GERD ALTHOFF SPIELREGELN DER POLITIK IM MITTELALTER Kommunikation in Frieden und Fehde WISSENSCHAFTLICHE BUCHGESELLSCHAFT DARMSTADT Empörung, Tränen, Zerknirschung 259 Empörung, Tränen, Zerknirschung Emotionen in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters* Emotionen und Gefühle sind keine geschichtlichen Grundbegriffe.1 Sie zum Thema zu machen bedarf daher wohl der Begründung. Liest man mittelalterliche Quellen, begegnen nicht selten Situationen, in denen Menschen dieser Zeit extreme Reaktionen zeigen, die auf uns, die Beobachter des 20, Jahrhunderts, emotionalisiert, besser noch überemotionalisiert wirken. Konflikte scheinen aufgrund solchen Verhaltens zu eskalieren, Geschehen scheint außer Kontrolle zu geraten; Schmerz scheint die Sinne zu rauben; Zerknirschung über eigene Untaten führt zu Tränenströmen. Die Palette diesbezüglicher Verhaltensmuster reicht vom Ausdruck höchster Freude bis zur tiefsten Verzweiflung, vom hemmungslosen Schmerz bis zu überschäumender Wut. Diese scheinbar überbordende Emotionalität steht im deutlichen Kontrast zu Ergebnissen emotionsgeschichtiieher Forschungen, die im Mittelalter das Fehlen intensiverer Emotionalität gerade in solchen Bereichen diagnostizierten, in denen wir heute Emotionen * Dem Beitrag liegt eine am 6. Dezember 1995 gehaltene Bonner Antrittsvorlesung zugrunde. Anregungen verdankt der Verfasser dem anschließenden Gespräch mit Kollegen und den Diskussionen des gleichen Themas nach Vorträgen im Konstanzer Arbeitskreis, Sektion Hessen in Marburg (vgl. Protokoll) und am Deutschen Historischen Institut in Paris. 1 Dies konstatierte bereits Dinzelbacher, Gefühl und Gesellschaft, siehe bes. S. 235 IT. die Reflexionen über Empfindungen im Rahmen einer Geschichte der Mentalität. In den Nachbarwissenschaften erfreut sich das Thema denn auch größerer Aufmerksamkeit; vgl. etwa die Diskussionen um die höfische Liebe, siehe dazu die reichen Literaturangaben bei Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 835 ff.; Schnell, Die ,höfische Liebe'. Aber auch andere Emotionen waren Thema literaturwissenschaftlicher Arbeiten vgl. z.B. Korn, ,Freude und TVuren'; Will, Gemütsbewegungen in den Liedern der Edda; Maurer, Leid; Weinand, Tränen; Kremer, Das Lachen; Peil, Die Gebärde. Zur sozialen Konstituierung von Emotionen in der Gegenwart vgl. Harre (Hrsg.), The Social Construction of Emotions. entwickeln - etwa in Partnerschaften oder in Eltern-Kind-Beziehungen.2 Ist also heute eher die private Sphäre der Ort von Gefühlsäußerungen, so scheint der mittelalterliche Mensch in der Öffentlichkeit Gefühle auszuleben, um nicht zu sagen auszutoben. Festzustellen ist einschlägiges Verhalten auch und gerade bei der Kommunikation der Herrschaftsträger in den Situationen, in denen im Mittelalter Politik gemacht und Herrschaft repräsentiert wurde.3 In dieser Öffentlichkeit gezeigte Emotionen wirken auf uns befremdlich, hatten aber allem Anschein nach bestimmte Funktionen und Bedeutungen, die es zu verstehen gilt. Insofern zielt der hier unternommene Versuch letztendlich auf das „Wesen" mittelalterlicher Staatlichkeit, die bisher vorrangig von ihren Defiziten her beschrieben wird.4 Es fehlen ihr Institutionen, Verwaltung, Gewaltmonopol und vieles andere, was den modernen Staat ausmacht. Ämter und Gerichte hatten gleichfalls nicht den Bedeutungsinhalt, den wir diesen Einrichtungen zumessen. Dennoch markieren die mittelalterlichen Jahrhunderte keineswegs Zeiten der Anarchie, selbst ihre dunkelsten nicht. Die mittelalterlichen Ordnungen funktionierten nur anders, man beachtete andere Regeln, und es erscheint an der Zeit, sich auf dieses Regelwerk und seine Funktionsweisen einzulassen, selbst wenn man dabei scheinbar abwegige Themen wie Emotionen in mittelalterlicher Öffentlichkeit behandeln muß. Wenn man so will, wird im folgenden versucht, neue Wege der Verfassungsgeschichte des Mittelalters zu begehen.5 2 Vgl. dazu Arles, Geschichte der Kindheit; Arnold, Kind und Gesellschaft; Bachorski (Hrsg.), Ordnung und Lust; Dinzelbacher, Entdeckung der Liebe im Hochmittelalter; Opitz, Evatöchter und Bräute Christi. 1 Dieses wichtige Feld der Herrschaftsrepräsentation findet nach alteren, vor allem mit dem Namen Percy Ernst Schramm verbundenen Forschungen, etwa Oers. (Hrsg.), Herrschaftszeichen und Staatssymbolik, seit kurzem ein deutlich stärkeres Interesse verschiedener Disziplinen der Mediävistik vgl. Wilentz (Hrsg.), Rites of Power; Nelson, Politics and rituál; Ragotz-ky/Wenzel (Hrsg.), Höfische Repräsentation; Lüdtke (Hrsg.), Herrschaft als soziale Praxis, mit einem weitgespannten Überblick über viele Aspekte der Thematik; Bäk (Hrsg.), Coronations. J Vgl. dazu Brunner, Land und Herrschaft, S. 111 ff.; Mayer, Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates; Strayer, Die mittelalterlichen Grundlagen des modernen Staates; Keller, Zum Charakter der Staatlichkeit'. Auf der Basis der Analyse des spätmittelalterlichen Reiches vgl. jetzt die ausgewählten Beiträge von Moraw, Über König und Reich. 5 Forschungsüberblicke bei Kroeschell, Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte; Graus, Verfassungsgeschichte des Mittelalters. 260 Kommunikation Empörung, Tränen, Zerknirschung 261 Die bisherige Forschung hat auf die Frage mittelalterlicher Emo-tionalität bereits Antworten in eine ganz bestimmte Richtung gegeben: Am bekanntesten ist wahrscheinlich diejenige von Norbert Elias, der seine Ansichten über den Prozeß der Zivilisation in einen „Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation" einmünden ließ.6 Mittelalterliches Verhalten ist in dieser Theorie weitgehend uneingeschränkt von Emotionen bestimmt: „Die Seele ist hier ... unvergleichlich viel mehr bereit und gewohnt, mit immer der gleichen Intensität von einem Extrem ins andere zu springen, und es genügen oft schon kleine Eindrücke, unkontrollierbare Assoziationen, um die Angst und den Umschwung auszulösen. (Erst) wenn sich Monopolorganisationen der körperlichen Gewalt bilden und die stetigen Zwänge friedlicher auf Geld- und Prestigeerwerb gestellter Funktion den Einzelnen im Bann halten, streben langsam die Affektäußerungen einer mittleren Linie zu."7 Elias hat in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, welche Nähen das Verhalten mittelalterlicher Menschen zu dem der Kinder in unserer Gesellschaft habe, die gleichfalls über eine andere „Windstärke" der emotionalen Äußerungen verfügten.8 Expressis verbis berufen hat sich Elias in diesem Zusammenhang auf Johan Huizinga, der im Einleitungskapitel zu seinem „Herbst des Mittelalters" in der Tat eine Fülle von Beispielen derartiger Emotionalität ausbreitete und dazu etwa bemerkte: „In diese Empfänglichkeit des Gemütes, diese Bereitschaft zu Tränen und geistiger Umkehr, diese Reizbarkeit muß man sich hineindenken, um ermessen zu können, welche Farbigkeit und Intensität das Leben besaß."9 Huizinga hat aber auch etwas anderes gesehen: „Es war die zeremonielle Form, in der sich die reuevolle Abkehr von Eitelkeit und weltlichen Freuden verkörperte, die Stilisierung einer leidenschaftlichen Ergriffenheit in eine gemeinsame feierliche Tat, wie denn jene Zeit allerwärts zum Schaffen stilvoller Formen neigte."10 Gemünzt ist dies bei Huizinga zunächst auf die sogenannten 6 Vgl. