4 1000und1Buch1|99 Die Begriffe, mit denen wir uns in der Regel über Texte für junge Leserinnen und Leser verständigen, sind bei näherem Hinsehen meist viel weniger eindeutig und klar, als wir auf den ersten Blick annehmen. Zwar sind wir immer noch daran gewöhnt, von Jugendliteratur (oft sogar in einem Atemzug von Kinder- und Jugendliteratur) zu reden, als verstehe es sich von selbst, was das eigentlich ist. Aber haben sich die Lebenswelten von Kleinkindern, Vorschulkindern und Schulkindern und erst recht die Erfahrungswelten von Jugendlichen – von Teens und Twens, von jungen Erwachsenen und sogenannten Spätadoleszenten – in der heutigen Gesellschaft nicht inzwischen so weit ausdifferenziert, dass diese Redeweise einer unzulässigen Verallgemeinerung gleichkommt? Sind die Grenzen zwischen der Jugendliteratur und der Erwachsenenliteratur nicht in den letzten Jahrzehnten an vielen Stellen so durchlässig geworden, dass es mehr und mehr fragwürdig erscheint, hier so starre Trennungslinien ziehen zu wollen, wie es die Verlage, die Literaturkritiker und Bibliothekare, die Didaktiker und Lehrer bislang meistens getan haben? Sind es nicht viel häufiger ganz handfeste institutionelle Interessen, die unsere Unterscheidungen und Abgrenzungsversuche leiten, als Erwägungen, die wirklich in der Sache begründet wären? Was Jugendliteratur eigentlich ist, das hat offenbar nicht, wie man lange Zeit annahm, mit apriori festliegenden Textmerkmalen zu tun, die das Jugendbuch als eine spezifische Gattung von anderen Gattungsformen hinreichend deutlich unterscheiden. Der Begriff „Jugendbuch" meint, will man das Spektrum der darunter zu subsumierenden Werke nicht unnötig einengen, überhaupt keine Textsorte, sondern dient lediglich als Oberbegriff für Texte aus den unterschiedlichsten Gattungen. Ich plädiere aus diesem Grund, wie viele andere Forscher1 , für ein ganz nüchternes Verständnis von Jugendliteratur und verstehe darunter nichts anderes als ein Subsystem des allgemeinen Literatursystems, und zwar jenes spezielle literarische Handlungssystem, in dem Texte mit ganz verschiedener Herkunft und ganz verschiedenen Formmerkmalen den Jugendlichen als spezifischer Adressatengruppe zugeteilt werden. Diese Zuteilung kann von unterschiedlichen Instanzen vorgenommen werden, beispielsweise vom Autor selbst, von einem Übersetzer oder einem Herausgeber, aber auch von Institutionen aus dem Verlags- und Bibliothekswesen oder aus dem Schulbetrieb. Jugend- und Adoleszenzromane zwischen Moderne und Postmoderne Von Heinrich Kaulen Wo sich diese in der Regel von erwachsenen Vermittlern vorgenommene Zuschreibung als zu eng, dogmatisch und veraltet erweist, da erstarrt der jugendliterarische Kanon und da suchen sich die Jugendlichen normalerweise abseits von ihm ihre eigenen Pfade durch den Dschungel der Lese- und der Medienwelt. Manche Anzeichen sprechen dafür, dass sich ein solcher Riss zwischen der (intentionalen) Jugendliteratur und der tatsächlich von Jugendlichen gelesenen und geschätzten Jugendlektüre in den letzten Jahren wieder verstärkt aufzutun beginnt, ganz zu schweigen von dem tiefen Bruch zwischen dem von den Pädagogen gewünschten Lektüreverhalten und den faktischen Medienpräferenzen. In jedem Fall ist das, was jeweils von den interessierten Vermittlern als speziell für Jugendliche besonders geeignet betrachtet wird oder was von ihnen realiter favorisiert wird, kaum per se zu definieren, sondern in hohem Maße von den gesellschaftlichen Umständen und den dominanten kulturellen Faktoren abhängig. Ich werde im Folgenden zunächst an einigen Stichwörtern erläutern, welche Trends mir für die jugendlichen Lebenswelten der Gegenwart als signifikant erscheinen und welche Konsequenzen sich daraus für das Subsystem Jugendliteratur ergeben. Anschließend möchte ich am Beispiel des Adoleszenzromans exemplarisch einige Charakteristika und Entwicklungstendenzen des modernen Jugendromans vorstellen. Schließlich werde ich an einigen sehr kontrovers diskutierten Romanen aus der jüngsten Zeit die Frage erörtern, welche Innovationen in Form und Inhalt mit dem Auftreten des sogenannten „postmodernen“ Jugendromans verbunden sind. Das Jugendalter wird immer länger Die Jugendphase hat in der bürgerlichen Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert zunehmend an Gewicht und Bedeutung gewonnen.2 Welten liegen zwischen der Genese von Kindheit und Jugend als Lebensformen mit eigenem Recht in der Mitte des 18. Jahrhunderts – die entscheidende Zäsur markiert hier Rousseaus „Émile“ von 1762 – und der Medien- und Konsumkultur des ausgehenden 20. Jahrhunderts, welche die Jugendlichkeit zum Mythos erhebt und damit den Jugendlichen zum Leitbild für alle anderen Generationen verklärt. Mit der zunehmenden sozialen Ausdifferenzierung von jugendlichen Handlungsräumen geht aber nicht nur eine höhere Wertigkeit Illustration von NeuwirthÅSteinborn 1000und1Buch1|99 5 des Lebenskonzepts Jugend, sondern auch eine deutlich zu beobachtende Verlängerung des mit diesem Begriff bezeichneten Lebensabschnitts einher. Die Jugendforschung ist sich darüber einig, dass die Jugend heute früher beginnt als noch vor einigen Generationen und dass sich der Übergang zum Erwachsenenstatus – traditionell definiert durch Heirat, Familiengründung, Berufstätigkeit und den Erwerb sozialer Autonomie – immer weiter verzögert, oft bis weit ins zweite oder gar dritte Lebensjahrzehnt hinein3 . Gleichzeitig finden sich Erwachsene auch in hohem Alter immer öfter in Lebenssituationen wieder, die ihnen eine Neubestimmung ihres Selbst oder ihrer Rolle abverlangen, die früher lediglich als eine Entwicklungsaufgabe des Jugendalters erschien. Noch zur Jahrhundertwende konnte man die Jugendphase relativ klar auf die wenigen Jahre zwischen der Pubertät und dem Beginn des Berufs- bzw. Familienlebens eingrenzen. Heute scheinen die Grenzen zwischen den verschiedenen Altersstufen (Kinder, Jugendliche, Erwachsene) mehr und mehr zu zerfließen, und sie sind bisweilen kaum mehr klar auszumachen. Die Jugendszenen