Michel Foucault Analytik der Macht Herausgegeben von Daniel Defert und Francois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange Übersetzt von Reiner Ansen, Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek, Hermann Kocyba und Jürgen Schröder Auswahl und Nachwort von Thomas Lemke Die Frage nach der Macht durchzieht nicht nur wie ein roter Faden das Werk Michel Foucaults, sondern war auch Anlass zu höchst kontroversen Diskussionen, die keineswegs abgeschlossen sind - im Gegenteil: Foucaults Konzepte, wie etwa die Biomacht, die Gou-vernementalität, aber auch die Ästhetik der Existenz oder die Disziplinarmacht, geben aktuellen Debatten in der Philosophie und Soziologie, aber auch der Politik- und Geschichtswissenschaft entscheidende Impulse. Dieser Band versammelt die wichtigsten Texte Foucaults und bietet somit einen umfassenden Überblick über einen der zentralen Bereiche der Theoriebildung der letzten Jahrzehnte. In seinem Nachwort erschließt Thomas Lemke sowohl den historischen als auch den systematischen Kontext von Foucaults Machttheorie. Michel Foucault (1926-1984) war ab 1970 Professor für Geschichte der Denksysteme am College de France in Paris. \ Sein Werk liegt im Suhrkamp Verlag vor. Suhrkamp Die »Gouvernementalität« (Vortrag) »La >govemamentalitä.<« (»La >gauvernemenfcilite\«; Vorlesung am College de France im Studienjahr 1977-1978: »Securite, territoire ec population«, 4. Sitzung, r. Februar 1978), in: Aut-Aut, Nr. 767-168, September-Dezember (978, S. 12-Z9. Durch die Analyse einiger Sicherbeitsdispositive hatte ich versucht, in Erfahrung zu bringen, wie die spezifischen Probleme der Bevölkerung aufgetaucht sind. Deren genauere Betrachtung hat mich sehr schnell zum Problem der Regierung geführt. Im Großen und Ganzen ging es in diesen ersten Vorlesungen darum, die Reihe Sicherheit -Bevölkerung - Regierung aufzustellen. Nun möchte ich versuchen, für dieses Problem der Regierung eine kleine Bestandsaufnahme vorzunehmen. Weder im Mittelalter noch in der griechisch-römischen Antike war je Mangel an jenen Abhandlungen, die als »Ratgeber für den Fürsten« diesen lehrten, sein Leben zu führen, die Macht auszuüben und sich bei seinen Untertanen Zustimmung und Achtung zu verschaffen, die ihm beibrachten, Gott zu lieben, ihm zu gehorchen und das Gesetz Gottes im Reich der Menschen durchzusetzen ... Auffällig ist, dass ab dem 16. Jahrhundert und in einer Periode, die von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts reicht, eine ganz beachtliche Reihe von Abhandlungen aufkommt, die sich eben nicht länger als »Ratgeber für den Fürsten« noch als »Wissenschaft von der Politik« verstehen, sondern als »Künste des Regierens« einen Platz zwischen dem Ratgeber für den Fürsten und der politisch-wissenschaftlichen Abhandlung einnehmen. Das Problem der Regierung bricht im 16. Jahrhundert gleichzeitig anlässlich sehr unterschiedlicher Fragen und unter vielfältigen Aspekten hervor. Zum Beispiel das Problem des Regierens seiner selbst. Die Rückkehr zum Stoizismus dreht sich im 16. Jahrhundert um die Reaktualisierung des Problems: »Wie sich selbst regieren?« Oder auch das Problem, die Seelen und die Lebensführungen zu regieren - das Problem, mit dem es das katholische oder protestantische Pastorat zu tun hatte. Oder das Problem, die Kinder zu regieren, die große Problematik der richtigen Erziehung, wie sie im 16. Jahrhundert auftaucht und sich entwickelt. Und schließlich - doch vielleicht nur an letzter Stelle - die Regierung der Staaten durch die Fürsten. Wie sich regieren, wie regiert werden, wie die anderen regieren; durch wen regiert zu werden, muss man hinnehmen; was muss man tun, um der bestmögliche Regent zu sein. Mir scheint, dass all diese Probleme in ihrer Intensität und auch in ihrer Mannigfaltigkeit sehr bezeichnend sind für das 16. Jahrhundert - wobei sich, schematisch gesprochen, zwei Prozesse überschneiden: zum einen selbstverständlich der Prozess, der durch Auflösung der feudalen Strukturen allmählich die großen Territorial-, Verwaltungsund Kolomalstaaten einrichtet und aufbaut. Und sodann eine ganz andere Bewegung - im Übrigen nicht frei von Überlagerungen mit der ersten —, die zunächst mit der Reformation, dann der Gegenreformation von neuem die Frage aufwirft, wie man hier auf Erden geistlich zu seinem Heil geleitet werden will. Einerseits eine Bewegung der Zusammenballung zum Staat, andererseits eine Bewegung der religiösen Zerstreuung und Dissidenz: In der Überschneidung dieser beiden Bewegungen stellt sich meines Erachtens - mit dieser für das 16. Jahrhundert so besonderen Intensität - das Problem des »wie regiert werden, durch wen, bis zu welchem Punkt, zu welchen Zwecken, durch welche Methoden?«. Es ist eine Problematik des Regierens im Allgemeinen. An dieser ganzen immensen und monotonen Literatur über das Regieren, die in der Mitte des 16. Jahrhunderts einsetzt oder, wie man wohl sagen kann, explodiert und sich mitsamt der Verwandlung, die ich gleich festzumachen versuche, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ausdehnen wird, möchte ich lediglich einige bemerkenswerte Punkte herausheben. Es geht um die Definition dessen, was man untet Regierung des Staates zu verstehen hat und was wir, wenn Sie so wollen, die Regierung in ihrer politischen Form nennen. Das Einfachste wäre zweifellos, diese Masse an Literatur über die Regierung einem Text gegenüberzustellen, der vom 16. bis zum 18. Jahrhunden für diese Regierungsliteratur eine Art expliziten oder impliziten Abstoßungspunkt darstellte, im Verhältnis zu dem, im Gegensatz zu "dem und durch dessen Verwerfung die Regierungsliteratur ihren Ort bestimmt: Dieser abscheuliche Text ist, selbstverständlich, Machiaveliis //principe} Es wäre interessant, die Beziehungen nachzuzeichnen, die er zu ] [MachiavelU. N„ II Principe, Rom 1532; dt.: Der Film, in: Miinkier, H. (Hg.), Politische Schriften, Frankfurt a. M. 1990, S. 49-123.] 148 149 all den Texten unterhält, die auf ihn gefolgt sind, die ihn kritisiert und die ihn verworfen haben. Zunächst einmai darf man nicht vergessen, dass Machiavellis Ii Principe nicht sofort verabscheut, sondern im Gegenteil von seinen Zeitgenossen und seinen unmittelbaren Nachfolgern verehrt wurde -und aufs Neue verehrt wurde genau am Ende des 18. Jahrhunderts: oder eher noch ganz zu Anfang des 19. Jahrhunderts, als jene Literatur über die Kunst des Regieren« im Niedergang begriffen ist. Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts taucht Machiavellis II Principe weder auf — ganz besonders übrigens in Deutschland, wo er von Leuten wie August Wilhelm Rehberg,2 Heinrich Leo,3 Leopold von Ranke4 und Kellermann übersetzt, vorgestellt und kommentiert wird. Gleiches gilt für Italien, in einem Kontext, der zu analysieren wäre — ein. Kontext, der zum einen der Napoleons war, aber auch der Kontext, der die Französische Revolution und das Problem der Revolution in den Vereinigten Staaten hervorbrachte: Wie und unter welchen Bedingungen lässt sich die Souveränität eines Souveräns über einen Staat aufrechterhalten? Mir Clausewitz taucht denn auch das Problem der Beziehungen zwischen Politik und Strategie auf: die durch den Wiener Kongress 1815 offenbar gewordene politische Bedeutung der Kräfteverhältnisse und ihrer Berechnung als Prinzip der Erkennbarkeit und rationalen Gestaltung der internationalen Beziehungen und schließlich das Problem der* territorialen Einheit Italiens und Deutschlands — Sie wissen ja, dass Machiavelli einer von jenen war,, welche che Bedingungen für die Herstellung der territorialen Einheit Italiens zu ergründen versucht hatten. In diesem Klima taucht Machiavelli zu Beginn des 19. Jahrhuri-derts wieder auf. Die Zwischenzeit - zwischen der Ehrerbietung, die ihm zu Anfang des 16. Jahrhunderts zuteil wird, und seiner Wiederentdeckung oder Wiederaufweming 211 Beginn des 19. Jahrhunderts - war freilich von einer lang anhaltenden Anti-Machiavelli-Literatur bestimmt. Zum einen in expliziter Form: eine ganze Reihe von Büchern, die übrigens im Allgemeinen aus katholischen Milieus, oft sogar von Jesuiten stammen - nehmen Sie zum Beispiel den Text von Ambrogio Politi mit dem Titel Disputationes de libris a chrhtia.no 1 [Rehberg, A. W„ Das Euch vorn Fürsten, Hannover jSto.] . 3 [Leo, H., Die Briefe des Florentinischen Kanzlers, Berlin 1826.] ... 