SPURENSICHERUNG Der Jäger entziffert- die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli - die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst Der liebe Gott steckt im Detail. Gustave Flaubert und Aby Warburg Ein Ding, das vom Verlust spricht, von der Zerstörimg, vom Verschwinden der Dinge. Von sich selber spricht es nicht. Es spricht von anderen. Schließt es sie auch ein? Jasper johns Ich möchte auf den folgenden Seiten zeigen, wie im Bereich der Humanwissenschaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts stillschweigend eine neue Vorgehensweise aufgetaucht ist: ein epi-stemologisches Modell (oder, wenn man will, ein Paradigma1), dem bislang noch nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Die Analyse dieses Paradigmas - das faktisch sehr wirksam ist, nie aber ausdrücklich theoretisiert wurde - könnte vielleicht dazu beitragen, aus dem Dilemma der seichten Gegenüberstellung von »Rationalismus« und »Irrationalismus« herauszukommen. Dieser Text erschien (nach mehreren Teilveröffemlichungen) unter dem Titel Spie. Radici diunparadigma indiziaro in dem von Aldo Gargani herausgegebenen Band Crisi della ragione. Nuoin modelli nel rapporto tra sapere e attivitä umane, Turin 1979, S. 57-106. Die deutsche Übersetzung (die für den vorliegenden Band leicht überarbeitet wurde) erschien zuerst in »Freibeuter« 3, S.7-17, und 4, S. 11-36. Sie wurde von Gisela Bonz besorgt. Der Anmerkungsapparat ist gekürzt. 7 I l. Zwischen 1874 und 1876 erschien in der »Zeitschrift für bildende Kunst« eine Reihe von Aufsätzen über italienische Malerei. Sie waren von einem unbekannten russischen Autor namens Ivan Lermolieff gezeichnet und von einem ebenso unbekannten Johannes Schwarze ins Deutsche übertragen. Die Aufsätze stellten eine neue Methode zur Identifizierung von Autoren antiker Bilder vor, die eine lebhafte und kontroverse Diskussion unter Kunsthistorikern auslöste. Nur wenige Jahre später warf der Autor die doppelte Maske ab, hinter der er sich verborgen hatte. Es war in Wirklichkeit der Italiener Giovanni Morelli (Schwarze ist die deutsche Ubersetzung [»Morello«, Plural: »morelli«, ist das italienische Wort für »Rappe, schwarzes Pferd«. Anmerkung der Übersetzerin] und Lermolieff fast das Anagramm des Namens Morelli). Noch heute ist es unter Kunsthistorikern üblich, von der »Morelli-Methode« zu sprechen.2 Fassen wir kurz zusammen, worin diese Methode bestand. Die Museen, so sagte Morelli, sind voll von Bildern, deren Autoren nur ungenau ermittelt sind. Aber es ist auch sehr schwierig, jedes einzelne Bild ganz exakt einem bestimmten Künstler zuzuweisen: Sehr oft hat man es mit Werken zu tun, die nicht signiert, die vielleicht übermalt oder schlecht erhalten sind. In solchen Fällen ist es unbedingt notwendig, die Originale von den Kopien unterscheiden zu können. Man dürfe sich daher, so Morelli, nicht - wie es sonst üblich ist - auf die besonders auffälligen und daher leicht kopierbaren Merkmale der Bilder stützen: die gen Himmel gerichteten Augen der Figuren Peruginos, das Lächeln der Gestalten Leonardos usw. Man solle stattdessen mehr die Details untersuchen, denen der Künstler weniger Aufmerksamkeit schenkt und die weniger von der Schule, der er angehört, beeinflußt sind: Ohrläppchen, Fingernägel, die Form von Fingern, Händen und Füßen. Auf diese Weise entdeckte Morelli die für Botticelli, die für Cosimo Iura typische Form der Ohren und katalogisierte sorgfältig alle diese Merkmale, die in den Originalen, nicht aber in den Kopien vorkommen. Mit dieser Methode revidierte er die Zuordnung zahlreicher Gemälde aus einigen der wichtigsten Museen Europas. Oft waren es sensationelle Entdeckungen: Das Bild einer liegenden Venus etwa, das in der Dresdner Gemäldegalerie hängt und für eine von Sasso-ferrato angefertigte Kopie eines verlorenen Tizian-Gemäldes gehalten wurde, identifizierte Morelli als eines der