modernes Erkenntnismodell stützt. Sein geradezu undefinierbares Alter haben wir schon erwähnt. Was seine Modernität angeht, braucht man nur den Abschnitt zu zitieren, in dem Cuvier die Methoden und Erfolge der neuen paläontologischen Wissenschaft preist: »... heute genügt es, den Abdruck eines gespaltenen Hufs zu sehen, um daraus zu schließen, daß das Tier, das die Spur hinterlassen hat, ein Wiederkäuer war: Und diese Schlußfolgerung ist genauso sicher, wie nur irgendeine Physik oder Ethik. Diese eine Spur reicht aus, um dem Beobachter die Form der Zähne, Kiefer, Wirbel, aller Bein-, Schenkel-, Schulter- und Beckenknochen des eben vorbeigelaufenen Tieres mitzuteilen: dieses Zeichen ist weit sicherer als alle Zeichen Zadigs.«51 Ein sichereres Zeichen, vielleicht: aber auch ein zutiefst verwandtes. Der Name Zadig war so symbolisch geworden, daß Thomas Huxley 1880 während einer Vortragsreihe zur Verbreitung der Entdeckungen Darwins die Methode, die der Geschichtsschreibung, der Archäologie, der Geologie, der physikalischen Astronomie und der Paläontologie gemeinsam sei, nämlich die Fähigkeit zur retrospektiven Wahrsagung, als die »Methode Zadigs« definierte. Zutiefst diachronisch geprägte Wissenschaften, wie die eben genannten, mußten sich, da sie das Galileische Paradigma als untauglich ablehnten, an ein Indizien- oder Wahrsageparadigma halten (und von einer vergangenheitsbezogenen Wahrsagung sprach Huxley explizit32). Wenn man die Ursachen nicht reproduzieren kann/bleibt nichts anderes übrig, als sie aus ihren Wirkungen zu folgern. III 1. Wir könnten die Fäden, die diese Untersuchung zusammenhalten, mit denen eines Teppichs vergleichen. An diesem Punkt angekommen, sehen wir, daß sie sich zu einem dichten, homogenen Netz zusammensetzen. Man kann die Kohärenz der Stoffzeichnung feststellen, indem man das Gewebe mit den Augen in verschiedenen Richtungen abtastet. Vertikal haben wir die Reihe Serendippo - Zadig-Poe - Gaboriau - Conan Doyle. Horizontal haben wir am Anfang des 18. Jahrhunderts einen Dubos, der -in der Reihenfolge ihrer abnehmenden Zuverlässigkeit - die Medizin, die connoisseurship und die Kunst der Identifizierung von Schrift aneinanderreiht.53 Diagonal, von einem historischen Kontext zum anderen überspringend, sehen wir schließlich Monsieur Lecoq, der fieberhaft ein »brachliegendes, schneebedecktes, mit Spuren von Kriminellen gespicktes Gelände« durchquert und es mit einer »riesigen weißen Seite« vergleicht, »auf die die von uns gesuchten Personen nicht nur ihre Bewegungen und Schritte, sondern auch ihre geheimen Gedanken, Hoffnungen und Ängste, die sie bewegten, geschrieben haben«54; und hinter ihm zeichnen sich Autoren von physiognomischen Traktaten, zeichnen sich babylonische Wahrsager, die sich bemühen, die von Göttern in Stein und Himmel geschriebenen Botschaften zu lesen, und Jäger des Neolithikums ab. Der Teppich ist das Paradigma, das wir je nach seinem Kontext als Jäger-, Wahrsage-, Indizien- oder semiotisches Paradigma bezeichnet haben. Obwohl diese Attribute natürlich keine Synonyme sind, verweisen sie doch auf ein gemeinsames epi-stemologisches Modell, das sich in den verschiedenen, durch Entlehnung von Methoden und Schlüsselbegriffen miteinander verbundenen Wissenschaften artikuliert hat. Als dann aber zwischen dem i8.und dem 19.Jahrhundert die »Humanwissenschaften« entstehen, verändert sich die Bedeutung der Indizienwissenschaften tiefgreifend: Neue Sterne ziehen am wissenschaftlichen Himmel auf - entweder, wie im Falle der Phrenologie, der Schädellehre, zu schnellem Untergang oder, wie im Falle der Paläontologie, zu großem Erfolg bestimmt; vor allem aber behauptet sich aufgrund ihres erkenntnistheoretischen und sozialen Prestiges die Medizin. Auf sie beziehen sich - explizit oder implizit - alle »Humanwissenschaften«. Aber auf welchen Teil der Medizin genau? Mitte des 19. Jahrhunderts zeichnet sich eine Alternative ab: das anatomische Modell auf der einen, das semiotische auf der anderen Seite. Die auch von Marx55 an einer zentralen Stelle gebrauchte Metapher »Anatomie der Gesellschaft« drückt in einer Epoche, die den Zusammenbruch des letzten großen, philosophischen Systems, des Hegeischen, er- 39 lebt hatte, das Streben nach einer systematischen Erkenntnis aus. Trotz des großen Erfolgs des Marxismus haben die Humanwissenschaften schließlich aber immer deutlicher das Indizienparadigma der Semiotik übernommen (mit einer wichtigen Ausnahme allerdings, wie wir noch sehen werden). Und hier finden wir wieder die Triade Morelli-Freud-Conan Doyle, von der wir ausgegangen waren. 2. Bisher haben wir vom Indizienparadigma (und seinen Synonymen) im weitesten Sinne gesprochen. Jetzt sind wir soweit, es aufzugliedern. Eine Sache ist es, Spuren, Gestirne und Kot (tierischen oder menschlichen), Katarrhe, Hornhäute, Pulsschläge, Schneefelder oder Zigarettenasche zu analysieren; eine andere, Schriften, Gemälde oder Diskurse zu untersuchen. Der Unterschied zwischen (unbeseelter oder lebendiger) Natur und Kultur ist viel wesentlicher als die unendlich viel oberflächlicheren und veränderbaren Unterschiede zwischen den einzelnen Wissenschaften. Nun hatte sich Morelli vorgenommen, in einem System kulturell bedingter Zeichen, der Malerei, diejenigen aufzuspüren, die das Unwillkürliche von Symptomen (und der meisten Indizien) an sich hatten. Aber nicht nur das: Morelli erkannte sogar die sicherste Spur der Künstler-Individualität in diesen unbeabsichtigten Zeichen, den »materiellen Kleinigkeiten - ein Kalligraph würde sie Schnörkel nennen« die mit den »beliebten Worten und Phrasen« vergleichbar sind, die »die meisten Menschen, ... sowohl die redenden als die schreibenden, ... haben, die sie, ohne dessen sich zu versehen, absichtslos, oft anbringen«.56 Auf diese Weise nahm er (wahrscheinlich indirekt) die methodischen Prinzipien, die sein Vorgänger Giulio Mancini schon sehr viel früher formuliert hatte, wieder auf und entwik-kelte sie weiter. Daß sie erst nach so langer Zeit zur Reifung gelangten, war kein Zufall. Gerade damals bildete sich immer deutlicher die Tendenz zu einer qualitativen, kapillaren Kontrolle der Gesellschaft durch die staatliche Macht heraus: Und diese nutzte ebenso die auf geringfügigen und unwillkürlichen Merkmalen basierende Kenntnis vom Individuum. 