driften auseinander Mit der unübersehbaren Ausdehnung des Jugendalters hängt eine weitere Entwicklung zusammen, die nach den Erkenntnissen der Soziologen zwar nicht auf die jugendliche Alltagsrealität beschränkt bleibt, in dieser aber besonders markant in Erscheinung tritt: die Tendenz zu einer fortschreitenden Individualisierung und Pluralisierung der Lebensentwürfe4 . Mit weniger Recht als je zuvor – das wissen alle Pädagogen aus eigener Erfahrung – kann man heute überhaupt noch generalisierend von der Jugend sprechen. Wie Jugendliche leben und denken, in welchen Familienformen und Beziehungsstrukturen sie aufwachsen und an welchen Modellen sie ihr Alltagsverhalten ausrichten, das splittet sich in eine Vielfalt von Stilrichtungen, Szenen, Gruppen und Untergrüppchen auf. Diese befinden sich obendrein meist in einem rasanten und atemberaubenden Wandel, der allen Diagnostikern, die sich noch an generationsübergreifenden Verallgemeinerungen versuchen, das Leben zusehends schwerer macht. Die Verselbständigung immer neu generierter, relativ autonomer Subsysteme führt zu einer wachsenden Distanz gegenüber gesellschaftlichen Institutionen, die bis dahin traditionell für die Betreuung von Jugendlichen zuständig waren (wie Schulen, Vereine, Kirchen oder Parteien), und zu einer zunehmenden Desillusionierung in Bezug auf alle gesellschaftlich verordneten Sinnangebote, die meist nur vordergründig als „Politikverdrossenheit“ registriert wird. Die Konsequenzen spüren heute längst nicht nur die professionell mit Jugendliteratur Befassten, sondern auch die Produzenten von anderen Jugendmedien, etwa von Jugendzeitschriften oder entsprechenden Fernsehmagazinen. Das Bedürfnis nach solchen speziellen Medien scheint bei Jugendlichen generell rückläufig zu sein. Selbst die Marketingexperten der Konsumgüterindustrie müssen bei ihrer Suche nach neuen Absatzmöglichkeiten immer häufiger die Trendforscher bemühen, um sich überhaupt noch ein einigermaßen konturiertes Bild von ihrer beliebtesten Zielgruppe, den jugendlichen Konsumenten, machen zu können. Wichtig scheint mir der Hinweis, dass dieses Problem keineswegs allein aus der verengten Beobachterperspektive von Erwachsenen resultiert. Offenbar hängt die Schwierigkeit, der Jugend als Generationsphänomen „habhaft“ zu werden, tatsächlich mit realen Veränderungen des Jugendalters zusammen. Jugendwelt ist heute Medienwelt Als dritte wichtige Tendenz, die das Leben von Jugendlichen heute tiefgreifend prägt, sei – zumindest thesenhaft – auf die Expansion der außerliterarischen Medien, vor allem des Films und der diversen Musikszenen, hingewiesen. Die heute Dreißigjährigen sind die erste Generation, die sich ihren Weltzugang im Alltag nicht mehr primär über das geschriebene oder gesprochene Wort, also über das Medium Text, sondern über Filme und Fernsehsendungen, also über das Medium Bild, erschlossen hat. Die heute etwa Fünfzehnjährigen sind die erste Generation von Heranwachsenden, die in der Mehrzahl ganz selbstverständlich mit Kassettendeck und Computerspielen, mit Fernseh- und Videoapparat sowie mit dem Zugang zu ca. dreißig Fernsehkanälen groß geworden sind. Die Zwei- bis Dreijährigen kennen schon eigene Spartenkanäle (wie den „Kinderkanal“ oder das amerikanische „Nickelodeon“), und die heute noch ganz Kleinen werden in absehbarer Zukunft im Internet so selbstverständlich operieren wie ihre älteren Geschwister heute schon mit dem Personalcomputer. Auch diese Entwicklung kann eine traditionelle Instanz wie die Jugendliteratur nicht unbeeinflusst lassen. Denn diese büßt so auf Dauer ihre Funktion als Leitmedium der kulturellen Sozialisation ein und wird durch die neuen Medien tendenziell marginalisiert. Von der Jugendliteratur darf man erwarten, dass sie sich den skizzierten Entwicklungen stellt und dass sie ihnen, wenn sie nicht hinter der Lebensrealität ihrer Adressaten zurückbleiben und somit dysfunktional werden will, in Inhalt und Form Rechnung trägt. Tatsächlich sieht es so aus, als habe die Jugendliteratur seit einigen Jahren diese Herausforderung vermehrt angenommen und mit ihren eigenen Mitteln auf die geschilderten Veränderungen reagiert. Dies lässt sich – thesenhaft pointiert – an drei aktuellen Entwicklungstendenzen aufzeigen. Das Gattungsspektrum der Jugendliteratur erweitert sich Der Ausdifferenzierung von jugendlichen Lebensformen scheint mir auf der jugendliterarischen Ebene eine beträchtliche Erweiterung und Auffächerung des Gattungsspektrums zu entsprechen. So segmentiert etwa die große Zahl von problemorientierten Jugendbüchern die immer weiter auseinander driftende Alltagsrealität von Jugendlichen unter dem Gesichtspunkt der Aktualität und aus: Douglas Coupland „Generation X“, Verlag am Galgenberg 1000und1Buch1|99 6 der Repräsentativität in verschiedene relevante Teilbereiche und mehr oder weniger stark typisierte Problemfelder mit unterschiedlichsten Themenschwerpunkten. Daneben haben sich neue Formen des Liebesromans und des realistischen Familienromans etabliert, die ein Produkt der 1968 begonnenen Enttabuisierung der Jugendliteratur darstellen und die gewandelten Beziehungsmuster der jungen Generation reflektieren. Die auffällige Blüte informatorischer Sachliteratur reagiert auf den Umstand, dass die Bildungsprozesse von Heranwachsenden angesichts wachsender sozialer Komplexität immer langwieriger und anspruchsvoller werden, und das relativ junge Genre der sog. Medienverbundliteratur, zu der etwa die Starportraits oder die Serienbegleitbücher zu zählen sind, hat sich als Antwort auf die Allgegenwart der AV-Medien im jugendlichen Alltag herausgebildet5 . Nicht zu übersehen ist schließlich auch, wovon noch genauer zu sprechen sein wird, die große Bedeutung von psychologischen Romanen, die sensibel und differenziert die verwickelte Identitätsbildung von Adoleszenten unter den veränderten familialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nachzuzeichnen suchen. Gleitende Übergänge zur Erwachsenenliteratur Die Grenzen zwischen der Literatur für