wenigen Werke, das mit Sicherheit von Giorgione stammt. Ohr des Ohr des Giovanni Morelli (Ivan Lermolieff) Lorenzo Costa Cosimo Tura Giorgione, Schlummernde Venus, Dresden 8 9 Trotz solcher Ergebnisse wurde Morellis Methode heftig kritisiert - wohl auch wegen der fast anmaßenden Sicherheit, mit der er sie vortrug. Später wurde sie dann als mechanisch und grob positivistisch abgetan und geriet in Mißkredit (freilich schloß das nicht aus, daß viele der Kunsthistoriker, die nun abfällig von ihr sprachen, sie stillschweigend weiterhin benutzten). Das neuerliche Interesse an den Arbeiten Morellis ist ein Verdienst von Edgar Wind: Er sah in ihnen ein typisches Beispiel für eine neue Rezeptionsweise von Kunstwerken - eine Rezeptionsweise, die eher am Detail als an dem Werk als Ganzem Gefallen findet. Morelli betreibe, so Wind, einen übersteigerten Kult, der der Unmittelbarkeit des Genies huldige; schon in seiner Jugend, in Verbindung zu den romantischen Zirkeln Berlins, habe er diese Haltung entwickelt. Diese Interpretation ist wenig überzeugend, denn die Probleme, die Morelli sich stellte, waren nicht ästhetische, sondern philologische, waren also Probleme, die der Ästhetik vorgelagert waren (und gerade das wurde ihm später ja vorgeworfen). Tatsächlich waren die Implikationen der Methode, die Morelli vorschlug, ganz andere und sehr viel reichhaltigere. Wir werden sehen, daß Wind sie selbst um ein Haar erfaßt hätte. 2. Wind schreibt: »Morellis Bücher heben sich von denen anderer Kunstschriftsteller deutlich ab: Sie sind übersät mit Abbildungen von Fingern und Ohren, sorgfältigen Darstellungen jener charakteristischen Kleinigkeiten, in denen ein Künstler sich verrät wie ein Verbrecher durch seine Fingerabdrücke. Und (...) jede Gemäldesammlung, die Morelli studierte, (ähnelte) unter der Hand einem Kriminalmuseum ...«3 Diesen Vergleich hat Castelnuovo in brillanter Art weiterentwickelt: Er hat Morellis Methode der Indizienforschung mit der Methode in Verbindung gebracht, mit der - fast zur gleichen Zeit - Sherlock Holmes von seinem Schöpfer ausgerüstet wurde.4 Der Kunstsachverständige ist dem Detektiv vergleichbar: Er entdeckt denTäter (der am Bild schuldig ist) mittels Indizien, die dem Außenstehenden unsichtbar bleiben. Es gibt bekanntlich zahllose Beispiele für Holmes' Scharfsinn und seine Fähigkeit, etwa Fußspuren im Schlamm 10 oder Zigarettenasche zu interpretieren. Um sich aber von der Genauigkeit des Vergleichs zu überzeugen, den Castelnuovo anstellte, muß man nur etwa eine Story wie Ein unheimliches Paket (1892) heranziehen, in der Sherlock Holmes buchstäblich »mo-rellisiert«. Der Fall beginnt mit zwei abgeschnittenen Ohren, die einer unschuldigen Frau per Post zugeschickt werden. Und schon ist der Kenner am Werk: Holmes »hielt mitten im Satz inne, und ich (Watson) war höchst überrascht, zu sehen, daß er mit intensivem Interesse das Profil der Dame studierte. Erstaunen und dann Befriedigung zeigten sich einen Augenblick lang auf seinem Gesicht, doch als auch sie sich ihm zuwandte, um den Grund für sein plötzliches Verstummen festzustellen, waren seine Züge wieder unbewegt wie immer.«5 Etwas später erklärt Holmes seinem Freund Watson (und den Lesern) den Ablauf seiner blitzschnellen Grübelarbeit: »Als Mediziner weißt du ja, Watson, daß es kaum einen Körperteil gibt, der so individuell ausfällt wie das menschliche Ohr. In der Regel ist jedes Ohr anders und unterscheidet sich somit von allen übrigen. In der vorjährigen Ausgabe des ANTHROPOLOGICAL JOURNAL kannst du zwei kurze Beiträge aus meiner Feder über dieses Thema lesen. Ich hatte die Ohren in der Schachtel als Sachverständiger betrachten können und dabei sorgfältig ihre verschiedenen anatomischen Merkmale registriert. Stell dir nun mein Erstaunen vor: Miss Cushings Ohr bildete fast das genaue Gegenstück zu dem weiblichen Ohr, das ich gerade untersucht hatte. Das konnte kein reiner Zufall sein. Da war dieselbe Verkürzung des Muskels, dieselbe breite Kurve des Ohrläppchens, dieselbe Windung des inneren Knorpels. In allen wesentlichen Zügen war es dasselbe Ohr. Natürlich erkannte ich sofort die ungeheure Bedeutung dieser Entdeckung. Das weibliche Opfer mußte eine Blutsverwandte, wahrscheinlich sogar eine sehr nahe sein.