4 [Ranke, L. von, Historisch-politische Zehschrift, Berlin 1832-1 J.] 150 detestandis? d. h. Streitgespräche über die von einem Chmtenmenschen zu verabscheuenden Bücher -; auch findet sich ein Buch von jemandem, der das Pech hat, den Namen Gentillet und den Vornamen Innocent zu tragen: Innocent Gentillet hat unter dem Titel Discours sur les moyens de bien gouverner contre Nicolas Macbiavel*1 einen der ersten AntLMachiavellis geschrieben. Später stößt man in der explizit antimachiavellisttschen Literatur auch auf den Text Friedrichs II. von 1740. Es gibt aber auch eine umfassende implizite Literatur der Abgrenzung und stillschweigenden Opposition gegen Machiavelli: zum Beispiel das englisch verfasste und 1580 veröffentlichte Buch von Thomas Elyot mit dem Titel The Governaar\ das Buch von Parura über Die Vollendung des politischen Lebens* und - vielleicht eines der ersten - das 1567 veröffentlichte Buch von Guillaume de La Perriere, Le Miroir politique,10 mit dem ich mich im Weiteren befassen möchte. Gleichviel, ob offen oder verdeckt, wichtig an diesem Anti-Ma-chiavelli ist, dass er nicht einfach nur negativ als Sperre, Zensur oder Verwerfung des Unannehmbaren funktioniert; die AotLMachiavelli-Literatur ist eine positive Gattung, die ihren Gegenstand, ihre Begriffe und ihre Strategie hat, und als solche, in dieser Positivität, möchte ich sie mir näher ansehen. Was findet man in dieser expliziten wie impliziten Anti-Machia-veili-Literacur? Sicher, in negativ« findet man darin eine Art verfestigte Darstellung vom Denken Machiavellis; ein Machiavelli wird als Gegenspieler aufgebaut und zurechtgemacht, wie man ihn eben braucht, um das zu sagen, was man zu sagen hat. Wie nun wird dieser mehr oder weniger zurechtgemachte Principe, gegen den man ankämpft, charakterisiert? 5 [Politi, L., Disputfttwnes de libris a christiano detestandis, 1542 (Pater Ambrogi6 Catminu de Sicna)J 6 [Gentillet, L. Disemirs sur tes moyens de bien gouverner et maintenir eri bonne paix un\ royaume nu autreprineipititti, contre Nicolas Mttcbiiivel, isyd.} 7 [Friedrich II., Anti'Machiitvel, au Essai de critique sur Le Prince de Mnchiavel, Den, Haag 174°; dt- Anti-Madnavcl, oder Versuch einer Kritik über Nie. Machiavels-Regierungskumt eines Fürsten, übersetzt von Anonymus, Prankfurt und Leipzig 1745-1 8 [Eb/tir, T., The Boke Named tbe Governour, London I 531-1 9 [Paruta, R, Deila perfezione delia t'ita politica, Venedig 1579.J 10 [Perriere, (.«. de La. Le Miroir politique, contennm diverses manieres de gouverner et policer les repiibli.tjues, Paris J55S.J Ais Erstes durch ein Prinzip: Bei Machiavelli ist das Verhältnis des Principe, des Fürsten, zu seinem Fürstentum durch Singularität, Exteriorität und Transzendenz bestimmt'. Machiavellis Fürst erhält sein Fürstentum entweder durch Erbschaft, durch Erwerb «der durch Eroberung; jedenfalls ist er nicht ein Teil desselben, sondern diesem äußerlich. Das Band, das ihn an sein Fürstentum bindet, ist entweder eines der Gewalt oder der Überlieferung oder aber eines, das durch vertragliche Übereinkünfte und das Zusammenspiel oder die Einigung mit anderen Fürsten zustande gekommen ist — auf weichern Weg auch immer; auf jeden Fall ist es ein rein synthetisches Band: Es gibt keine grundsätzliche, wesentliche, natürliche und rechtliche Zusammengehörigkeit zwischen dem Fürsten und seinem Fürstentum. Exteriorität, Transzendenz des Fürsten, das isr das Prinzip. Aus dem Prinzip folgt weiter: im Maße seiner Exteriorität ist dieses Verhältnis zerbrechlich und wird unaufhörlich bedroht sein. Bedroht von außen durch die Feinde des Fürsten, die sein Fürstentum einnehmen oder zurückgewinnen wollen, und ebenso von innen, denn a priori, unmittelbar lässt sich kein Grund dafür angeben, warum die Untertanen die Autorität des Fürsten akzeptieren sollen. Drittens leitet sich aus Prinzip und Folgerung ein Imperativ ab: Ziel der Machtausübung wird selbstverständlich sein, dieses Fürstentum zu erhalten, zu stärken und zu schützen. Unter dem Fürstentum ist indes nicht die aus Untertanen und Territorium gebildete Gesamtheit gemeint, das objektive Fürstentum, wenn Sie so wollen, sondern gleichsam das Verhältnis des Fürsten zu dem, was er besitzt: das von ihm ererbte oder erworbene Territorium und die Subjekte, die ihm unterstellt sind. Dieses Fürstentum als das Verhältnis des Fürsten zu seinen Untertanen und zu seinem Territorium gilt es zu schützen und nichr direkt oder grundlegend das Territorium und seine Bewohner; dieses zerbrechliche Band, das tlen Fürsten mir seinem Fürstentum verbindet, muss die von Machiavelli vorgelegte Kunst des Regierens, die Kunst, Fürst zu sein, zum Ziel haben. Für das Buch von Machiavelli ergibt sich daraus ein Analysemodus, der zwei Aspekte besitzt. Zum einen wird es darum gehen, die Gefahren auszumachen: Woher rühren sie, worin bestehen sie, welches ist ihre Intensität, wenn man sie untereinander vergleicht - welche ist die größte, welche die schwächste? Zum Zweiten wird es darum gehen, eine Kunst des findigen Umgangs mit den Kräfteverhältnissen zu bestimmen, die dem Fürsten das zu tun erlaubt, was sein Fürstentum I als Band zu seinen Untertanen und seinem Territorium schützt. Kurz I gesagt, wenn Machiavellis II Principe zwischen den Zeilen dieser ver-i schiedenen, explizit oder implizit als Anti-Machiavelli angelegten Abhandlungen hindurchscheint, tritt er im Wesentlichen als eine Abhandlung über die Geschicklichkeit des Fürsten bei der Erhaltung seines Fürstentums hervor. Meines Erachtens will die Anti-Machia-; velJi-Utenuur an die Stelle dieser Abhandlung über die Geschicklichkeit und das praktische Wissen des Fürsten etwas anderes und demgegenüber Neues setzen, nämlich eine Kunst des Regierens: Geschickt zu sein bei det Erhaltung seines Fürstenrums heißt noch lange nicht, % die Kunst des Regierens zu beherrschen. \ Worin besteht die Kunst des Regierens? Um zu versuchen, die I Dinge in ihrem noch unausgereiften Zustand festzuhalten, werde I ich einen der ersten Texte aus dieser großen aritimachiavellistischen j Literatur heranziehen, den Text von Guillaume de La Fernere aus dem Jahre 15 5 5 mit dem Titel: Le Miroirpolitique, contenant diverses manieres de gouverner. % An diesem Text, der sehr enttäuscht, wenn man ihn mit Machia-1 velli selbst vergleicht, zeichnet sich dennoch einiges ab, das ich für wichtig halte. Erstens, was versteht La Perriere unter dem Regieren und unter dem Regenten, welche Definition gibt er dafür an? Er sagt auf Seite 46 seines Textes: »Regent kann jeder Monarch, Kaiser, Kö-n nig, Fürst, Lehnsherr, Magistrar, Prälat, Richter und dergleichen genannt werden.«11 Wie La Perriere erinnern auch andere, die sich mit i der Kunst des Regierens befassen, regelmäßig daran, dass man in gleicher Weise davon sprechen kann, ein Haus, Kinder, Seelen, eine Provinz, ein Kloster, einen religiösen Orden und eine Familie zu regieren. Diese Bemerkungen, in denen es scheinbar, aber auch de facto ums bloße Vokabular geht, haben in Wirklichkeit wichtige politische Implikationen. Tatsächlich ist der Fürst, so wie er bei Machiavelli oder in den Darstellungen Machiavellis durch andere erscheint, per definitio-nem — das war ein Grundprinzip des Buches, so wie es damals gelesen wurde — singulär in seinem Fürstentum und nimmt diesem gegenüber eine Position der Exteriorität und Transzendenz ein. Regieren tun dagegen viele: der Familienvater, der Superior eines Klosters, der Er-I zieher und der Lehrer im Verhältnis zum Kind oder Schüler, und II [Perriere, G. de La, Le Miroir politique, Ausgäbe von 1567.J 153 daran sieht man, dass der Regent und die Praktik des Regierens zur» einen einem Feld mannigfaltiger Praktiken angehören. Deshalb gibt es auch viele Regierungen, und die des Fürsten, der seinen Staat regiert, ist nur eine Unterart davon. Alle diese Regierungen sind zum anderen der Gesellschaft selbst oder dem Staat innerlich. Der Familienvater tegiert seine Familie und der Superior des Klosters sein Kloster innerhalb des Staates. So gibt es zugleich Phiralität der Regie-rungsformen und Immanenz der Regierungspraktiken im Verhältnis zum Staat, bestehen zugleich Mannigfaltigkeit und Immanenz dieser Aktivitäten, die in einem radikalen Gegensatz zur transzendenten Singularität des Fürsten von Machiavelli stehen. Sicher, unter allen diesen sich innerhalb der Gesellschaft und innerhalb des Staates überschneidenden und verflechtenden Regierungsformen ist auf eine ganz besondere Regiertlngsform genauestens zu achten: jene besondere Form der Regierung, die sich nach und nach des Staates im Ganzen bemächtigen wird. Und so wird Francois de La Mbthe Le Vayer beim Versuch einer Typologie der unterschiedlichen Regierungsformen in einem etwas späteren Text als dem gerade