Jugendliche einerseits und der Literatur für Erwachsene andererseits haben an Trennungsschärfe eingebüßt. Auch wenn man Dagmar Grenz bei ihrer Diagnose zustimmen mag, dass etwa die erwachsenenliterarischen Adoleszenzromane den jugendliterarischen immer noch hinsichtlich existentieller Radikalität und ästhetischer Originalität überlegen sein mögen6 , ist kaum zu übersehen, dass hier seit Ende der sechziger Jahre in dem Maße, in dem sich die Jugendliteratur neuen Problemhorizonten und Formtechniken geöffnet hat, eine gewisse Annäherung festzustellen ist. Was auf der Gegenstandsebene, bei den Themen und Gestaltungsmitteln der Texte, zu konstatieren ist, gilt erst recht für den Bereich von Textproduktion und -distribution. Eine ganze Reihe wichtiger Autoren von Jugendbüchern verstehen sich heute keineswegs mehr ausschließlich als Schriftsteller für diese Zielgruppe. Viele Bücher unterlaufen inzwischen alle starren Grenzziehungen und werden von der Kritik einmal hier und einmal dort eingeordnet, und manche wichtigen Publikationen der letzten Jahre sind gar nicht mehr in spezialisierten Jugendbuchverlagen veröffentlicht worden, sondern erscheinen ganz selbstverständlich wie alle anderen Titel im allgemeinen Verlagsprogramm. Auch wenn die Sache damit für die Kritiker, Bibliothekare und Lehrer nicht einfacher geworden ist, spiegelt sich in dieser Entwicklung die reale Ausdifferenzierung einer einst klarer umrissenen Zielgruppe wider. Das Handlungssystem Jugendliteratur holt hier lediglich nach, was in anderen kulturellen Teilsystemen längst Wirklichkeit geworden ist, denn weder das Kino noch die musikalische Rock-/Popkultur, weder das Fernsehen noch das Internet kennen eine solche scharfe Trennung zwischen den Angeboten für unterschiedliche Altersstufen. Ist pädagogisierende Jugendliteratur noch aktuell? Jugendliteratur verstand sich seit dem 18. Jahrhundert, sofern sie sich nicht dem Entwurf phantastischer Gegenwelten widmete, vielfach primär als Erziehungsliteratur. Sie war, mit anderen Worten, Teil eines selbstreflexiven pädagogischen Diskurses, und ihre Adressaten waren in der Hauptsache die Jugendlichen in der Pubertät. Ihnen sollte sie in dieser als besonders schwierig erachteten Übergangszeit ein Medium der Selbstreflexion an die Hand geben, aber auch konkrete Orientierungs- und Lösungsmuster bieten und so zu einer erfolgreichen Integration des einzelnen in die bestehende soziale Ordnung beitragen. Ihren typischen Ausdruck hat diese pädagogische Funktionalisierung in der traditionellen Mädchenbuchserie bei Emmy von Rhoden, Else Ury und anderen gefunden. Heutige Jugendliche sind mit einer solchen Erziehungsliteratur, welcher Provenienz oder politischen Ausrichtung diese auch immer sein mag, meines Erachtens kaum mehr zu gewinnen. Weder kann sich Jugendliteratur angesichts der Verlängerung der Jugendphase auf die Pubertät beschränken noch kann sie angesichts der Vielzahl miteinander konkurrierender Sinnsysteme überhaupt noch eine präskriptive Handlungsorientierung vermitteln. Die größere Verbreitung des Adoleszenzromans resultiert wahrscheinlich aus diesem Umstand, denn Adoleszenzromane sind nicht mehr auf pädagogische oder politische Lösungen ausgerichtet und tragen durch ihre Perspektivierung auf die psychische Innenwelt einer einzelnen (oder mehrerer) Hauptfigur(en) der Tendenz zur Pluralisierung jugendlicher Lebenswege ebenso Rechnung wie der Notwendigkeit zum Selbstentwurf eines jeweils individuellen Lebensmusters. Ohne eine solche Selbstgestaltung des eigenen Daseins, ohne die schwierige Aufgabe der Selbsterfindung und Selbstbegründung des Ichs, ist Identitätsbildung am Ende des 20. Jahrhunderts aber nicht mehr zu haben. Gattungsmerkmale des Adoleszenzromans Im Titel des vorliegenden Beitrages werden die Begriffe „Adoleszenzroman“ und „Jugendroman“ so eng aneinander gerückt, dass fälschlich der Eindruck entstehen könnte, es handle sich bei ihnen um synonyme Begriffe. Die beiden Bezeichnungen sind jedoch, auch wenn sie gelegentlich etwas unscharf verwendet werden7 , keineswegs Synonyme und nicht einmal auf derselben semantischen Ebene angesiedelt. Der Terminus „Jugendroman“ umgreift als Oberbegriff alle möglichen Romanformen für Jugendliche, also etwa den historischen Jugendroman, den Fantasy-Roman, den Kriminalroman, den Familienroman oder eben auch den Adoleszenzroman. Der Begriff „Adoleszenzroman“ meint also eine spezifische Erscheinungsform oder Subgattung des modernen Jugendromans, und zwar eine solche, die durch folgende Merkmale definiert ist: Illustration von Martin und Ruth KoserMichaels aus E. v. Rhoden: „Der Trotzkopf“, Droemersche Verlagsanstalt 1000und1Buch1|99 7 • Geschildert wird die Adoleszenzphase eines (oder mehrerer) Jugendlichen, früher traditionell meist die eines männlichen Helden, heute verstärkt auch die einer weiblichen Protagonistin im Alter von etwa 11/12 Jahren bis (maximal) Mitte oder Ende zwanzig. • Diese Adoleszenzphase wird als Prozess einer prekären Identitätsund Sinnsuche aufgefasst und findet ihre Binnenstrukturierung in einer Reihe prägender Krisenerfahrungen oder Initiationserlebnisse, die sich auf wenige, genau festliegende Problembereiche beziehen. Zu diesen Problemfeldern zählen in der Hauptsache die Ablösung von der Herkunftsfamilie, die Entwicklung eines eigenen Wertesystems, die ersten sexuellen Erfahrungen mit heterosexuellen oder gleichgeschlechtlichen Partnern, der Aufbau eigenständiger Sozialkontakte in der Peergroup und die Übernahme einer neuen sozialen Rolle. Charakteristisch für den Adoleszenzroman ist, dass der Prozess der Identitätsfindung in der Regel keine positive und endgültige Lösung findet, sondern als ein tragisch scheiternder – zumindest aber als ein unabschließbarer und offener – Vorgang gezeichnet wird. • Anders als die meisten problemorientierten realistischen Jugendromane arbeitet der Adoleszenzroman nicht mit typisierten Figuren und exemplarischen Handlungskonstellationen, sondern partizipiert an der radikalen Subjektkonzeption des