3. Jede Gesellschaft verspürt das Bedürfnis, die Komponenten, aus denen sie sich zusammensetzt, zu unterscheiden; aber die Art, in der dieses Bedürfnis befriedigt wird, variiert je nach Zeit und Ort.57 Da gibt es vor allem den Namen: je komplexer aber eine Gesellschaft ist, desto weniger scheint der Name auszureichen, um die Identität eines Individuums eindeutig zu bestimmen. Wenn z.B. im griechisch-römischen Ägypten jemand vor einem Notar eine Frau ehelichte oder ein Handelsgeschäft abschloß, wurden außer dem Namen auch einige physische Daten registriert, ergänzt durch einen Hinweis auf eventuelle Narben oder andere besondere Kennzeichen. Das Risiko eines Irrtums oder einer vorsätzlichen Personenvertauschung blieb dennoch beträchtlich. Demgegenüber bot ein Kalkabdruck als Unterschrift unter Verträge etliche Vorteile: Ende des 18. Jahrhunderts stellte der Abt Lanzi in einem Abschnitt seiner Storia pitto-rica (Geschichte der Malerei), der den Methoden der Kunstsachverständigen gewidmet war, fest, daß die Unnachahmbarkeit individueller Schriften naturgewollt sei - zur »Sicherheit« der »zivilen Gesellschaft« (der bürgerlichen also). Natürlich hatte auch diese Methode Lücken: Man konnte Unterschriften fälschen - und vor allem waren die Analphabeten von der Kontrolle ausgeschlossen. Aber trotz dieser Mängel verspürten die europäischen Gesellschaften jahrhundertelang nicht die Notwendigkeit von sichereren und praktischeren Methoden zur Identitätsermittlung. Auch dann nicht, als das Entstehen der großen Industrie, die damit verknüpfte geographische und soziale Mobilität und die sehr rasche Bildung riesiger Städtekonzentrationen den Rahmen des Problems radikal veränderten. Und doch war es in einer solchen Gesellschaft immer noch ein Kinderspiel, seine Spuren zu verwischen und mit veränderter Identität wieder aufzutauchen - und das nicht nur in Städten wie London oder Paris. Aber erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurden von verschiedenen Seiten her neue, miteinander konkurrierende Systeme zur Identifizierung erdacht. Der Bedarf danach entstand unter dem Druck des Klassenkampfes jener Zeit: dem Entstehen einer internationalen Arbeiterassoziation, der Unterdrückung der proletarischen Opposition nach 40 4i der Pariser Kommune und der veränderten Bedeutung der Kriminalität. Das Entstehen kapitalistischer Produktionsverhältnisse hatte - in England etwa ab 172058, in den anderen Teilen Europas fast ein Jahrhundert später, nämlich mit dem »Code Napoleon« -eine Transformation eingeleitet, die an den neuen, bürgerlichen Begriff von Eigentum und Gesetzgebung, der die Zahl der strafbaren Handlungen und das Strafmaß beträchtlich erhöht hatte, gebunden war. Die Tendenz zur Kriminalisierung des Klassenkampfes war von der Errichtung eines Gefängnissystems begleitet, dessen Grundlage lange Haftzeiten waren.59 Doch das Gefängnis produziert Kriminelle. In Frankreich ging die Zahl der Rückfälligen ab 1780 ständig in die Höhe - bis gegen Ende des Jahrhunderts schließlich fünfzig Prozent der Kriminellen, gegen die verhandelt wurde, Rückfällige waren. Das Problem der Identifizierung von Rückfälligen, das sich in jenen Jahren stellte, bildete praktisch den Brückenkopf eines komplexen, mehr oder weniger bewußten Projektes zur allgemeinen und subtilen Kontrolle der Gesellschaft. Bei der Identifizierung der Rückfälligen mußte man zweierlei nachweisen: a) daß ein Individuum schon verurteilt worden war und b) daß das fragliche Individuum dasselbe wie das verurteilte war. Das erste Problem wurde durch das Erstellen von Polizeiregistern gelöst; das zweite warf größere Schwierigkeiten auf.60 Die alten Strafen, die einen Verurteilten für immer kennzeichneten, indem sie ihn brandmarkten oder verstümmelten, waren abgeschafft worden. Die tätowierte Lilie auf der Schulter von Mylady hatte es D'Artagnan ermöglicht, sie als Giftmörderin zu erkennen, die schon in der Vergangenheit einmal bestraft worden war, während die beiden Ausbrecher Edmond Dantes und Jean Vanjean mit falscher Identität wieder in der Gesellschaft auftreten konnten (diese Beispiele sollten genügen, um zu zeigen, wie sehr die Figur des rückfälligen Kriminellen die Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts bedrohte). Die bürgerliche Ehrbarkeit verlangte nach Erkennungszeichen, die genauso unauslöschlich, aber weniger blutig und demütigend waren als die des Ancien Regime. Die Idee, ein riesiges Fotoarchiv von Kriminellen einzurichten, wurde zunächst verworfen, weil es unlösbare Klassifizierungsprobleme stellte: Wie sollte man einzelne Elemente aus dem Bildzusammenhang lösen? Die Methode der Quantifizierung erschien einfacher und präziser. Ab 1879 entwickelte ein Angestellter der Pariser Präfektur, Alphonse Bertillon, eine anthro-pometrische Methode (die er dann in verschiedenen Abhandlungen und Aufsätzen erläuterte): Sie stützte sich auf genaue Körpermessungen, die in die Personenkartei aufgenommen wurden. Es ist klar, daß schon ein Versehen von nur wenigen Millimetern die Bedingungen für einen Justizirrtum schuf. Aber der grundsätzliche Fehler dieser anthropometrischen Methode Ber-tillons war ein anderer: sie war rein negativ. Zwar erlaubte sie es, unähnliche Individuen bei der Gegenüberstellung abzusondern, aber sie konnte nicht