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, mit dem SchluBkapitel, S. 312 ff. Zu seinem Werk vgl. zuletzt Duindam, Myths of Power; Kocka, „Über den Prozeß der Zivilisation". Fundamentale Kritik an den Thesen Elias' übte Dürr, Nacktheit und Scham. 7 Vgl. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, S. 324 ff. 8 Ebd., S. 479, in der zum vorigen Zitat gehörigen Anm. 132. 5 Huizinga, Herbst des Mittelalters, S. 8; ähnliches etwa S. 11 f., wo von der „allgemeinen Leidenschaftlichkeit, die überall das Leben durchglühte", die Rede ist. 10 Ebd., S. 8. Scheiterhaufen der Eitelkeit, die Prediger im Spätmittelalter anzünden ließen und in die die Menschen Dinge hineinwarfen, um ihre Abkehr von weltlichen Nichtigkeiten zu demonstrieren. Was der Zusatz „Wie denn jene Zeit allerwärts zum Schaffen stilvoller Formen neigte", bedeutet, wird uns im folgenden implizit weiter beschäftigen. Es scheint eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dieser Sicht des seine Affekte auslebenden Menschen des Mittelalters in der Mediävistik nicht stattgefunden zu haben. Präsent aber ist diese Auffassung bis in die neuesten Arbeiten, und dies verstärkt, nachdem historisch-anthropologische Fragestellungen Eingang in die Mediävistik gefunden haben. Bis heute spricht man davon, daß im Mittelalter „Willkür, Gefühle und Affekte, nicht Verwaltungsnormen das politische Handeln beherrschten" und beschreibt diese Gefühle mit Begriffen wie „Grobschlächtigkeit und ungezügelter Direktheit".11 Nun beherrschten Verwaltungsnormen das politische Handeln des Mittelalters gewiß nicht; zur Frage steht aber, ob Gefühle und Affekte von ungezügelter Direktheit als prägende Wesenszüge politischen Handelns dieser Zeit anzunehmen sind. Bevor wir fragen, wie solche Gefühlsäußerungen konkret aussahen, und ob wir sie richtig verstehen, wenn wir das Ungehemmte, Unkontrollierte, Irrationale an ihnen betonen, sind einige Worte zu den Voraussetzungen und zum Rontext dieser Untersuchung sinnvoll. Die Methode der Interpretation einschlägiger Fälle wird sein, den jeweiligen Rontext, in dem sie begegnen, genauer zu beobachten und zu fragen, ob die vermeintlichen Gefühlsäußerungen nicht bestimmte Funktionen in diesen Rontexten erfüllen, ob sie mit anderen Worten nicht zweckrationaler waren, als dies Elias und seine Nachfolger annahmen. Diese Blickrichtung basiert auf der Einsicht, daß der mittelalterliche Kommunikationsstil in der Öffentlichkeit ausgesprochen demonstrativ war.12 Man zeigte Rang und Stellung, Macht und Reich- 11 Vgl. die im Text zitierten Begriffe bei Fried, Der Weg in die Geschichte, S. 100. Als wegweisend eingeschätzt werden diese der Sicht Elias' verpflichteten Einschätzungen in der Besprechung des Buches von Borgolte, Eine Anthropologie der Anfänge Deutschlands, S. 89 ff., das Zitat S. 90. Es ist ein Ziel dieser Studie zu zeigen, daß solche Bewertungen die mittelalterlichen Verhaltensweisen mißverstehen. 12 Trotz vieler Ansätze zur Erforschung mittelalterlicher Kommunika-tionsgewohnheiten unter Stichworten wie Zeremoniell, Ritual, Repräsentation, Fest und anderen ist die Eigenart mittelalterlicher Kommunikation und ihre besonderen Spielregeln bisher eher nicht im Blick; den demonstrativen 262 Kommunikation Empörung, Tränen, Zerknirschung 263 tum ebenso wie seine Gesinnung, sei sie freundschaftlich oder feindselig, mitleidig oder unbarmherzig. Hierfür stand mittelalterlichen Menschen ein differenziertes Arsenal vor allem nonverbaler Ausdrucksmittel zur Verfügung - das Spektrum reicht von der Kleidung und Ausrüstung über Mimik und Gestik bis zu Ritualen etwa der Begrüßung oder des Abschieds. Die so permanent ausgesandten Signale verhinderten Mißverständnisse und Überraschungen, bescherten den öffentlichen Interaktionen das Maß an Sicherheit, das eine waffentragende Gesellschaft ohne Gewaltmonopol gewiß dringend benötigte. Es fragt sich also, ob nicht auch die gezeigten Emotionen vorrangig eine Demonstrationsfunktion, Signalcharakter hatten und von den Akteuren auf der politischen Bühne in diesem Sinne und Verständnis eingesetzt wurden. Darauf deutet auch ein generelles Ergebnis der folgenden Untersuchungen, das vorweg angesprochen sei. Emotional wirkende Verhaltensweisen lassen sich gehäuft in ganz bestimmten Situationen mittelalterlicher Kommunikation beobachten. Sie linden sich am Beginn von Konflikten, in der Phase ihrer Entstehung, sowie am Ende von Auseinandersetzungen, im Zuge ritueller Handlungen zur Beilegung der Konflikte.13 Neben diesen Situationen beobachtet man emotionalisiert wirkendes Verhalten gehäuft etwa dann, wenn mittelalterliche Menschen andere um etwas bitten.14 Es ist also gleich eingangs nachdrücklich hervorzuheben, daß Emotionen durchaus nicht die gesamte öffentliche Kommunikation des Mittel-Charakter der mittelalterlichen Kommunikation habe ich in verschiedenen Arbeiten zu thematisieren versucht, vgl. vor altem Althoff, Demonstration und Inszenierung (in diesem Band), und weitere Beiträge in diesem Band. Unter anderen Aspekten auch Kleinschmidt, Wordhord onleac. - Forschungen zur frühen Neuzeit ist der demonstrative Charakter öffentlicher Kommunikation dagegen vertrauter, vgl. Dülmen, Theater des Schreckens; Davis, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt; Fogel, Les ceremonies de l'information; Kommunikation und Alltag; Jütte, Funktion und Zeichen. 15 Zur Bedeutung von Ritualen in archaischen Gesellschaften vgl. Leach, Ritual; Gluckman, PoUtics, Law and Ritual; Geertz, Dichte Beschreibung; Turner, Das Ritual; Cannadine/Price (Hrsg.), Rituals of Royalty; Turner, Prozeß, System, Symbol, in: Habermas/Mincmar (Hrsg.), Das Schwein des Häuptlings, S. 150-146; vgl. dort auch die instruktive Einleitung zur Entwicklung der Historischen Anthropologie und ihrer Fragestellungen, S. 7-19; Leyser, Ritual, Zeremonie und Gestik; zu den in Ritualen gezeigten Emotionen vgl. allg. Scheff, The Distancing of Emotion. 