genannten - et datiert aus dem folgenden Jahrhundert - bzw. in einer Reihe von Texten, nämlich pädagogischen Texten für den Kronprinzen, behaupten, dass es im Grunde drei Typen von Regierung gibt und dass jede mit einer Form von Wissenschaft oder besonderen Reflexion zusammenhängt: die Regierung seiner selbst mir der Moral; zweitens die Kunst, in angemessener Weise eine Familie zu regieren, mit der Ökonomie und schließlich die Wissenschaft, den Staat gut zu regieren, mit det Politik.12 Gegenüber Moral und Ökonomie besitzt die Politik ganz offensichtlich etwas Einzigartiges, und La Mothe Le Vayer zeigt klar an, dass die Politik weder genau der Ökonomie entspricht noch ganz und gar der Moral. Wichtig hieran ist, denke ich, dass sich trotz dieser Typologie die Künste des Regierens stets auf eine wesensmäßige Kontinuität untereinander, vor allem vom zweiten zum dritten Typus, beziehen und diese auch postulieren. Dagegen sind die Lehre vom Fürsten oder die juristische Theorie des Souveräns unablässig bemüht, die Diskontinuität zwischen der Macht des Fürsten und jeder anderen Form von Macht deutlich hervorzuheben. Geht es also hier darum, diese Diskontinuität zu erklären, geltend zu machen oder zu begründen, so hat 12 [Va^er, F. de La Mothe Le, L'CÜcontiniiqite du Prince, Paris 16J3.] man sich dort, bei den Künsten des Regierens, um die Feststellung der Kontinuität, der aufsteigenden wie absteigenden Kontinuität, zu belli ühen. Aufsteigende Kontinuität in dem Sinne, dass derjenige, der den Staat will regieren können, zunächst sich selbst, dann auf einer weiteren Stufe seine Familie, sein Gut und seinen Besitz regieren können muss, um am Ende den Staat zu regieren. Diese Art aufsteigender Linie wird all die Lehren von der Erziehung des Fürsten prägen, die zu jener Zeit so wichtig sind. La Mothe Le Vayer gibt dafür ein Beispiel ab. Für den Kronprinzen verfassr er zuerst ein Buch über Moral, dann eines über Ökonomie und am Ende eine Abhandlung über Politik. Somit gewährleistet die Lehre von der Erziehung des Fürsten die aufsteigende Kontinuität zwischen den verschiedenen Regierungsformen. Umgekehrt haben Sie in dem Sinne eine absteigende Kontinuität, dass bei einer guten Regierung des Staates die Familienväter ihre Familie, ihre Reichtümer, ihre Güter und ihr Eigentum gut zu regie-ren wissen, und dass auch die Individuen sich lenken lassen, wie es sich gehött. Dieser absteigenden Linie, welche die gute Regietung des Staates bis in die Lebensführung der Individuen oder in die Führung det Familien hinein nachwirken lässt, hat man zu jener Zeit erstmals den Namen »Policey« gegeben. Die Lehre von der Erziehung des Fürsten sichert die aufsteigende und die Polizei die absteigende Kontinuität der Regierungsformen. Auf jeden Fall können Sie erkennen, dass innerhalb dieser Kontinuität die Regierung der Familie, die man zu Recht als »Ökonomie« bezeichnet, ebenso in der Lehre von der Erziehung des Fürsten wie in det Polizei das Hauptstück, das zentrale Element, ist. Die Regierungskunst, so wie sie in dieser gesamten Literatur zutage tritt, muss im Wesentlichen die folgende Frage beantworten: Wie lässt sich die Ökonomie einführen, d. h. die richtige Lenkung der Individuen, Gütet und Reichtümer, so wie man dies innerhalb einer Familie, wie dies ein guter Familienvater vermag, der seine Frau, seine Kinder und seine Bediensteten zu leiten, das Vermögen seiner Familie gewinnbringend einzusetzen und für seine Familie die geeigneten Verbindungen herbeizuführen weiß - wie lässt sich diese Aufmerk- 13 [Vayer, F. de La Mothe Le, La Geographie et k Marale du Prince, Paris rS'51; L'CEconamiquc du Prince, Paris 1653: La Politique du Prince, Paris 1653.] »55 samkeit, diese Gewissenhaftigkeit, dieser Typ Beziehung des Familienvaters zu seiner Familie in die Lenkung eines Staates einführen? Die Einführung der Ökonomie in die politische Amtsführung ist, glaube ich, der Haupteinsatz, um den es beim Regieren geht. Das ist bereits im 16. Jahrhundert so und wird noch im 18. Jahrhundert so sein. An dem Artikel »Economic politique« von Jean-Jacques Rousseau lasst sich gut erkennen, wie Rousseau das Problem noch in eben denselben Begriffen stellt, indem er, etwas vereinfacht, sagt: Das Wort »Ökonomie« bezeichnet ursprünglich die »weise Regierung des Hauses zum gemeinschaftlichen Wohl der ganzen Familie«.14 Das Problem ist, nach Rousseau: Wie wird man diese weise Regierung der Familie mutatis mutandk und mit den noch festzustellenden Diskontinuitäten in die allgemeine Führung des Staates einführen können? Um einen Staat zu regieren, wird man die Ökonomie einsetzen müssen, eine Ökonomie auf der Ebene des Staates als Ganzem, d. h. man wird die Einwohner, die Reichtümer und die Lebensführung aller und jedes Einzelnen unter eine Form von Überwachung und Kontrolle stehen, die nicht weniger aufmerksam ist als die des Familienvaters über die Hausgemeinschaft und ihre Güter. Ein Ausdruck, der übrigens im 18. Jahrhundert wichtig war, macht dies sehr schön deutlich. Für Quesnay ist eine gute Regierung eine »ökonomische Regierung«; bei Quesnay taucht erstmals diese Vorstellung von einer ökonomischen Regierung auf, die im Grunde eine Tautologie ist - denn die Kunst des Regierens ist gerade die Kunst, die Macht in der Form und nach dem Votbild der Ökonomie auszuüben. Doch wenn Quesnay von einer »ökonomischen Regierung« spricht, dann ist aus Gründen, die ich versuchen möchte aufzuhellen, das Wort »Ökonomie« bereits auf dem Weg, seine moderne Bedeutung anzunehmen, und genau in diesem Moment wird erkennbar, dass das eigentliche Wesen dieser Regierung, d. h. der Kunst, die Macht in der Form der Ökonomie auszuüben, das zum Hauptgegensrand haben 14 [»Economic oder (Economic (Moral und Politik), dieses Wort kommt von (oreoc), Haus, und von (vouo;), Gesetz, und bedeutet ursprünglich nichts anderes als eine weise und rechtmäßige Regierung des Hauses zum gemeinschaftlichen Wohl der. ganzen Familie.« (Rousseau, }■-}., Discours sur Vhonomiepolitique (175 5), in: (Euvres amplltcs, Bd. H[: Du antrat social, F.crits politiques, Paris (»Pleiade«-Ausgabe) 1964, S. 241; dt.: Abhandlung über die politische Ökonomie, übersetze von Anonymus, in: Rousseau, J.-j., Sozialphil&sopbischt und politische Schriften, München 1981, S. 227;. Übersetzung verändert - A.d.Ü.] 156 wird, was wir heute Ökonomie nennen. Der Ausdruck »Ökonomie« bezeichnete im 16.Jahrhundert eine Regierungsform; im 18.Jahrhundert wird er ein Realitätsniveau, ein .Interventionsfeld, bezeichnen und dabei eine Reihe komplexer und, wie ich glaube, für unsere Geschichte absolut entscheidender Prozesse durchlaufen. So viel also zum Regieren und Regiertwerden. Zweitens stößt man -- immer noch in jenem Buch von Guiüaume de La Perriere - auf folgenden Text: »Regieren ist das richtige Verfügen über die Dinge, deren man sich annimmt, um sie dem angemessenen Zweck zuzuführen.«15 An diesen zweiten Satz möchte ich eine neue Reihe von Bemerkungen anschließen, andere als jene, weiche die Definition des Regenten und der Regierung betrafen. »Regieren ist das richtige Verfügen übet die Dinge«: Ich möchte bei diesem Wort »Dinge« innehalten; schaut man sich an, wie in Machia-vellis // principe die Gesamtheit der Dinge charakterisiert wird, auf die sich die Macht bezieht, so stellt man fest, dass zwei Dinge für Ma-chiavelii Gegenstand oder gewissermaßen Zielscheibe der Macht sind: zum einen ein Territorium und zum anderen die Leute, die dieses Territorium bewohnen. Machiavelli nimmt damit im Übrigen nur zum eigenen Gebrauch und für die besonderen Ziele seiner Analyse einen Rechtsgrundsatz wieder auf, durch den vom Mittelalter bis zum 16. Jahrhundert im öffentlichen Recht die Souveränität definiert wurde: Die Souveränität wird nicht über die Dinge, sondern zunächst über ein Territorium und infolgedessen über die es bewohnenden Subjekte ausgeübt. In diesem Sinne kann man sagen, dass das Territorium sowohl für das Fürstentum bei Machiavelli als auch für die juridische Souveränität des Souveräns, wie die Philosophen oder die Rechtstheoretiker sie definieren, das Grundelement ist. Selbstverständlich können diese Territorien fruchtbar oder unfruchtbar, dicht oder im Gegenteil dünn bevölkert sein; die Leute können reich oder arm, aktiv oder faul sein; doch alle diese Elemente sind nur Variablen im Verhältnis zum Territorium als dem eigentlichen Fundament des Fürstentums oder der Souveränität. Bei La Ferneres Text werden Sie freilich feststellen, dass die Definition der Regierung sich keineswegs auf das Territorium bezieht: Regiert werden die Dinge. Doch was meint La Perriere, wenn er sagt, das Regieren regiere »die Dinge«? Ich glaube nicht, dass es darum geht, 15 [Perriere, G. de La, Le Miroir politique. t JÄ7, S. 46.] 