neuzeitlichen Romans, der die Handlungspersonen als je individuelle und unverwechselbare Einzelpersonen auffasst. Von daher ergibt sich die Fixierung auf die psychische Innenwelt der Hauptfiguren, die in ihren Krisen und Verwicklungen für den Leser als widersprüchliche und komplexe Individuen erfahrbar gemacht werden sollen. Dem Ziel der Exploration einer solchen zerrissenen Innenwelt dienen moderne Techniken des psychologischen Erzählens wie die personale IchErzählung, der innere Monolog, die erlebte Rede sowie die Darstellung von Traumsequenzen und anderen verschlüsselten Symbolwelten des Unbewussten, wie sie bis dato beinahe ausschließlich der für Erwachsenen bestimmten Erzählliteratur vorbehalten gewesen sind. Nur Texte, welche diese Merkmale in sich vereinigen, können zu Recht als „Adoleszenzromane“ bezeichnet werden. Nicht jeder die Jugend thematisierende Roman ist also eo ipso auch schon ein Adoleszenzroman. Die Adaption des Adoleszenzromans in der amerikanischen und deutschen Jugendliteratur Es wurde oben schon darauf hingewiesen, dass man seit ungefähr fünfundzwanzig Jahren von einer Blüte des Adoleszenzromans innerhalb der Jugendliteratur sprechen kann. Die Gattung selbst hat jedoch eine lange Vorgeschichte, die mit Karl Philipp Moritz' „Anton Reiser“ (1785-1790) und Goethes „Leiden des jungen Werthers“ (1774) bis weit ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Natürlich handelt es sich bei diesen Romanen um Texte, die zunächst primär für erwachsene Leser bestimmt gewesen sind. Dies gilt auch noch für die Adoleszenzromane der Jahrhundertwende wie Hermann Hesses „Unterm Rad“ (1905) oder den „Törleß“ von Robert Musil (1906), die das Genre erstmals zu einem markanten Formtypus mit konstanten Gattungseigenschaften ausgeprägt haben. Und selbst bei den einschlägigen Texten aus der deutschen Nachkriegsliteratur von Günter Grass („Katz und Maus“, 1961), Peter Weiss („Abschied von den Eltern“, 1961) oder Ulrich Plenzdorf, der mit den „Neuen Leiden des jungen W.“ (1973) für die Entwicklung in der DDR-Literatur höchst wichtig gewesen ist, handelt es sich um Bücher, die nicht vornehmlich für Heranwachsende gedacht gewesen sind – was natürlich nicht ausschließt, dass sie gerade auch bei Jugendlichen auf begeisterte Resonanz gestoßen sind. Die Entwicklung des neueren Adoleszenzromans und damit das, was die Forschung gemeinhin als dessen „Einbürgerung“ im Bereich der Jugendliteratur bezeichnet, ist von Anstößen außerhalb des deutschen Sprachraums, und hier insbesondere von Impulsen aus den Vereinigten Staaten und – vor allem seit den achtziger Jahren – aus dem skandinavischen Raum ausgegangen. In den USA finden wir schon sehr früh mit Carson McCullers „Frankie“ (1946) und mit Jerome D. Salingers „The Catcher in the Rye“ (1951) zwei gattungsformende Muster für die Darstellung von Adoleszenzkonflikten, wie sie in einer modernen, liberal und demokratisch verfassten Industriegesellschaft auftreten. McCullers Buch, das leider bis heute immer noch ein wenig im Schatten von Salingers Erfolgsroman steht8 , ist richtungsweisend durch die minutiöse Beschreibung eines weiblichen Adoleszenzkonflikts und durch seine unkonventionelle Famili- endarstellung9 . Salingers Roman ist beispielhaft in der freimütigen Schilderung des Streifzugs von Holden Caulfield durch das Labyrinth der amerikanischen Konsumund Großstadtwelt, durch die ironische Abrechnung mit dem American Way of Life sowie durch die gekonnte Verwendung des zeittypischen Jugendjargons, die in der Folgezeit immer wieder nachgeahmt worden ist. Die Präsenz dieser beiden großen Autoren hat sicherlich mit dazu beigetragen, dass es in den USA sehr viel früher als in Deutschland zur Integration dieses Romantypus in die Jugendliteratur gekommen ist. Jedenfalls zeigt sich in den siebziger Jahren recht klar das Übergewicht von amerikanischen Autoren wie Susan Hinton, Paul Zindel, John Donovan, Barbara Wersba u.a.. Erst später ziehen die europäischen Schriftsteller nach, und seit Mitte der achtziger Jahre ist der Adoleszenzroman als spezifische Textsorte auch in der deutschsprachigen Jugendliteratur fest etabliert. Vielleicht darf man in der Verleihung des deutschen Jugendliteraturpreises an „Lady Punk“ von Dagmar Chidolue im Jahr 1986 ein Indiz für die endgültige Durchsetzung des Genres erblicken. Aber es ist zweifellos nicht nur die Existenz einer längeren literarischen Tradition gewesen, die zunächst zu einer gewissen Dominanz der angloamerikanischen Autoren geführt hat. Mindestens 1000und1Buch1|99 8 ebenso wichtig dürfte der Umstand gewesen sein, dass die Jugendliteratur in Deutschland und seinen Nachbarländern nach dem Paradigmenwechsel der späten sechziger Jahre mit dem Siegeszug der emanzipatorischen Jugendbücher viele Jahre lang ganz andere Gattungsmuster favorisiert hat als den scheinbar nur ins Private abgleitenden und auf den ersten Blick apolitischen Adoleszenzroman. Möglicherweise hat die Schrittmacherrolle auch damit zu tun, dass in der amerikanischen Gesellschaft schon sehr viel früher die Konsequenzen jenes Modernisierungsprozesses zu spüren gewesen sind, auf den der Adoleszenzroman mit seinen spezifischen Themen und Formelementen reagiert. Denn was zu Beginn des Jahrhunderts noch ohne weiteres in die Form eines Pubertätsromans zu bringen war, der auf die Schuljahre und die kurze Spanne der körperlichen Reifung beschränkt blieb, wird erst unter den Bedingungen einer allgemein verlängerten, individualisierten und von Konsumund Medienerfahrungen geprägten Adoleszenz, wie sie für die westlichen Industriegesellschaften der letzten Jahrzehnte charakteristisch geworden ist, zum adäquaten Gegenstand des Adoleszenzromans. Beim Adoleszenzroman der Gegenwart hätten wir es also selbst mit einem Produkt und Resultat des am Beginn dieses Beitrags skizzierten Modernisierungsprozesses zu tun. Dies könnte den Aufstieg und die auffällige Verbreitung der Gattung in den letzten Jahren erklären. Differenzen zum traditionellen Adoleszenzroman der Jahrhundertwende Dagegen