14 Vgl. hierzu die grundlegende Studie von Koziol, Begging Pardon and Favor. alters beherrschten, sondern signifikant ganz bestimmten, wenigen Bereichen vorbehalten waren. Bei näherem Hinsehen erweist sich dieser Befund als wenig überraschend. Denn die verschiedenen mittelalterlichen Theorien vom rechten Verhalten, die ja vom Gedankengut christlicher Ethik geprägt waren, verboten den Menschen überbordende Emotionen. Bekannt ist dies etwa bezüglich der christlichen Herrscherethik, die den Königen nicht zuletzt die Verpflichtung zu Milde und Güte aufgab und sie zur Beherrschung ihrer Emotionen aufforderte.15 Wirksam war dieses Gedankengut auch bei der Ausformung der Laienethik, sei es beim Ritterideal oder bei den Idealen der curialitas, der höfischen Lebensform.16 Nicht anders verhielt es sich bei den Normvorstellungen über die vorbildliche Lebensführung von Klerikern und Mönchen. Auch sie verboten emotionalen Überschwang, sei es in Form von Ereude und Lachen, sei es als Zorn oder Wut.17 Mit Hilfe mittelalterlicher Theorien vom rechten Verhalten läßt sich emotionaler Überschwang also nicht erklären - es scheint eher, als widerspräche die Realität den Theorien diametral. Denn es ist geradezu so, daß die Emotionen, von denen im folgenden die Rede sein soll, auf den ersten Blick keinerlei Beschränkungen unterworfen zu sein scheinen, sondern sich ungehemmt und mit äußerster Windstärke Bahn brachen. Auffällig ist für den kritischen Beobachter allenfalls, wie uniformiert das scheinbar unkontrollierte Verhalten erscheint, wenn man vergleichbare Fälle sammelt. An immer den gleichen Stellen und in den gleichen Situationen begegnet das hemmungslose Beschimpfen und Verwünschen des Gegenübers verbunden mit immer sehr ähnlichen Handlungen, die nonverbal die Wirkung noch verstärkten. In ganz bestimmten Momenten begegnet die Tränenflut, und auch die Zerknirschung bedient sich immer wieder der gleichen Ausdrucksmittel: Man beachtet eine gewisse Kleiderordnung, erscheint barfüßig und im härenen Gewand, verwendet Gegenstände wie Schwerter oder Ruten, um zu signalisieren, was man eigentlich verdient hat und benutzt auch verbal quasi Formeln der Selbstaufgabe: Mach mit mir, was du 15 Vgl. dazu allgemein Anton, Fürsten Spiegel und Herrscherethos; Mahl, Quadriga virtutum. 16 Vgl. dazu Schreiner, ,HoF (curia) und .höfische Lebensführung' (vita curialis). Zu den Anfängen höfischer Lebensformen schon im 10. Jahrhundert vgl. Jaeger, The Origins of Courtliness. " Vgl. dazu Schmitz, Der ,Unwert' des Lachens; Moser, Lachkultur des Mittelalters; Schubeil, Zur Theorie des Gebarens, bes.S. 90 ff. 264 Kommunikation Empörung, Tränen, Zerknirschung 265 willst! Es scheint somit, als seien in Situationen unkontrollierter Emotionalität sehr wohl feste Rechtsgewohnheiten beachtet worden, was eigentlich einen Widerspruch in sich selbst bedeutet. Doch damit genug der sachlichen und methodischen Vorbemerkungen und endlich zu der Frage, wie denn nun konkret das emotionali-sierte Verhalten in mittelalterlicher Öffentlichkeit in den Quellen begegnet und wann es erscheint. Das erste Beispiel: Am 21. Dezember des Jahres 1000 geschah im ottonischen Familienstift Gandersheim etwas Ungeheuerliches. Während einer Meßfeier des Hildesheimer Bischofs Bernward überreichten die Gandersheimer Nonnen bei der Opferung ihre Gaben nicht, wie es Brauch war, sondern warfen sie „wütend und mit unglaublichen Äußerungen des Zornes dem Bischof zu Füßen und stießen wilde Schmähworte gegen Bernward aus".18 Auf den ersten Blick könnte dies Verhalten ein Beleg für ungezügelte Emotion, für ein abruptes Umschlagen von einem Extrem ins andere sein. Doch nur auf den ersten Blick. Die Meßfeier des Hildesheimer Bischofs war nämlich ein demonstrativer Akt, mit dem er seine Rechte über das Kloster als zuständiger Diözesanbischof zum Ausdruck brachte.19 In Gandersheim herrschte in dieser Zeit dagegen die Auffassung, zum Erzbistum Mainz zu gehören und nicht zu Hildesheim. Und diese Meinung war Auslöser eines langwierigen Konflikts. Nach Gandersheimer Auffassung war Bernward somit in eine fremde Diözese eingedrungen und hatte ohne Zustimmung des zuständigen Bischofs kein Recht auf die Durchführung der geistlichen Handlung.20 Aus dieser Perspektive besteht daher mehr als der Verdacht, daß die Nonnen mit ihrer Aktion ihren Rechtsstandpunkt in sehr unmißverständlicher Weise zum Ausdruck brachten. Nicht unkontrolliert, sondern zweckorientiert erscheint so ihr Verhalten. Sie nutzten genau den Moment der Liturgie, der ihre aktive Teilnahme vorsah, zu einer Demonstration ihrer Meinung von der Rechtmäßigkeit des Geschehens. Hätten sie sich nämlich an der Durchfüh- 18 Thangmar, Vita Bernwardi, cap. 17, S. 766: ... obiatas indignatione et incredibüi furore proiciunt, saeva maledicta episcopo ingerunt (Übersetzung nach FSGA 22, S. 303/305). Vgl. dazu allgemein Görich, Der Gandersheimer Streit, und demnächst Hehl, Der widerspenstige Bischof. 19 Zu den Vorgängen vgl. auch Goetting, Bernward und der große Gandersheimer Streit. 20 Gandersheim versuchte offensichtlich, seine Lage an der strittigen Grenze zwischen Hildesheim und Mainz auszunutzen; vgl. Goetting, Das Kanonissensüu Gandersheim, S. 89-95; vgl. auch Bernhardt, Itinerant Kingship, S. 149 ff. rung der Meßfeier ohne Protest beteiligt, wäre dies einer Zustimmung zu den Rechten Hildesheims an Gandersheim gleichgekommen. Der Wutausbruch der Nonnen war also eine gezielte Demonstration ihrer Rechtsauffassung. Auch Bernward zeigte nach Hildesheimer Darstellung in dieser Situation übrigens heftige Emotionen: „Dieser beklagte zutiefst erschüttert und tränenüberströmt nach dem Vorbild des wahren Hirten, der für seine Verfolger betete, nur die Bosheit der rasenden Frauen."21 Auch bei ihm haben die Emotionen also durchaus einen demonstrativen Charakter. Sie überwältigen den Bischof nicht einfach, sondern sind Teil einer auf Wirkung berechneten Inszenierung. Seine Nachahmung Christi ist demonstrativer Nachweis seiner Hirteneigenschaften. Die Vita Bernwardi liefert auch ein zweites, sehr bekanntes Beispiel. Es schildert scheinbar emotionahsiertes Verhalten bei der Beendigung eines Konflikts. Während eines Aufstandes der Römer im Jahre 1001 sei Otto III. auf einen Turm gestiegen und habe eine Rede gehalten. „Seid Ihr nicht meine Römer", soll der Kaiser den Aufständischen zugerufen haben. „Euretwegen habe ich mein Vaterland und meine Verwandten verlassen, aus Liebe zu Euch habe ich meine Sachsen und alle Deutschen insgesamt, mein eigenes Blut verschmäht ... Euch habe ich an Kindesstatt angenommen, Euch habe ich allen anderen vorgezogen, und dafür habt Ihr jetzt Euren Vater verstoßen und meine Freunde grausam umgebracht .. ."22 Diese Rede, von nationalbewußter Geschichtsschreibung gerne für die „undeutsche" Gesinnung dieses Phantasten auf dem Thron zitiert,23 löste bei den Römern eine erstaunliche Reaktion aus: „Durch diese Worte des Kaisers zu Tränen gerührt, verspra- 21 Thangmar, Vita Bernwardi, cap. 17, S. 766: ... perculsus, lacrimis perfu-sus antistes ... sed veri pastoris pro persucatoribus orantis exemplo, ignoran-tiam seu potius malivolentiam fiirentium feminarum deplorans ... (Übersetzung nach FSGA 22, S. 305). Siehe dazu Görich, Otto III., S. 99ff.; Görich/Kör-tum, Otto III., Thangmar und die Vita Bernwardi. 