Paläographie („Schriftenkunde“) Primäre Zielsetzung: praktische Fertigkeit beim Lesen und Datieren bzw. Lokalisieren historischer Schriften; grundlegendes Instrument der Hilfswissenschaften allgemein, Genese als Disziplin bis ins 19. Jahrhundert hinein mit der Diplomatik verbunden. In neuerer Zeit eine Vielfalt von weitgespannten Fragestellungen: pragmatische Schriftlichkeit, Schriftlandschaften, Kanzleien, Gelehrten- und Individualschriften etc. Traditionell auf das Mittelalter fokussiert, erst in den letzten Jahrzehnten „emanzipiert“ sich die Paläographie der Neuzeit („Schriftenkunde der Neuzeit“) Namengebend für das Fach: Bernard de Montfaucon (Mauriner), Palaeographia Graeca, Paris 1708 Angeregt von den Schriftbeispielen (Specimina) in Mabillons De re diplomatica Mabillon hatte vier unabhängige „Nationalschriften“ isoliert (Gothica, Langobardica, Saxonica, Francogallica bzw. Merovingica) , die er nicht als organische regionale Entwicklungsstufen der lateinischen Schrift (Romana) im Allgemeinen verstand. Scipione Maffei (1675-1755), Istoria diplomatica che serve d’introduzione all’arte critica in tal materia, Mantua 1727: lehnt Mabillon ab, unterscheidet (produktiv, aber zunächst folgenlos) lateinische Schrift nach Majuskel, Minuskel und Kursive Charles-François Toustain/René-Prosper Tassin, Nouveau Traité de Diplomatique, Paris 1750ff. Bd. 2 enthält Paläographie mit bereits „modernen“ Schriftbezeichnungen Marquard Herrgott, Taphographia Principum Austriae, 1772 Hans Hirsch (1878-1940) Direktor des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 1929-1940 1932 Vortrag an der Akademie der Wissenschaften in Wien: „Gotik und Renaissance in der Entwicklung unserer Schrift“, gedruckt im Akademie-Almanach desselben Jahres Fraktur-Antiqua-Streit des 18./19. Jhs. im Kontext der Volkstumsforschung der 1930er Jahre neu belebt Bernhard Bischoff, Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters. 4. Aufl. mit einer Auswahlbibliographie 1986-2008 von Walter Koch (Grundlagen der Germanistik 24). Berlin 2009. Albert Derolez, The Palaeography of Gothic Manuscript Books. From the Twelfth to the Early Sixteenth Century. Cambridge u. a. 2003. Karin Schneider, Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte B. Ergänzungsreihe 8) Tübingen 1999 [2., überarb. Aufl. 2009 bzw. 3. Aufl. 2014] Friedrich Beck/Lorenz Friedrich Beck, Lateinische Schrift. Schriftzeugnisse aus dem deutschen Sprachgebiet vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln/Weimar/Wien 2007. Terminologie zur Schriftbeschreibung: traditionell anthropo- bzw. zoomorph; in jüngerer Zeit Angebote zu abstrakter Terminologie Trias der Beschreibstoffe Papyrus (vgl. Einheit zur Diplomatik) – Pergament – Papier. Pergament (ungegerbte Tierhaut, Begriff nach Plinius bezogen auf Erfindungsort Pergamon) löst Papyrus mit ähnlicher Monopolstellung (700-1250) ab, die vorher Papyrus hatte. Zunächst „mindere“ Ware neben Papyrus, später „noblere“ neben Papier Hochblüte des Pergaments entspricht dem Rückgang der Schriftlichkeit (kursives Schreiben) Zwei beschreibbare Seiten (Opistographen): Wiederbeschreibbarkeit (Palimpsest) ist ein wichtiges Element Erste hilfswissenschaftliche Beschäftigung mit Pergamentherstellung: Joseph Jérôme de Lalande, Art de faire le parchemin. 