157 die Dinge in einen Gegensatz zu den Menschen'zu bringen, sondern vielmehr darum, zu zeigen, dass sich das Regieren eben nicht auf das Territorium bezieht, sondern auf eine Art Komplex, gebildet aus den Menschen und den Dingen. Das heißt, dass diese Dinge, für welche die Regierung die Verantwortung übernehmen muss, die Menschen sind, aber die Menschen in ihren Beziehungen, ihren Verbindungen und ihren Verwicklungen mit jenen Dingen, den Reichtümern, Bodenschätzen und Nahrungsmitteln, natürlich auch dem Territorium innerhalb seiner Grenzen, mit seinen Eigenheiten, seinem Klima, seiner Trockenheit und seiner Fruchtbarkeit; die Menschen in ihren Beziehungen zu jenen anderen Dingen wie den Sitten und Gebräuchen, den Handhings- oder den Denkweisen und schließlich die Menschen in ihren Beziehungen zu jenen nochmals anderen Dingen, den potentiellen Unfällen oder Unglücken wie Hungersnot, Epidemien und Tod. Dass die Regierung die so als Verwicklungen zwischen Menschen und Dingen verstandenen Dinge leitet, dürfte sich meines Erachtens ohne weiteres durch die unausweichliche Metapher bestätigen lassen, auf die in jenen Abhandlungen über die Regierung stets Bezug genommen wird: die Metapher des Schiffes. Was heißt es, ein Schiff zü lenken (gouuemer)? Gewiss, es heißt, Verantwortung zu übernehmen für die Seeleute, aber es heißt zugleich auch, Verantwortung zu übernehmen für das Schiff und für die Ladung; ein Schiff zu lenken heißt auch, auf die Winde und die Klippen, die Stürme und die Flauren zu achten; es bedeutet, einen Zusammenhang herzustellen zwischen den Seeleuten, die man am Leben erhalten, dem Schiff, das man bewahren, und der Ladung, die man in den Hafen bringen muss, und deren Beziehungen wiederum zu all jenen Ereignissen wie den Winden, den Klippen und den Unwettern; dieser hergestellte Zusammenhang charakterisiert die Lenkung (gouverwment) eines Schiffes. Dasselbe gilt für ein Haus: Eine Familie zu lenken verfolgt im Grunde nicht in erster Linie das Ziel, die Besitztümer der Familie zu bewahren, sondern zielt hauptsächlich auf die Individuen ab, die die Familie, ihren Reichtum und ihren Wohlstand ausmachen; es bedeutet, Acht zu geben auf Ereignisse, die eintreten können: Todesfälle und Geburten, es bedeutet, Acht 2tt geben auf Dinge, die man tun kann, zum Beispiel Verbindungen mit anderen Familien. Diese ganze allgemeine Führung ist bezeichnend für das Regieren, und demgegenüber sind das Problem des Landbesitzes für die Familie oder der Erwerb der Sou- 158 veränitär über ein Territorium am Ende für den Fürsten nur vergleichsweise sekundäre Elemente. Das Wesentliche ist aber dieser Komplex von Menschen und Dingen; Territorium und Eigentum sind gewissermaßen nur eine Variable davon. Auf dieses Thema, das man bei La Fernere in jener seltsamen Definition der Regierung als Regierung der Dinge auftauchen sieht, stößt man im 17. und 18. Jahrhundert immer wieder. Friedrich II. hat in seinem Änti-Machiave^' äußerst Bedeutsames dazu zu sagen. Zum Beispiel: Vergleichen wir Holland und Russland; Russland isr ein Land mit den potentiell ausgedehntesten Grenzen aller europäischen Staaten, doch woraus besteht es? Aus Sümpfen, Wäldern und Wüsten; es ist gerade mal mit einigen Horden von Leuten bevölkert, die arm, elend, ohne Betätigung und ohne Gewerbe sind. Vergleichen Sie es dagegen mit Holland: Es besteht ebenfalls aus Sümpfen, es ist ganz klein, aber es gibt in Holland eine Bevölkerung, es gibt Reichtum, Handel und eine Flotte, und deshalb ist Holland ein wichtiges Land in Europa, was Russland gerade erst zu sein beginnt. Aus diesem Grunde heißt regieren die Dinge regieren. Ich komme nochmals zurück auf jenen Text, den ich Ihnen eben noch zitiert habe, als La Perriere sagte: »Regieren ist das richtige Verfügen über die Dinge, derer man sich annimmt, um sie dem angemessenen Zweck zuzuführen.« Das Regieren hat also eine Zweckbestimmung, »Verfügen über die Dinge, um sie einem angemessenen Zweck zuzuführen«, und noch darin steht die Regierung meines Erachtens ganz klar in einem Gegensatz zur Souveränität. Es ist zwar richtig, dass die Souveränität in den philosophischen und ebenso in den juristischen Texten niemals als ein schlichtes und einfaches Recht dargestellt worden ist. Weder von den Rechtsgelehrten noch a fortiori von den Theologen ist je behauptet worden, der rechtmäßige Souverän hätte damit bereits das Recht zur Ausübung seiner Macht, und das wär's dann, Schluss, aus! Um ein guter Souverän zu sein, muss der Souverän stets ein Ziel vor Augen haben, nämlich »das Gemeinwohl und das Heil alier«. Als Beispiel ziehe ich einen Text vom Ende des 17. Jahrhunderts heran; bei Pufendorf heißt es: »Man hat ihnen [den Souveränen] die 16 {Friedrich II., in: L'Anti-Machiavel, Kritische Ausgabe von C. Fidschianer, in: Studies an Voltaire and the Eigbteenth Century, Genf: Droz Bd. V, S. 199-200; dt.: Anti'MitchiävA, oder Versuch einer Kritik über Nie. Maehiaoels Regierungskunst eines Fürsten, übersetzt von Anonymus, Frankfurt und Leipzig 1745, S. 237-2JS.J *J9 souveräne Autorität nur übertragen, damit sie sich ihrer bedienen, um den öffentlichen Nutzen herbeizuführen und zu wahren.« Ein Souverän darf nichts für vorteilhaft für sich selbst halten, wenn es dies nicht auch für den Staat ist. Worin besteht nun aber dieses Gemeinwohl oder auch dieses Heil aller, von dem die Rechtsgelehrten sprechen und das regelmäßig als der eigentliche Zweck der Souveränität geltend gemacht und aufgestellt wird? Wenn Sie sich den wirklichen Inhalt vor Augen führen, den Rechtsgelehrten und Theologen diesem Gemeinwohl verleihen, so sehen Sie, dass es ein Gemeinwohl gibt, sobald die Untertauen alle und ohne Ausnahme den Gesetzen gehorchen, die Aufgaben, die man ihnen übertragen hat, gut ausfuhren, die Gewerbe, denen sie sich widmen, korrekt betreiben und die bestehende Otdnung wenigstens insoweit achten, wie sie den Gesetzen entspricht, die Gott der Natur und den Menschen auferlegt hat. Das öffentliche Wohl ist also im Wesentlichen der Gehorsam vor dem Gesetz, vor dem Gesetz des Souveräns über diese Erde oder vor dem Gesetz des absoluten Souveräns, Gott, Doch, wie auch immer, bezeichnend für den Zweck der Souveränität, für dieses Gemeinwohl oder allgemeine Wohl, ist letzten Endes nichts anderes als die absolute Unterwerfung. Der Zweck der Souveränität ist somit zirkulär: Er verweist auf die tatsächliche Ausübung der Souveränität; das Wohl ist der Gehorsam vor dem Gesetz, demnach ist das Wohl, das die Souveränität sich vornimmt, dass che Leute ihr gehorchen. Eine wesentliche Zirkularität, die, abgesehen natürlich von der theoretischen Struktur, der moralischen Begründung oder den praktischen Auswirkungen, nicht so weit entfernt ist von dem, was Machiavelli sagte, als er erklärte, das Hauptanliegen des Fürsten müsse die Auf-rechterhakung seines Fürstentums sein; man befindet sich halt immer noch im Zirkel der Selbstbezüdichkeit von Souveränität und Fürs-tentum. Doch mit der neuen Definition von La Fernere, mit seinen Bemühungen um eine Definition der Regierung, taucht meines Erachtens ein anderer Typus von Zweckbestimmung auf. Die Regierung wird von La Perriere als eine richtige Art definiert, über die Dinge zu verfügen, um sie nicht der Form des »Gemeinwohls«, wie es in den Texten der Rechtsgelehrten hieß, sondern einem für jedes dieser zu regierenden Dinge »angemessenen Zweck« zuzuführen. Das impliziert als Erstes eine Vielheit spezifischer Ziele; beispielsweise wird die Regierung dafür sorgen müssen, dass die größtmöglichen Reichtümer pro- 160 duziert werden, dass die Leute hinreichend oder in größtmöglichem Maße die Mittel zum Überleben erhalten; schließlich wird die Regierung dafür sorgen müssen, dass sich die Bevölkerung vermehren kann; eine ganze Reihe spezifischer Zwecksetzungen also, die das eigentliche Ziel der Regierung ausmachen werden. Um diese unterschiedlichen Zwecksetzungen zu erreichen, wird über Dinge verfügt. Das Wort »verfügen« ist wichtig. Dass die Souveränität ihren Zweck erreichen konnte, nämlich den Gehorsam gegenüber den Gesetzen, wurde ihr durch das Gesetz selbst ermöglicht; Gesetz und Souveränität bildeten somit einen absolut einheitlichen Körper. Hier dagegen geht es nicht darum, den Menschen ein Gesetz aufzuerlegen; es geht darum, über die Dinge zu verfügen, d.h. vielmehr