«6 3. Wir werden bald sehen, was diese Parallelität alles impliziert. Zunächst jedoch möchte ich eine andere wertvolle Intuition von Edgar Wind wieder aufnehmen: »Einigen Gegnern Morellis schien es unbegreiflich, >daß die Persönlichkeit dort zu finden sei, wo sie am schwächsten eingesetzt istx. Aber in diesem 11 Punkt würde die moderne Psychologie Morelli beipflichten: Unsere unwillkürlichen, kleinen Gesten verraten mehr von unserem Charakter als irgendwelche wohleinstudierten Posen.«7 »Unsere unwillkürlichen, kleinen Gesten...«: An die Stelle des allgemeinen Ausdrucks »moderne Psychologie« können wir ohne weiteres den Namen Freud setzen. Und Winds Ausführungen haben in der Tat die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler auf eine lange vernachlässigte Stelle in Freuds berühmten Essay Der Moses des Michelangelo (1914) gelenkt. Am Anfang des zweiten Abschnittes schreibt Freud: »Lange bevor ich etwas von der Psychoanalyse hören konnte, erfuhr ich, daß ein russischer Kunstkenner, Ivan Lermolieff, dessen erste Aufsätze 1874 bis 1876 in deutscher Sprache veröffentlicht wurden, eine Umwälzung in den Galerien Europas hervorgerufen hatte, indem er die Zuteilung vieler Bilder an die einzelnen Maler revidierte, Kopien von Originalen mit Sicherheit unterscheiden lehrte und aus den von ihren früheren Bezeichnungen frei gewordenen Werken neue Künstlerindividualitäten konstruierte. Er brachte dies zustande, indem er vom Gesamteindruck und von den großen Zügen eines Gemäldes absehen hieß und die charakteristische Bedeutung von untergeordneten Details hervorhob, von solchen Kleinigkeiten wie die Bildung der Fingernägel, der Ohrläppchen, des Heiligenscheines und anderer unbeachteter Dinge, die der Kopist nachzuahmen vernachlässigt, und die doch jeder Künstler in einer ihn kennzeichnenden Weise ausführt. Es hat mich dann sehr interessiert zu erfahren, daß sich hinter dem russischen Pseudonym ein italienischer Arzt namens Morelli, verborgen hatte. Er ist 1891 als Senator des Königreiches Italien gestorben. Ich glaube, sein Verfahren ist mit der Technik der ärztlichen Psychoanalyse nahe verwandt. Auch diese ist gewöhnt, aus gering geschätzten oder nicht beachteten Zügen, aus dem Abhub - dem >refuse< - der Beobachtung, Geheimes und Verborgenes zu erraten.«8 Der Essay Der Moses des Michelangelo erschien zunächst anonym: Erst als er den Text in seine gesammelten Werke aufnahm, gab sich Freud als Verfasser zu erkennen. Man hat vermutet, Morellis Neigung, sich durch den Gebrauch von Pseudonymen als Autor unkenntlich zu machen, habe in gewisser Hinsicht schließlich auch Freud angesteckt; über die Bedeutung dieses Zusammenfallens sind mehr oder minder plausible Vermutungen geäußert worden. Sicher ist aber, daß sich Freud - durch den Schleier der Anonymität geschützt - in zugleich eindeutiger und vorsichtiger Weise zu dem erheblichen intellektuellen Einfluß bekannte, den Morelli zu einer Zeit auf ihn ausgeübt hatte, als die Psychoanalyse noch längst nicht entdeckt war (»Lange bevor ich etwas von der Psychoanalyse hören konnte ...«). Beschränkt man - wie es vorgekommen ist - diesen Einfluß auf den Essay Der Moses des Michelangelo oder andere Schriften Freuds über Probleme mit kunsthistorischem Bezug, so beschneidet man zu Unrecht die Tragweite seiner Worte: »Ich glaube, sein (Morellis) Verfahren ist mit der Technik der ärztlichen Psychoanalyse nahe verwandt.