1762 (noch heute nicht völlig überholt!). Schon zuvor Debatte in der Diplomatik über Zeitpunkt der Ablösung des Papyrus durch das Pergament (Papebroch/Maffei bzw. Toustain/Tassin) Pergament wird vom Weißgerber aus dem Rohstoff Tierhaut hergestellt, der Pergamenter bereitet das Halbfertigprodukt weiter zu (Feinbearbeitung und Verkauf) Weißgerber: Auswahl der Häute, Waschen, Schaben, Kälken (Kalklauge), Enthaaren und Wollsortieren, Äschern, Aufspannen in Reifen und Rahmen, Ausfleischen, Trocknen (Kreide- oder Kalkpulver), Ausschneiden aus dem Rahmen Pergamenter: Schaben im Rahmen, Bimsen auf der Bank, Löcherstopfen, Zurichten, Formatieren und Lagenpressen Innerhalb von 24 Stunden ist eine Herstellung von der Rohhaut bis zum fertigen Beschreibstoff möglich Bearbeitungsunterschiede zwischen Reich und Italien: „Nördliches“ und „Südliches“ bzw. „Deutsches“ und „Italienisches“ Pergament „Nördliches“ ist beidseitig geschliffen, „Südliches“ an der Haarseite weniger glatt Aus Kalb kann man aber kein „Südliches“ Pergament herstellen „Gregory“-Regel der Kodikologie: Quaternionen griechischer Handschriften beginnen mit Fleischseite und legen weiters jeweils Fleisch- auf Fleisch- und Haar- auf Haarseite (Farbtongleichheit im aufgeschlagenen Buch); im Frühmittelalter umgekehrt (Beginn mit Haarseite) Verschiedene Häute zeigen durch Follikelgruppierung und Faserstruktur verschiedene Bilder: Kalb (fettarm und daher weiß, oft für illuminierte Handschriften verwendet), Ziege, Schaf (fetthaltiger und gelblich) und Kaninchen Italienisches Pergament des Spätmittelalters oft kalziniert (weiße Kreideschlämme) Sonderfall: „Jugfernpergament“/„Charta non nata“: Häute neugeborener oder ungeborener Ziegen und Schafe Frühmittelalterliche Prunkhandschriften auf Purpurpergament Peter Rück (Hg.), Pergament. Geschichte. Struktur. Restaurierung. Herstellung (Historische Hilfswissenschaften 2) Sigmaringen 1991. Peter Erhart/Lorenz Hollenstein (Hgg.), Mensch und Schrift im frühen Mittelalter (Publikation zur Ausstellung des Stiftsarchivs St. Gallen „Mensch und Schrift im frühen Mittelalter“ im Ausstellungssaal des Regierungsgebäudes, 23. September bis 12. November 2006. Beschreibstoff Papier: Erfunden spätestens um 150 n. Chr. Vom chinesischen Hofbeamten Ts‘ai-Lun überlieferte Herstellung eines Beschreibstoffs aus Seidenabfällen, vermischt mit Lumpen („Hadern“), Fischnetzen und Bast des Maulbeerbaums. Fasern gesäubert, gekocht und gewässert. Abgeschöpft mit einem Sieb, wodurch sich der Faserbrei verdichtet. Um 800 Papierproduktion im arabischen Raum; ab Mitte des 12. Jh. in Spanien, von dort Verbreitung über ganz Europa; bedeutendes Zentrum in Fabriano bei Ancona, 1390 erste Papiermühle im Reich (Ulman Stromers Gleismühl in Nürnberg). Tagesausstoß eines Arbeiterpaars bei 12-Stunden-Tag ca. 5000 Bögen. Standzeit eines Siebs ca. 2 Jahren; bei Großformaten kürzer. Verwendung für Imbreviaturbücher erlaubt, für Ausfertigungen von Notariatsinstrumenten verboten! Holzblättchen (Dipytchon), sog. „Vindolanda Tablets“ von der Hadriansmauer („in what must have been one of the most remote and uncivilized corners of the empire“), 1. Jh. Archaische Römische Schrift (boustrophedon), Lapis Niger, 6. Jh. V. Chr. (vereinfachte Umzeichnung) Trajanssäule, 113 n. Chr. Kapitalis (Monumentalis) Konrad Peutinger, Inscriptiones sacrosanctae vetustatis 1. Aufl. Augsburg 1503 Ältere Römische Kursive (Majuskelkursive), 2. Jh. n. Chr. Defuturas ignoro fraudes […] / multas adversus quas et[…] Eum esse cupio et iubeo Seu praetorio uel aliaqualiter Superscribtionibus testium Alphabetschreibübungen (Kapitalis bzw. Halbunziale) auf einem Papyrusfragment aus Oxyrhynchus (Ägypten) Sog. Vergilius Sangallensis, Capitalis Quadrata, 5./6. Jh. St. Gallen, „Folchart-Psalter“, 872/83 (Ps 51,1) Neben Kapitalis als Schrift des allerhöchsten Bücherluxus (der Monumentalis nachgeahmt und praktisch unbedeutend als Textschrift) erfolgt in der Spätantike eine neue kalligraphische Stilisierung kursiver Schriften für die Buchproduktion: Aus Älterer Römischer Kursive abgeleitet die Unziale (ab etwa 4. Jh. gut überliefert, vielleicht schon im 