sicher feststellen, ob zwei identische Datenserien sich auf ein und dasselbe Individuum bezogen. Man hatte - mit der Methode der Quantifizierung - die unausrottbare Fähigkeit des Individuums, sich zu entziehen, endlich besiegt, und nun kam sie durch die Hintertür wieder herein. Deshalb schlug Bertillon vor, die anthropometrische Methode mit dem sogenannten »gesprochenen Portrait«, d. h. der verbalen, analytischen Beschreibung der persönlichen Kennzeichen (Nase, Augen, Ohren usw.), die insgesamt das Bild des Einzelnen ergeben müßten, zu verbinden, um so eine exakte Identifizierung zu ermöglichen. Die seitenweise von Bertillon reproduzierten Diese Abdrücke führten zum ersten Sensationsprozeß (Raubmord in Deptford), in dem Fingerabdrücke als Beweismittel dienten. Von links nach rechts: Abdruck auf der Geldkassette, seine Charakteristika und ein von der Polizei angefertigter Abdruck des Verdächtigten Stratton. 42 43 Ohren erinnern zwingend an die Illustrationen, die Morelli in den gleichen Jahren seinen Aufsätzen beifügte. Vielleicht gab es keine direkte Beeinflussung - auch wenn es verblüfft, daß Bertil-lon in seiner Tätigkeit als graphologischer Experte die Besonderheiten oder »Idiotismen« des Originals, die der Fälscher nicht reproduzieren konnte und allenfalls durch eigene ersetzte, eben deswegen für Indizien ansah, die den Fälscher verraten. Man sieht, die Methode Bertillons war unglaublich kompliziert. Das Problem, das die Messungen aufwarfen, haben wir schon erwähnt. Das »gesprochene Porträt« verschlimmerte alles nur noch mehr. Wie sollte man bei der Personenbeschreibung eine höckerig gebogene Nase von einer gebogenen Höckernase unterscheiden? Oder die Farbabstufungen eines blaugrünen Auges klassifizieren? Aber schon 1880 hatte Galton in seinem Aufsatz, der in der Folgezeit korrigiert und vertieft wurde, eine sehr viel einfachere Methode zur Identifizierung vorgeschlagen - besonders was die Sammlung und Klassifizierung der Daten betraf.61 Diese Methode basierte bekanntlich auf den Fingerabdrücken. Mit großer Ehrlichkeit gab aber Galton selbst zu, daß er praktisch wie theoretisch Vorgänger hatte. Die wissenschaftliche Analyse der Fingerabdrücke wurde 1823 von Purkyne, dem Begründer der Histologie, in seiner Schrift Commentatio de examine physiologico organi visus et syste-maris cutanei 62 (Kommentar zur physiologischen Untersuchung der Sehorgane und des Hautsystems) eingeleitet. Purkyne unterschied und beschrieb neun Grundtypen von Papillenlinien, stellte aber gleichzeitig fest, daß es nicht zwei Individuen mit denselben Fingerabdrücken gebe. Die praktischen Anwendungsmöglichkeiten dieser Entdeckung waren ihm gleichgültig, ganz im Gegensatz zu den philosophischen Implikationen, mit denen er sich in einem Kapitel mit dem Titel »De cognitione organismi individua-lis in generea (Allgemeines über die Erkenntnis des individuellen Organismus) auseinandersetzte. Er vertrat die Ansicht, die Kenntnis des Individuums sei in der praktischen Medizin, angefangen bei der Diagnostik, von zentraler Bedeutung: Bei verschiedenen Individuen hätten die Symptome auch verschiedene Formen und müßten deshalb verschieden behandelt werden. Deshalb hätten einige moderne Forscher, die er nicht nannte, die praktische Medizin als »artem individualisandi (die Kunst des Individualisierens)«63 definiert. Aber die Grundlagen dieser Kunst fänden sich in der Physiologie des Individuums. Hier stieß Purkyne, der in seiner Jugend in Prag Philosophie studiert hatte, wieder auf die tiefgründigsten Probleme der Gedanken von Leibniz. Das Individuum, das »ens omnimodo determina-tum«, habe etwas Besonderes, das bis in seine unendlich feinen, unsichtbaren Eigenschaften hinein aufzufinden sei. Es zu erklären, reichten weder der Zufall noch die äußeren Einflüsse aus. Man müsse die Existenz einer inneren Norm oder eines inneren »Typus« annehmen, der die Vielfalt der Organismen in den Grenzen der Spezies halte: Die Kenntnis dieser »Norm«, behauptete Purkyne prophetisch, »erschließe die verborgene Kenntnis der individuellen Natur.«64 Der Fehler der Physiognomie war es, die Vielfalt der Individuen im Licht vorgeformter Meinungen und übereilter Hypothesen zu sehen: deshalb war es bisher unmöglich, eine wissenschaftliche, deskriptive Physiognomie zu begründen. Purkyne überließ das Studium der Handlinien der »eitlen Wissenschaft« der Chiromanten und richtete seine Aufmerksamkeit auf etwas viel weniger Auffälliges: Er fand das geheime Kennzeichen der Individualität in den Linien der Fingerkuppe. Verlassen wir für einen Augenblick Europa und wenden uns Asien zu. Anders als ihre europäischen Kollegen und von ihnen völlig unabhängig hatten sich auch die chinesischen und japanischen Wahrsager für diese so unauffälligen Linien interessiert, die die Epidermis furchen. Der für China und vor allem für Bengalen nachgewiesene Brauch, auf Briefe und Dokumente den pech- oder tintengeschwärzten Daumen abzudrücken/5 hat wahrscheinlich eine ganze Reihe von wahrsagerischen Reflexionen zum Hintergrund. Wer es gewohnt war, aus den Adern von Stein und Holz, aus Vogelspuren oder der Zeichnung eines Schildkrötenpanzers geheimnisvolle Schriften zu entziffern, der mußte auch in der Lage sein, einen schmutzigen Fingerabdruck auf jeder beliebigen Oberfläche ohne Schwierigkeit als 44 45 Schrift zu entziffern. Im Jahre 1860 bemerkte Sir William Her-schel, Verwaltungsdirektor des Bezirkes Hooghly in Bengalen, diesen Brauch, erkannte dessen Nützlichkeit und dachte daran, ihn für ein besseres Funktionieren der englischen Verwaltung nutzbar zu machen (die theoretischen Aspekte der Frage interessieren ihn nicht; die lateinische Abhandlung Purkynes, die ein halbes Jahrhundert lang tote Schrift geblieben war, kannte er nicht). Rückwirkend bemerkte Galton, daß man damals tatsächlich dringend eines wirksamen Instrumentes zur Identifizierung bedurfte - nicht nur in Indien, sondern ganz allgemein in den englischen Kolonien: Die Einheimischen waren Analphabeten, streitsüchtig, schlau, verlogen und in den Augen der Europäer alle gleich. 