KINDERSKI-LI- Mandim.il handeln wir, gehen aus und ein, tun dies und das, und es ist alles leicht, unbeschwert und gleidisam unverbindlich, es könnte scheinbar alles auch anders sein. Und manchmal, zu anderen Stunden, konnte nidits anders sein, ist nidits unverbindlich und leidit, und jeder Atcm-7u^, den wir tun, ist von Gewalten bestimmt und schwer von Sdiicksal. Die Taten unseres Lebens, die wir die guten nennen und von denen zu erzählen uns leidit fallt, sind fast alle von jener ersten, «leichten» Art, und wir vergessen sie leidit. Andere Taten, von denen zu sprechen uns Mühe madit, vergessen wir nie mehr, sie sind gewissermaßen mehr unser als andere, und ihre Sdiattcn fallen lang über alle Tage unseres Lebens. Unser Vaterhaus, das grofs und hell an einer hellen Straße lag, betrat man durdi ein hohes Tor, und soglcidi war man von Kühle, Dämmerung und steinern femhter Luft unifangen. Eine hohe, düstere Halle nahm einen sdiweigsam auf, der Boden von roten Saiuhteinflicsett führte leidit ansteigend gegen die Treppe, deren Heginti zuhinterst tief im Halbdunkel lag. Viele tausend Male bin idi durdi dies hohe Tor eingegangen, und niemals hatte idi adit auf Tor und Hur, bliesen und Treppe; 'iennodi war es immer ein Übergang in eine andere Welt, in •unsere» Welt. Die Halle rodi nadi Stein, sie war finster und hoch, hinten führte die Treppe aus der dunklen Kühle empor und zu Lidit und hellem Behagen. Immer aber war erst die Halle und die ernste Dämmerung da: etwas von Vater, etwas von Würde und M.uht, etwas von Strafe und sdileditcm Gewissen. Tausendmal Y.'iiv,; man l.uliciul hindurch. Mandimal aber trat man herein und war scv^Icith erdrückt und zerkleinert, hatte Angst, suchte rasch die befreiende Treppe. Als idi elf Jahre alt war, kam idi eines Tages von der Schule her n.idi I lause, an einem von den Tagen, wo Sdiid.s.d in den Ecken lauert, wo leicht etwas passiert. An diesen Tagen scheint Jede Unordnung und Sturmi;; der eigenen Seele sidi in unserer Umwelt zu spitzeln und sie v.u entstellen. Unbehagen und Angst beklemmen unser Her/, und wir sudien und finden ihre vermeiiitlidien Ur-s.idien außer uns", sehen die Welt sdilcdit eingerichtet und stoßen überall auf Widerstände. Ähnlich war es an jenem Tage. Von früh an bedrückte midi — wer weiß woher? vicllcidn aus Traumen der N.uht — ein Gefühl wie sdilcdites Gewissen, obwohl idi nichts Besonderes begangen hatte. Meines Vaters Gcsidu hatte am Morgen einen leidenden und vorwurfsvollen Ausdruck gehabt, die Frühstücksmilch war lau und fad gewesen. In der Schule war idi zwar nicht in Nöte geraten, aber es hatte alles wieder einmal trostlos, tot und entmutigend gesdimedu und hatte sich vereinigt zu jenem mir schon bekannten Gefühl der Ohnmacht und Verzweiflung, das uns sagt, daß die Zeit endlos sei, daß wir ewig und ewig klein und maditlos und im Zwang dieser blöden, stinkenden Schule bleiben werden, Jahre und Jahre, und daß dies ganze Leben sinnlos und widerwärtig sei. Auch über meinen derzeitigen Freund hatte idi midi heute geärgert. Idi hatte seit kurzem eine Freundsduft mit Oskar Weber, dem Sohn eines Lokomotivführers, ebne recht zu wissen, was mich zu ihm zog. Er hatte neu-lidi damit geprahlt, daß sein Vater sieben Mark im Tat: verdiene, und ich hatte aufs Geratewohl erwidert, der meine verdiene vierzehn. Daß er sich dadurdi hatte imponieren lassen, ohne Einwände zu madicn, war der Anfang der Sadic gewesen. Einige Tage später hatte idi mit Weber einen Bund gegründet, indem wir eine gemeinsame Sparkasse anlegten, aus weldicr später eine Pistole gekauft werden sollte. Die Pistole lag im Sdiaufcnster eines Iiiscnlündlers, eine massive Waffe mit zwei bläulidien Stahlrohren. Und Weber hatte mir vorgeredinet, daß nun nur eine Weile riduig zu sparen braudie, dann könne man sie kaufen. Geld gebe es ja immer, er bekomme sehr ott einen Zehner für Ausgänge, oder sonst ein Trinkgeld, und mandimal linde man Geld auf der Gasse, oder Sadien mit Geldcswert, wie Hufeisen, Blcistücke und anderes, was man gut verkaufen könne. Linen Zehner hatte er audi sofort für unsere Kasse hergegeben, und der hatte midi überzeugt und mir unseren ganzen Plan als möglidi und hoffnungsvoll crsdieincn lassen. Indem idi an jenem Mittag unsere Hausflur betrat und mir in der kcllerig kühlen Luft dunkle Mahnungen an tausend unbequeme und hassenswerte Dinge und Welt-ordtiungen entgegenwehten, waren meine Gedanken mit Oskar Weber bcsdiäfligt. Idi fühlte, daß idi ihn nidit liebte, obwohl sein gutmütiges Gesidit, das midi an eine Wasdifrau erinnerte, mir sympathisdi war. Was midi zu ihm hinzog, war nidit seine Person, sondern etwas anderes, idi könnte sagen sein Stand — es war etwas, das er mit fast allen ßuben von seiner Art und Herkunft teilte: eine gewisse frcdic Lebenskunst, ein dickes Fell gegen Gefahr und Demütigung, eine Vertrautheit mit den kleinen praktisdien Angelegenheiten des Lebens, mit Geld, mit Kaufläden und Werkstätten, Waren und Preisen, mit Küdic und Wäsdic und derglcidicn. Soldic Knaben wie Weher, denen die Sdiläge in der Sdiule nidit weh zu tun sdiicncn und die mit Kncditcn, Fuhrleuten und I'abnk-mäddicn verwandt und befreundet waren, die standen anders und gcsidicrtcr in der Welt als idi; sie waren Rlcidisam crwadiscncr, sie wußten, wieviel ihr Vater im Tag verdiene, und wußten ohne Zweifel audi sonst imdi vieles, worin idi unerfahren war. Sic laditen über Aus- 431 drücke mul Wít/e, die ich nicht verstand. Sic kontuin überhaupt .»iir eine Weise Indien, die mir versagt war, .mt eine dreckige und rolie, aber unleugbar crwadiscnc und -männliche» Weise. Es half nidits, daß man klüger war als sie und in der Schule mehr wußte. Ks half nľdits, daß man hesser als sie gekleidet, gekämmt und gewaschen war. Im Gegenteil, eben diese Unterschiede kamen ihnen /ti^tito. In die «Welt», wie sie mir in Dämmerschein und Ahentcucrsdicin vorschwebte, schienen mir solche Knaben wie Weher ganz ohne Schwierigkeiten eingehen zu können, wahrend mir die «Welt» so sehr verschlossen war und jedes ihrer Tore ilurdi unendlidies Älterwerden, Sihulr-Mt/en, durch Prüfungen und Erzogen werden mühsam erobert werden mußte. Natürlich fanden solche Knaben .null Hufeisen, Geld und Stücke lilei auf der Straße, bekamen I.olm für Besorgungen, kriegten in Läden allerlei geschenkt und gediehen auf jede Weise. Ich fühlte dunkel, daß nieine Freundschaft zu Weher und seiner Sparkasse nidits war als wilde Sehnsucht nach jener -Welt». An Weber war nichts für mich liebenswert als sein großes Geheimnis, kraft dessen er den Erwachsenen näher stand als ich, in einer schleicrloscn, nackteren, robusteren Welt lebte, als idi mit meinen Träumen und Vi linscheu. Und idi fühlte voraus, daß er midi