bietet das in der Literatur des Jahrhundertbeginns von Hesse, Musil, Emil Strauß u.a. entworfene Muster des Pubertätsromans aufgrund seiner Verwurzelung in ganz anderen sozialen Kontexten anscheinend kaum Ansatzstellen, an denen am Ende des Jahrhunderts eine Darstellung zeitgenössischer Adoleszenzkonflikte noch anknüpfen kann. Die für den frühen Adoleszenzroman charakteristischen Attacken auf die repressiven Gewaltverhältnisse in Schule und Familie, die implizit immer auch den autoritären Machtverhältnissen im wilhelminischen Obrigkeitsstaat gelten, lassen sich, so scheint es, nicht ohne weiteres auf die Sozialisationsbedingungen in den westlichen Nachkriegsgesellschaften, erst recht nicht auf die noch einmal tiefgreifend veränderten Erziehungsverhältnisse der achtziger und neunziger Jahre übertragen. Es kann daher nicht verwundern, dass die neueren Adoleszenzromane, von wenigen Ausnahmen abgesehen, geradezu in einem diametralen Gegensatz zu zentralen Aspekten dieses traditionellen Gattungsmusters stehen. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang besonders auf die – ursprünglich übrigens nicht als Jugendbücher publizierten – Romane von Inger Edelfeldt, speziell auf „Kamalas Buch“ (1988), auf die Kultbücher der Japanerin Banana Yoshimoto, deren Roman „Kitchen“ (1992) kürzlich erfolgreich verfilmt worden ist, sowie auf den Kanadier Douglas Coupland, der mit „Generation X“ (1994) der Publizistik das Schlagwort zur Etikettierung einer ganzen Generation geliefert hat, für die nach dem Scheitern der Rebellion ihrer Vorgänger Sinnverlust und das Ende der großen Metaerzählungen zur prägenden Grunderfahrung geworden sind. Hervorzuheben ist auch der Amerikaner Brock Cole, dessen im Hanser-Verlag erschienener Roman „Celine oder Welche Farbe hat das Leben“ (1996) in seinem souveränen Spiel mit den Konventionen des Genres sicherlich zu den interessantesten und witzigsten Bücher über die Lebensprobleme eines jungen amerikanischen Mädchens gehört. In Deutschland haben vor allem Dagmar Chidolue und Kirsten Boie einige wichtige Beiträge zum Adoleszenzroman geliefert. Gemeinsam ist allen genannten Büchern, dass sie das „klassische“ Muster des Adoleszenzromans, wie es sich um die Jahrhundertwende herausgebildet hat, beträchtlich variieren. Zwar sind die Helden oder, um genauer zu sein, neuerdings meist die Heldinnen immer noch Außenseiter und Non-Konformisten auf der Suche nach sich selbst. Ansonsten jedoch hat sich, beginnend mit dem Handlungsort, der spätestens seit Salinger aus der ländlichen Idylle in die Großstadtwelt mit ihrer geringen sozialen Kontrolle und hohen Mobilität verlegt ist, vieles grundlegend gewandelt. So finden wir anstelle der autoritären Befehlsfamilie früherer Tage mit einem dominanten Familienoberhaupt, von dem sich der Protagonist nur mit äußerster Anstrengung, meist um den Preis seines Lebens, abnabeln kann, heute in der Regel die liberale Verhandlungsfamilie oder die auseinander gebrochene Nach-Scheidungs-Ehe vor. Auch aus der Schule sind die furchteinflößenden Lehrergestalten des Obrigkeitsstaates in den meisten Romanen inzwischen verschwunden und haben dem neuen Typus des diskursorientierten, lässig-lockeren Pädagogen Platz gemacht, der nach außen lieber freundlich und unkonventionell als streng erscheinen will, von den Schülerinnen und Schülern aber darum noch lange nicht als weniger anstrengend und belastend für die Entfaltung ihrer persönlichen Ich-Identität erfahren wird. Das Beziehungsverhalten und die sexuellen Kontakte der Jugendlichen unterliegen nicht mehr so enger Kontrolle wie früher, doch dafür sind jetzt an die Stelle der alten Tabus aufgrund der Vielfalt an Optionen neue Konkurrenzverhältnisse und oft schwer zu lösende Entscheidungszwänge getreten. Mit ihrer Darstellung der neuen Familienstrukturen, Erziehungsstile und Beziehungsmuster erreichen viele aktuelle Adoleszenzromane eine ganz erhebliche zeitdiagnostische Qualität. Sie reagieren sehr genau auf die Wandlungen in der Lebenssituation heutiger Jugendlicher und zeichnen die besonderen Konflikte nach, die gerade aus dem Verlust alter Leitbilder sowie aus der Verpflichtung der Heranwachsenden auf frühzeitige Selbständigkeit und Autonomie resultieren. Auf diese Weise decken diese Romane die gar nicht immer so strahlende Kehrseite auf, die sich hinter der liberalen Oberfläche der gegenwärtigen Sozialisationsbedingungen verbirgt, und halten der Generation der Älteren einen kritischen Spiegel vor. Wenn sie die aus: Douglas Coupland „Generation X“, Verlag am Galgenberg 1000und1Buch1|99 9 Defizite und Probleme reflektieren, die sich aus der Modernisierung von Kindheit und Jugend für die davon in erster Linie Betroffenen, nämlich die Kinder und Jugendlichen selbst, ergeben, stehen sie freilich – im Gegensatz zu den Texten, von denen im Folgenden die Rede sein wird – selbst noch auf dem Fundament der Moderne und halten an den wesentlichen Prämissen moderner Subjektivität fest. Adoleszenz ist auch für sie primär die Suche nach einer individuellen Persönlichkeit, d.h. der Erwerb von Identität, Handlungsautonomie und sozialer Verant- wortung. Postmoderne Adoleszenzromane – Provokation oder Innovation? Die gegenwärtig neueste Ausformung des Adoleszenzromans bietet der sog. postmoderne Adoleszenzroman. Er hat Bücher von der Art jener modernen Adoleszenztexte, die oben vorgestellt worden sind, nicht vollständig abgelöst, aber er hat doch das Spektrum des Genres noch einmal beträchtlich verändert und stellt zugleich jene Erscheinungsform dar, die sich am weitesten von den herkömmlichen Mustern der Gattung entfernt. Ich denke hier an die Bücher von Bret Easton Ellis, an Blake Nelsons Highschool-Roman „Cool Girl“ (1997), der vor einiger Zeit auch in Österreich eine lebhafte Kontroverse ausgelöst hat10 , oder an den Drogen- und Subkulturroman des Engländers Irvine Welsh („Trainspotting“, 1996), der sich in Deutschland zu einer Art Kultbuch für junge Erwachsene entwickelt hat11 . Ein etwas weniger anarchistisches und böses Gegenstück