1880 berichtete Herschel in der Zeitschrift »Nature«, daß die Fingerabdrücke nach 17 Probejahren im Bezirk Hooghly offiziell eingeführt worden waren und seit nunmehr drei Jahren mit bestem Erfolg angewendet würden.66 Die Funktionäre des Empire hatten sich das Indizienwissen der Bengalesen angeeignet und es gegen sie gewendet. Galton nahm Herschels Artikel zum Anlaß, das ganze Problem zu überdenken und systematisch zu vertiefen. Das Zusammentreffen dreier sehr unterschiedlicher Elemente hatte seine Untersuchung ermöglicht: die Entdeckung Purkynes, eines reinen Wissenschaftlers; konkretes, an die Alltagspraxis der bengalischen Bevölkerung geknüpftes Wissen; und schließlich die politische sowie verwaltungstechnische Klugheit Sir William Herschels, des treuen Dieners Seiner Majestät, der Königin von Großbritannien. Galton bezeugte Purkyne und Herschel seine Hochachtung. Außerdem versuchte er, bei den Fingerabdrücken rassische Besonderheiten zu unterscheiden - freilich ohne Erfolg; er nahm sich jedoch vor, seine Studien über einige indische Stämme fortzusetzen, in der Hoffnung, in diesen »affenähnlichere Eigenschaften« (a more monkey-like pattern)67 zu finden. Galton trug jedoch nicht nur entscheidend zur Analyse der Fingerabdrucke bei, sondern er erkannte, wie gesagt, auch ihre praktischen Implikationen. In kürzester Zeit wurde die neue Methode in England eingeführt und von hier aus nach und nach in der ganzen Welt (eines der letzten Länder war Frankreich). So erwarb und bekam der Mensch endlich eine Identität und Individualität, auf die man sich sicher und dauerhaft stützen konnte - wie Galton voller Stolz bemerkte; und er beanspruchte dabei für sich jene Anerkennung, die ein Funktionär des französischen Innenministeriums seinem Konkurrenten Bertillon ausgesprochen hatte. So wurde das, was in den Augen englischer Verwaltungsbeamter bis vor kurzem eine unterschiedslose Masse bengalischer »Fratzen« gewesen war (um den verächtlichen Ausdruck des Filarete zu gebrauchen), mit einem Mal eine Menge von Individuen, die durch jeweils biologische spezifische Merkmale gekennzeichnet waren. Praktisch vollzog sich diese erstaunliche Verbreitung des Begriffes von Individualität über die Beziehung zum Staat und seinen bürokratischen und politischen Organen. So wurde - dank der Fingerabdrücke - auch der letzte Einwohner eines armseligen Dorfes in Asien oder Europa identifizierbar und kontrollierbar. 4. Aber dasselbe Indizienparadigma, das dazu gebraucht wurde, immer subtilere und kapillarere Formen sozialer Kontrolle zu erarbeiten, kann ein Mittel werden, um die ideologischen Nebel zu lichten, die die komplexe soziale Struktur des Spätkapitalismus immer mehr verschleiern. Wenn die Forderung nach systematischer Erkenntnis auch immer anmaßender zu werden scheint, sollte deshalb die Idee von einer Totalität noch nicht aufgegeben werden. Im Gegenteil: Die Existenz eines tiefen Zusammenhangs, der die Phänomene der Oberfläche erklärt, sollte man gerade dann betonen, wenn man behauptet, daß eine direkte Kenntnis dieses Zusammenhanges unmöglich ist. Wenn auch die Realität »undurchsichtig« ist, so gibt es doch besondere Bereiche - Spuren, Indizien -, die sich entziffern lassen. Diese Idee, die den Kern des Semiotik- oder Indizienparadigmas ausmacht, hat sich in den verschiedensten Bereichen der Erkenntnis durchgesetzt und die Humanwissenschaften tiefgreifend geformt. Feinste paläographische Details dienten als Spu- 46 47 ren, die eine Rekonstruktion kultureller Wechselbeziehungen und Veränderungen ermöglichten - mit einem ausdrücklichen Hinweis auf Morelli, der die drei Jahrhunderte alten Schulden Mancinis bei Allacci beglich. Die Darstellung wehender Gewänder bei den florentinischen Malern des 15. Jahrhunderts, die Neologismen von Rabelais und die Heilung der Skrofulosekran-ken im Auftrag der Könige von Frankreich und England sind nur einige Beispiele dafür, daß minimale Indizien immer wieder dazu benutzt wurden, allgemeinere Phänomene zu enthüllen: die Weltanschauung einer sozialen Klasse, eines Schriftstellers oder einer ganzen Gesellschaft.68 Wie wir schon gesehen haben, hat sich die Psychoanalyse aufgrund der Hypothese herausgebildet, daß scheinbar nebensächliche Eigenschaften tiefgründige Phänomene von großer Bedeutung enthüllen können. Die Dekadenz des systematischen Gedankens wurde vom Erfolg des aphoristischen Gedankens begleitet - von Nietzsche bis zu Adorno. Der Ausdruck »aphoristisch« ist selber enthüllend (er ist ein Indiz, ein Symptom, eine Spur: dem Paradigma entkommt man nicht). Aphorismen: so lautete nämlich der Titel eines berühmten Werkes des Hippokrates. Im 17. Jahrhundert erschienen die ersten Sammlungen von Aforismi politici.6'' Die aphoristische Literatur ist per Definition der Versuch, Urteile über den Menschen und die Gesellschaft auf der Basis von Indizien und Symptomen zu formulieren: über einen Menschen und eine Gesellschaft, die krank, in Krise sind. Und »Krise«: das ist auch ein medizinischer, hippokratischer Ausdruck.70 Auch läßt sich leicht zeigen, daß der größte Roman unserer Zeit - La Recherche -nach einem konsequenten Indizienparadigma konstruiert ist. 5. Aber kann ein Indizienparadigma konsequent sein? Die quantitative und antianthropozentrische Ausrichtung der Naturwissenschaften seit Galilei hat die Humanwissenschaften in ein Dilemma gebracht: entweder sie akzeptieren eine wissenschaftlich unabgesicherte Haltung, um zu wichtigen Ergebnissen zu kommen, oder sie geben sich eine wissenschaftlich