enttäuschen würde, daß es mir nidit gelingen werde, ihm sein Geheimnis und den magischen Sdilüssel zum Leben zu entreißen. Ehen hatte er midi verlassen, und idi wußte, er ginp nun n.uh Hause, breit und behäbig, pfeifend und vergnügt, von keiner Sehnsucht, von keinen Ahnungen verdüstert. Wenn er die Dienstmägde und Kabriklcr antraf und dir rätselhaftes, viellcidit wunderbares, viellcidu ver-bredicrisdics Leben führen sah, so war es ihm kein Rätsel und ungeheures Geheimnis, keine Gefahr, nidits Wildes und Spannendes, sondern selbstverständlidi, bekannt und hcimathdi wie der Ente das Wasser. So war es. Und idi hingegen, idi würde immer nebendraußen stehen, allein und unsicher, voll von Ahnungen, aber ohne Gewißheit. Überhaupt, das Leben sdimccktc an jenem Tage wieder einmal hoffnungslos fade, der Tag hatte etwas von einem Montag an sidi, obwohl er ein Samstag war, er rodi nadi Montag, dreimal so lang und dreimal so öde als die anderen Tage. Verdammt und widerwärtig war dies Leben, verlogen und ekelhaft war es. Die erwachsenen taten, als sei die Welt vollkommen und als seien sie selber Halbgötter, wir Knaben aber nidits als Auswurf und Abschaum. Diese Lehrer — ! Man fühlte Streben und Ehrgeiz in sidi, man nahm rcdlidic und leidensdiaftlidic Anläufe zum Guten, sei es nun zum Lernen der gricdiisdien Unregelmäßigen oder zum Reinhaltcn seiner Kleider, zum Gehorsam gegen die Eltern oder zum sdiweigenden, heldenhaften Ertragen aller Sdimcrzen und Demütigungen - ja, immer und immer wieder erhob man sidi, glühend und fromm, um sidi Gott zu widmen und den idealen, reinen, edle« Pfad zur Höhe zu gehen, Tugend zu üben, Böses sti 11-sdiweigcnd zu dulden, anderen zu helfen - adi, und immer und immer wieder blieb es ein Anlauf, ein Vcr-sudi und kurzer Elattcrflug! Immer wieder passierte schon nadi Tagen, o sdion nadi Stunden etwas, was nidit hätte sein dürfen, etwas Elendes, Betrübendes und Bcsdiämcn-dcs. Immer wieder fiel man mitten aus den trotzigsten und adligsten Entsdilüssen und Gelöbnissen plötzlich unentrinnbar in Sünde und Lumperei, in Alltag und Gewöhnlichkeiten zurück! Warum war es so, daß man die Sdiönheit und Riditigkcit guter Vorsätze so wohl und tief erkannte und im Herzen fühlte, wenn dodi beständig und immerzu das ganze Leben (die Erwadiscncn einbegriffen) nadi Gewöhnlichkeit stank und überall darauf cingcriditct war, das Schäbige und Gemeine triumphieren zu lassen? Wie konnte es sein, daß man morgens im Bett auf den Knien oder nachts vor angezündeten Kerzen sidi mit heiligem Schwur dem Guten und Lichten verbündete, 432 4)3 (Jott .uirict und jedem Lasier für immer Ixhde ansagte -und daß nun d.iiin, vielleicht bloß ein paar Stunde!! spater, .in diesen) selben heiligen Sdiwur und Vorsitz den elendesten Verr.it üben konnte, sei es auch nur durdi d.is l.iiisiiiiinieii in ein verführerisches Gelächter, durch d.isGchor, d.is nun einem dummen Sdiulbubcn witze lieh? W.irum war d.is st>? Gin}; es andern anders? Waren die I leiden, die Römer und Griechen, die Ritter, die ersten Christen — waren diese alle andere Menschen gewesen als ich, besser, willkommener, ohne schlechte Triebe, ausgestattet mit irgendeinem Organ, das mir iehlte, das sie hinderte, immer wieder aus dem Himmel in den Alltag, aus dem I'.rhabenen ins Unzulängliche und Llcmle zurückzufallen? War die Lrbsündc jenen Melden und I ieiligcn iinhek.iunt? War das Meilige und lulle nur Wenigen, Seltenen, Auserwählten möglich? Aber warum war mir, wenn ich nun also kein Auserwählter war, dennoch dieser I neb n.uh dem Schönen und Adligen eingeboren, diese wilde, schluchzende Sehnsudit nadi Reinheit, Güte, Tugend? War das nidit zum Hohn? Gab es das in Gottes Welt, daß ein Mensch, ein Knabe, gleidizeitig alle hohen und alle bösen Triebe in sieh hatte und leiden und ver-zweiteln mußte, nur so als eine unglückliche und komische l'igur, zum Vergnügen des zuschauenden Gottes? Gab es das? Und war d.\nn nidit — ja war dann nicht che ganze Welt ein Teufelsspott, gerade wert, sie anzuspucken?! War dann nicht Gott ein Scheusal, ein Wahnsinniger, ein dummer, widerlicher Hanswurst? — Ach, und während ich mit einem Beigeschmack von Kmpörci wollust diese Gedanken dadite, strafte midi schon mein banges Herz durch Zittern für die Blasphemie! Wie deutlich sehe ich, nadi dreißig Jahren, jenes Treppenhaus wieder vor mir, mit den hohen, blinden I'eii-strrn, die gegen die nahe Nadibarmauer gingen und so wenig Lidit gaben, mit den wcißgesdieucrten, tanncrien Ircppcn und '/.wisdienböden und dem glatten, hart- hül/crncn Geländer, das durch meine tausend sausenden Abfahrten poliert war! So fern mir die Kindheit steht, und so unbegreiflich und märchenhaft sie mir im ganzen crsdieint, so ist mir dodi alles genau erinnerlich, was sjion damals, mitten im Glück, in mir an Leid und Zwiespalt vorhanden war. Alle diese Gefühle waren damals im Herzen des Kindes sdion dieselben, wie sie es immer blieben: Zweifel am eigenen Wert, Schwanken zwisdien Si-Ibstschätzunj» und Mutlosigkeit, zwisdien wcltvcr.uh-tfiider Idealität und gcwöhnlidicr Sinneslust — und wie damals, so sah ich audi hundertmal später noch in diesen /.ligen meines Wesens bald vcräditlidic Krankheit, bald Auszeichnung, habe zu Zeiten den Glauben, daß midi Gott auf diesem qualvollen Wege zu besonderer Vereinsamung und Vertiefung führen wolle, und finde zu andern Zeiten wieder in alledem nichts als die Zeichen rincr schäbigen Charaktcrschwädic, einer Neurose, wie T.iuseiide sie mühsam durchs Leben schleppen. Wenn ich alle die Gefühle und ihren qualvollen Widerstreit auf ein Grundgefühl zurückführen und mit einem einzigen Namen bezeichnen sollte, so wüßte idi kein anderes Wort als: Angst. Angst war es, Angst und Unsicherheit, was ich in allen jenen Stunden des gestörten Kinder-Glücks empfand: Angst vor Strafe, Angst vor dem eigenen Gewissen, Angst vor Regungen meiner Seele, die idi als verboten und vcrbrcchcrisdi empfand. Auch in jener Stunde, von der idi erzähle, kam dies Angstgefühl wieder über mich, als idi in dem beller und heller werdenden Treppenhause midi der Glastür näherte. Iis begann mit einer Beklemmung im Unterleib, die bis 'um Halse emporstieg und dort zum Würgen oder zu Cbclkcit wurde. Zugleich damit empfand idi in diesen Momenten stets, und so audi jetzt, eine peinliche Geniert-heit, ein Mißtrauen gegen jeden Bcobaditcr, einen Drang *u Alleinsein und Sidivcrsteckcn. Mit diesem üblen und verfluchten Gefühl, einem wahren 431. Vcrbrcdiergcfühl, kam ich in den Korridor und in ci.u VC'cilm/imtncr. Ich spürte: es ist licut der Teufel los, ei wird etwas passieren. Ich spürte es, wie das Barometer rineu veränderten Luftdruck spürt, mit rettungsloser Passivität. Aili, nun war es wieder