dazu scheint mir das nicht minder erfolgreiche Erstlingswerk „Relax“ (1997) der jungen Soap-Opera-Schreiberin Alexa Hennig von Lange zu bie- ten12 . Alle genannten Titel haben bei ihrem Erscheinen erhebliches Aufsehen erregt und vor allem bei älteren Lesern zum Teil erbitterte Proteste ausgelöst. Warum wirken die genannten Bücher auf das Publikum so anstößig und provokativ? Vermutlich hat das nicht nur mit der völlig tabulosen, streckenweise sogar obszönen Darstellung von Sexualität, Alkoholismus und Drogenexzessen unter Jugendlichen zu tun. Es liegt wahrscheinlich auch nicht an der Verklärung eines zeittypischen Habitus von Coolness und Selbstinszenierung oder an der Feier des Lebens als Endlosparty im Sinne einer trendgerechten Spaß- und Erlebniskultur bei manchen dieser Autoren. Was provokant wirkt, ist vielmehr der Umstand, dass sich diese Romane bei der Schilderung jugendlicher Normverstöße von jeder moralisierenden Außenperspektive und von jedem pädagogisierenden Meta-Diskurs freimachen und, wenn man genau hinsieht, unsere traditionellen Vorstellungen von Identitätsfindung, von Autonomie und Persönlichkeit, unterminieren. Damit greifen sie nämlich, wie es der Begriff der Postmoderne per definitionem sug- geriert13 , in der Tat die normativen Grundlagen an, auf denen die Literatur der Neuzeit einschließlich der Literatur für junge Leser beruht und auf denen auch der Adoleszenzroman von seinen Anfängen im 18. Jahrhundert bis zu seinen jüngsten Ausläufern in der Jugendliteratur aufbaut. Typische Grundzüge des postmodernen Adoleszenzromans Als typische Charakteristika der postmodernen Literatur gelten die Aufhebung des Bruchs zwischen (esoterischer) Hochliteratur und (populärer) Massen- und Unterhaltungsliteratur, das zitathafte Spiel mit den unterschiedlichsten literarischen Motiven und Konventionen (Collagetechnik, Intertextualität), der Verzicht auf eine kohärente Sinnkonstruktion, die Aufsprengung einer linearen Handlungsfolge in zahlreiche mehr oder weniger fragmentarische Einzelepisoden, die oft noch aus der Perspektive unterschiedlicher Figuren erzählt werden, und die Preisgabe der Fiktion eines ganzheitlichen Subjekts bei der Gestaltung der Handlungspersonen. Diese formalen Eigenheiten stellen ungeübte Leser gewiss vor einige Rezeptionsprobleme. Man darf aber nicht vergessen, dass die jüngeren Rezipienten heute mit den Techniken einer filmischen Schreibweise, die durch abrupte Szenenwechsel, hohes Erzähltempo, schnelle Schnittfolgen und rasante Dialoge bestimmt wird, in der Regel durch die Medien sehr viel besser vertraut sind als ältere Lesergruppen. Die technischen Innovationen des postmodernen Romans sind ihnen aus der Ästhetik der Werbefilme und Videoclips bereits geläufig, denn an den Strukturgesetzen dieser Filmgenres haben die Autorinnen und Autoren der postmodernen Adoleszenzromane in der Regel ihre Schreibweise geschult. Eine durchgängige Handlung ist in diesen Texten nicht mehr auszumachen, ebenso wenig wie fest umrissene Charaktere, ein eindeutig codierter Sinn oder gar eine soziale und politische Botschaft, welche der Autor im Medium der literarischen Darstellung seinen Lesern zu vermitteln sucht. In Bret Easton Ellis’ „Einfach unwiderstehlich“ treiben die Protagonisten, die einer Yuppie-Clique an einem amerikanischen College angehören, wie ziellos in einem Leben aus Alkohol, Drogen, Sex und MTV dahin. Ironisch gebrochen finden sich noch ein paar Versatzstücke aus der Tradition des Adoleszenzromans, etwa das Künstlermotiv oder das Suizidproblem. Das zentrale Thema der Identitätsfindung ist jedoch ersetzt durch die hektische Bewegung von Party zu Party, durch die Suche nach einem immer wieder anderen Erlebnis, das Streben von einem zum anderen Sinnesgenuss. Die Romanfiguren erscheinen in diesem Kontext nicht mehr als autonome Charaktere, die ihr Leben selbstbewusst zu gestalten versuchen, sondern nur mehr als kulturelle Versatzstücke von Konsumwelt und Medienwelt. Dies alles wird keines- 1000und1Buch1|99 10 wegs etwa im Ton der Anklage gegen ‚Entfremdung‘ und ‚Selbstverlust‘ oder mit dem Pathos existentieller Verzweiflung vorgetragen, sondern umgekehrt im Gestus eines heiteren Spiels mit Witz, Ironie und Leichtigkeit. An die Stelle der Rebellion gegen das falsche Ganze tritt eine unbedingte Bejahung des Hedonismus und der postmodernen Polyvalenz des Ichs. Noch sarkastischer ist Irvine Welshs Roman „Trainspotting“ geraten, der in der Tradition von William S. Burroughs und Charles Bukowski steht und in einem ganz anderen sozialen Milieu, einer Clique von heroinsüchtigen Junkis im schottischen Edinburgh, angesiedelt ist. Arbeitslosigkeit, Drogenmissbrauch, hemmungsloser Sex und Gewaltanwendung prägen das Alltagsleben dieser jugendlichen Outlaws ohne Schulkarriere, Berufsperspektive oder stabile Sozialkontakte, die in einem endlosen Kreislauf von Frustration, Selbstzerstörung und vergeblichen Ausbruchsversuchen gefangen sind. Wiederum wird das Geschehen, ähnlich wie bei Ellis, ohne moralische Verurteilung durch einen Erzähler in einer schonungslosen Wirklichkeitssicht dargeboten, die sich auf das nüchterne Protokollieren von Oberflächenphänomenen und oft abstoßenden Details beschränkt, in einem filmischen Schreibverfahren diskontinuierliche Einzelerlebnisse aneinander reiht und die Einsicht in die innersten Persönlichkeitsstrukturen der Beteiligten konsequent verweigert. In einer Schlüsselszene widersetzt sich der Held Renton mit aller Energie der Aufgabe der Identitätsfindung, dem Geständnis- und Erklärungszwang seiner erwachsenen Betreuer. Und schließlich finden wir in den Büchern von Blake Nelson und in dem von Alexa Hennig von Lange verfassten Bestseller mit dem programmtischen Titel „Relax“ das nun schon vertraute Thema des Lebens als spaßiger Endlosparty, die um Selbstbefriedigung und sexuelle Erfahrungen mit anderen Partnern, um den Konsum von weichen und harten Drogen, um Starkult und Rockmusik, um die Jagd nach Lifestyle-Vergnügungen aller Art und nach dem coolsten Outfit aus