22 Ebd., cap. 25, S. 770: Vorne estis mei Romani? Propter vos quidem meam patriam propinquos qiwque reliqui. Amore vestro meos Saxones et cunctos Theotiscos, sanguinem rneum, proieci... vos ßlios adoptavi, vos cunctis prae-tuli ...Et nunc pro omnibus his patrem vestrum abiecistis, familiäres meos crudeli morte interemistis ... (Übersetzung nach FSGA 22, S. 319/321). 23 Vgl. etwa Holtzmann, Geschichte der sächsischen Kaiserzeit, S. 373; unter anderen Prämissen ablehnend noch Brühl, Deutschland-Frankreich, S. 625. Zur Geschichte der Bewertungen Ottos III. vgl jetzt Althoff, Otto III., S. 1-18. 266 Kommunikation Empörung, Tränen, Zerknirschung 267 chen sie Genugtuung, ergriffen zwei Männer, Benilo und einen anderen, schlugen sie grausam zusammen, schleiften sie an den Füßen nackt über die Treppen und legten sie halbtot dem Kaiser zu Füßen."24 Nach dieser Darstellung haben die Argumente des Kaisers den Römern die Äugen geöffnet und sie von einem Extrem ins andere fallen lassen. Man könnte die Geschichte daher als Beleg für die emotionale Ansprechbarkeit und Wankelmütigkeit der Römer werten, die ihre Emotionen gleich in eine drastische Wiedergutmachungsaktion umsetzten. Doch auch hier rät der Kontext des Geschehens zu einer anderen Interpretation. Zwischen den aufständischen Römern und Otto III. war nämlich am Vortag vereinbart worden, sich zu Friedensgesprächen zu treffen.25 Die grundsätzliche Bereitschaft zum Frieden bestand also auf beiden Seiten; sie mußte nur noch demonstrativ zum Ausdruck gebracht werden. Für die Römer kam somit die Ansprache des Kaisers und ihre Tendenz keinesfalls überraschend. Die konsensstiftende Rede hatte vielmehr im Rahmen solcher Friedensverhandlungen ihren festen Platz und die Funktion, die Friedensbereitschaft unmißverständlich zum Ausdruck zu bringen und der anderen Seite die Hand zur Versöhnung hinzustrecken.26 Nichts anderes leistete die Rede Ottos - und dies sehr eindrucksvoll, indem Otto sich den Römern als Vater präsentierte, der alles für sie getan, doch nur Undank geerntet hatte. Dies brachte aber die Römer sozusagen in Zugzwang, von denen nun 2" Thangmar, Vita Bernwardi, cap. 25, S. 770: Hac ratione imperatoris ad fletus usque compuncti, satisfactionem promittunt, duos corripiunt, Benilo-nem et alium quendam, quos crudeliter caesos, nudos pedibus per gradus tractos, semivivos in praefata turri ante imperatoremproiciunt (Übersetzung nach FSGA 22, S. 521). 35 Ebd., cap. 24, S. 770: ... hostes pacem exposcunt, arma proiciunt, in crastinum se ad palaüum venturos promittunt. 26 Wir hören von solchen Reden häufiger in formelhaften Wendungen: partim blanditiis, partim terroribus habe ein Thronbewerber seiner Sache zum Durchbruch verhelfen wollen; „Man könne ihn zum Freund gewinnen oder als Feind erproben", lautet eine andere Formel, die mehrfach in einschlägigen Zusammenhängen begegnet; vgl. Althoff, Konfliktverhalten und Rechtsbewußtsein (in diesem Band), S. 66 mit Anm. 28; ders., Demonstration und Inszenierung (in diesem Band), S.225. Die konsensorientierte Rede von Humanisten auf den Hof- und Reichstagen der Zeit Maximiiiansi, untersuchte Mertens, Die deutschen Humanisten und der institutionalisierte Dualismus. Viel spricht dafür, daß in diesen Reden, die auch publiziert wurden, eine Fortsetzung des hier diskutierten Usus zu fassen ist. gleichfalls ein eindeutiges Zeichen ihrer Bereitschaft zur Beendigung der Feindseligkeiten erwartet wurde. Sie gaben es nonverbal, aber gleichzeitig unmißverständlich, indem sie in scheinbar spontaner Gefühlsaufwailung ihre Rädelsführer zusammenschlugen. Diese vermeintlich spontan geäußerten Emotionen haben in beiden bisher behandelten Beispielen die gleiche Funktion: Sie unterstreichen die Entschlossenheit, den Frieden einzugehen bzw. den eigenen RechLsstandpunkt durchzusetzen und nicht nachzugeben. Je entschiedener man erscheinen wollte, desto extremere Reaktionen und Emotionen zeigte man offensichtlich. Gandersheimer Nonnen und Römer standen sich hierbei in nichts nach. Aus dieser Sicht erscheinen die Emotionen alles andere als unkontrolliert; sie wurden vielmehr zweckrational eingesetzt. Überwältigt von Emotionen stellt sich im Mittelalter häufig auch der Bittende dar. Nur kurz sei hier darauf hingewiesen, welche Bedeutung der Bitte in einer ranggeordneten Gesellschaft zukam, die kaum institutionalisierte Entscheidungswege oder -verfahren kannte. Das Fürsprechen, Vermitteln, Intervenieren, das Sich-Ver-wenden hatte dementsprechend vielfältige Anwendungsgebiete und Ausdrucksformen.27 Unzählige Netzwerke und Klientelsysteme verwandtschaftlicher, freundschaftlich-genossenschaftlicher und anderer Art betätigten sich auf diesem Gebiet. Der Weg des Bittens wurde durchaus nicht nur von unten nach oben beschritten; auch Ranghöhere nutzten nicht selten dieses Mittel, um etwas zu erreichen.28 Auch der Ranghöchste unterstrich die Dringlichkeit solcher Bitten teilweise mit heftigen Emotionen. So bat König Heinrich IV. angeblich die Fürsten des Reiches, auf folgende Weise um Unterstützung: „Er versammelte die Fürsten ... warf sich bald vor den Einzelnen, bald vor der ganzen Versammlung demütig zu Boden und erhob Klage ... Mit Tränen erzählte er ihnen, daß er gegen seinen eigenen Willen ihrem Rat nachgebend, den Sachsen seine mit königlichem Aufwand errichtete Burg zur Zerstörung übergeben habe. Jene aber hätten ... darüber hinaus das Gott und den Heiligen geweihte Stift mit ärgerem Wüten als die Heiden bis auf den Grund niedergerissen ... Seinen Bruder und seinen Sohn, beide Söhne von Königen, hätten sie in mitleiderregender Weise aus ihren Gräbern gerissen und ihre Gebeine in alle Winde zerstreut. Das Entsetzlichste