da, dies Unsägliche! Der Dämon schlich durchs Haus, Erbsünde nagte am Iler/ni, riesig und unsichtbar stand hinter jeder Wand ein Geist, ein Vater und Richter. Noch wußte ich nichts, noch war alles bloß Ahnung, Vorgefühl, nagendes Unbehagen. In solchen I.a;;rn war es oft das beste, wenn man krank wurde, sich erbr.nh und ins Bett legte. Dann ging es mandimal ohne Schaden vorüber, die Mutter oder Schwester kam, man bekam Tee und spürte sich von liebender Sorge umgehen, und man konnte weinen oder sdilafcn, um nachher gesund und froli in einer völlig verwandelten, erlösten und hellen Vielt zu erwadicn. Meine Mutter war nicht im Wohnzimmer, und in der Küche war nur die Magd. Ich beschloß, zum Vater hinauf zu suchen, zu dessen Studierzimmer eine schmale Treppe hinaufführte. Wenn ich mich Furcht vor ihm hatte, zuweilen war es doch gut, sidi an ihn zu wenden, dem man so viel abzubitten hatte. Bei der Mutter war es cinfadirr und leichter, Trost zu finden; beim Vater aber war der Trost wertvoller, er bedeutete einen Frieden mit dem riihtcnden Gewissen, eine Versöhnung und ein neues Bündnis mit den guten Mächten. Nach schlimmen Auftritten, Untersuchungen, Geständnissen und Strafen war idi oft aus des Vaters Zimmer gut und rein hervorgegangen, bestraft und crmahnt zwar, aber voll neuer Vorsätze, durch die Bundcsgcnosscnsdiaft des Mächtigen gc-•t'irkt gegen das feindliche Böse. Ich beschloß, den Vater aufzusuchen und ihm zu sagen, daß mir übel sei. Und so stieg ich die kleine Treppe hinauf, die zum Studier/immer führte. Diese kleine Treppe mit ihrem eigenen Tapctcngeruch und dem trockenen Klang der hohlen, leichten Holz.stufcn war noch unendlich viel mehr als die Hausflur ein bedeutsamer Weg und ein Schicksals-tor; über diese Stufen hatten viele wichtige Gänge midi geführt, Angst und Gcwisscnsqual hatte ich hundertmal dort hinaufgeschteppt, Trotz, und wilden Zorn, und nidit selten hatte ich Erlösung und neue Sicherheit zurückgebracht. Unten in unsrer Wohnung waren Mutter und Kind zu Hause, dort wehte harmlose Luft; liier oben wohnten Macht und Geist, hier waren Gericht und Tempel und das «Reich des Vaters». Etwas beklommen wie immer drückte ich die alt-modisdic Klinke nieder und öffnete die Tür halb. Der viitcrlidie Studicrzimmcrgcruch floß mir wohlbekannt entgegen: Bücher- und Tintcndufl, verdünnt durch blaue Luft aus halboffnen Fenstern, weiße, reine Vorhänge, ein verlorner Faden von Kölnisch-Wasscr-Duft und auf dem Sdireibtisch ein Apfel. — Aber die Stube war leer. Mit einer Empfindung halb von Enttäuschung und halb von Aufatmen trat ich ein. Ich dämpfte meinen Sdiritt und trat nur mit den Zehen auf, so wie wir hier oben ni.indim.il gehen mußten, wenn der Vater sdilicf oder Kopfweh hatte. Und kaum war dies leise Gehen mir bewußt geworden, so bekam idi Herzklopfen und spürte verstärkt den angstvollen Druck im Unterleib und in der Kehle wieder. Idi ging sdilcichend und angstvoll weiter, einen Schritt und wieder einen Schritt, und sdion war ich nicht mehr ein harmloser Besudicr und Bittsteller, sondern ein Eindringling. Mehrmals sdion hatte idi hcimlidi in des Vaters Abwesenheit midi in seine beiden Zimmer gcschlidicn, hatte sein geheimes Rcidi belauscht und erforsdit und hatte zweimal audi etwas daraus entsendet. Die Erinnerung daran war alsbald da und erfüllte midi, und idi wußte sofort: jetzt war das Unglück da. jetzt passierte etwas, jetzt tat idi Verbotenes und Böses. Kein Gedanke an Flucht! Vielmehr, idi dachte wohl 437 daran, il.ii.iut- sehnlidi und inbrünstig daran, davonzulaufen, die Treppe liin.ll> und in mein Stübdieii oder in den Garten — aber ich wußte, ich wercic das doch iiidit tun, iiicIic tun können. Innig wünschte idi, mein Vater mochte sich im Nebenzimmer rühren und hercintretcu uiul den )'..m/en }',r.uienvci!len Hann durdibredieii, der midi dämonisch zog und fesselte. O käme er doch! Käme er iliuh, scheltend meinetwegen, aber käme er nur, eh es zu spät ist! Idi hustete, um meine Anwesenheit zu melden, und .ds keine Antwort k.im, rief idi leise: «Papa!» Es blich alles -s11M, an den Wänden schwiegen die vielen Biidicr, ein Fensterflügel bewerte sieh im Winde und warf einen lustigen Sonncnspicgcl über den Boden. Niemand erloste midi, und in mir selber war keine Freiheit, anders zu tun, als der Dämon wollte. Vcrbrcchcrgcfülil zog mir den Maj;en zusammen und maehte mir die Fingerspitzen kalt, mein Herz flatterte angstvoll. Nodi wußte tili keineswegs, was idi tun würde. leh wußte mir, es würde etwas Sdiledites sein. Nun war idi beim Sdireibtiseh, nahm ein Bueli in die Hand und las einen englischen Titel, den idi nidit ver-stand. Englisch haßte idi — das spraeh der Vater stets mit der Mutter, wenn wir es nicht verstehen sollten und audi wenn sie Streit hatten. In einer Schale lagen allerlei kleine Sadien, Zahnstocher, Stahlfedern, Stecknadeln. Ith nahm zwei von den Stahlfedern und steckte sie in die Tasche, Ciott weiß wozu, ich brauchte sie nicht und hatte keinen Mangel an Federn. Ich tat es nur, um dem Zwang zu folgen, der mich fast erstickt hatte, dem Zwang, Böses zu tun. mir seihst zu schaden, mich mit Schuld zu beladen. Mi blätterte in meines Vaters Papieren, sah einen angefangenen Brief liegen, ich las die Worte: «es geht uns und den Kindern, Gott sei Dank, recht put-, und die lateinischen Hudistabcri seiner Handschrift sahen midi an wie Augen. Dann ging idi leise und schleichend in das Sdilaf/immer hinüber. Da stand Vaters eisernes Feldbett, seine braunen Hausschuhe darunter, ein Taschentuch lag auf dem Nacht-tisch. Ich atmete die väterlidie Lull in dem kühlen, hellen Zimmer ein, und das Bild des Vaters stieg deutlich vor mir auf, F.hrfurdu und Auflehnung stritten in meinem hcladenen Herzen. Für Augenblicke haßte ich ihn und erinnerte mich seiner mit Bosheit und Schadenfreude, wie er zuweilen an Kopfwehtagen still und llach in seinem niederen Feldbett lag, sehr lang und gestreckt, ein nasses Tudi über der Stirn, manchmal seufzend. Idi ahnte wohl, daß audi er, der Gewaltige, kein leichtes Leben habe, daß audi ihm, dem Ehrwürdigen, Zweifel an sidi selbst und Bangigkeit nicht unbekannt waren. Schon war mein seltsamer Haß verflogen, Mitleid und Rührimg folgten ihm. Aber inzwisdien hatte idi eine Schieblade der Kommode herausgezogen. Da lag Wäsdic geschichtet und eine Hasche Kölnisches Wasser, das er liebte; idi wollte daran riechen, aber die Flasche war noch ungeöffnet und fest verstöpselt, idi legte sie wieder zurück. Daneben fand idi eine kleine runde Dose mit Mundpastillcn, die nadi I.akrit/eu schmeckten, von denen steckte ich einige in den Mund. Line gewisse Enttäuschung und Ernüchterung kam übur midi, und zugleich war idi dodi froh, nidit mehr gefunden und