abgesicherte Ordnung, um zu Ergebnissen von geringer Bedeutung zu kommen. Nur der Linguistik ist es im Laufe dieses Jahrhun- derts gelungen, sich diesem Dilemma zu entziehen; deshalb stellt sie auch für andere Disziplinen ein - mehr oder weniger vollendetes - Modell dar. Es ist jedoch nicht nur zweifelhaft, ob diese Art von Konsequenz erreichbar ist - es ist auch zweifelhaft, ob sie überhaupt wünschenswert ist für die Formen von Wissen, die an die tägliche Erfahrung oder genauer: an alle Situationen gebunden sind, in denen Einzigartigkeit und Unersetzbarkeit der Faktoren in den Augen der betroffenen Personen entscheidend sind. Irgendjemand hat einmal gesagt, daß die Verliebtheit eine Überbewertung unwesentlicher Unterschiede zwischen einer Frau und den anderen (oder einem Mann und den anderen) sei. Doch das gilt auch für Kunstwerke oder Pferde. In solchen Situationen erscheint die elastische Härte (man lasse uns dieses Oxymoron durchgehen!) des Indizienparadigmas als unzerstörbar. Es handelt sich hier um Formen eines tendenziell stummen Wissens -und zwar deswegen, weil sich seine Regeln nicht dazu eignen, ausgesprochen oder gar formalisiert zu werden. Niemand erlernt den Beruf des Kenners oder Diagnostikers, wenn er sich darauf beschränkt, schon vorformulierte Regeln in der Praxis anzuwenden. Bei diesem Wissenstyp spielen unwägbare Elemente, spielen Imponderabilien eine Rolle: Spürsinn, Augenmaß und Intuition. Wir haben uns bisher skrupulös davor gehütet, diesen ausgehöhlten Terminus zu benutzen. Aber wenn man ihn wirklich als Synonym für die blitzschnelle Rekapitulation eines rationalen Prozesses anwenden will, muß man eine niedere und eine hohe Intuition unterscheiden. Die alte arabische Physiognomik stützte sich auf die firasa: ein komplexer Begriff, der im allgemeinen die Fähigkeit bezeichnete, auf der Basis von Indizien unmittelbar vom Bekannten zum Unbekannten vorzustoßen.71 Man gebrauchte diesen Ausdruck aus dem Vokabular der sufi, um sowohl mystische Intuition als auch die Formen von Scharfsinn und Klugheit zu bezeichnen, wie sie den Söhnen des Königs von Serendippo zugeschrieben wurden. In dieser zweiten Bedeutung ist die firasa nichts anderes als ein Instrument des Indizienwissens.72 48 49 Diese »niedere Intuition« wurzelt in den Sinnen (auch wenn sie über diese hinausgeht); und insofern hat sie nichts mit der übersinnlichen Intuition der verschiedenen Irrationalismen des 19. und 20. Jahrhunderts zu tun. Sie ist - ohne geographische, historische, ethnische, geschlechts- oder klassenspezifische Grenzen - in der ganzen Welt verbreitet und deshalb jeder Form höheren Wissens, dem Privileg weniger Erwählter, ganz fern. Sie ist Besitz der Bengalen, die von Sir William Herschel ihres Wissens enteignet wurden, sie ist Besitz der Jäger, der Seeleute, der Frauen. Und sie bindet das Tier Mensch an alle anderen Tierarten. Anmerkungen 1 Ich gebrauche diesen Terminus im Sinn von Thomas S.Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main 1973, unter Verzicht auf die später vom Autor eingeführten Präzisierungen und Unterscheidungen (vgl. Postscript - 1969, in: The structure of Scientific Revolutions, 2. erweiterte Ausgabe, Chicago 1974, S. 174ff.). 2 Zu Morelli vgl. vor allem E.Wind, Kunst und Anarchie, Frankfurt am Main 1979, S. 40-55 und die dazugehörige Bibliographie (S. 150-155). Zur Biographie vgl. außerdem M. Ginoulhiac, Giovanni Morelli. La vita, in: »Ber-gomum« XXXIV, 1940, Nr. 2, S. 51-74; neuerdings beziehen sich auf die Methode Morellis auch R. Wollheim, Giovanni Morelli and the origins of Scientific Connoisseurslüp, in: On Art and the Mind. Essays and Lectures, London 1973, S. 177-201; H. Zerner, Giovanni Morelli et la science de l'art, in: »Revue de l'art«, Nr. 40-41,1978, S. 209-215 und G. Previtali, Ä propos de Morelli, ibid., Nr. 42,1978, S. 27-31. Leider fehlt eine umfassende Untersuchung über Morelli, in der nicht nur seine kunsthistorischen Schriften, sondern auch die wissenschaftliche Ausbildung in seiner Jugendzeit, seine Beziehung zu deutschen Kreisen, seine Freundschaft zu De Sanctis und seine Teilnahme am politischen Leben analysiert werden müßten. Zu De Sanctis vgl. den Brief, in dem Morelli ihn als Dozent für italienische Literatur am Züricher Polytechnikum vorschlug (F. De Sanctis, Lettere dall'esilio (1853-1860), hrsg. von B. Croce, Bari 1938, S. 34-38), sowie die Register der Bände des Epistolario von De Sanctis, die z. Zt. bei Einaudi veröffentlicht werden. Zum politischen Engagement Morellis vgl. vorläufig die kur- 5° zen Hinweise in G. Spini, Risorgimento e protestanti, Neapel 1956, S. 114, 261, 335. Zur Reaktion auf die Schriften Morellis in Europa beachte man die Zeilen, die Morelli am 22. Juni 1882 aus Basel an Minghetti schrieb: »Der alte Jacob Burckhardt, den ich gestern abend besuchte, empfing mich sehr freundlich und wollte den ganzen Abend mit mir verbringen. Er ist in seinem Tun und Denken ein höchst origineller Mann und würde auch Dir gefallen, ganz besonders aber unserer Frau Laura zusagen. Er erzählte mir von dem Buch Lermolieffs, als würde er es auswendig kennen, und nutzte es, um mir unendlich viele Fragen zu stellen - was meiner Eigenliebe nicht wenig schmeichelte. Heute vormittag werde ich ihn noch einmal treffen...« (Biblioteca Comunale di Bologna (Archiginnasio), Carte Minghetti, XXIII, 54). 3 Vgl. Wind, a.a. O., S. 45 f. (in der Wiedergabe des Zitats wurde in einem Wort von der deutschen Ausgabe des Buches von Wind abgewichen: an die Stelle des ungenauen »Spitzbubengalerie« wurde der treffendere Ausdruck »Kriminalmuseum« gesetzt. A.d.U.) 4 Vgl. E. Castelnuovo, Attribution, in: Encyclopaedia universalis, Bd. II, 1968, S. 782; allgemein vergleicht Arnold Hauser die Detektivmethode Freuds mit der von Morelli: A. Hauser, Methoden moderner Kunstbetrachtung, München 1970, S. 119 5 Sir Arthur Conan Doyle, Ein unheimliches Paket, in: ders., Sämtliche Sherlock Holmes Romane und Stories, Band 2, Frankfurt und Berlin 1977, S. 442. 