Taktiken statt Gesetzen oder äußerstenfalls Gesetze als Taktiken einzusetzen und dafür zu sorgen, dass mit einer bestimmten Anzahl von Mitrein dieser oder jener Zweck erreicht werden kann. Meines Erachtens haben wir es mit einem wichtigen Bruch zu tun: Während der Zweck der Souveränität in ihr selbst liegt und sie aus sich selbst in der Form des Gesetzes ihre Instrumente zieht, liegt der Zweck der Regierung in den von ihr geleiteten Dingen. Diesen Zweck wird man in der Vervollkommnung, Maximierung oder Intensivierung der von der Regierung geleiteten Vorgänge zu suchen haben, und an die Stelle der Gesetze werden als Instrumente der Regierung verschiedenartige Taktiken treten. Folglich wird es zu einer rückläufigen Entwicklung des Gesetzes kommen, oder besser gesagt, aus Sicht dessen, was man unter Regierung zu verstehen hat, ist das Gesetz bestimmt nicht das Hauptinstrument. So stößt man erneut auf das Thema, das über das gesamte 17. Jahrhundert hinweg seine Runde gemacht hat und das im 18. Jahrhundert in all den Texten der Ökonomen und der Physiokraten offen hervortritt, wenn sie erklären, dass sich bestimmt nicht durch das Gesetz die Zwecke der Regierung wirklich erreichen lassen. Schließlich die vierte Bemerkung: Guillaume de La Perriere sagt, dass jemand, der gut zu regieren weiß, »Geduld, Weisheir und Beflissenheit« besitzen muss.17 Was versteht er unter »Geduld«? Um das Wort »Geduld« zu erklären, wählt er das Beispiel des, wie er ihn 17 [»Jeder Regent üher ein Königreith oder eine Republik muss notwendig Geduld, Weisheit und Beflissenheit in sich haben.« Le Miroir politique, i^dj, S. 46.I l6l nennt, »Königs der Bienen«, welches die Hummel [»le haurdon«\ ist,, und sagt: »Die Hummel regiert über den Bienenkorb, ohne daftit einen Stachel zu benötigen.«la Gott habe dadurch zeigen wollen -»auf mystische Weise«, sagt er —, dass der wahre Regent keinen Stachel, d, h. kein Instrument, um zu töten, kein Schwert, um seine Regierung auszuüben, benötigen soll; Geduld steht ihm besser an als Zorn, odet, noch anders gesagt, das Recht, zu töten und sich mit Gewalt Geltung zu verschaffen, darf an der Person des Regenten nicht das Wesentliche sein. Welchen positiven Inhalt kann man diesem Fehlen eines Stachels geben? Dies werden »die Weisheit und Beflissenheit« sein. »Weisheit« meint eben nicht wie nach der Überlieferung die Kenntnis der menschlichen und göttlichen Gesetze, die Kenntnis von Recht und Billigkeit, sondern ebenjene Kenntnis der Dinge und der Ziele — was man erreichen kann und was man tun muss, um es zu erreichen, das »Verfügen«, von dem man Gebrauch machen muss, um die Ziele zu erreichen und genau diese Kenntnis wird die Weisheit des Souveräns ausmachen. Seine »Beflissenheit« wiederum sorgt dafür, dass der Souverän oder vielmehr der Regierende nur in dem Maße regieren darf, wie er sich selbst so sieht und handelt, als stünde er im Dienste derer, die regiert werden, und noch darin bezieht sich La Perriere auf das Beispiel des Familienvaters: Der Familienvater ist derjenige, der früher als alle anderen in seinem Hause aufsteht und der sich spater als alle anderen schlafen legt; er ist derjenige, der über allem wacht, denn er sieht sich als im Dienste seines Hauses stehend. Diese Charakterisierung des Regietens unterscheidet sich völlig von der Charakterisierung des Fürsten, so wie man sie bei Machiavelli vorfand. Selbstverständlich ist dieses Verständnis vom Regieren trotz manchem, was neuartig aussieht, noch sehr unausgearbeirer. ich denke aber, dass diese erste kleine Skizze von Begriff und Theorie der Regierungskunst im 16. Jahrhundert mit Sicherheit nicht in der Luft hing; sie war nicht nur eine Angelegenheit politischer Theoretiker. Sie hat ihre sichtbaren Entsprechungen in der Wirklichkeit. Zum einen war die Theorie der Regierungskunst seit dem 16. Jahrhundert mit 18 [»So muss auch jeder Regent Geduld haben, nach dem Beispiel des Königs der Bienen, der keinen Stachel hat, womit die Natur auf mystische Weise hat zeigen wollen, dass die Könige unci Regenten der Republik gegenüber ihren Untertanen weit mehr von Milde denn von Harte und von Billigkeit denn von Strenge Gebrauch machen müssen.« Ebd.] 162 der Entwicklung Territorialer Monarchien (Entstehung von Regierungsapparaten und -relais usw.) sowie mit einem ganzen Komplex von Analysen und Wissensformen verbunden, die sich seit dem Ende, des 16. Jahrhunderts entwickelt und ihr volles Ausmaß im 17. Jahrhundert erreicht haben; im Wesentlichen jenes Wissen vom Staat in seinen unterschiedlichen Gegebenheiten, unterschiedlichen Dimensionen und unterschiedlichen Faktoren seiner Macht, ebendas, was man als Wissenschaft vom Staat »Statistik« genannt hat. Drittens schließlich muss diese Suche nach einet Regierungskunst unweigerlich mit Merkantilismus und Kametalismus in einen Zusammenhang gebracht werden. Ganz schematisch gesagt, findet die Regierungskunst Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts eine erste Kristallisierungsform, die im thematischen Umfeld einer Staatsräson zustande kommt, verstanden nicht in dem pejorativen und negativen Sinne, den man ihr heute beimisst (Zerstörung der Grundsätze des Rechts, der Billigkeit oder der Menschlichkeit zum alleinigen Nutzen des Staates), sondern in einem positiven und vollen Sinne. Der Staat lässt sich nach rationalen Gesetzen regieren, die ihm eigen sind - Gesetze, die sich weder allein aus natürlichen odet göttlichen Gesetzen noch allein aus Weisheitsund Vorsichtsmaßregeln ableiten lassen; wie die Natur hat der Staat seine eigene Rationalität, wenn auch von einem anderen Typus. Umgekehrt wird die Regierungskunst, statt ihre Grundlagen in transzendenten Regeln, einem kosmologischen Modell oder einem philosophischen und moralischen Ideal zu suchen, die Prinzipien ihrer Rationalität in dem finden müssen, was die spezifische Wirklichkeit des Staates ausmacht. Auf diese Elemente der ersten staatlichen Rationalität möchte ich in den nächsten Sitzungen näher eingehen. Aber bereits jetzt lässt sich sagen, dass die Staatsräson für die Entwicklung der Regierungskunst eine Art Hemmnis war, das bis 7,11m Ende des 18. Jahrhunderts vorhielt. Dafür gibt es meines Erachtens eine bestimmte Anzahl von Gründen. In erster Linie haben im strengen Sinne historische Gründe diese Kunst des Regkrens blockiert. So die Reihe der großen Krisen des 17. Jahrhunderts; zuallererst der Dreißigjährige Krieg mit seinen Verwüstungen und Vernichtungen; zweitens über die ganze Mitte des Jahrhunderts hinweg die großen Aufstände der Bauern und der städtischen Bevölkerungen und schließlich am Ende des Jahrhunderts die Finanz- und gleichermaßen Versorgungskri.se, die die gesamte Politik 163 der abendländischen jVtonarchien am Ende des 17. Jahrhunderts mit hohen Schulden belastete. Nur während einer Expansionsphase, d. h. außerhalb der großen militärischen, ökonomischen und politischen Dringlichkeiten, die das 17. Jahrhundert vom Anfang bis zum Ende unaufhörlich heimsuchten, konnte sich die Kunst des Regierens entfalten und reflektieren, ihre Dimensionen einnehmen und ausbauen; Massive und schlicht historische Gründe haben, wenn Sie so wollen, diese Kunst des Regierens blockiert. Ich denke aber auch, dass diese im 16. Jahrhundert formulierte Kunst des Regierens im 17. Jahthundert noch aus anderen Gründen blockiert wurde, die man in Worten, die ich nicht sonderlich mag, als institutionelle und mentale Strukturen bezeichnen könnte. Auf jeden Fall lässt sich feststellen, dass der Vorrang, den das Problem der Ausübung der Souveränität als theoretische Frage wie als polirisches Organisarionsprinzip besaß, grundlegend an dieser Blockierung der Regierungskunst beteiligt war. Solange die Souveränität das Hauptproblem war, die Institutionen der Souveränität die grundlegenden Institutionen waren und die Ausübung der Macht als Ausübung der Souveränität reflektiert wurde, war an eine spezifische und autonome Entwicklung der Regierungskunst nicht zu denken. Meines Erachtens liefert dafür gerade der Merkantilismus ein anschauliches Beispiel. Der Merkantilismus war sicher die erste Anstrengung, ich möchte sogar sagen, die erste Bestätigung dieser Regierungsktmst, und zwar sowohl auf der Stufe der politischen Praktiken als auch auf der des Wissens vom Staat. In diesem Sinne kann man sagen, dass der Merkantilismus durchaus eine erste Rationalitätsschwelle für diese Kunst des Regierens ist, die in La Ferneres Text in einigen eher moralischen als realen Prinzipien lediglich angedeutet wird. Der Merkantilismus, ist die erste