genommen zu haben. Sdion im Ablassen und Verzichten zog idi nodi spielend an einer andern Lade, mit etwas crleiditeriem Gefühl und mit dem Vorsatz, nachher die zwei gestohlenen Stahlfedern drüben wieder an ihren Ort zu legen. Vielleicht waren Rüdckchr und Reue möglich, Wiedergutmachung und Erlösung. Vielleicht war Gottes Hand über mir stärker als alle Vcrsudiung ... Da sah idi mit schnellem Blick nodi eilig in den Spalt der kaum aufgezogenen Lade. Adi, wären Strümpfe oder Hemden oder alte Zeitungen darin gewesen! Aber da war nun die Vcrsudiung, und sekundenschnell kehrte der *y) k.ium gelockerte Krampf und Angstbaiin wieder, ineine IlÄiuie zitterten, um! mein Herz schlug rasend. Idi sah in einer aus Bast };etloeluenen, indisdien oder sonst exotischen Schale etwas liefen, etwas Überraschendes, Verlockendes, einen ganzen Kranz von weiß bcziukcrten, getrockneten Feigen! Idi nahm ihn in die Hand, er war wundervoll schwer. Dann zog idi zwei, drei Feigen heraus, steckte eine in den Mund, einige in tue Tasche. Nun waren alle Angst und alles Abenteuer doch nicht umsonst gewesen. Keine Erlösung, keinen Trost konnte idi mehr von hier fortnehmen, so wollte idi wenigstens nicht leer ausgehen. Idi zog nodi drei, vier Feigen von dem Hin;;, der davon kaum lciditer wurde, und nodi einige, und als meine Tasdu-ri gefüllt und von dem Kranz wohl mehr als die Hälfte versdiwunden war, ordnete idi die übriggebliebenen Feige» auf dem etwas klebrigen Ring lockerer an, so daß weniger zu fehlen schienen. Dann stieß idi, in plötzlichem hellem Sdirecken, die Lade heftig zu und rannte davon, durch beide Zimmer, die kleine Stiege hinab und in mein Stiibdicn, wt> idi stehenblieb und mich auf meinen kleinen Stehpult stützte, in den Knien wankend und iiadi Atem ringend. Haid darauf tönte unsre Tisdiglocke. Mit leerem Kopf und ganz von Ernüchterung und Kkcl erfüllt, stopfte idi die Feigen in mein Bücherbrett, verbarg sie hinter Büchern und ging zu Tische. Vor der Eßzimmertür merkte idi, daß meine Hände klebten. Idi wusdi sie in der Küche. Im Eßzimmer fand idi alle schon am Tische warten. Idi sagte schnell Gutentag, der Vater spradi das Tischgebet, und ich beugte midi über meine Suppe. Idi hatte keinen Hunger, jeder Schluck machte mir Mühe. Und neben mir saßen meine Sdiwcstcrn, die Eltern gegenüber, alle hell und munter und in Ehren, nur idi Verbrecher elend tto-zwisdicn, allein und unwürdig, midi fürchtend vor jedem frcundlidien Mick, den Gesdimack der Feigen noch im Munde. Hatte idi oben die Schlafzimmcrtür auch zu-^•tn.idit? Und die Sdiubladc? Nun war das Elend da. Idi hätte mir die Hand abhauen lassen, wenn dafür meine Feigen wieder oben in der Kommode gelegen hätten. Idi besdiloß, sie fortzuwerfen, sie mit in die Sdiulc zu nehmen und zu ver-sdicnken. Nur daß sie wegkämen, daß idi sie nie wieder sehen müßte! • Du siehst heut sdilcdit aus», sagte mein Vater über Jen Tisch weg. Idi sah auf meinen Teller und fühlte seine Blicke auf meinem Gcsidit. Nun -würde er es merken. Er merkte ja alles, immer. Warum quälte er midi vorher noch? Modite er midi lieber glcidi abführen und meinetwegen totschlagen. «Fehlt dir etwas?» hörte idi seine Stimme wieder. Idi log, idi sagte, idi habe Kopfweh. «Du mußt dich nadi Tisdi ein wenig hinlegen«, sagte er. «Wieviel Stunden habt ihr heut nachmittag?» «Bloß Turnen.» «Nun, turnen wird dir nidit sdiaden. Aber iß audi, zwinge didi ein bißdien! Es wird sdion vergehen.» Idi sdiielte hinüber. Die Mutter sagte nidits, aber idi wußte, daß sie midi ansdiauc. Idi aß meine Suppe hinunter, kämpfte mit Fleisch und Gemüse, schenkte nur zweimal Wasser ein. Es gesdiah nidits weiter. Man ließ midi in Ruhe. Als zum Sdiluß mein Vater das Dank-gehet spradi: «Herr, wir danken dir, denn du bist freund-lidi, und deine Güte währet cwiglidi», da trennte wieder ein ätzender Sdinitt midi von den hellen, heiligen, vertrauensvollen Worten und von allen, die am Tisdic saßen; mein Händcfalten war Lüge, und meine andäditige I lal-tung war Lästerung. Als idi aufstand, strich mir die Mutter übers Haar und ließ ihre Hand einen Augenblick auf meiner Stirn liegen, ob sie heiß sei. Wie bitter war das alles! In meinem Stübdicn stand idi dann vor dem Büdicr- 4-10 441 brctt. Der Morgen hatte nicht gelogen, alle Anzeichen hüten rcdil gehabt. Ks war ein Unglückstag geworden, der schlimmste, den idi je erlebt hatte. Schlimmeres konnte kein Mensch ertrugen. Wenn noeli Schlimmeres über einen k.im, il.inn mußte nun sich das Lehen nehmen. Man mül'tc Gill li.tlu-n. das war das beste, oder sich hängen. V.\ w.tr lilH-rh.tupt besser, tot zu sein, als zu leben, Ks war j.i alles so falsch utnl häßlich. Ich stand und sann und grilf zer-streiit n.idt -iunerimg, wieder eine, die einst schön und lieb gewesen war und jetzt wie Feuer brannte. Mein Vater hatte mir ein Taschenmesser geschenkt, svir waren zusammen sp.i-/icrciigcg.ingen, froh und in gutem Frieden, und er hatte sich auf diese Hank gesetzt, während ich im Gebüsch mir eine lange I I.iselrute schneiden wollte. Und da brach ich im Fifer das neue Messer ab, die Klinge dicht .im Hell, und kam entset/t zurück, wollte es erst verheimlichen, wurde aber gleich danach gefragt. Ich war sehr unglücklich, wegen des Messers und weil ich Scheltworte erwartete. Aber da hatte mein Vater nur gelächelt, mir leicht die Schulter berührt und gesagt: «Wie schade, du armer Kerl!» Wie hatte ich ihn da geliebt, wieviel ihm innerlich abgebeten! Und jetzt, wenn ich an das damalige Gesicht meines Vaters dachte, an seine Stimme, an sein Mitleid -svas war ich für ein Ungeheuer, daß ich diesen Vater so oll betrübt, belogen und heut bcstohlen hatte! Als ich wieder in die Stadt kam, bei der oberen Brücke und weit von unserm Hause, hatte die Dämmerung schon begonnen. Aus einem Kaufladen, hinter dessen Glastür schon Ficht brannte, kam ein Knabe gelaufen, der blieb plötzlich stehen und rief mich mit Namen an. Fs war Oskar Weber. Niemand konnte mir ungelegener kommen. Immerhin erfuhr ich von ihm, daß der Lehrer mein hehlen in der Turnstunde nicht bemerkt habe. Aber svn ich denn gewesen sei? -Ach nirgends», sagte ich, «ich war nicht recht svolik-Ich war schweigsam und zurückweisend, und nach einer Weile, die ich empörend lang fand, merkte er, daß er mir lästig sei. Jetzt wurde er böse. -Lais mich in Ruhe», sagte ich kalt, -ich kann allein heimgehen.- »So?, rief er jetzt. «Ich kann geradesogut allein gehen wie du, dummer Fratz! Ich bin nicht dein Pudel. c!.ils du's weißt. Aber vorher möchte idi dodi wissen, wie das jetzt eigentlich mit unserer Sparkasse ist! Ich habe einen Zehner hincingetan und du nidits.» «Deinen Zehner kannst du wiederhaben, heut noch, wenn du Angst um ihn hast. Wenn idi dich nur nimmer \clicn muß. Als ob idi von dir etwas annehmen würde!