aber sei, daß sie die Reliquien der Heiligen mit " Roziol, Begging Pardon and Favor, S.25ff.; Althoff, Verwandtschaft, Freundschaft, Klientel (in diesem Band), S. 185ff. 28 Vgl. etwa die durchaus nicht selten bezeugten Fußfälle von Königen und Kaisern als inständigste Form der Bitte des Ranghöheren, siehe Althoff, Genugtuung, S. 259ff. 268 Kommunikation Empörung, Tränen, Zerknirschung 269 entweihender Hand von den geweihten Altären gerissen und wie Unrat auf unhei-tige Stätten zerstreut hätten. Das alles brachte er unter Tränen vor, dann küßte er jedem die Füße und bat, sie möchten wenigstens die Gott und seinen Heiligen angetane Schmach nicht ungestraft lassen, wenn sie schon das ihm selbst zugefügte Unrecht nicht rächen wollten."29 Tränen, Fußfälle und Fußküsse des Königs signalisieren einen ob der Ungeheuerlichkeiten von Emotionen Überwältigten, einen der verzweifelt und außer sich ist, einen, der nur noch vom Gedanken gerechter Rache für den Frevel an Gott und der königlichen Würde beseelt ist, kurz: einen, der seiner Emotionen nicht mehr Herr wird. Nun kann gewiß nicht bezweifelt werden, daß dem König in dieser Situation die Rache an den Sachsen höchst wichtig war. Doch steht einer sozusagen emotionsgeschichtlichen Verwertung dieser Episode entgegen, daß Tränen wie Fußfalle vielfach benutzte Mittel sind, um den Ernst und die Dringlichkeit einer Bitte zu unterstreichen. Tränen und Fußfälle gehörten zur konventionellen „Sprache" des Bittenden. Das AnwendungsSpektrum ist breit: Durch Fußfall ohne Worte konnte man etwa den König um eine Gunst oder ein Amt bitten;30 2' Brunos Buch vom Sachsenkrieg, cap.35, S. 36f.: Congregatis itaque il-larum partium princibus nunc singulis, nunc universis humiliter se proster-nens querimoniam fecit... Nam narravit eis lacrimalis, quia, dum ipsorum cortsiliis contra suam voluntatem cedens Saxonibus suum castcllum regali sumptu constructum traderet demoliendum, Uli... insuper monasterium Deo sanctisque comecratum paganis omnibus crudeliores fimditus diruerent, ... fratrem füiumque suum, utrumque prolem regiam, miserabiliter a sepulcris eiectos in ventum membratim dispergerent, et quod his omnibus magis esset nefandum, sanctorum reliquias ab altaribus sacris execrandis manibus erutas velut immunditias quasdarn per profana loca dissiparent. His omnibus non sine largo ßetu peroratis singulorum pedes osculans oravit, ut, si non suam vindicare curarent iniuriam, saltem contumeliam Deo Deique sanctis illatam remanere non paterentur inultam (Übersetzung nach FSGA 12, S. 239/241). Zu Brunos Darstellungsabsicht vgl. Althoff/Coue, Pragmatische Geschichtsschreibung und Krisen. Teil I: Zur Funktion von Brunos Buch vom Sachsenkrieg. 10 Dies tat nach dem Zeugnis Thietmars von Merseburg der Merseburger Bischof Gisilher, um von OttoH. zum Erzbischof von Magdeburg erhoben zu werden; vgl. Thietmar von Merseburg, Chronik, III, 13, S. 112: Namque ut audita cesaris auribus instillavit, pedibus supplex advolvitur, promissa et diu expectata longi laboris premia postulans, Deo hoc consentiente, protinus impetrat. Auf dem Boden liegend erwarteten Abt und Konvent von St. Emmeram Otto III.; vgl. Arnold, Liber S. Emmerammi, cap. 31, S. 566: Ibi videns venerabilem patrem cumfratribus humo tenus prostratum ... Dem jungen mit Fußfall und unter Tränen intervenierte man für andere.31 Mit Fußfällen, tränenreichen Selbstbezichtigungen und manchmal auch Fußküssen erbat man Verzeihung, häufig geschah dies im Rahmen des Rituals der deditio.32 Hier ist die Frage der Emotionalität solcher Handlungen besonders gut zu beantworten. Derartige deditiones wurden nämlich im Vorfeld vertraglich vereinbart; Durchführung wie Ausgang wurden festgelegt, das jeweilige Verhalten abgesprochen. Es war dem Gedanken der Genugtuung verpflichtet und konnte so je nach Rang der Personen, Schwere des Konflikts oder des angerichteten Schadens, der angetanen Ehrverletzung variiert werden." Bei der Durchführung hielten jedoch alle die Fiktion einer spontanen Handlung aufrecht. Der sich Unterweifende unterstrich mit Aufzug und Kleidung sein tiefes Bedauern über frühere Taten - hierin dem reuigen Sünder nah verwandt -, durch verbale Selbstbezichtigungen erklärte er sich zu allem bereit, ergab sich in sein Schicksal. Der Kontrahent, der Sieger, ließ sich rühren, hob den am Boden Liegenden auf, küßte ihn und verzieh ihm. Das Publikum reagierte mit Mitleid und Freudentränen und nahm auch sonst mit emotionalisierten Äußerungen Anteil. Zitiert sei aus dem König OttoH. wortlos zu Füßen fiel auch eine Delegation St. Galler Mönche, ihn so um gnädige Vermittlung ihres Anliegens bittend; vgl. Ekkehard IV., Casus St. Galli, cap. 128, S.248: Cumque pedes amborum ipsi peterent, Ekkeharde causam eorum in brevi peroral. Der Synode in Ingelheim fiel Gerhard in Vertretung Ulrichs von Augsburg zu Füöen; vgl. Gerhard, Vita Sancti Oudalrici, cap. 23, S. 408: Istis et aliis rationibus in voluntate domini sui in finem dedueth, terra tenus cecidit ante pedes imperalorum et antistitum, ob-secrans ... Fußfällig konnte man auch am Beginn von Beratungen um eine genaue Prüfung der eigenen Sache bitten; vgl. Lampert von Hersfeld, An-nalen, a. 1073, S. 165. Vgl. auch viele weitere Beispiele bei Koziol, Begging Pardon and Favor, S. 59 ff. 31 Beispiele bei Koziol, Begging Pardon and Favor, S. 70 ff. 32 Vgl. dazu ebd., S.97, 152, 302, mit Beispielen für Fußküsse. Der berühmteste Fall eines Fußkusses ist sicher der Friedrich Barbarossas, der in Venedig 1177 die Füße Papst Alexanders III. küßte; vgl. dazu Schreiner, Vom geschichtlichen Ereignis zum historischen Exempel. Auch Kaiser Heinrich V. soll im Jahre 1111 dem Papst bereits die Füße geküßt haben, wie die Annales Romani, a. 1111, S. 474, berichten: Ad cuius vestigia cum rex corruis-set, postpedum oscula ad oris oscula elevatus est. Doch sind hier wohl Zweifel erlaubt, da die politische Situation kaum Anlaß für einen derartigen Akt des Kaisers bot. Zum Fußfall im Rahmen des Rituals der deditio vgl. Althoff, Das Privileg der deditio (in diesem Band), S. 99ff. mit zahlreichen Beispielen. 13 Vgl. hierzu Althoff, Genugtuung; ders., Composilio. 