dem Secondhandladen kreist. Was früher einmal Identitätsbildung hieß, erscheint hier in grundlegend verwandelter Form als routiniert betriebenes Spiel mit den vielfältigen Angeboten, welche die Medien und die Werbeindustrie zur Selbstinszenierung des Ichs bereitstellen, d.h. als Konstruktion einer prekären und bei Bedarf variablen Bastelidentität. Der Gegensatz zum sozialkritischen Jugendroman nach 1968 Schon die knappen Inhaltswiedergaben machen deutlich, warum die genannten Werke so kontrovers aufgenommen worden sind. Sie schrecken vor keiner noch so hässlichen Einzelheit zurück, sie lassen den Leser ohne verlässliche moralische oder gar pädagogische Orientierung und ihnen ist buchstäblich nichts heilig. So trotzen sie allen Denkverboten der political correctness von links wie von rechts, und so unterlaufen sie zugleich auch jene Konventionen, die sich infolge der Kinderliteraturreform von 1968 als eine Art unausgesprochener Konsens zumindest bei den liberalen Akteuren des Jugendliteraturbetriebs durchgesetzt haben. Jugendliteratur hatte demnach primär der Gesellschaftskritik und der politischen Emanzipation zu dienen, sie sollte aufklärerisch und ideologiekritisch sein, Perspektiven vermitteln, zumindest ein paar richtige Handlungsanweisungen für den Alltag geben und den Adressaten zu einem besseren Verständnis ihrer sozialen Situation verhelfen. Die Zuversicht, auf diese Weise die Welt verändern zu können, das Vertrauen auf Utopien und globale Sinnangebote ist bei den Autoren der Postmoderne indessen verloren gegangen, und so lesen sich die Prinzipien, nach denen sie ihre Werke gestalten, geradezu wie ein Widerruf der optimistischen Prämissen der sechziger und siebziger Jahre. Die Gegenüberstellung der leitenden thematischen und ästhetischen Grundsätze zeigt den Neuanfang, der mit der postmodernen Jugendliteratur von heute verbunden ist. Für eine unbefangene Auseinandersetzung mit der Postmoderne Nicht wenige Leser werden die Prinzipien, nach denen der postmoderne Adoleszenzroman die Lebenswelt von Jugendlichen konstruiert, als befremdlich und fragwürdig, vielleicht sogar als eine Attacke auf ihnen selbst wichtige Lebensmaximen empfinden. Auch ist nicht zu übersehen, dass das Gattungsmuster hier an eine Grenze gelangt, denn mit dem Verzicht auf das Ziel der Ich-Identität, jedenfalls im gängigen Sinn des Erwerbs eines kohärenten und stabilen Selbstentwurfs, wird in der Tat an den Grundlagen der Gattung gerüttelt und diese, streng genommen, aufgesprengt. Dennoch sei vor einer pauschalen Abqualifizierung von Texten dieser Art gewarnt. Denn auch diese Werke bilden relevante Teilbereiche der veränderten Lebenswirklichkeit heutiger Jugendlicher adäquat ab. Von den Paradoxien der Identitätsbildung unter postmodernen Bedingungen ist in ihnen mehr zu erfahren als in anderen Büchern, die vielleicht weniger anstößig sind, und nicht selten verfügen sie über einen bestechend klaren Blick für die Rituale, Trends und Stilformen bestimmter Jugendszenen. Ihr größter Vorzug scheint mir indessen in einem Umstand zu liegen, der gleichzeitig ihre provokanten Wirkungseffekte bedingt, in der Tatsache nämlich, dass sie diese Lebensstile und diese Ich-Problematik, gestützt auf die Erfahrungen ihrer meist sehr jungen Autoren, aus der Binnensicht der Beteiligten zu rekonstruieren suchen. Sie beschränken sich daher nicht auf jene Probleme, welche die Lebensweise von Jugendlichen für die Erwachsenenwelt aufwirft, und verzichten auf Klischees, Vorurteile und vorschnelle Wertungen. Aus diesem Grund stehen sie dem Selbstverständnis und Lebensgefühl der jungen CD-Illustration zu „Trainspotting“ 1000und1Buch1|99 11 Generation viel näher als die gut gemeinten Annäherungsversuche an dieselben Phänomene aus der Fremdperspektive von Erwachsenen, die unweigerlich hinter dem Erfahrungsmodus junger Leser zurückbleiben, weil sie weder deren Sprache sprechen noch deren Lebenshaltung zu teilen vermögen. Was in ihnen, oft an einem zugespitzten literarischen Modell, gezeigt wird, finden wir heute realiter an vielen Stellen des jugendlichen Alltags wieder, in Filmen, Fernsehserien und Fernsehmagazinen ebenso wie in der Werbung und in den eigenständigen Ausdrucksformen der Jugendkultur der neunziger Jahre, auf welche die Älteren oft nur mit kopfschüttelndem Unverständnis reagieren. Es deckt sich darüber hinaus mit manchen Befunden der zeitgenössischen Jugendforschung über die Herausbildung eines ganz neuen Typus von pluralisierten Patchwork- und Instant-Identitäten14 . So hat der postmoderne Adoleszenzroman in das überkommene Gattungsmuster eine ganze Reihe von formalen Innovationen und thematischen Veränderungen eingebracht und in vielen Aspekten ein ganz neues Bild von den Abläufen der Adoleszenzphase entworfen. Wir sollten uns, auch wenn unser fest gefügtes Weltbild dabei ins Wanken gerät, mit dieser Entwicklung aufgeschlossen und unvoreingenommen auseinander setzen – das heißt ohne konservative Untergangsszenarios, Scheuklappen und starres Festklammern an den Dogmen der political correctness. So könnten wir diese Bücher als eine Chance begreifen, über die Welt, in der Jugendliche und junge Erwachsene heute leben, neu nachzudenken. Welche wichtigere Funktion könnte Literatur für uns haben? Dr. Heinrich Kaulen ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Literatur und Sprache und ihre Didaktik der Universität Hannover. Der vorliegende Text ist die schriftliche Fassung eines Referats, das der Autor auf der Sommertagung des Internationalen Instituts für Jugendliteratur und Leseforschung im August 1998 in Bregenz gehalten hat. 1 Vgl. etwa Hans-Heino Ewers: Kinder- und Jugendliteratur, in: Fischer Lexikon Literatur, hrsg. v. U. Ricklefs, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1996, S. 842–877. 