- • Du hast ihn neulidi gern genommen-, meinte er höhnisch, aber nidit, ohne einen Türspalt zur Versöhnung olfen zu lassen. Aber ich war heiß und böse geworden, alle in mir angehäufte Angst und Ratlosigkeit brach in hellen Zorn aus. Weber hatte mir nichts zu sagen! Gegen ihn war ich im Redit, gegen ihn hatte idi ein gutes Gewissen. Und idi brauchte jemand, gegen den idi midi fühlen, gegen den ich stolz, und im Recht sein konnte. Alles Ungeordnete und Finstere in mir strömte wild in diesen Ausweg. Idi tat, was idi sonst so sorgfältig vermied, ich kehrte den Herrencolin heraus, idi deutete an, daß es für midi keine Fnibehrung sei, auf die Freundschaft mit einem Gassenbuben zu verz.iditcn. Idi sagte ihm, daß für ihn jetzt das lieerenesseii in unserm Garten und das Spielen mit meinen Spielsachen ein Ende habe. Idi fühlte midi aufglühen und aufleben: idi hatte einen Feind, einen Gegner, einen, der sdiuld war, den man packen konnte. Alle Lebenstriebe sammelten sich in diese erlösende, willkommene, befreiende Wut, in die grimmige Freude am Feind, der diesmal nicht in mir selbst wohnte, der mir gegenüberstand, mich mit crsdircdcten, dann mit bösen Augen anglotzte, dessen Stimme idi hörte, dessen Vorwürfe ich veraditen, dessen Sdiimpfwortc ich übertrumpfen konnte. Im anschwellenden Wortwediscl, didit nebeneinander, trieben wir die dunkelnde Gasse hinab; da und dort sah man uns aus einer Haustürc nadi. Und alles, was idi gegen midi selber an Wut und Veraduung empfand, kehrte sidi gegen den unseligen Weber. Als er damit zu drohen besann, er sverde midi dem Turnlehrer anzeigen, war es 450 451 Wollust für midi: er setzte sich ins Unrcdn, er wurde gemein, er stärkte midi. Als wir in der Nähe der Mctzgergasse handgemein wurdet», lilielien gleich ein paar Leute stehen und sahen unserni Handel /u. Wir hieben einander in den liaudi und ins Gesicht und traten mit den Schuhen gegeneinander. Nun hatte ich für Augenblicke alles vergessen, ich war im Recht, war kein Verbrecher, Kanipfrausdi beglückte midi, und wenn Weber auch stärker war als ich, so war idi ilinker, klüger, rascher, feuriger. Wir wurden heiß und schlugen uns wütend. Als er mir mit einem verzweifelten Griff den llemdkragen aufriß, fühlte ich mit Inbrunst den Strom kalter Luft über meine glühende I laut laufen. Und im Hauen, Reißen und Treten, Ringen und Würgen hörten wir nidit auf, uns weiter mit Worten anzufeinden, zu beleidigen und zu vernichten, mit Worten, die immer glühender, immer törichter und böser, immer dichterischer und phantastischer wurden. Und auch darin war ich ihm über, war böser, dichterischer, erfinderischer. Sagte er Hund, so sagte idi Sauhund. Rief er Scluill, so schrie idi Satan. Wir bluteten beide, ohne etwas zu fühlen, und dabei häuften tinsre Worte böse Zauber und Wünsche, wir empfahlen einander dem Galgen, wünschten uns Messer, um sie einander in die Rippen zu jagen und darin umzudrehen, wir beschimpften einer des andern Namen, Herkunft und Vater. Es war das erste und einzige Mal, daß ich einen solchen Kampf im vollen Kricgsrausdi bis zu Hude ausfocht, mit allen Hieben, allen Grausamkeiten, allen Beschimpfungen. Zugesehen hatte idi oft und mit grausender Lust diese vulgären, urtümlichen I-'Iüdie und Sdiandwoite angehört; nun sdirie idi selber heraus, als sei idi ihrer von klein auf gewohnt und in ihrem Gcbraudi geübt. Tränen liefen mir aus den Augen und Blut über den Mund. Die Welt aber war herrlidi, sie hatte einen Sinn, es war ••ai zu leben, gut zu hauen, gut zu bluten und bluten zu nudicit. Niemals vermodite idi in der Erinnerung das Ende dieses Kampfes wieder zu finden. Irgendeinma! war es aus, irgendeinmal stand idi allein in der stillen Dunkelheit, erkannte Straßenecken und Häuser, war nahe bei unserni Hause. Langsam floh der Rausdi, langsam hörte das I'lügclbrausen und Donnern auf, und Wirklichkeit drang stückweise vor meine Sinne, zuerst nur vor die Augen. Da der Brunnen. Die Brücke. Blut an meiner Hand, zerrissene Kleider, herabgerutsdite Strümpfe, ein Sdimerz. im Knie, einer im Auge, keine Mütze mehr da — alles kam nach und nadi, wurde Wirklichkeit und sprach zu mir. Plötzlich war idi tief ermüdet, fühlte meine Knie und Arme zittern, tastete nadi einer I laussvand. Und da war unser Haus. Gott sei Dank! Ich wußte nichts auf der Welt mehr, als daß dort Zuflucht war, friede, Licht, Geborgenheit. Aufatmend schob ich das hohe Tor zurück. Da mit dem Duft von Stein und feuchter Küble überströmte midi plotzlidi Erinnerung, hundertfach. O Gott! I's roch nach Strenge, nadi Gesetz, nadi Verantwortung, nadi Vater und Gott. Idi hatte gestohlen. Ith war kein verwundeter Held, der vom Kampfe heimkehrte. Id> war kein armes Kind, das nadi Hause findet und von der Mutter in Wärme und Mitleid gebettet wird. Ich war Dieb, idi war Vcrbrcdicr. Da droben war nicht Zufludit, Bett und Sdilaf für midi, nidit Essen und Pflege, nicht Trost und Vergessen. Auf midi wartete Schuld und (ieridit. Damals in der finstern abcndlidien Hur und im Treppenhaus, dessen viele Stufen ich unter Mühen erklomm, atmete idi, wie ich glaube, zum erstenmal in meinem beben für Augenblicke den kalten Äther, die Einsamkeit, l iifi midi auf die Treppe zu setzen, auf-/u.itmeii, Ruhe zu haben. Idi tat es nidit, es hatte keinen '/week. Idi mußte hinein. Beim offnen der Tür fiel mir ein, wie spät es wohl sei? Idi trat ins Eßzimmer. Da saßen sie um den Tisdi und hatten eben gegessen, ein Teller mit Äpfeln stand nodi d.i. Ks war gegen adit Uhr. Nie war idi ohne Erlaubnis so spät heimgekommen, nie hatte idi beim Abendessen gefehlt. • Gott sei Dank, da bist du!» rief meine Mutter lebhaft. Idi sah, sie war in Sorge um midi gewesen. Sie lief auf mich zu und blieb erschrocken stehen, ab sie mein Gcsidit und die beschmutzten und zerrissenen Kleider sali. Idi sagte nichts und blickte niemand an, doch spürte ich deutlich, daß Vater und Mutter sich mit Blicken inciiici-wegtn verständigten. Mein Vater schwieg und beherrschte sich; ich fühlte, wie zornig er war. Die Mutter nahm sich meiner an, Gesicht und Hände wurden mir gewaschen, Pilaster aufgeklebt, dann bekam ich zu essen. Mitleid und Sorgfalt umgab mich, idi saß still und tief beschämt, fühlte die Wärme und genoß sie mit schlechtem Gewissen. Dann ward idi zu Bett gesdiiekt. Dem Vater gab ich die I land, ohne ihn anzusehen. AK idi schon im Bette lag, kam die Mutter noch zu mir. Sie nahm meine Kleider vom Stuhl und legte mir andere hin, denn morgen war Sonntag. Dann fing sie behutsam zu fragen an, und idi mußte von meiner Rauferei erzählen. Sie fand es zwar schlimm, schalt aber nicht und sdiicn ein wenig verwundert, daß idi dieser Sache wegen so