270 Kommunikation Empörung, Tränen, Zerknirschung 271 Bericht Rahewins über die erste Unterwerfung Mailands unter Friedrich Barbarossa, die im Jahre 1158 stattfand, nachdem die Modalitäten zunächst vertraglich fixiert worden waren; über die vertraglichen Vereinbarungen hinaus inszenierte man jedoch folgendes spectaculum (so Rahewin): „Nachdem beide Parteien diese Friedensbedingungen angenommen hatten, kam Mailand ... in folgender Ordnung und Haltung an den Hof. Voran der gesamte Klerus und die Angehörigen des kirchlichen Standes mit ihrem Erzbischof mit vorangetragenen Kreuzen, nackten Füßen und in ärmlichem Gewand; dann die Konsuln und angesehensten Bürger der Stadt, ebenfalls ohne Obergewand, mit nackten Füßen, entblößte Schwerter auf dem Nacken tragend. Es war ein großartiges Schauspiel: eine gewaltige Zuschauermenge und Mitleid bei vielen, die milderen Sinnes waren, als sie sahen, wie die vor kurzem noch Stolzen, die sich ihrer gottlosen Taten rühmten, nun demütig waren und zitterten ... Der erhabene Kaiser nun blickte mit gnädiger Miene auf sie nieder und sagte, er freue sich, daß Gott eine so herrliche Stadt und ein so großes Volk gemahnt habe, endlich einmal den Frieden dem Krieg vorzuziehen ... Hierauf sprachen jene mit gesenktem Blick und flehender Stimme nur wenige Worte zur Rechtfertigung ihrer Vergehen."-14 Es handelt sich um eine perfekte Inszenierung, in der Gefühl gezeigt und an Gefühle appelliert wird. Man tut dies durch Kleidung, Haltung und entsprechende verbale Äußerungen. Die von allen demonstrativ hervorgekehrte Emotionalität war jedoch Teil der Inszenierung. Die gezeigten Emotionen, sei es die Zerknirschung oder das Mitleid, waren Beweise für die Ernsthaftigkeit des Tuns, und sie wurden als solche wirkungsvoll eingesetzt. Nach den gleichen Regeln agierten auch zwei Bürger von Lodi, die eher zufällig Zeuge wurden, als in Konstanz Arm und Reich vor Barbarossa über erlittenes Unrecht klagten: „Sie gingen sofort in 34 Otto von Freising und Rahewin, Die Taten Friedrichs, III, 51, S.500ff.: Talibus pacis conditionibus utrimque receptis, Mediolanum ... hoc ordine talique specie ...ad curiam venu. Inprimis clerus omnis et quique fiierant ecclesiasiici ordinis ministri cum archiepiscopo suo, prelatis crucibus, nudis pedibus, humili habitu; deinde consuies et maiores civitatis, item abiecta veste, pedibus nudis, exertos super cervices gladios ferentes. Erat autem ingens spectaculum, validissima constipalio multorumque, qui mitioris ingenü erant, commiseratio, cum viderent paulo ante superbos et de,/actis impiis arrogantes ita nunc humiles esse ac tremere ... Divus ergo augustus placido eos vultu intuens ait letum se esse, cum tarn claram civitatem tantumque populum Dem commonuerit, uti aliquando pacem malint quam bellum ...Ad hec Uli sum-misso vultu, supplici voce pauca pro delicto suo verba faciunt. Zu den Auseinandersetzungen vgl. zuletzt Görich, Der Herrscher als parteiischer Richter, bes. S. 283ff. eine Kirche, nahmen von dort zwei sehr große Kreuze auf die Schulter, traten vor den König und die übrigen Fürsten und warfen sich mit den Kreuzen in größter Trauer zu Füßen des Königs nieder."35 Nach lautem Wehklagen erhielt schließlich einer die Erlaubnis zu sprechen und führte Klage gegen Mailand; Otto Morena sagt ausdrücklich, daß die Benutzung der Kreuze die Fürsten beeindruckt habe, weil sie diesen Brauch nicht kannten. In Italien war so etwas jedoch üblich.36 Wie auf dem Felde der Bitten finden wir Emotionen auch auf dem weiten Feld der Drohungen, Beschimpfungen und Verwünschungen. Mit dem Verhalten der Gandersheimer Nonnen wurde ein einschlägiges Beispiel schon zitiert. Wir begegnen derartigem Verhalten fast regelmäßig am Beginn bewaffneter Konflikte. Die verbale und nonverbale Drohung, verbunden mit Beleidigung und Beschimpfung, wirkt dabei fast immer überemotionalisiert, unkontrolliert - scheinbar wird den Emotionen freier Lauf gelassen. Heinrich Fichtenau hat seine diesbezüglichen Beobachtimgen so zusammengefaßt: „Nach urtümlichem Brauch und in der Art einer Wirtshausrauferei konnte die Auseinandersetzung mit der verbalen Abwertung des Gegners und dem Lob der eigenen Qualitäten beginnen; Prahlerei und Verspottung der Feinde gab es auch vor der Schlacht. Es entsprach der Sitte, erst mit Worten die Leidenschaften anzustacheln. Dann, wenn man genügend in Stimmung war, begannen Tätlichkeiten, angekündigt von einem schrecklichen Kriegsgeschrei. Der Aggressionsstau entlud sich."37 Es ist interessant, daß Fichtenau hier zweimal darauf abhebt, daß es dem Brauch, der Sitte entsprach, Emotionen anzuheizen. Es fragt sich daher auch hier, inwieweit das auf den ersten Blick emotionalisierte Verhalten ritualisiert war. Überliefert sind etwa eine ganze Reihe überheblicher Aussprüche, die von fehlender Selbstkontrolle zu zeugen scheinen. So schickte der Herzog Hugo von Francien Otto dem Großen eine Gesandtschaft, die diesen verspottete und beleidigte: „... Hugo habe eine so große Streitmacht, wie er (Otto) sie habe, noch nie gesehen. 35 Otto Morena, a. 1155, S. 3: Statimque in quandam ecctesiam introeuntes duasque inde maximas cruces ad humeros levantes coram ipso rege ceterisque principibus adierunt et pedibus ipsius regis cum ipsis crucibus prostrati sunt rnaxime lugentes (Übersetzung nach FSGA 17a, S. 57). 36 Ebd., S.3f.: ... quod videri soliti nonfuerant ... Als Rechtsbrauch ist das Tragen von Kreuzen durch Rahewin bezeugt; vgl. Otto von Freising und Rahewin, Die Taten Friedrichs, IV, 6, S. 520:... is enim Italorum mos est, ut habentes querelas crucem manibus preferant... 37 Fichtenau, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts, Bd. 2, S. 544. 272 Rommunikation Empörung, Tränen, Zerknirschung 275 Und er rügte noch Spott hinzu, redete eitel und aufgeblasen über die Sachsen, daO sie unkriegerisch seien und daß er leicht in einem Zug sieben Speere der Sachsen verschlucken könnte."38 Dieses Gerede entspringt nicht einfach nur unkluger und unbedachter Selbstüberschätzung, die die Zunge nicht im Zaum hat, es hat eine sehr eindeutige Funktion: alle Brücken friedlicher Einigung abzubrechen und auf die Karte der bewaffneten Auseinandersetzung zu setzen. Otto der Große verstand dies offensichtlich, denn er zahlte in ähnlicher Münze zurück: „Er aber werde eine solche Menge Strohhüte haben, die er ihm zeigen müsse."39 Die sächsischen Krieger trugen in dieser Zeit Strohhüte. Wie dieser erklären sich viele solcher unkontrolliert wirkender Aussprüche von ihrer Funktion her, sie lassen dem Gegner keine Wahl mehr, wenn er nicht sein Gesicht verlieren will. Das scheinbar Unkontrollierte ist sehr zweckorientiert.40 Daher empfiehlt es sich wohl nicht, all die Drohungen, Provokationen und Beschimpfungen am Beginn mittelalterlicher Konflikte lediglich als unkontrollierte Gefühlsausbrüche unbeherrschter Krieger einzustufen, die sich in Stimmung brachten. Das gezeigte Verhalten scheint viel eher mit jenen Provokationen vergleichbar zu sein, mit denen man bis ins 20. Jahrhundert hinein andere zum Duell forderte. Auch derart provozierendes Verhallen war bekanntlich alles andere als unkontrolliert.41 Ähnliche Beobachtungen kann man im Falle vieler Gesandtschaften machen: War man mit ihren Botschaften oder Angeboten nicht einverstanden, beließ man es nicht bei einer ablehnenden Stellung- 38 Widukind von Corvey, Sachsengeschichte, III, 2, S. 104f.:... quia tanta sibi esset copia armorum, quantam hactenus rex numquam vidisset. Addidit-que contemptum vane tumideque super Saxones loquendo, quia inbelles es-sent, et quiafacile passet una potione telorum Saxonicorum septem obsorbere (Übersetzung nach FSGA 8, S.131). 