Rationalisierung der Ausübung der Macht als Praktik des, Regierens; erstmals beginnt man, ein als Taktik des Regierens einsetzbares Wissen vom Staat aufzubauen. Blockade und Stillstand aber erfuhr der Merkanriüsmus meines Erachtens dadurch, dass er die Macht des Souveräns zu seinem wesentlichen Ziel erklärte: Was muss man tun, nicht so sehr, damit das Land reich wird, sondern damit der Souverän über Reichtümer verfügen, finanzielle Ressourcen halten, Armeen aufstellen und damit seine Politik umsetzen kann? Das Ziel des Merkantilismus ist die Macht des Souveräns, und die Instrumente, die sich der Merkantilismus gibr, sind Gesetze, Verordnungen, Reglementierungen, d.h. die traditionellen Waffen des Souveräns-. Das Ziel: der Souverän; die Instrumente: dieselben wie die der Souveränität. Der Merkantilismus versuchte, die durch eine reflektierte Regierungskunst gegebenen Möglichkeiten in eine institutionelle und mentale Struktur der Souveränität einzuführen, die sie blockierte. Folglich ist über das gesamte 17. Jahrhundert hinweg und bis zur großen Auflösung der merkantilistischen Themen zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Kunst des Regierens nicht so recht von der Stelle gekommen. Sie war von zwei Seiten her eingeschränkt: einerseits durch einen zu weiten, zu abstrakten, zu strengen Rahmen, eben die Souveränität als Problem und als Institution. Die Regierungskunst versuchte, mit der Theorie der Souveränität zu einem Einvernehmen zu kommen: Man versuchte durchaus, aus einer erneuerten Theorie der Souveränität die leitenden Prinzipien einer Kunst des Regierens abzuleiten. An dieser Stelle greifen die Rechtsgelehrten des 17. Jahrhunderts mit ihrer Formulierung oder Reaktualisierung der Verrrags-theorie ein. Die Vertragstheorie ist im Weiteren genau die Theorie, mit welcher der Gründungsvertrag, die wechselseitige Verpflichtung zwischen Souveränen und Untertanen, zu jener Art theoretischer Matrix wird, von der aus man die allgemeinen Prinzipien einer Regierungskunst einzuholen versucht. Obgleich die Vertragstheorie und dieses Nachdenken über die Beziehungen zwischen dem Souverän und seinen Untertanen eine sehr wichtige Rolle in der Theorie des Öffentlichen Rechts spielten - das Beispiel Hobbes beweist das de facto glasklar, auch wenn dieser letzten Endes die leitenden Prinzipien einer Kunst des Regierens hatte auffinden wollen ist man über die Formulierung allgemeiner Prinzipien des öffentlichen Rechts niemals hinausgekommen. Einerseits also der zu weite, zu abstrakte, zu strenge Rahmen der Souveränität und andererseits ein zu enges, zu schwaches, zu wenig konsistentes Modell, nämlich das der Familie. Entweder versuchte die Kunst des Regierens an die allgemeine Form der Souveränität anzuschließen, oder sie gab sich mit jener Art konkretem Modell zufrieden, das die Regierung der Familie darstellte, oder sie stützte sich auf beides zugleich. Was muss man tun, damit derjenige, der regiert, den Staat ebenso bestimmt und gewissenhaft regieren kann, wie man eine Familie zu regieren vermag? Doch genau diese Vorstellung von der Ökonomie, die sich zu jener Zeit noch ausschließlich auf die Lenkung einer kleinen, von Familie und Hausgemeinschaft gebildeten Gesamtheit bezog, führte zur Blockade. Hausgemeinschaft und Familienvater 164 auf der einen, Staat und Souverän auf der anderen Seite — so konnte die Regierungskunst ihre eigene Dimension nicht finden. Wie kam es zur Aufhebung der Blockade der Regierungskunst? Man muss diese Aufhebung ebenso wie die Blockade selbst rückübertragen in eine bestimmte Anzahl allgemeiner Prozesse: die demografische Expansion des 18. Jahrhunderts, verbunden mit dem monetären Überfluss, der selbst wiederum aufgrund zirkulärer Prozesse, die den Historikern wohl bekannt sind, mit der Ausweitung der landwirtschaftlichen Produktion zusammenhängt. Wenn damit der allgemeine Rahmen steht, lässt sich nun auf präzisere Weise sagen, dass die Aufhebung der Blockade der Regierungskunst' mit dem Auftauchen des Problems der Bevölkerung verbunden war. Oder, noch anders gesagt, dass man es mit einem recht subtilen Prozess zu tun hat —■: der im Einzelnen nachzuzeichnen wäre —, an dem sich zeigen lässt, wie die Wissenschaft vom Regieren, die Neuausrichtung der Ökonomie auf etwas anderes als die Familie und schließlich das Problem der Bevölkerung miteinander verbunden sind. Die Entwicklung det Wissenschaft vom Regieren machte es möglich, die Ökonomie auf ein bestimmtes Realitätsniveau hin, das wir jetzt als »ökonomisch« bezeichnen, neu auszurichten, und dieselbe Entwicklung ermöglichte es auch, das spezifische Problem der Bevölkerung zu umreißen. Doch ebenso gut ließe sich behaupten, dass dank der Wahrnehmung der spezifischen Probleme der Bevölkerung und dank der Abgrenzung jenes Realitätsniveaus, das man als Ökonomie bezeichnet, das Problem der Regierung endlich außerhalb des juristischen Rahmens der Souveränität gedacht, reflektiert und erwogen werden konnte. Und so wird jene Statistik, die im Rahmen des Merkantilismus stets nur innerhalb und gewissermaßen zum Vorteil einer monarchischen Administration funktionieren konnte, die selbst in der Form der Souveränität funktionierte, zum technischen Hauptfaktor oder zu einem der technischen Hauptfaktören für die Aufhebung dieser Blockierung. Wie aber macht es das Problem der Bevölkerung in der Tat möglich, die Blockierung der Regierungskunst aufzuheben? Der Blick auf die Bevölkerung und die Wirklichkeit der für die Bevölkerung eigentümlichen Phänomene erlauben es, das Modell der Familie endgültig beiseite zu schieben und jenes Verständnis von Ökonomie auf etwas: anderes hin neu auszurichten. Tatsächlich entdeckt und zeigt jene Statistik, die bis dahin innerhalb administrativer Rahmensetztingen und damit innerhalb des Funkrionszusammenhangs der Souveränität funktioniert hatte, nach und nach, dass die Bevölkerung ihre eigenen Regelmäßigkeiten hat: ihre Sterbe- und Krankheitsraten, ihre konstanten Unfallhäufigkeiten. Die Statistik zeigt auch, dass die Bevölkerung eigenständige Effekte mit sich bringt, die aus ihrer Zusammenstellung herrühren, und dass diese Phänomene nicht auf diejenigen der Familie zurückzuführen sind: die großen Epidemien, die endemischen Ausbreitungen und die Spirale von Arbeit und Reichtum. Die Statistik zeigt auch, dass die Bevölkerung durch ihre Ortswechsel, durch ihre Handlungsweisen, durch ihr Tätigwerden spezifische Ökonomische Effekte zeitigt. Indem die Sratistik eine Quantifizierung der Phänomene gestattet, die der Bevölkerung eigentümlich sind, lässt sie deren spezifischen Charakter hervortreten, der sich nicht auf den kleinen Rahmen der Familie redtizieren lässt. Mit Ausnahme einer bestimmten Zahl von Restthemen ~ dies können moralische und religiöse Themen sein - wird die Familie als Modell der Regierung verschwinden. Umgekehrt wird genau zu diesem Zeitpunkt die Familie wieder als FJement innerhalb der Bevölkerung und als fundamentales Relais ihrer Regierung auftauchen. Mit anderen Worten, bis die Problematik der Bevölkerung aufkam, konnte die Regierungskunst nur vom Modeil der Familie, von der als Lenkung der Familie verstandenen Ökonomie her, gedacht werden. Dagegen tritt ab dem Augenblick, in dem die Bevölkerung als etwas auftaucht, das sich absolut nicht auf die Familie reduzieren lässt, die Familie folglich gegenüber der Bevölkerung in den Hintergrund; sie tritt innerhalb der Bevölkerung als Element auf. Sie ist also kein Modell mehr; sie ist ein Segment, ein schlechthin privilegiertes Segment, weil man, sobald man bei der Bevölkerung hinsichtlich des Sexualverhaltens, der Demografie, der Kinderzahl oder des Konsums etwas erreichen will, über die Familie vorgehen muss. Damit aber wird die Familie als Modell zum Instrument, sie dient als privilegiertes Instrument für die Regierung der Bevölkerungen und nicht als chimärisches Modell für die gute Regierung. Diese Verschiebung der Familie von der Ebene des Modells zur Ebene der Instrumentalisierung ist absolut fundamental. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts taucht die Familie in dieser Instrumentalisierung im Verhältnis zur Bevölkerung auf: in den Kampagnen gegen die hohe Sterblichkeit sowie den Kampagnen, die sich um die Eheschließung, um Pocken- und andere Schutzimpfungen drehen. Indem 166 die Bevölkerung das Modell der Familie eliminiert, macht sie die Aufhebung der Blockierung der Regierungskunst möglich. Zweirens tritt die Bevölkerung als das schlechthin letzte Ziel der Regierung hervor: Denn was kann, im Grunde genommen, das Ziel der Regierung sein? Gewiss nicht zu regieren, sondern das Los der Bevölkerungen zu verbessern, ihre Reichtümer, ihre Lebensdauer und ihre Gesundheit zu mehren; und die Instrumente, die sich die Regierung gibt, um diese Ziele zu erreichen, sind dem Feld der Bevölkerung gewissermaßen immanent. Im Wesentlichen wird es die Bevölkerung selbst sein, auf die sie direkt mittels Kampagnen oder auch indirekt mittels Techniken einwirkt, die es beispielsweise erlauben, ohne dass es die Leute merken, die Geburtenrate zu steigern oder die Bevölkerungsströme in dieser oder jener Region einer entsprechenden Betätigung zuzuleiten. Statt als Ausdruck der Macht des Souveräns tritt die Bevölkerung vielmehr als Zweck und Itisrrument der Regierung hervor. Die Bevölkerung tritt als Subjekt von Bedürfnissen und Bestrebungen, aber ebenso auch als Objekt in den Händen der Regierung hervor; der Regierung gegenüber weiß sie, was sie will, zugleich aber weiß sie nicht, was man sie machen lässt. Das Interesse als Bewusstsein jedes einzelnen der Individuen, aus denen sich die Bevölkerung zusammensetzt, und das Interesse als Interesse der Bevölkerung unabhängig von den individuellen Interessen und Bestrebungen derer, aus denen sie sich zusammensetzt, werden die Zielscheibe und das fundamentale Instrument der Regierung der Bevölkerungen sein. Die Geburt einer Kunst oder zumindest die Geburt absolut neuartiger Taktiken und Techniken. Schließlich wird die Bevölkerung der Bezugspunkt sein, um den herum sich das ausbilden wird, was man in den Texten des 16. Jahrhunderts die »Geduld des Souveräns« nannte; d.h., die Bevölkerung wird das Objekt sein, das die Regierung in ihren Beobachtungen und in ihrem Wissen im Auge behalten muss, um tatsächlich rational und reflektiert regieren zu können. Die Bildung eines Regierungswissens iässr sich in keiner Weise von der Bildung eines Wissens über all die Vorgänge trennen, die sich um die Bevölkerung im weiren Sinne drehen - was man eben die »Ökonomie« nennt. Ich sagte Ihnen das letzte Mal, dass die politische Ökonomie sich von dem Moment an ausbilden konnte, als unter den verschiedenen Elementen des Reichtums ein neues Subjekt auftauchte: die Bevölkerung. Dieses kontinuierliche und vielfältige Netz von Bezügen zwischen Bevölkerung, Territorium und Reichtum aufgreifend, bilden sich eine Wissenschaft aus, die man »politische Ökonomie« nennt, und zugleich ein für das Regieren charakteristischer Interventionstyptis: die Intervention auf dem Feld der Ökonomie und der Bevölkerung. Kurz, der Übergang von einer Kunst des Regierais zu einer politischen Wissenschaft, der Übergang von einem von den Strukturen der Souveränität dominierten Regime zu einem von den Techniken des Regierens dominierten Regime erfolgen im 18. Jahrhundert im Umkreis der Bevölkerung und folglich auch im Umkreis der Geburt der politischen Ökonomie. Damit will ich nun keineswegs behaupten, die Souveränität habe von dem Moment an, als die Regierungskunst begann, zur politischen Wissenschaft zu werden, keine Rolle mehr gespielt; ich würde sogar im Gegenteil behaupten: Niemals hat sich das Problem der Souveränität in größerer Schärfe gestellt als genau zu jenem Zeitpunkt. Denn nun ging es nicht mehr wie im 16. oder im 17. Jahrhundert darum, zu versuchen, aus einer Theorie der Souveränität eine Kunst des Regierens abzuleiten, sondern - in Anbetracht dessen, dass es eine Kunst des Regierens gab und diese sich weiterentwickelte - darum, welche juristische Form, welche institutionelle Form und welche Rechtsgrundlage man der für einen Staat bezeichnenden Souveränität geben konnte. Lesen Sie die beiden Texte von Rousseau. In dem chronologisch gesehen ersten, d.h. dem Artikel »Politische Ökonomie« aus der Enzyklopädie, sehen Sie, wie Rousseau das Ptoblem der Regierung und der Regierungskunst aufwirft und dabei Folgendes vermerkt - und der Text ist, was diesen Standpunkt betrifft, sehr typisch: Das Wort »Ökonomie« bezeichnet im Wesentlichen die Führung der Güter der Familie durch den Familienvater;19 dennoch muss dieses Modell, selbst wenn man sich in der Vergangenheit darauf berufen hat, nicht länger hingenommen werden. In unseren Tagen, heißt es bei ihm, weiß man sehr wohl, dass die politische Ökonomie nicht mehr die Ökonomie der Familie ist, und ohne sich ausdrücklich auf die Physio-kratie, auf die Statistik oder auf das aligemeine Problem der Bevölkerung zu berufen, verzeichnet er eindeutig diesen Einschnitt und die Tatsache, dass Ökonomie - politische Ökonomie - eine ganz und gar 19 [»Dieses Wort [...] bedeutet ursprünglich nichts anderes als eine weise und rechtmäßige Regierung des Hauses zum gemeinschaftlichen Wohl der ganzen Familie.« »Discount sur l'ecanamie politique«, S. 141; dt.: S. iiy.\ 168 neue Bedeutung hat, die nicht langer auf das aite Modell der Familie zurückgeführt werden dart.^ Rousseau macht es sich jedenfalls in diesem Attikel zur Aufgabe, eine Regierungskunst zu definieren. Danach wird er den Contmt social schreiben, bei dem das Problem darin bestehen wird, wie man mit Begriffen wie »Natur«, »Vertrag« und »allgemeiner Wille« ein allgemeines Prinzip des Regierens aufstellen kann, das sowohl dem juridischen Prinzip der Souveränität als auch den Elementen, durch die man eine Regierungskunst definieren und charakterisieren kann, einen Platz lässt. Somit wird die Souveränität durch das Auftauchen einer neuartigen Kunst des Regierens, die nun die Schwelle zu einer politischen Wissenschaft überschritten hat, keineswegs eliminiert; das Problem der Souveränität ist nicht eliminiert, es ist im Gegenteil akuter geworden denn je. Ebenso wenig ist die Disziplin eliminiert. Gewiss, ihre Organisation, ihr Einsatz, al! die Institutionen, in denen sie im 17. Jahrhundert und zu Beginn des 18. Jahrhunderts ihre große Zeit hatte: Schulen, Werkstätten, Armeen, das alles stand selbstverständlich mit der Entwicklung der großen administrativen Monarchien in einem engen Zusammenhang und lässt sich allein dadurch verstehen. Doch auch die Disziplin war niemals wichtiger und wurde niemals höher bewertet als von dem Zeitpunkt an, da man versuchte, die Bevölkerung zu führen. Die Bevölkerung zu führen heißt nicht, allein die kollektive Masse an Phänomenen oder die Bevölkerung allein auf der Ebene ihrer globalen Befunde zu führen; die Bevölkerung zu führen heißt, sie gleichermaßen in der Tiefe, in der Feinheit und im Detail zu führen. Die Idee der Regierung der Bevölkerung verschärft noch das Problem der Begründung der Souveränität — denken wir an Rousseau -und verschärft auch die Notwendigkeit, die Disziplinen zu entwickeln (ich habe die Geschichte der Disziplinen an anderer Stelle21 zu ana- 20 [»Wie könnte die Regierung des Staates der Regierung der Familie ahnlich sein, deren Grundlage so verschieden ist? [...] dass man mit gutem Grunde einen Unrer^ schied gemacht hat zwischen der öffentlichen Ökonomie und der privaten Ökonomie, lind dass, da der Staat mit der Familie weiter nichts gemein hat [...], einerlei Verhalrensregeln nicht beiden angemessen sein können.« Ebd., S. 241 und S. 244; dt.: S. 227 und S. 230.] 21 [Fotlcault, M., Surveiller et punir. Naissancedeletprison, Paris 197;; dt.: überwachen und Strafen, Die Geburt des Geßtignisses, übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1976.j iysieren versucht). Daher darf man die Dinge mitnichten als Ersetz zung einer Gesellschaft det Souveränität durch eine Gesellschaft der Disziplin und anschließend einer Gesellschaft der Disziplin durch eine, sagen wir, Regierungsgesellschah verstehen. In Wirldichkeit hat man ein Dteieck: Souveränität - Disziplin — gouvernementale Führung, dessen Haiiptzielscheibe die Bevölkerung ist und dessen wesentliche Mechanismen die Sicherheitsdispositive sind, Was ich auf jeden Fall zeigen wollte, war eine tiefe geschichtliche Verbindung zwischen der Bewegung, welche die Konstanten der Souveränität hinter dem nun vorrangigen Problem der Regierungsoptionen ins Wanken bringt, dann der Bewegung, welche die Bevölkerung als eine Gegebenheit, als ein Interventionsfeld und als das Ziel der Regierungstechniken hervorbringt, und drittens der Bewegung, welche die Ökonomie als spezifischen Realitätsbeteich und die politische Ökonomie zugleich als Wissenschaft und als fnterventionstechnik der Regierung in dieses Realitätsfeld isoliert. Was diese drei Bewegungen betrifft, ich meine Regierung, Bevölkerung und politische Ökonomie, wird man sich gut merken müssen, dass sie seit dem I S.Jahrhundert eine feste Reihe bilden, die