sehr gedrückt und sdieu war. Dann ging sie. Und nun, d.iditc idi, war sie überzeugt, daß alles gut sei. Ich hatte Händel ausgcfoditcn und war blutig gehauen worden, aber das würde morgen vergessen sein Von dem andern, dem Eigentlichen, wußte sie nichts. Sic war betrübt gewesen, aber unbefangen und zärtlich. Audi der Vater wußte also vermutlich noch nichts. Und nun überkam mich ein furchtbares Gefühl von Enttäuschung. Ich merkte jetzt, daß idi seit dem Augenblick, wo idi unser Haus betreten hatte, ganz und gar von einem einzigen, sehnlichen, verzehrenden Wunsch erfüllt gewesen war. Idi hatte nidits anderes gedacht, gewünscht, ersehnt, als daß das Gewitter nun ausbrechen möge, daß das Gericht über midi ergehe, daß das Furchtbare zur Wirklichkeit werde und die entsetzliche Angst davor aufhöre. Ich war auf alles gefaßt, zu allem bereit gewesen. Mochte ich sdiwer gestraft, geschlagen und eingesperrt werden! Mochte er mich hungern lassen! Mochte er mich verfluchen und verstoßen! Wenn nur die Angst und Spannung ein Ende nahm! Statt dessen lag idi nun da, hatte noch Liebe und Pflege genossen, war freundlich geschont und für meine Unarten nicht zur Rcdienschaft gezogen worden und konnte aufs neue warten und bangen. Sic hatten mir die zerrissenen Kleider, das lange Fortbleiben, das versäumte Abendessen vergeben, weil ich müde war und blutete und ihnen leid tat, vor allem aber, weil sie das andere nicht ahnten, weil sie nur von meinen Unarten, nichts von meinem Verbrechen wußten. Es würde mir doppelt schlimm gehen, wenn es ans Lidit kam! Viclleidit schickte man mich, wie man früher einmal gedroht hatte, in eine Besserungsanstalt, wo man altes, hartes Brot essen und während der ganzen Freizeit Holz sägen und Stiefel putzen mußte, wo es Schlafsälc mit Aufsehern geben sollte, die einen mit dem Stock schlugen und morgens um vier Uhr mit kaltem Wasser weckten. Oder man übergab mich der Polizei? Jedenfalls aber, es komme wie es möge, lag wieder eine Wartezeit vor mir. Nodi länger mußte idi die Angst ertragen, nodi länger mit meinem Geheimnis herumgeben. -155 vor jedem Blick und Schritt im I Luise zittern und niemand ins Gesicht sehen können. Oder war es nm I'.nde möglich, daß mein Diebstahl g.u nicht bemerkt wurde? Daß alles blieb, wie es war? Daß idi mir alle diese Angst und Pein vergebens gemadit hatte? — Ob, wenn das gcsdichcn sollte, wenn dies L'n-ausdenklidie. Wundervolle möglich war, dann wollte idi ein ganz neues Leben beginnen, dann wollte idi Gott danken und mich dadurch würdig zeigen, daß ich Stunde für Stunde ganz rein und fleckenlos lebte! Was ich schon früher versucht hatte und was mir mißglückt war, jetzt würde es gelingen, jetzt war mein Vorsatz und Wille-stark genug, jetzt nach diesem F.lend, dieser Hölle voll (lual! Mein ganzes Wesen bemächtigte sich dieses Wiinsdi-gedankens und sog sich inbrünstig daran fest. Trost regnete vom I limine], Zukunft tat sich blau und sonnig auf. In diesen Phantasien schlief ich endlich ein und schlief unbeschwert die ganze, gute Nacht hindurch. Am Morgen war Sonntag, und noch im Bett empfand ich, wie den Geschmack einer Frucht, das eigentümliche, sonderbar gemischte, im ganzen aber so köstliche Sonn-tagsgefühl, wie ich es seit meiner Schulzeit kannte. Der Sonntagmorgen war eine gute Sache: Ausschlafen, keine Schule, Aussicht auf ein gutes Mittagessen, kein Geruch nach Lehrer und Tinte, eine Menge freie Zeit. Dies war die Hauptsache. Schwächer nur klangen andere, fremdere, fadere Töne hinein: Kirdigang oder Sonntags-schule, Familienspaziergang, Sorge um die sdiönen Kleider. Damit wurde der reine, gute, köstliche Geschmack und Duft ein wenig vcrfälsdn und zersetzt — so, wie wenn zwei gleichzeitig gegessene Speisen, etwa ein Pudding und der Saft dazu, nidit ganz, zusammenpaßten, oder wie zuweilen Honbons oder Backwerk, die man in kleinen Läden geschenkt bekam, einen fatalen leisen Beigeschmack von Käse oder von Frdöl hatten. Man aß sie, und sie waren gut, aber es war nidits Volles und Strahlendes, man mußte ein Auge dabei zudrücken. Nun, so ähnlich war meistens der Sonntag, namentlich wenn idi in die Kirche oder Sonntagsschule gehen mußte, was zum Glück nicht immer der Fall war. Der freie Tag bekam dadurch einen Hcigcschnuck von Pflicht und von Langeweile. Und bei den Spaziergängen mit der ganzen Familie, wenn sie auch oll schön sein konnten, passierte gewöhnlich irgend etwas, es gab Streit mit den Sdiwestern, man ging zu rasch oder zu langsam, man braditc Harz, an die Kleider; irgendein Haken war meistens dabei. Nun, das moditc kommen. Mir war wohl. Seit gestern war eine Masse Zeit vergangen. Vergessen hatte ich meine Schandtat nidit, sie fiel mir sdion am Morgen wieder ein, aber es war nun so lange her, die Schrecken waren fern-gerückt und unwirklich geworden. Ich hatte gestern meine Schuld gebüßt, wenn audi nur durdi Gewisscnsqualcn, ich hatte einen bösen, jammervollen Tag durchlitten. Nun war ich wieder zu Vertrauen und Harmlosigkeit geneigt und machte mir wenig Gedanken mehr. Ganz, war es ja nodi nicht abgetan, es klang noch ein wenig Drohung und I'einlidikcit nadi, so wie in den sdiönen Sonntag jene kleinen Flüchten und Kümmernisse mit hineinklangen. Beim Frühstück waren wir alle vergnügt. Fs wurde mir die Wahl z.wisdicn Kirche und Sonntagsschule gelassen. Idi zog, wie immer, die Kirdic vor. Dort wurde man wenigstens in Ruhe gelassen und konnte seine Gedanken laufen lassen; audi war der hohe, feierliche Raum mit den bunten Fenstern oft sdiön und ehrwürdig, und wenn man mit cingckniffcncn Augen durdi das lange dämmernde Sdiiff gegen die Orgel sah, dann gab es manchmal wundervolle Bilder; die aus dem Finstcrn ragenden Orgelpfeifen crsdiicnen oft wie eine strahlende Stadt mit hundert Türmen. Audi war es mir oft geglückt, wenn die Kirdie nicht voll war, die ganze Stunde ungestört in einem Gcsdiidnenbudi zu lesen. Heut nahm idi keines mit und dachte audi nicht daran. 