39 Ebd., S. 105: Ad quod rexfamosum satis reddit responsum: sibi verofore tantam multitudinem pilleorum foeninorum, quos ei presentari oporteret... (Übersetzung nach FSGA 8, S. 15t). 411 Weitere Beispiele für solche drohenden Aussprüche bei Althoff, Kon-fliktverhalten und Rechtsbewußtsein (in diesem Band), S. 66; vergleichbare Phänomene finden sich in späteren Jahrhunderten auch in anderen sozialen Zusammenhängen, vgl. etwa Walz, Agonale Kommunikation im Dorf der frühen Neuzeit; Toch, Schimpfwörter im Dorf des Spätmitteialters; vgl. auch den instruktiven Überblick über das einschlägige Forschungsfeld bei Schreiner/Schwerhoff, Verletzte Ehre - Überlegungen zu einem Forschungskonzept. 41 Vgl. dazu Frevert, Ehrenmänner. nähme.*2 Die Gesandten wurden vielmehr beschimpft, verwünscht, unter Umständen sogar mißhandelt und unehrenhaft fortgejagt. Der Konflikt wurde so unvermeidlich. In ähnlicher Weise ließ man seine Wut auch an Briefen aus, deren Inhalt nicht genehm war; man zerriß sie, stampfte auf ihnen herum und beschimpfte den Überbringer oder warf ihn sogar ins Gefängnis.43 Als Beispiel sei eine dramatische Verhandlung zitiert, von der Gregor von Tours berichtet. Sie führte Abgesandte des Merowingerkönigs Childebert, bestehend aus Bischöfen und Großen, und seinem Onkel, König Gun-thram, zusammen. Man blieb sich in Provokation und Gegenprovokation nichts schuldig, wie die abschließenden Worte eines der Gesandten beweisen: „Weil du aber die Städte deiner Neffen nicht ausliefern willst, so wissen wir, noch ist die Axt vorhanden, die deiner Brüder Köpfe spaltete. Alsbald wird sie dich treffen und dir das Gehirn spalten."44 Wer jetzt eine direkte emotionale Reaktion des Königs erwartet, die der drastischen Drohung angemessen war, dürfte enttäuscht werden. Gregor erzählt weiter: „So gingen sie mit Ärgernis fort. Der König aber geriet durch diese Worte in Zorn und 42 Vgl. hierzu allg. Menzel, Deutsches Gesandtschaftswesen, bes. S. 189 ff., der jedoch den demonstrativen Charakter der Behandlung von Gesandten nicht thematisiert; vgl. allgemein schon Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 5, S. 631-37, S. 449 und Bd. 4, S. 24 und 59. 43 Eine diesbezügliche Geschichte erzählt etwa ein Brief der Sachsen an eine römische Synode des Jahres 1077, den Bruno in sein Buch vom Sachsenkrieg, cap. 112, S. 101 ff., hier S. 102, inserierte: Heinrich IV. habe die Überbringer von Briefen des päpsüichen Legaten Bernhard teils in Haft genommen, teils geschunden und geschoren. Den Brief anzuhören oder in Empfang zu nehmen habe er sich geweigert: Quarum litterarum Mores cum appropiarent ad cum, a suis fautoribus capti, quidam in custodiam missi sunt, quoad usque pecunia redimerentur, alii vero excoriati ac decapillati sunt. ... Utteras vero porrectas accipere recusavit. Fälle, in denen Empfänger ihre Empörung über den Inhalt von Briefen an den Schreiben selbst ausließen, bieten etwa Balderich, Gesta Alberonis, cap. 18, S.255: Quas cum domino archiepiscopo in sinodo residenti obtulissent, ipse ex animi commo-tione ipsas in terram deiecit. Wolfher, Vita Godehardi, cap. 29, S. 189: Ipsae autem carta perlecta, et pastoris sui legatione percepta, cunctaque sacri or-dinis lege contempta, cartas inspiciente legato disciderunt. Ulrike Kleffmann arbeitet an einer Dissertation, die dergestalt demonstratives Verhalten und seine Ausdrucksformen im 11. und 12. Jahrhundert untersucht. 44 Gregor von Tours, Zehn Bücher Geschichten, VII, 14. S. 356: Nam quia reddere noluisti civitatis nepotis tui, scimm, salvám esse securem, quae fra~ trum tuorum capitibus est defixa. Celerius tuum libravit defixa cerebrum (Übersetzung nach FSGA 3, S. 109). 274 Kommunikation Empörung, Tränen, Zerknirschung 275 ließ ihnen beim Weggehen Pferdemist, faule Holzspäne, Spreu und vermodertes Heu, ja sogar stinkenden Straßenkot auf den Kopf werfen. Hierdurch übel zugerichtet zogen sie mit unendlichem Schimpf und unermeßlicher Schande von dannen."45 Nicht anders erging es auch noch einem Gesandten Friedrich Barbarossas, der 1153 einen Brief Barbarossas in Mailand überbrachte: „Nachdem die Konsuln öffentlich und in allgemeiner Versammlung den Brief gelesen hatten, warfen sie, ganz erregt vor Zorn und Wut, vor den Augen Sichers und aller anderen den Brief mitsamt dem Siegel auf den Boden und zerknüllten und zertraten ihn mit ihren Füßen. Außerdem stürzten sie einmütig auf Sicher los, der nur entkommen konnte, indem er entfloh und sich verbarg."46 Diese Reaktionen waren nicht einfach spontan, sie waren demonstrativ, stellten die Gesandten in der Öffentlichkeit bloß und brachen so alle Brücken der Verständigung ab. Sie sind mit anderen Worten sehr auf Wirkung angelegt, die eine nutzte ein bekanntes Ritual der Entehrung.47 Solche scheinbar dem emotionalen Bereich „Empörung" zugeordnete Verhaltensformen beobachtet man bei vielen Gelegenheiten. Sie haben die Funktion, Rechtsstandpunkt und Konfliktbereitschaft demonstrativ anzuzeigen. Mönche des Klosters Lorsch wie des Klosters Fleury empfingen neue Klosterherren, mit denen sie nicht einverstanden waren, indem sie deren Abgesandte teils wüst schmähten, teils die Ankommenden von den Dächern mit Ziegeln und Steinen bewarfen.48 Vergleichbares taten Klerus und Volk von 45 Ebd.: Et sie cum scandalum discesserunt. Tunc rex his verbis succensus, iussit super capita euntium proici aequarum stercora, putrefactas astulas, paleas ac faenum putridine dissolutum ipsumque foetidum urbis lutum. Qui-bus de rebus maculati graviter, non sine inmensa iniuria adque contumilia abierunt (Übersetzung nach FSGA 3, S. 109); siehe auch Dinges, Ehrenhändel, S. 375 f. 46 Otto Morena, a. 1153, S. 9: Consules vero palam et in communi celu lit-teris ipsis perlectis valde im et furore commoti ipso Sicherio aliisque omnibus videnübus ipsas litteras pariter cum ipsarum sigillo in terram proiecerunt ac pedibus suis fregerunt atque conculeaverunt. Insuper etiam super ipsum Si-cherium omnibus unanimiter irruentibus, ipse fitgiendo se abscondens vix evadit (Übersetzung nach FSGA 17a, S. 43). " Vgl. dazu allg. Hinrichs, ,Charivari'; Scharfe, Zum Rügebrauch; Le Goff/Schmitt (Hrsg.), Le Charivari; Schwerhoff, Verordnete Schande?; vgl. auch die Literaturangaben bei Brückner, Art. Ehrenstrafen, in: HRG, Bd. 1, Sp. 851 ff. Zu dem vergleichbaren Brauch der maledictio vgl. Little, Benedic-tine Maledictions. 