2 Auf die verschiedenen Etappen dieses Prozesses kann hier nicht näher eingegangen werden. Als markante Zäsuren, in denen sich ein je neues Konzept von Jugend etabliert, ist an den Sturm und Drang, die Burschenschaftsbewegung des 19. Jahrhunderts, die Jugendbewegung um Leitbilder und Selbstentwürfe im sozialkritischen Jugendroman und im postmodernen Adoleszenzroman Sozialkritisch-emanzipatorischer Jugendroman Postmoderner Adoleszenzroman Ziele des literarischen Ich-Entwurfs: Identität, Ich-Autonomie, Emanzipation Bastel-Identität und Stilbricolage Betroffenheit, Verantwortung, Engagement Coolness, Distanz, Indifferenz Authentizität des Charakters Selbstinszenierung Persönlichkeit mit eindeutigen Merkmalen Spiel mit Codes u. Signifikanten Protest, Rebellion, Subversion Fun, Witz, Ironie, Zynismus Bewusstsein Unbewusstes, Körper, Trieb, Rausch Intellekt/Ratio Träume, Affekte, Leidenschaften Sprache, Reflexion, Analyse Expressiver Selbstausdruck, Ekstase Selbstentfaltung/-verwirklichung Selbstdesign Weltbild: Hoffnung auf Veränderung Desillusionierung, Politikverdrossenheit Utopie Selbsterfüllung im Hier und Jetzt Konsumkritik u. -verweigerung Kult der Warenästhetik, Modestile Der einzelne im Kollektiv Die Masse der vielen einzelnen „Wir“ „Ich“ Verbindliche Normen u. Prinzipien Pluralität der Werte und Lebensformen Kritik der herrschenden Werte Orientierung an Lifestyle-Normen/Trends Eindeutige Oppositionen und Antithesen Desorientierung, „Unübersichtlichkeit“ Daseinsernst, Klage, Melancholie Heiterkeit, Leichtigkeit, Leben als Spiel Ästhetische Kontraste und Polaritäten: Der „Sinn“ des Kunstwerks Das Kunstwerk als „Spiel“ u. „Collage“ Aussage, Botschaft, Bedeutung Intertextuelles Spiel mit Traditionen Wesen/Sein Erscheinung Inneres Äußeres (Outfit, Körpersprache, Habitus) Hintergrund und Tiefendimension Kult der Oberfläche Mimesis/Abbildcharakter Selbstreferentialität der Zeichen Erfahrung Erlebnis Das „Apollinische“ (Nietzsche) Das „Dionysische“ (Nietzsche) 1000und1Buch1|99 12 1900, die Jugendszenen der fünfziger Jahre und die Generation der 68er zu erinnern – um nur die wichtigsten zu nennen. 3 Vgl. Werner Helsper (Hrsg.): Jugend zwischen Moderne und Postmoderne, Opladen 1991; Klaus Janke/Stefan Niehues: Echt abgedreht. Die Jugend der 90er Jahre, München 1995. 4 Grundlegend noch immer Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986. 5 Zu diesen modischen Trends vgl. Hans-Heino Ewers: Funktionswandel der Kinder- und Jugendliteratur in der Mediengesellschaft. Zur Entstehung neuer Buchgattungen und neuer literarischer Funktionstypen, in: Deutschunterricht (Berlin) 51 (1998), H. 4, S. 170–181. 6 Dagmar Grenz: Jugendliteratur und Adoleszenzroman, in: Hans-Heino Ewers u.a. (Hrsg.): Kinderliteratur und Moderne. Ästhetische Herausforderungen für die Kinderliteratur im 20. Jahrhundert, Weinheim/ München 1990, S. 197–211. 7 Für eine sorgfältigere Gattungsabgrenzung, als sie sich in der Forschung zum Teil eingebürgert hat, plädiert mit Recht Carsten Gansel: Authentizität – Wirklichkeitserkundung – Wahrheitsfindung. Zu aktuellen Entwicklungslinien in der Literatur für Kinder und junge Erwachsene, in: Ein-Satz. Jugend in Literatur für Jugendliche. Publikation zur Ausstellung in der „Galerie im Stifter-Haus“ 1998, S. 80–98, hier S. 90–92. 8 Darauf spielt Norma Klein in ihrem Adoleszenzroman „Daddys Darling“ an: der Literaturlehrer weigert sich, „A Member of the Wedding“ neben Salingers Roman im Unterricht zu besprechen, weil dieses Buch, da von einer Frau geschrieben, keine Weltliteratur sein könne (Norma Klein: Daddys Darling, Frankfurt a.M. 1989, S. 62f.). 9 Vgl. dazu Heinrich Kaulen: Patchwork-Familie und Bastel-Identität. Zur Identitätssuche in neuen Adoleszenzromanen, in: Der Deutschunterricht 49 (1997), H. 6, S. 84–90. 10 Bret Easton Ellis: Unter Null, Reinbek b. Hamburg 1986; ders.: Einfach unwiderstehlich, Reinbek b. Hamburg 1988; Blake Nelson: Cool Girl, Weinheim/Basel 1997. Zur Kontoverse um den zuletzt genannten Roman vgl. Franz Lettner/Gudrun Likar: Pro & contra. Blake Nelsons Jugendroman „Cool Girl“ im Gespräch, in: Tausend und Ein Buch, H. 5/1997, S. 42–45. 11 Irvine Welsh: Trainspotting, Hamburg 1996. Ein interessantes, explizit auf junge Leser zielendes Gegenstück bietet der themenverwandte Roman von Melvin Burgess: Junk, Würzburg 1998. Weitere Beispiele postmoderner Adoleszenzromane liefern Jay McInerney: Ein starker Abgang, Reinbek b. Hamburg 1990, sowie Jill Eisenstadt: Rockaway, München 1991. 12 Alexa Hennig von Lange: Relax, Frankfurt a.M. 1997. 13 Auf die Geschichte des Begriffs „Postmoderne“ kann hier nicht näher eingegangen werden, ebenso wenig auf das vieldiskutierte Verhältnis zwischen Postmoderne und Moderne. Eine erste Orientierung bieten Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987; Peter Kemper (Hrsg.): „Postmoderne“ oder der Kampf um die Zukunft, Frankfurt a.M. 1988. 14 Vgl. dazu Wilfried Ferchhoff/Georg Neubauer: Jugend und Postmoderne. Analysen und Reflexionen über die Suche nach neuen Lebensorientierungen, Weinheim/München 1989; Wilfried Ferchhoff: Jugend an der Wende des 20. Jahrhunderts. Lebensformen und Lebensstile, Opladen 1993. „Alles nur geklaut“ Intertextualität in Kinder- und Jugendmedien Vorankündigung der 35. Tagung des Internationalen Instituts für Jugendliteratur und Leseforschung von 23. bis 27. August 1999 im Hotel Oststeirischer Hof in Söchau/Steiermark. In Referaten und Arbeitskreisen wird der Beziehung zwischen Texten, zwischen Text und Illustration bzw. zwischen Büchern und anderen Medien nachgegangen. Im Programm wirken unter anderem Wolfgang Biesterfeld, Silke Rabus, Michael Saar, Miriam Schulte und Emer o’Sullivan mit. Die erstmalige Präsentation von Ergebnissen der aktuellen Studie „Leseverhalten und Leseinteressen von Kindern und Jugendlichen in Österreich“, ein Ausflug in die Welt des Hypertextes sowie ein attraktives Abendprogramm (u. a. eine „steirische“ Lesung von und mit Reinhard P. Gruber) runden das Angebot ab. Information & Programm: Internationales Institut für Jugendliteratur und Leseforschung Mayerhofgasse 6, A-1040 Wien Tel. +01-505 03 59, Fax. +01-505 03 59-17 kidlit@netway.at Ill. aus Walt Disneys Lustiges Taschenbuch Nr. 224 „Schwebende Schurken“, Ehapa Verlag