457 midi tun den Kirchgang zu drücken, wie idi es .nah sdmn getan h.me. So siel klang von gestern abend nodi in mir n.uh, daß idi gute und redliche Vorsätze hatte und gr-sonnen war, mich mit Gott, Idtern und Welt lrcundlidi und gefügig zu vertragen. Auch mein Zorn gegen Oskar Weber war ganz und gar verllogen. Wenn er gekommen wäre, ich hätte ihn aufs beste aufgenommen. Der Gottesdienst begann, idi sang die Clioralverse mit, es war das I.ied «ilirte deiner Sdiafe», das wir auch in der Schule auswendig gelernt hatten. Fs liel mir dabei wieder einmal auf, wie ein I.iedervers beim Singen, und gar bei dem schleppend langsamen Gesang in der Kirche, ein ganz, anderes Gcsidit hatte als beim Lesen oder I ler-sagen. Beim Lesen war so ein Vers ein Ganzes, hatte einen Sinn, bestand aus Sätzen. Beim Singen bestand er nur noch aus Worten, Sätze kamen nidit zustande, Sinn war keiner da, aber dafür gewannen die Worte, die einzelnen, gesungenen, langhin gedehnten Worte, ein sonderbar starkes, unabhängiges Leben, ja, oft waren es nur einzelne Silben, etwas an sidi ganz. Sinnloses, die im Gesang selbständig wurden und Gestalt annahmen. In dem Vers • Ilirte deiner Schafe, der von keinem Schlafe etwas wissen mag» war zum Beispiel beute beim Kirihengcs.mg gar kein Zusammenbang und Sinn, man dachte auch weder an einen I lirten nodi an Sdiafe, man dachte durchaus gar nichts. Aber das war keineswegs langweilig. Einzelne Worte, namentlidi das «Scilla—afe», wurden so seltsam voll und sdiön, man wiegte sidi ganz darin, und auch das «mag» tonte geheimnisvoll und sdiwer, erinnerte an -Magen, und an dunkle, gefühlsreidie, halbbckanntc Dmge.die man in sidi innen im Leibe bat. Dazu clieOrgcl! Und dann kam der Stadtpfarrcr und die Predigt, die stets so unbegreiflich lang war, und das seltsame Zuhören, wobei man oft lange Zeit nur den Ton der redenden Stimme ghukenhaft sdiweben hörte, dann wieder einzelne Worte sdiarf und dcutlidi samt ihrem Sinn vernahm und ihnen zu folgen bemüht war, solange es ging. Wenn ich nur im Chor hätte sitzen dürfen, statt unter all den Männern auf der Empore. Im Chor, wo ich bei Kirchenkonzerten schon gesessen war, da saß man tief in schweren, isolierten Stühlen, deren jeder ein kleines festes Gebäude sv.ir, und über sidi hatte man ein sonderbar reizvolles, vielfältiges, netzartiges Gewölbe, und hodi an der Wand war die Bergpredigt in sanften Farben gemalt, und das blaue und rote Gewand des Heilands auf dem blaßblauen Himmel war so zart und beglückend anzusehen. Manchmal knackte das Kirdiengcstühl, gegen das idi eine tiefe Abneigung hegte, weil es mit einer gelben, öden Lackfarbe gcstridien war, an der man immer ein wenig, kleben blieb. Mandmial summte eine Fliege auf und gegen eines der Fenster, in deren Spitzbogen blaurote Blumen und grüne Sterne gemalt waren. Und unversehens war die Predigt zu Ende, und idi streckte midi vor, um den Pfarrer in seinen engen, dunklen Treppensdilauch verschwinden zu sehen. Man sang wieder, aufatmend und sehr laut, und man stand auf und strömte hinaus; idi warf den mitgebrachten Fünfer in die Opferbüchse, deren blecherner Klang so schledit in die Feierlichkeit paßte, und ließ midi vom Mensdienstrom mit ins Portal ziehen und ins Freie treiben. Jetzt kam die sdiönstc Zeit des Sonntags, die zwei Stunden zwischen Kirdic und Mittagessen. Da hatte man seine Pflicht getan, man war im langen Sitzen auf Bewegung, auf Spiele oder Gänge begierig geworden, oder auf ein Buch, und war völlig frei bis zum Mittag, wo es meistens etwas Gutes gab. Zufrieden sdilcnderte ich nach Hause, angefüllt mit freundlichen Gedanken und Gesinnungen. Die Welt war in Ordnung, es ließ sidi in ihr leben. Friedfertig trabte ich durdi Flur und Treppe hinauf. In meinem Stübdicn sdiicn Sonne. Idi sah nadi meinen Raupenkästen, die idi gestern vernachlässigt hatte, fand dn paar neue Puppen, gab den Pflanzen frisches Wasser. 458 1 ).i {'.in;; die Tür. Ich achtete nicht gleich darauf. Nach einer Minute wurde die Stille mir sonderbar; ich drehte mich um. Da stand mein Vater. Fr war blaß und sah gequält aus. Der Gruß blieb mir im Halse stecken. Ich sah: er wußte! kr war da. Das Gericht begann. Nichts war gut geworden, nichts abgebüßt, nichts vergessen! Die Sonne wurde bleich, und der Sonntagmorgen sank welk dahin. Aus allen Himmeln gerissen starrte ich dem Vater entgegen. Ich haßte ihn, warum war er nicht gestern gekommen? jetzt war ich auf nichts vorbereitet, hatte nichts bereit, nicht einmal Reue und Schuldgefühl. — Und wozu brauchte er oben in seiner Kommode Feigen zu haben? Fr ging zu meinem Bücherschrank, griff hinter die Bücher und zog einige Feigen hervor. Fs waren wenige mehr da. Dazu sah er mich an, mit stummer, peinlicher Frage. Ich konnte nichts sagen. Leid und Trotz, würgten mich. «Was ist denn?» brachte ich dann heraus. ■•Woher hast du diese Feigen?» fragte er, mit einer beherrschten, leisen Stimme, die mir bitter verhaßt war. Ich begann sofort zu reden. 'Au lügen. Ich erzählte, daß ich die Feigen bei einem Konditor gekauft hätte, es sei ein ganzer Kranz gewesen. Woher das Geld dazu kam? Das Geld kam aus einer Sparkasse, die ich gemeinsam mit einem Freunde hatte. Da hatten wir beide alles kleine Geld hineingetan, das wir je und je bekamen. Übrigens -hier war die Kasse. Ich holte die Schachtel mit dem Schlitz hervor. Jetzt war bloß noch ein Zehner darin, eben weil wir gestern die Feigen gekauft hatten. Mein Vater hörte zu, mit einem stillen, beherrschten Gesicht, dem ich nichts glaubte. -Wieviel haben denn die Feigen gekostet?- fragte er mit der zu leisen Stimme. -Fine Mark und sechzig.». -Und wo hast du sie gekauft?» • Beim Konditor.» «Bei welchem?» -Hei Haagcr.» Fs gab eine Pause. Ich hielt die Geldschaditel noch in frierenden Fingern. Alles an mir war kalt und fror. Und nun fragte er, mit einer Drohung in der Stimme: • Ist das wahr?» Ich redete wieder rasdi. Ja, natürlich war es wahr, und mein Freund Weber war im Laden gewesen, ich hatte ihn nur begleitet. Das Geld hatte hauptsächlich ihm, dem Weber, gehört, von mir war nur wenig dabei. «Nimm deine Mütze», sagte mein Vater, -wir wollen miteinander zum Konditor Haagcr gehen. Fr wird ja wissen, ob es wahr ist.» Idi vcrsuditc zu lädicln. Nun ging mir die Kälte bis in Herz und Magen. Ich ging voran und nahm im Korridor meine blaue Mütze. Der Vater öffnete die Glastür, auch er hatte seinen Flut genommen. -Noch einen Augenblick!» sagte ich, «ich muß schnell Innausgehen.» Fr nickte. Idi ging auf den Abtritt, schloß zu, war allein, war nodi einen Augcnblidc gesichert. Oh, wenn ich jetzt gestorben wäre! Idi blieb eine Minute, blieb zwei. Ks half nichts. Man starb nidit. Fs galt standzuhalten. Ich schloß auf und kam. Wir gingen die Treppe hinunter. Als wir eben durdis Haustor gingen, fiel mir etwas Cnites ein, und idi sagte schnell: «Aber heut ist ja Sonntag, da hat der Haagcr gar nicht offen.» Das war eine Hoffnung, zwei Sekunden lang. Mein Vater sagte gelassen: «Dann gehen wir zu ihm in die Wohnung. Komm.» Wir gingen. Ich sdiob meine Mütze gerade, steckte eine Hand in die Tasche und versuchte neben ihm daher zu "eben, als sei nidits Besonderes los. Obwohl idi wußte, daß alle Leute mir ansahen, idi sei ein abgeführter Vcr-brcdier, vcrsuditc idi dodi mit tausend Künsten, es zu ■IM verheimlichen. Ich bemühte mich, einfach und harmlm /ei atmen; es brauchte niemand zu seilen, wie es mir die Brust zusammenzog. Ich war bestrebt, ein arglu.es Gc-sieht zu machen, Selbstverständlichkeit und Sicherheit