oben erwähnten Grundprinzipien der Sprechbarkeit durch akustische Stilmittel wie Alliteration (3), aber auch durch Metaphorik (4) (s. Art. 79), Intensivierung, besonders durch Dreier- und Vierergruppen von Nominalphrasen (2) und Oppositionen (1) verstärkt. (S. dazu Pöchhacker 1997, mit Analyse der deutschen Simultandolmetschung.) Literatur Pöchhacker, Franz (1997): .„Clinton speaks German': A case study of live broadcast simultaneous interpreting." Snell-Hornby, Mary / Jettmarová, Zuzana / Kaindl, Klaus (Hrsg.): Translation as lntercultural Communication. Selected Papers from the EST Congress - Prague 1995. Amsterdam / Philadelphia: Benjamins, 207-216. Reiss, Katharina (1971): Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik. Kategorien und Kriterien für eine sachgerechte Beurteilung von Übersetzungen. München: Hueber. Reiss, Katharina (1990): „Brief an den Herausgeber". Lebende Sprachen 4, 185. Snell-Homby, Mary (1997): „Written to be spoken: The audio-medial text in translation". Trosborg, Anna (Hrsg.) (1977): Text typology and translation. Amsterdam: Benjamins, 277-290. Mary Snell-Hornby (Wien) | ________________________________ [Neznámý a1]Čizls, dláta