« Tatsächlich weisen die zitierten Ausführungen Freuds Giovanni Morelli einen besonderen Platz in der Entwicklungsgeschichte der Psychoanalyse zu. Es handelt sich hier um einen dokumentarisch erwiesenen und nicht nur mutmaßlichen Zusammenhang - welch letzteres vielmehr für den größtenTeil der »Vorgeschichte« und die meisten »Vorläufer« Freuds gilt. Mehr noch: Freud stieß, wie schon gesagt, in seiner »präanalytischen« Phase auf die Schriften Morellis. Wir haben es hier also mit einem Element zu tun, das direkt zur Herausbildung der Psychoanalyse beigetragen hat, und nicht nur mit einer Übereinstimmung, die nachträglich festgestellt wurde (wie im Fall des Traumes von Josef Popper-Lynkeus, auf den in den Neuauflagen der Traumdeutung hingewiesen wird).9 4. Bevor wir zu verstehen versuchen, was Freud den Schriften Morellis entnehmen konnte, ist es angebracht, genau den Zeitpunkt seiner Morelli-Lektüre zu ermitteln. Den Zeitpunkt, oder besser: die Zeitpunkte, da Freud von zwei verschiedenen Begegnungen spricht: »Lange bevor ich etwas von der Psychoanalyse hören konnte, erfuhr ich, daß ein russischer Kunstkenner, Ivan Lermolieff« ... »Es hat mich dann sehr interessiert zu erfahren, daß sich hinter dem russischen Pseudonym ein italienischer Arzt, namens Morelli, verborgen hatte...« 12 13 Die erste Bemerkung kann man nur vermutungsweise datieren. Als terminus ante quem können wir 1895 (das Jahr, in dem die Studien über Hysterie von Freud und Breuer veröffentlicht wurden) oder 1896 (in dem Freud zum ersten Mal den Ausdruck »Psychoanalyse« benutzte) annehmen. Als terminus post quem das Jahr 1883. Im Dezember dieses Jahres schrieb Freud in einem langen Brief an seine Verlobte von der »Entdeckung der Malerei«, die er während eines Besuches der Dresdner Gemäldegalerie gemacht habe; davor habe ihn die Malerei nicht interessiert. »Jetzt habe ich meine Barbarei abgeschüttelt und angefangen, sie zu bewundern«, schrieb er. Es ist kaum anzunehmen, daß die Schriften eines unbekannten Kunsthistorikers Freud schon vor diesem Zeitpunkt fesselten. Es ist jedoch sehr plausibel, daß er kurze Zeit nach dem Brief an seine Verlobte sie zu lesen begann; denn die ersten, in einem Sammelband veröffentlichten Aufsätze Morellis (Leipzig 1880) befaßten sich mit den Werken italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin.10 Die zweite Begegnung Freuds mit den Schriften Morellis kann genauer datiert werden. Der wirkliche Name von Ivan Ler-molieff wurde zum ersten Mal auf der Titelseite der englischen Übersetzung jener eben erwähnten Aufsätze veröffentlicht; sie erschien 1883. In den Neuauflagen und Übersetzungen, die nach 1891 (demTodesjahr Morellis) erschienen, stehen immer sowohl der wahre Name als auch das Pseudonym.11 Es ist nicht ausgeschlossen, daß einer dieser Bände früher oder später auch Freud in die Hände fiel. Wahrscheinlich aber erfuhr er die wahre Identität Ivan Lermolieffs ganz zufällig im September 1898, als er in einer Mailänder Buchhandlung herumstöberte. In der in London erhaltenen Bibliothek Freuds gibt es nämlich einen Band von Giovanni Morelli (Ivan Lermolieff): Deila pittura italiana. Studii storico-critici. - Le gaüerie Borghese e Daria Pamphili in Roma, Mailand 1897 (deutsche, im folgenden zitierte Ausgabe: Kunstkritische Studien über italienische Malerei. Die Galerien Borghese und Doria Pamphili in Rom, Leipzig 1890). Auf der Titelseite ist das Datum des Buchkaufs vermerkt: Mailand, 14. September. Freud hielt sich nur ein einziges Mal in Mailand auf, im Sigmund Freud, um 1912 14 1-5 Herbst 1898. Übrigens interessierte er sich zu dieser Zeit noch aus einem anderen Grund für das Buch Morellis. Seit einigen Monaten beschäftigte er sich mit dem Lapsus; vor geraumer Zeit hatte er in Dalmatien ein Erlebnis, das er später in der Psychopathologie des Alltagslehens analysierte. Freud hatte vergeblich versucht, sich an den Namen des Künstlers, der die Fresken in Orvieto gemalt hat, zu erinnern. Nun waren aber sowohl der wirkliche Maler (Signorelli) als