zu heucheln. Ich zog einen Strumpf hoch, ohne daß er c nötig hatte, und lädielte, während ich wußte, daß dies Lächeln furchtbar dumm und künstlich aussehe. In mir innen, in Kehle und Kingcwciden, saß der Teufel und würgte midi. Wir kamen am Gasthaus vorüber, beim I hilsdunied, beim I.ohnkutsdier, bei der Kiscnbahnbrücl.c. Dort drüben hatte ich gestern abend mit Weber gekämplt. Tat nicht der Riß beim Auge noch weh? Mein Gott! Mein Gott! Willenlos ging idi weiter, unter Krämpfen tun meine Haltung bemüht. An der Adlersdieuer vorbei, die Bahn-hofstraße hinaus. Wie war diese Straße gestern noch gut und harmlos gewesen! Nicht denken! Weiter! Weiter! Wir waren ganz nahe bei Haagers Haus. Ich hatte in diesen paar Minuten einige hundertmal die Szene voran-, erlebt, die midi dort erwartete. Nun waren wir da. Nun kam es. Aber es war mir unmöglich, das auszuhallen. Ich blieb stehen. «Nun? Was ist?» fragte mein Vater. «Ich gehe nicht hinein», sagte ich leise. Kr sab zu mir herab. Kr hatte es ja gewußt, von Anfang an. Warum hatte idi ihm das alles vorgespielt und mir so viel Mühe gegeben? Ks hatte ja keinen Sinn. •Hast du die beigen nicht bei Haager gekauft?-fragte er. Ich schüttelte den Kopf. - Adi so., sagte er mit sdicinbarer Ruhe. - Dann können wir ja wieder nach Hause geben.» Kr benahm sich anständig, er schonte midi auf der Straße, vor den Leuten. Ks waren viele Leute unterwegs, jeden Augenblick wurde mein Vater gegrüßt. Welche* Theater! Weldie dumme, unsinnige Qual! Ich konnte ihm für diese Schonung nicht dankbar sein. I.r wulste ja alles! Und er ließ midi tan/en, ließ midi meine nutzlosen Kapriolen vollführen, wie man eine gefangene Maus in der ürabtfallc tanzen läßt, ehe man sie ersäuft. Adi, hätte er mir gleich zu Anfang, ohne mich überhaupt zu fragen und zu verhören, mit dem Stock über den Kopf gehauen, das wäre mir im Grunde lieber gewesen als diese Ruhe und Gereditigkeit, mit der er mich in meinem dummen Lügengespinst einkreiste und langsam erstickte. Überhaupt, vicllcidit war es besser, einen groben Vater zu haben als so einen feinen und gcreducti. Wenn ein Vater, so wie es in Gesdiiditen und Traktätdien vorkam, im Zorn oder in der Betrunkenheit seine Kinder furchtbar prügelte, so war er eben im Unredit, und wenn die Prügel audi weh taten, so konnte man dodi innerlich die Achseln z.udccn und ihn veraditen. Bei meinem Vater j;ing das nicht, er war zu fein, zu einwandfrei, er war nie im Unredit. Ihm gegenüber wurde man immer klein und elend. Mit zusammengebissenen Zähnen ging idi vor ihm her ins I laus und wieder in mein Zimmer. Kr war nodt immer ruhig und kühl, vielmehr er stellte sidi so, denn in Wahrheit war er, wie idi deutlidi spürte, sehr böse. Nun begann er in seiner gewohnten Art zu sprechen. «Idi möditc nur wissen, wozu diese Komödie dienen soll? Kannst du mir das nidit sagen? Idi wußte ja gleich, daß deine ganze hübsdic Gcsdiiditc erlogen war. Also wo/ii die Laxen? Du hältst midi dodi nidit im Krnst für so dumm, daß idi sie dir glauben würde?» Idi biß weiter auf meine Zähne und sdilucktc. Wenn er dodi aufhören wollte! Als ob idi selber gewußt hätte, warum idi ihm diese Gcsdiiditc vorlog! Als ob ich selber Kcwußt hätte, warum idi nidit mein Verbrechen gestehen und um Verzeihung bitten konnte! Als ob idi audi nur Rcwußt hätte, warum idi diese unseligen Feigen stahl! ■463 1 Litte ich das tlfim gewollt, hatte ich es denn mit Überlegung und Wissen und aus Gründen getan?! Tat es mir denn nidit leid? Litt ich denn nidit mehr tiarunter als er? Fr wartete und machte ein nervöses Gesidu voll mühsamer Geduld. Linen Augenblick lang war mir selbst die Lage vollkommen klar, im Unbewußten, dodi hatte ich es nicht wie heut mit Worten sagen können. Iis war .so: Ich hatte gestohlen, weil ich trostbedürflig in Vaters Zimmer gekommen war und es zu meiner Fntiäuschung leer gefunden hatte. Ich hatte nicht stehlen wollen. Ith hatte, als der Vater nicht da war, nur spionieren wollen, mich unter seinen Sachen umsehen, seine Geheimnisse belauschen, etwas über ihn erfahren. So war es. Dann lagen beigen da, und ich stahl. Und sofort bereute ich, und den ganzen Tag gestern hatte idi Qual und Verzweiflung gelitten, hatte zu sterben gewiinsdit, hatte mich verurteilt, hatte neue, gute Vorsätze gefaßt, bleut aber — ja, heut war es nun anders. Ich hatte diese Reue und all das nun ausgekostet, idi war jetzt nüditcrner, und ich spürte unerklärliche, aber riesenstarke Willerstände gegen den Vater und gegen alles, was er von mir erwartete und verlangte. Hätte ich ihm das sagen können, so hätte er mich verstanden. Aber audi Kinder, so sehr sie den Großen an Klugheit überlegen sind, stehen einsam und ratlos vor dem Sdiidisal. Steif vor Trotz, und verbissenem Weh sdiwieg id> weiter, ließ ihn klug reden und sah mit Leid und seltsamer Schadenfreude zu, wie alles sdiiefging und schlimm und schlimmer wurde, wie er litt und enttäuscht war, wie er vcrgeblidi an alles Bessere in mir appellierte Als er fragte: «Also hast du die Feigen gestohlen?», konnte idi nur nidicn. Mehr als ein schwaches Nicken brachte idi auch nicht über midi, als er wissen wollte, ob es mir leid tue. — Wie konnte er, der große, kluge Mann, so unsinnig fragen! /\ls ob es mir etwa nidit leid getan hätte! Als ob er nidit hätte sehen können, wie mir das Ganze weh tat und das Herz, umdrehte! Als ob es mir moglidi gewesen wäre, midi etwa gar nodi meiner Tat und der elenden Feigen z.u freuen! Vielleidit zum erstenmal in meinem kindlidicn Leben empfand idi fast bis zur Sdiwcllc der Finsidit und des Bewußtwerdens, wie namenlos zwei verwandte, gegeneinander wohlgesinnte Mensdicn sidi mißverstehen und quälen und martern können, und wie dann alles Reden, alles Klugscinwollcn, alle Vernunft bloß nodi Gill hinzugießt, bloß neue Qualen, neue Stidic, neue Irrtümer schafft. Wie war das müglidi? Aber es war möglidi, es gcsdiah. Fs war unsinnig, es war toll, es war zum Ladien und zum Verzweifeln — aber es war so. Genug nun von dieser Gcsdiidite! Fs endete damit, daß idi über den Sonntagnadimittag in der Dadikammer eingesperrt wurde. Fincn Teil ihrer Sdircckcn verlor die harte Strafe durdi Umstände, weldic freilich mein Geheimnis waren. In der dunkeln, unbenutzten Bodenkammer stand nämlidi tief verstaubt eine Kiste, halb voll mit alten Büdicrn, von denen einige keineswegs für Kinder bestimmt waren. Das Lidit zum Lesen gewann idi durch das Beiseitcsdiiebcn eines Dadizicgcls. Am Abend dieses traurigen Sonntags gelang es meinem Vater, kurz, vor Sdilafengchcn midi noch zu einem kurzen Gcsprädi zu bringen, das uns versöhnte. Als idi im Bette lag, hatte idi die Gewißheit, daß er mir ganz und vollkommen verziehen habe — vollkommener als idi ihm. 465