6 A.a.O., S. 447. Ein unheimliches Paket (The Cardboard Box) erschien zuerst in »The Strand Magazine«, V, Januar-Juni 1893, S. 61-73. Man hat nun festgestellt (vgl. ders., The Annotated Sherlock Holmes, Hrsg. von W. S. Baring-Gould, London 1968, Bd. II, S. 208), daß in derselben Zeitschrift wenige Monate später ein anonymer Artikel über die verschiedenen Formen des menschlichen Ohres abgedruckt worden war (Ears; a Chapter on, in: »The Strand Magazine«, VI, Juli-Dezember 1893, S. 388-391, 525-527). Dem Herausgeber des Annotated Sherlock Holmes (a.a.O., S. 208) zufolge könnte der Verfasser des Artikels sogar Conan Doyle gewesen sein, der den Beitrag Holmes' für das »Anthropological Journal« (versehentlich für »Journal of Anthropology«) redigiert hätte. Aber dies ist wahrscheinlich nur eine unbegründete Vermutung: dem Artikel über die Ohren war im »Strand Magazine«, V, Januar-Juli 1893, S. 199, 123, 295-301, schon ein Aufsatz mit dem Titel Hands vorausgegangen, gezeichnet von Beckles Willson. Jedenfalls erinnert das Blatt des »Strand Magazine«, das die verschiedenen Ohrenformen darstellt, unwiderstehlich an die Abbildungen in den Schriften Morellis - was nur die Zirkulation derartiger Themen in jener Zeit bestätigt. 7 Wind, a.a.O., S.45. 8 Vgl. S. Freud, Der Moses des Michelangelo, in: Gesammelte Werke, Bd. X, Frankfurt am Main 1967, S. 185; R. Bremer, Freud and Michelangelo's Moses, in: »American Imago«, 33,1976, S. 60-75, setzt sicn 1Tut der von Freud vorgeschlagenen Interpretation des Moses auseinander, ohne sich mit Mo-relli zu beschäftigen. Nicht zu Rate ziehen konnte ich K.Victorius, Der »Moses des Michelangelo« von Sigmund Freud, in: Entfaltung der Psychoanalyse, Hrsg. A. Mitscherlich, Stuttgart 1956, S. 1-10. 9 Vgl. S.Freud, Die Traumdeutung, in: Gesammelte Werke, Bd.II/III, Frankfurt am Main 1967, S. 314 Fußnote (in der Anmerkung auf S. 99 ist eine spätere Schrift Freuds über seine Beziehungen zu Popper-Lynkeus angegeben). 10 I. Lermolieff, Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Ein kritischer Versuch, Aus dem Russischen übersetzt von Dr. Johannes Schwarze, Leipzig 1880. 11 G. Morelli (I. Lermolieff], Italian Masters in German Galleries, A Critical Essay on the Italian Pictures in the Galleries of Munich, Dresden and Berlin. Ubers. aus d. Deutschen von L. M. Richter, London, 1883. 12 Vgl. Marthe Robert, Die Revolution der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1972, S. 166/67. Morelli (I. Lermolieff), Kunstkritische Studien, S. 117-119 (über Signorelli), S. 206-208 (über Boltraffio). 13 A.a.O., S.VIII. 14 Morelli (Lermolieff), a.a.O., S. 94/95. 15 Vgl. seine Einführung in: A. Conan Doyle, The Adventures of Sherlock Holmes, A facsimile of the stories as they were first published in the Strand Magazine, New York 1976, S. X-XI. 16 Der Wolfsmann vom Wolfsmann, hrsg. von Muriel Gardiner, Frankfurt am Main 1972, S. 182; T. Reik. Das Ritual. Psychoanalytische Studien, Leipzig/ Wien/Zürich 1928, S. 16/17. Zur Unterscheidung zwischen Symptom und Indiz vgl. C. Segre, La gerarchia dei segni, in: Psicanalisi e semiotica, Hrsg. A. Verdiglione, Mailand 1975, S.33;T. A. Sebeok, Theorie und Geschichte der Semiotik, Reinbek 1.979. 17 Vgl. Conan Doyle, The Annotated Sherlock Hohnes, a.a.O., Bd. I, Einführung (Two doctors and a detective: Sir Arthur Conan Doyle, John A.Watson, M. D., and Mr. Sherlock Holmes of Baker Street), S.7 ff.; zu John Bell, dem Arzt der Doyle zur Figur des Holmes inspirierte. Vgl. auch A. Conan Doyle, Memories and Adventures, London 1924, S. 25-26, 74-75. 18 Vgl. A. Wesselofsky, Eine Märchengruppe, in: »Archiv für slavische Philologie«, 9,1886, S.308/9, mit Bibliographie. 19 Vgl. den berühmten Essay von R. Jakobson, Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen, in: Roman Jakobson, Aufsätze zur Linguistik und Poetik, Frankfurt/Berlin/Wien 1979, S. 117-141. 20 Vgl. E. Cazade und C. Thomas, Alfabeto, in: Enciclopedia, Bd. I, Turin 1977, S. 289 (siehe auch Etiemble, La scrittura, Mailand 1962, S. 22-23), der in einem wirkungsvollen Paradox feststellt, daß der Mensch erst lesen und dann schreiben gelernt hat). Allgemein zu diesen Fragen siehe W. Benjamin, Uber das mimetische Vermögen, in: ders., Angelus Novus, Frankfurt am Main 1966, S. 96-99. 21 Ich berufe mich auf den ausgezeichneten Aufsatz von J. Bottero, Symp-tomes, signes, ecritures, in: Bottero u.a. Divination et rationalite, Paris 1974, S. 70-197. Hieraus auch die folgendenAngaben zu Mesopotamien, S. 154 ff. 22 Es handelt sich hier um die Schlußfolgerung, die Peirce »presumtiv« oder »abduktiv« nannte und sie so von der einfachen Induktion unterschied: vgl. C. S. Peirce, Deduktion, Induktion und Hypothese, in: ders., Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, Hrsg. von K. O. Apel, Frankfurt am Main 1976, S. 229-250. 23 Hierzu sowie zu dem Folgenden vgl. Bottero, a.a.O. 24 Siehe dazu die sehr reichhaltige Untersuchung von M. Detienne und Ver-nant, Les ruses de l'intelligence. La metis des grecs, Paris 1974. Die wahrsagerischen Eigenschaften der Metis werden auf S.i04ff. erwähnt: zur Verknüpfung der angegebenen Wissensformen mit der Wahrsagekunst vgl. auch S. 145-149 (in bezug auf die Seeleute) und S. 27off. Zur Medizin vgl. S. 297ff. 25 Vgl. P.K. Feyerabend, Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt am Main 1976. 