2. Jh., entstanden): Leitbuchstaben im Unterschied zur Kapitalis A, D, E, H, M, U, Q („AHEMDQU“) Unziale, England, 8. Jh. („Jüngere“) Halbunziale ab spätem 5. Jh. gut belegt; aus Jüngerer Römischer Kursive entwickelt; Leitbuchstaben: langes f, 3-artiges g, kurzes r und s, t mit sichelförmigem Schaft, aber Majuskel-N! Halbunziale, 5. Jh. Halbunziale, A. 6. Jh. Insulare (Angelsächsische) Minuskel, 8. Jh. (1. Z. in Insularer Halbunziale) Irische Minuskel (entwickelt aus Insularer Halbunziale, Iona), vor 713 Minuskel aus lokalen Kursiven stilisiert Minuskel (Freising?), E. 8. Jh. Minuskel (az-Typ, „Laon“-Typ), 8. Jh. Karolingische Minuskel (Tours?), 8./9. Jh. Urkunde Karls d. Gr. für Hersfeld, 779 Dotalurkunde Kaiser Ottos II. für Theophanu 972 Cod. Sang. 10, pag. 4; 9. Jh. Karolingische Minuskel Cod. Sang. 12, pag. 2; 1. Dr. 10. Jh., Kapitalis als Auszeichnungsschrift Cod. Sang. 18, pag. 5, um 1000 Cod. Sang. 21, pag. 9, 12. Jh. Erfurter Judeneid, ca. 1200 Cod. Sang. 29, pag. 3, 13. Jh. ÖNB Cod. 53, Textualis formata 1307 (Textus „semiquadratus“ nach Wolfgang Oeser) Cod. Sang. 26, pag. 6, Malmesbury, Textualis formata 1. Dr. 14. Jh. CCl. 635, Textualis formata, 14. Jh. Textus „quadratus“ Bauinschrift vom Peuerbachertor in Eferding, 1464 Urkunde Kg. Heinrichs II. für Niederalteich, 1008 MGH DD Heinrich II. Nr. 516 Friedrich II. für Lambach, 1237 Urkunde Papst Alexanders II. über die Errichtung des Salzburger Suffraganbistums Gur 1070 Papst Gregor IX. für den Deutschen Orden, 1237 Nomenklatursystem nach Lieftinck (Gerard Isaac Lieftinck, Pour une nomenclature de l‘écriture livresque de la période dite gothique“, 1953): - Textualis: a zweistöckig, g ist „gebaut“, f und s stehen auf der Basislinie, keine Schleifen an den Langschäften - Hybrida (ursprünglich Bastarda): wie Cursiva, aber ohne Schleifen! - Cursiva: a ist einstöckig, g ist kursiv, f und s ragen in den Unterlängenbereich, an den Langschäften sitzen Schleifen System weiterentwickelt von Lieftincks Schüler Peter Gumbert, zuletzt von Albert Derolez (The Palaeography of Gothic Manuscript Books. From the Twelfth to the Early Sixteenth Century. Cambridge 2003 Polemische Diskussion um die Nomenklatur der gotischen Buch- und Urkundenschriften: einerseits „abstrakte“ Terminologie Lieftincks und seiner Nachfolger, andererseits Versuch, die Terminologie der Schreibmeister der 15. Jahrhunderts nutzbar zu machen (Martin Steinmann, Wolfgang Oeser). aus: Martin Steinmann, Ein mittelalterliches Schriftmusterblatt. In: Archiv für Diplomatik 21 (1975) 450-458 Conpon = Composicion Sepac = Separacion Schreibmeisterbuch des Johann Neudörffer, Nürnberg 1538 Schreibmeisterbuch des Johann Neudörffer, Nürnberg 1538 Schreibmeisterbuch des Johann Neudörffer, Nürnberg 1538 König Karl VI. von Frankreich für Giangaleazzo Visconti, 1395, Registereintrag, Bastarda (lettre bâtarde) Rechenlehrbuch, Stift Melk, 1454 Bastarda: wichtigste Buch- und Urkundenschrift des 15. Jh. CCl. 955, 1458, Bastarda Determinationsankündigung, Stiftsbibliothek Klosterneuburg, Wien 1474 Urkunde Bischof Bernhards von Salzburg für den Markt Altenhofen, 1479, Bastarda (Vorläufer der Fraktur) Italienische Textualis formata: Rotunda (1465) Humanistische Minuskel, Poggio Bracciolini für Colluccio Salutati, knapp nach 1400 Humanistische Kursive, Niccolò de Niccoli, Autograph, ca. 1422 Humanistische Kursive, Autograph des Pomponio Leto Humanistische Kursive an der Kurie: Schrift der Breven, Vorläufer der Cancelleresca Humanistische Mischschriften: Sola-Signatura-Supplik Humanistische Mischschriften: Ablassurkunde Kardinal Bessarions von 1465 Rezeption der Humanistischen Kursive in der Reichskanzlei: Urkunde König Maximilians I., 1485, Frühe Cancelleresca