auch heute noch nicht zerfallen ist. Nur eines möchte ich noch anschließen: Wenn ich der in diesem Jahr von mir durchgeführten Vorlesung einen trefflicheren Titel hätte geben wollen, so hätte ich mich bestimmt nicht für »Sicherheit, Territorium und Bevölkerung« entschieden. Das, was ich jetzt tun würde, könnte man eine »Geschichte der Gouvernementalität« nennen. Mit diesem Wort »Gouvernementalität« ist dreierlei gemeint. Unter Gou-vernementalität verstehe ich die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat. Zweitens vetstehe ich unter »Gouvernementalität« die Tendenz oder die Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttypus, den man als »Regierung« bezeichnen kann, gegenüber allen anderen - Souveränität, Disziplin - geführt und die Entwicklung einer ganzen Reihe spezifischer Regiertingsapparate einerseits und einer ganzen Reihe von Wissensformen andererseits zut Folge gehabt hat. Schließlich 170 171 glaube ich, dass man unter Gouvemementaiität den Vbigang oder eher das Ergebnis des Vorgangs verstehen sollte, durch den der Gerech rigkeitsstaar des Mittelalters, der im i 5. und 16. Jahrhundert zum Verwalrungsstaat geworden ist, sich Schritt für Schritt »gouvernemen-talisiert« hat. Es ist bekannt, welche Faszination heute die Liebe zum Staat und das Erschrecken vor dem Staat ausüben; es ist bekannt, wie sehr man sich die Geburt des Staates, seine Geschichte, seine Vorstöße, seine Macht und seine Missbräuche angelegen sein lässt. Diese Überbewertung des Problems des Staates findet man meines Erachtens im Wesentlichen in zwei Formen. In einer unmittelbaren, affektiven und tragischen Form: im Lied vom kalten Ungeheuer, das uns gegenübersteht. Das Problem des Staates wird aber noch auf eine zweite Art überbewertet - und zwar in einer paradoxen, weil offensichtlich den Staat reduzierenden Form -, nämlich in Gestalt einet Analyse, die den Staat auf eine bestimmte Anzahl von Funktionen wie beispielsweise die Entwicklung det Produktivkräfte und die Reproduktion der Produktionsverhältnisse reduziert; und diese Rolle, die den Staat anderem gegenüber reduziert, macht ihn trotzdem zu einer ganz wesentlichen Zielscheibe, die es anzugreifen, und zu einer Position, die es, wie Sie genau wissen, bevorzugt zu besetzen gilt. Doch mit Sicherheit besaß der Staat weder in der Gegenwart noch im Verlauf seiner Geschichte je diese Einheit, diese Individualität, diese strikte Funktionalität und, ich würde sogar sagen, diese Bedeutung; letzten Endes ist der Staat vielleicht nur eine zusammengesetzte "Wirklichkeit, eine zum Mythos erhobene Abstraktion, deren Bedeutung viel reduzierter ist, als man glaubt. Vielleicht ist das wirklich Wichtige für unsere Moderne, d. h. für unsere Aktualität, nicht die Verstaatlichung der Ge-Seilschaft, sondern das, was ich eher die »Gouvemementalisierung« des Staates nennen würde. Wir leben im Zeitalter der Gouvemementaiität, die im 18. Jahrhundert entdeckt wurde. Der Gouvemementalisierung des Sraates, die ein besonders verzwicktes Phänomen ist, denn auch wenn in der Tat die Probleme der Gouvemementaiität und die Techniken des Regierens wirklich zum einzigen politischen Einsatz und zum einzigen realen Raum des politischen Kampfes und der politischen Gefechte geworden sind, so ist trotzdem diese Gouvemementalisierung des Staates das Phänomen gewesen, das es dem Staat ermöglicht hat, zu überleben. Und dass der Staat so ist, wie er jetzt ist, dürfte wahrscheinlich dieser Gouvemementaiität zu verdanken sein, die dem Staat zugleich innerlich und äußerlich ist. Denn eben die Taktiken des Regierens gestatten es, zu jedem Zeitpunkt zu bestimmen, was in die Zuständigkeit des Staates gehört und was nicht in die Zuständigkeit des Staates gehört, was öffentlich ist und was privat ist, was staatlich ist und was nicht staatlich ist. Also, wenn Sie so wollen, darf man den Staat in seinem Überleben und den Staat in seinen Grenzen nur von den aligemeinen Taktiken der Gouvemementaiität her verstehen. Und so könnte man vielleicht ganz allgemein, grob und folglich ungenau die großen Formen und die großen Ökonomien der Macht im Abendland folgendermaßen wiedergeben: als Erstes der in einer Territorialität feudalen Typs entstandene Geiechtigkeitsstaat, der im Wesentlichen einer Gesellschaft des Gesetzes entspräche - Gewohnheitsrechte und geschriebene Gesetze - mit einer großen Garnitur an Verbindlichkeiten und strittigen Rechtsfällen; zweitens der im 15. und 16. Jahrhundert in einer durch Grenzen und nicht mehr feudal bestimmten Territorialität entstandene Verwaltungsstaat, der einer Gesellschaft von Reglementierungen und Disziplinen entspricht, und schließlich ein Regierungsstaat, der nicht mehr wesentlich durch seine Territorialität, durch die besetzte Fläche, sondern durch eine Masse bestimmt wird: die Masse det Bevölkerung mit ihrem Umfang, ihrer Dichte, mit, gewiss, dem Territorium, auf dem sie ausgebreitet ist, das aber gewissermaßen nur ein Bestandteil davon ist. Und dieser Regierungsstaat, der sich wesentlich auf die Bevölkerung stützt und sich auf die Instrumente des ökonomischen Wissens beruft und davon Gebrauch macht, entspräche einer durch die Sicherheitsdispositive kontrollierten Gesellschaft. Damit ist, wenn Sie so wollen, einiges zur Einordnung dieses Phänomens der Gouvemementaiität gesagt, das ich für bedeutsam halte. Ich werde jetzt zu zeigen versuchen, wie diese Gouvernemenralität zum einen ausgehend von einem archaischen Vorbild, nämlich dem des christlichen Pastorats, und zweitens gestützt auf ein diplomatisch-militärisches Vorbild, oder besser eine diplomatisch-militärische Technik, entstanden ist, und schließlich drittens, wie diese Gouver-nementalität die Ausmaße, die sie besitzt, nur dank einer Reihe ganz besonderer Instrumente erlangen konnte, deren Ausbildung genau zeitgleich erfolgt mit jener der Regierungskunst und die man im alten Sinne des Ausdrucks, nämlich dem des 17. und des 18. Jahrhunderts, »Policey« nennt. Das Pastorat, die neue diplomatisch-militärische 173 Technik und schließlich die Polizei sind meines Erachrens die drei großen Elemente gewesen, von denen ausgehend dieses fundamentale Phänomen in der Geschichte des Abendlandes zustande kommen konnte, das die Gouvernementalisierung des Staates gewesen ist. Übersetzt von Hans-Dieler Gondek Nutzlos, sich zu erheben »Inutik de se soulever«, in: LeMonde, Nfr. 1066t, it.-t2. Mai 1979, S. l-z. »Damit der Schah geht, sind wir zu Tausenden bereit zu sterben«, sagten die Iraner im letzten Sommer. Und der Ayatollah sagt heute: »Der Iran soll bluten, damit die Revolution stark ist.« Ein seltsames Echo zwischen diesen beiden Sätzen, die aufeinander zu folgen scheinen. Verdammt der Schrecken des zweiten die Trunkenheit des ersten? Erhebungen gehören zur Geschichte. Aber in gewisser Weise entgehen sie der Geschichte. Die Bewegung, in der ein einzelnet Mensch, eine Gruppe, eine Minderheit oder ein ganzes Volk sagt: »Ich gehorche nicht länger«, und einer als ungerecht empfundenen Macht unter Lebensgefahr entgegentritt - diese Bewegung scheint mir nicht erklärbar zu sein. Weil keine Macht sie jemals vollständig unmöglich zu machen vermag. Warschau wird stets sein aufständisches Getto und seine von Aufständischen bevölkerte Kanalisation haben, für den Menschen, der sich erhebt, gibt es letztlich keine Erklärung. Ein Mensch muss sich losreißen und den Faden der Geschichte samt ihren langen Kausalketten durchtrennen, um die Todesgefahr »wirklich« der sicheren Pflicht zum Gehorsam vorziehen zu können. Alle Formen gewonnener oder geforderter Freiheir, alle Rechte, die man geltend macht, und selbst noch die geringfügigsten, finden hier einen Ankerpunkt, der festet ist und näher liegt als die »natütlichen Rechte«. Wenn Gesellschaften durchhalten und lebendig bleiben, das heißt, wenn die Mächte darin nicht »absolut absolut« sind, so weil hinter der Akzeptanz und dem Zwang, jenseits der Drohung, der Gewalt und der Überredung jener Augenblick möglich bleibt, in dem das Leben keinen Handel mehr zulässt, die Mächte alle Macht verlieren und die Menschen sich trotz Galgen und Maschinengewehren erheben. Weil Erhebungen gleichermaßen in der Geschichte und »außerhalb der Geschichte« stehen und weil es für alle um Leben und Tod geht, wird verständlich, warum sie ihren Ausdruck und ihre Dramarurgie so oft in religiösen Formen finden. Das Versprechen eines Jenseits, die Wiederkehr der Zeiten, das Warten auf einen Etlöser, den Jüngsten Tag und die uneingeschränkte Herrschaft des Guten, all das war dort, 174 175