26 »Coniector« ist der Seher. - Ich beziehe mich hier und an anderen Stellen auf einige Feststellungen von S. Timpanaro, II lapsus freudiano. Psicanalisi e critica testuale, Florenz 1974, aber sozusagen unter umgekehrten Zeichen. Kurz (und vereinfacht) gesagt: während nach Timpanaro die Psychoanalyse abzulehnen ist, weil sie innerlich der Magie nahesteht, versuche ich zu zeigen, daß nicht nur die Psychoanalyse, sondern auch die meisten sogenannten Humanwissenschaften von einer wahrsagerischen Erkenntnistheorie beeinflußt sind. Die individualisierende Erklärungsweise der Magie und den individualisierenden Charakter der beiden Wissenschaften Medizin und Philologie erwähnte schon Timpanaro, a. a. O., S. 71-73. 27 Zum »Wahrscheinlichkeitscharakter« historischer Erkenntnis siehe die denkwürdige Schrift von Marc Bloch, Apologie der Geschichte oder der Beruf des Historikers, Stuttgart 1974. 28 Zu den Auswirkungen der Erfindung der Schrift vgl. J. Goody und I.Watt, The Consequences of Literacy, in: »Comparative Studies in Society and Hi-story«, V, 1962-63, S. 304-345 (jetzt: J. Goody, The Domestication of the Savage Mind, Cambridge 1977). Zur Geschichte der Textkritik nach Erfindung des Buchdruckes vgl. E. J. Kenney, The Classical Text. Aspects of Editing in The Age ofPrinted Books, Berkeley (Cal.) 1974. 29 Vgl. G. Galilei, II Saggiatore, hrsg. von L. Sosio, Mailand 1965, S.38. Vgl. E. Garin, La nuova scienza e il simbolo del »libro«, in: La cultura filosofica del Rinascimento italiano. Ricerche e documenti, Florenz 1961, S. 451-465, wo 52 53 die von E.R.Curtius vorgeschlagene Interpretation dieser und anderer Textstellen von Galilei unter einem ähnlichen Aspekt wie in diesem Aufsatz erörtert wird. 30 Galilei, a.a.O., S. 264. Vgl. dazu auch J. A. Martinez, Galileo on Primarii and Seconiary Qualitics, in: »Journal of the History of Behavioral Sciences«, 10,1974, S. 160-169. Hervorhebungen im Text Galileis durch den Verfasser. 31 Vgl. J. N. Eritreo (G. V. Rossi), Pinacotheca imaginnm illustrium, doctrinae vel ingenii laude, vivorum..., Leipzig 1692, Bd. II, S. 79-S2. 32 G.Mancini, Considerazioni sulla pittura, hrsg. von A. Marucchi, 2 Bde., Rom 1956-57. Die Bedeutung Mancinis als »Kenner« unterstreicht D. Mahon, Staues in SeicentoArt and Theory, London 1947, S. 279 ff. Reich an Informationen, aber zu begrenzt im Urteil: J. Hess. Note manciniane, in: »Münchener Jahrbuch der bildenden Kunst«, Dritte Folge, XIX, 1968, S. 103-120. 33 Mancini, a.a.O., Bd. I, S. 133ff. 34 Vgl. Eritreo, a.a.O., S. 80-81 (Hervorhebungen v. Verf.). Weiter unten (S. 82) wird eine andere von Mancini durchgeführte Diagnose, die sich als richtig erwies (Patient war Urban VIII), als »seu vaticinatio, seu prae-dicto« bezeichnet. 35 Von dieser Voraussetzung geht natürlich Walter Benjamin aus; siehe: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: W. Benjamin, Illuminationen, Frankfurt am Main 1961, aus; aber er bezieht sich nur auf die Werke der bildenden Kunst. Der Einzigartigkeit dieser Werke -insbesondere der Gemälde - wird die mechanische Reproduzierbarkeit literarischer Texte gegenübergestellt bei E. Gilson, Malerei und Wirklichkeit, Salzburg 1965 (den Hinwegs auf diesen Text verdanke ich Renato Turci). Für Gilson handelt es sich aber um einen inneren Gegensatz, nicht etwa einen historischen, wie ich hier zu zeigen versucht habe. 36 Mancini, a.a.O., Bd. I. S.134 (am Ende des Zitates berichtige ich »Malerei« durch »Schrift«, wie es dem Sinn entspricht). 37 Mancini, Considerazioni, a.a.O., S.107; C.Baldi,Traffato..., Carpi 1622, S.17, i8ff.ÜberBaldi, der auch über Physiognomie und Wahrsage schrieb, siehe die bio-bibliographischen Angaben im Dizionario biografico degli italiani (Rom 1963, S. 465-467), hrsg. von M.Tronti (der sich schließlich das abschätzige Urteil von Moreri zu eigen macht: »Soll man ihn ruhig in den Katalog derjenigen aufnehmen, die über Nichtigkeiten schreiben.«) Es ist bemerkenswert, daß Mancini in dem noch vor dem 13. November 1619 abgeschlossenen Discorso di pittura geschrieben hatte: »... die individuellen Eigenschaften des Schreibens hat jener edle Geist abgehandelt, der in seinem Büchlein, das unter den Leuten verbreitet ist, die Gründe für diese Eigenschaften zu zeigen und zu nennen versucht hat, statt zu versuchen, aus der Schreibweise Auskünfte über das Temperament und die Gewohnheiten des Schreibers zu geben, was merkwürdig und interessant, aber etwas zu begrenzt ist...« (vgl. Considerazioni, a.a.O., S. 306/7; ich berichtige »abstrakt-astratto« durch »astretto-begrenzt«: auf der Basis der Version in Ms. 1698 (60) der Universitätsbibliothek in Bologna, c. 34 r). 38 Mancini, Considerazioni, a.a.O., S. 134. 39 Vgl. A. Averlino (gen. Filaretej, Tractat über die Baukunst und andere Schriften, hrsg. von Wolfgang von Octtingen, Hildesheim und New York 1974 (Buch LS. 44-62). 40 Vgl. Scalzini, II secretario, Venedig 1585, S. 77-78: »Sollen gewisse Leute, die mit Lineal und Tinte gemütlich schreiben, doch bitte einmal sagen, wie lange sie für einen Auftrag brauchen würden, wenn sie im Dienst eines Fürsten oder Herrn stünden, für den sie, wie es gewöhnlich Brauch ist, in vier oder fünf Stunden vierzig oder fünfzig lange Briefe schreiben müßten, und die zum Schreiben ins Zimmer gerufen würden?!« (Die Polemik richtet sich gegen die nicht weiterbenannten »Meister im Angeben«, denen vorgeworfen wird, daß sie eine Kanzleischrift nur langsam und mühsam in Umlauf bringen). 41 Averlino (Filarete) a.a.O., S.57 (die deutsche Ausgabe ist gekürzt, nicht alles hier Zitierte ist in ihr enthalten). 42 Vgl. z. B.: Craig's Rufes ofHistorical Evidence, 1699, in: »History and Theory - Beiheft 4«, 1964 43 Zu diesem, hier kaum angeschnittenen Thema vgl. das sehr reichhaltige Buch von I. Hacking, The Emergence of Probability. A Philosophical Study of Early Ideas About Probability, Induction and Statistical Inference, Cambridge !975- 44 Vgl. dazu M. Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München 1973. 45 Vgl. auch C.Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt am Main 1979, S. 93/94. 