auch die fälschlich angenommenen, an die Freud sich erinnert hatte (Botticelli, Boltraffio), in dem Buch Morellis erwähnt.12 Was aber konnte ihm - dem jungen, von der Psychoanalyse noch weit entfernten Freud - das Studium der Aufsätze Morellis bedeuten? Freud selbst weist darauf hin: die Entwicklung einer Methode der Interpretation, die sich auf Wertloses stützt, auf Nebensächlichkeiten, die jedoch für aufschlußreich gehalten werden. So lieferten Details, die gewöhnlich als unwichtig, gar trivial oder »niedrig« galten, den Zugang zu den erhabensten Produkten des menschlichen Geistes. Mit einer Ironie, die Freud sicher gefiel, schrieb Morelli: »... warum haben (meine Gegner) die von mir anempfohlene Methode zur sicheren Bestimmung der Meister dadurch lächerlich zu machen gesucht, daß sie mich darzustellen belieben als einen, welcher blind sei für den geistigen Gehalt eines Kunstwerkes und darum auf äußere Hilfsmittel, wie die Formen der Hand, des Ohres, ja sogar, horribile dictu, der garstigen Nägel, ein besonderes Gewicht lege?«13 Auch Morelli hätte sich das Motto Vergils »Flectere si nequeo Superos, Acheronta movebo« (Wenn ich nicht die Überirdischen beugen kann, so werde ich [wenigstens] die Unterirdischen bewegen), das Freud so schätzte und der »Traumdeutung« voranstellte, zu eigen machen können. Zudem hatten diese Nebensächlichkeiten für Morelli einen Offenbarungswert, denn sie bezeichnen die Momente, in denen die an die kulturelle Tradition gebundene Kontrolle des Künstlers nachläßt, um rein individuellen Zügen Platz zu machen, »die ihm entschlüpfen, ohne daß er derselben gewahr wird«.14 Mehr noch als der bloße Hinweis auf eine Tätigkeit des Unbewußten, der für diese Zeit nichts Außergewöhnliches war, fällt auf, daß hier das Innerste der künstlerischen Individualität in den Elementen gesehen wird, die sich der Kontrolle durch das Bewußtsein entziehen. 5. Wir haben gesehen, daß sich zwischen der Methode Morellis, Holmes' und Freuds eine Analogie abzeichnet. Von der Beziehung zwischen Morelli und Holmes und der zwischen Morelli und Freud haben wir schon gesprochen. Auf die sonderbare Übereinstimmung der Vorgehensweisen von Holmes und Freud hat S. Marcus hingewiesen.15 Übrigens bezeugte Freud selbst, im Gespräch mit einem Patienten (dem »Wolfsmann«), sein Interesse an den Abenteuern Sherlock Holmes'. Doch einem Kollegen (T. Reik) gegenüber, der die psychoanalytische Methode mit der von Holmes zusammenbrachte, sprach er im Frühjahr 1913 fast bewundernd von den Identifikationstechniken Morellis. In allen drei Fällen erlauben es unendlich feine Spuren, eine tiefere, sonst nicht erreichbare Realität einzufangen. Spuren, genauer gesagt: Symptome (bei Freud), Indizien (bei Sherlock Holmes) und malerische Details (bei Morelli).16 Wie erklärt sich diese dreifache Analogie? Die Antwort ist auf den ersten Blick sehr einfach. Freud war Arzt; Morelli promovierte in Medizin, Conan Doyle hatte als Arzt gearbeitet, bevor er sich der Literatur widmete. In allen drei Fällen erahnt man das Modell der medizinischen Semiotik: einer Wissenschaft, die es erlaubt, die durch direkte Beobachtung nicht erreichbaren Krankheiten anhand von Oberflächensymptomen zu diagnostizieren, die in den Augen eines Laien - etwa Dr. Watsons -manchmal irrelevant erscheinen. (Nebenbei: das Paar Holmes -Watson, der scharfsinnige Detektiv und der stumpfsinnige Arzt, stellt die Aufspaltung einer realen Person dar - eines für seine außergewöhnlichen diagnostischen Fähigkeiten bekannten Professors des jungen Conan Doyle.)17 Aber es handelte sich hier nicht einfach um biographische Übereinstimmungen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts -genauer: zwischen 1870 und 1880 - begann sich in den Humanwissenschaften ein Indizienparadigma durchzusetzen, das sich eben auf die Semiotik stützte. Seine Wurzeln aber reichen sehr viel weiter zurück. 16 17