46 Ich nehme hier in etwas verändertem Sinne Bemerkungen von Michel Foucault auf. 47 Vgl.J. J. Winckelmann, Briefe, Hrsg. H. Diepolderu. W. Rehm, Bd. II, Berlin 1954, S. 316 (Brief v. 30.4.1763 an G.L. Bianconi) u. Anm. auf S. 498. Der Hinweis auf die »kleinen Erkenntnisse« in: Briefe, Bd. 1, Berlin 1952, S. 391. 48 Vgl. E. Cerulli, Una raccolta persiana di novella tradotte a Venezia nel 1557, in: »Atti dell'Accademia Nazionale dei Lincei«, CCCLXXII, i975,Memorie della classe di scienze morali ecc, S. VIII, Bd. XVIII, Heft 4, Rom 1975. 49 Vgl. W. S. Heckscher, Petites perceptions: An Account of sortes Warburgianae, in: »The Journal of Medieval and Renaissance Studies«, 4,1974, S. 130-131 - ein Hinweis, der auch zu finden ist in: ders., The Genesis of Iconology, in: Stil und Überlieferung in der Kunst des Abendlandes, Bd. III, Berlin 1967 (Akten des XXI. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte in Bonn, 1964), S. 245, Anm. 11. In den beiden an Ideen und Hinweisen sehr reich- 54 55 haltigen Aufsätzen von Heckscher wird die Genese der Methode Aby Warburgs unter einem Gesichtspunkt untersucht, von dem teilweise auch in diesem Aufsatz ausgegangen wird. In einer weiteren Fassung dieser Arbeit habe ich vor, u.a. die von Heckscher angedeutete Spur Leibniz' zu verfolgen. 50 Voltaire, Zadig oder das Schicksal, Frankfurt am Main 1979, S. 21. 51 G. Cuvier, Recherches sur les ossements fossiles..., Bd. 1, Paris 3834, S.185. 52 Vgl. Th. Huxley, On the Method of Zadig: Retrospective Prophecy as a Function of Science, in: Science and Culture, London 1.881, S. 128-148. Auf S.132 erklärt Huxley: »... even in the restricted sense of >divination<, it is obvious that the essence of the prophetic operation does not lie in its backward or forward relation to the course of time, but in the fact that it is the apprehension of that which lies out of the sphere of immediate knowledge; the seeing of that which to the natural sense of the seer is invisible«. 53 J. B. DubosJ, Reflexions critiques sur la poesie et sur la peinture, Bd. II, Paris 1729, S. 362-365. 54 E. Gaboriau, Monsieur Lecoq, Bd. I., L'enquete, Paris 1877, S. 44. Auf S. 25 wird die »jeune theorie« des jungen Lecoq der »vieille pratique« des alten Polizisten Gevrol, dem »champion de la police positiviste« (S. 20), der sich nur bei den Erscheinungen aufhält und deshalb nichts sehen kann, gegenübergestellt. 55 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort (1859), MEW13, S. 8. 56 Morelli (I. Lermolieff), Kunstkritische Studien, a.a.O., S. 94 und 95. 57 (AutorengruppeJ, L'identite. Seminaire interdisciplinaire dirige par Claude Levi-Strauss, Paris 1977. 58 Vgl. E.P.Thompson, Whigs and Hunters. The Origin of the Black Act, London 1975- 59 Vgl.M.Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1976. 60 Vgl. A. Bertillon, L'identite des recidivistes et la loi de relegation, Paris 1883 (Ausz. aus »Annales de demographie internationale«, S. 24); E. Locard, L'identite des recidivistes, Paris 1909. Das Gesetz Waldeck-Rousseau, das bei »Mehrfach-Rückfälligen« Gefängnis und bei den für »unheilbar« gehaltenen Individuen Ausweisung anordnete, stammt aus dem Jahre 1885. 61 Vgl. F. Galton, Finger Prints, London 1892, mit einem Verzeichnis der zuvor erschienenen Publikationen. 62 ]. E. Purkyne, Opera selecta, Prag 1948, S. 29-56. 63 A.a.O.., S. 31. 64 A.a.O.., S. 31-33 65 Galton, a.a.O., S. 24ft. 66 Galton, a.a.O., S. 27-28 (vgl. auch die Danksagung auf S. 4). 67 A.a.O., S. 17-18. 68 Vgl. L. Traube, Geschichte der Paläographie, in: Zur Paläographie und Handschriftenkunde, Hrsg. P. Lehmann, Bd. I., München 1965 (Neuauflage der Ausgabe von 1909); A. Warburg, Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1.2, Leipzig und Berlin 1932; L. Spitzer, Die Wortbildung als stilistisches Mittel exemplifiziert an Rabelais, Halle 1910; M. Bloch, Les Rois thaumaturges. Etüde sur le caractere surnaturel attribue ä la puissance royale, particulierement en France et en Angleterre, Paris 1961 (Originalausgabe 1924). 69 Außer den Aforismi politci von Campanella, die ursprünglich in lateinischer Ubersetzung als Teil der Realis philosophia (De politica in aphoris-mos digesta) erschienen sind, vgl. noch: G. Canini, Aforismi politici cavati dall'Historia d'ltalia diM.Francesco Guicciardini, Venedig 1625 (vgl.T.Bozza, Scittori politci italiani dal 1550 al i6jo, Rom 1949, S. 141-143, 151-152). Siehe auch Stichwort »aphorisme« in: Dictionnaire von Littre. 70 Auch wenn er ursprünglich eine juristische Bedeutung hatte: Zur Geschichte dieses Terminus vgl. R. Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogetiese der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main 1973. 71 Vgl. das sehr reichhaltige und scharfsinnige Buch von Y. Mourad, La physio-gnomonie arabe et la »Kitab Al-Firasa« de Fakhr Al-Din Al-Razi, Paris 1939, S.1-2 (und auch S. 60-61). 72 Vgl. Mourad, a.a.O., S. 29; er gibt folgende Klassifizierungen der verschiedenen Formen der Physiosnomik an, die im Traktat von Tashköpru Zadeh (1560 n. Chr.) enthalten sind: 1) Wissenschaft von den Muttermalen, 2) Handlesekunst, 3) Kunst, die Schulterblätter zu »lesen«, 4) Wahrsagung, basierend auf Spuren, 5) genealogische Wissenschaft, basierend auf der Untersuchung von Körperteilen und Haut, 6) Kunst der Orientierung in der Wüste, 7) Kunst der Quellfindung, 8) Kunst der Entdeckung von Metallvorkommen, 9) Kunst der Regenvorhersage, 10) Weissagung, die aus vergangenen und gegenwärtigen Ereignissen schließt, 11) Weissagung, die aus unwillkürlichen Körperbewegungen schließt.« Auf S.i5f"f. regt Mourad einen sehr suggestiven Vergleich zwischen der arabischen Physiosnomik und den Untersuchungen der Gestalt-Psychologen über die Wahrnehmung von Individualität an. 56 57