4* Zu Lorsch vgl. den Bericht Lantperts von Hersfeld, Annalen, a. 1063, Köln, um die Wahl eines ihnen nicht genehmen Bischof zu verhindern: „Auch Klerus und Volk von Köln war zur Wahl eines Bischofs in großer Zahl erschienen. Ihnen schlug der König einen gewissen Hildo» vor, einen Goslarer Kanonicus, und drang nachdrücklich darauf, daß sie ihn wählten. Doch sie widersetzten sich dem mit aller Kraft, indem sie gegen ihn einwendeten, er sei ein kleines Männchen mit einem abstoßenden Gesicht und von niederer Herkunft und habe weder an geistigen noch an körperlichen Vorzügen irgend etwas aufzuweisen, was ihn eines solchen geistlichen Amtes würdig machte. Die Empörung über dieses Verfahren erregte am ganzen königlichen Hof solchen Haß gegen ihn, daß ihm ade, sobald er sich in der Öffentlichkeit zeigte, wie einem antiken Ungeheuer mit schmähenden Zurufen und Spottliedern zusetzten und ihn mit Steinen und Schmutz oder was den Wütenden sonst gerade in die Hände kam, bewarfen."49 Um die Interpretation in einem Satz zu geben: Auch hier werden keine überbordenden Emotionen geschildert, sondern Rügebräuche, wie wir sie deutlicher erst in den Jahrhunderten der frühen Neuzeit fassen können.50 Man zeigt die Empörung über falsches Verhalten, indem man den oder die Betroffenen auf die verschiedenen Weisen entehrte. So etwas konnte auch Könige treffen, wie der Fall des Merowin-gerkönigs Chlothachar zeigt, der seinem Heer einen Kriegszug gegen die Sachsen mit den Worten verweigerte: ,„Wir haben keine gerechte Sache; geht nicht in einen Krieg, in dem ihr euch zugrunde richtet. Wollt ihr aber doch ziehen, so werde ich euch freiwillig nicht folgen.' Darauf erhoben sich jene wütend gegen König Cloth- S.90, sowie Meyer von Knonau, Heinrich IV. und Heinrich V., Bd. 1, S.482f. Zu Fleury vgl. Sackur, Die Cluniacenser, Bd. 1, S. 90. 49 Lantpert von Hersfeld, Annalen, a. 1076, S. 251: Coloniensis etiam clerus et populus ad eligendum sibi antistitem frequens conßuxerat. Quibus rexHil-dolfurn quendam Goslariensem canonicum oß'erebat atque, ut eligerent, dedi-ta opera insistebat. Uli contra summa ope nitebantur, obicientes, quod komo statura pusillus, vultu despicabilis, genere obscurus, nec animi nec corporis virtutibus quiequam tanto sacerdocio dignum pretenderet. linde indignitate rei tanta in eum concitata sunt omnium qui in curte regia erant odia, ut, sieubi in publico apparuisset, omnes eum tamquam aliquod antiquitatis mon-strum inconditis clamoribus et canticis perurgerent lapidesque in eum et pul-verem, vel quodeumque aliud fiirentibus casus optulisset, iactarent (Übersetzung nach FSGA 13, S.343). 50 Anders Vollrath, Erzbischof Hildolf von Köln, S.260 und 274 f., die die Funktion des entehrenden Rituals nicht erkannte. Zu den Rügebräuchen vgl. Kramer, Art. Rügebräuche, in: HRG, Bd. 4, Sp. 1198 ff., und die Literaturhinweise in Anm. 47. 276 Rommunikation Empörung, Tränen, Zerknirschung 277 achar, zerrissen sein Zelt, verfolgten ihn mit Schmähungen, ergriffen ihn mit Gewalt und wollten ihn töten, wenn er noch länger zögerte, mit ihnen zu ziehen. Als dies Clothachar sah, zog er unwillig mit ihnen."51 Das Zerreißen des Zeltes und die Beschimpfungen reihen sich in viele vergleichbare Drohgebärden ein, die den Gegner unmißverständlich auf den Ernst der Lage und die Notwendigkeit des Einlenkens hinweisen. Diesem Zweck diente auch ein auf den ersten Blick ungewöhnliches Verhalten, das der Einsiedler-Abt Romuald gegenüber Otto III. an den Tag legte, als der ihm gegen seinen Willen die Leitung einer Abtei übertragen hatte. Als er merkte, daß die ihm anvertrauten Mönche zur Erfüllung seiner strengen Vorstellungen nicht bereit waren, gab er die Aufgabe zurück, indem er dem Kaiser den Abtsstab vor die Füße warf.52 Immer wieder stößt man also auf den gleichen Befund, die Emotionen haben zumindest auch, wahrscheinlich in erster Linie, Zei-ehencharakter - sie transportieren Botschaften. Es sind ritualisierte Verhaltensweisen, bei denen ein Extrem das andere deshalb schnell ablösen kann. Ist der Zweck erfüllt, legt sich die rituell gezeigte Emotion eben schneller als eine echte. Neben den Emotionen, die Empörung, Zorn, Ablehnung, Kon-fliktbereitschaft auf der einen, Zerknirschung, Reue, Umkehr auf der anderen Seite signalisieren, begegnen uns in der Öffentlichen Kommunikation aber auch solche, die Zustimmung, Freude, Einverständnis auf sehr demonstrative Weise zum Ausdruck bringen sollen. Jubel brandete etwa auf, wenn der populus rituell seine Zustimmung zur Wahl eines neuen Königs zum Ausdruck brachte -die berühmte Akklamation, die im Lexikon des Mittelalters ganz richtig definiert wird als „spontan wirkende, rhythmisch formulierte und sprechchorartig vorgetragene Zurufe der Volksmenge. Sie 31 Gregor von Tours, Zehn Bücher Geschichten, IV, 14, S. 146:'... Verbum enim derictum non habemus; nolite ad bellum ire, in quo disperdamini. Tarnen si abire volueritis, spontania voluntale ego non sequar.' Ihne Uli ira commoti contra Chlotharium regem, super tum inruunt, et scindentes tenturi-um eins ipsumque convitiis exasperantes ac vi detrahentes, interßeere volue-runt, si cum Ulis abire deferret. Haec videns Chlotharius, invitus abiit cum eis (Übersetzung nach FSGA 2, S. 213/215). 52 Petrus Damiani, Vita Romualdi, cap. 23, S.49: Romualdus itaque videns et suatn perfectionem aliquatenus rninui et illorum mores proelivius in dete-riora converti, regem impiger adiit, et eo non teviter reluctante, una cum archiepiscopo Ravennate, in utriusque conspectu virgam proiecit et monaste-rium dimisit. erfährt Verstärkung durch Wiederholung und begleitende Gesten."53 Rituell wird hier Spontaneität zum Ausdruck gebracht. Mit einem Beispiel sei angedeutet, wie so etwas im konkreten Einzelfall instrumentalisiert werden konnte. Bei der Königswahl Lothars von Supplinburg versuchten ungenannte Kräfte, eine Entscheidung durch vorzeitige Akklamation herbeizuführen. Die Nar-ratio de elecüone Lotharii schildert das Geschehen wie folgt: .....die Fürsten wurden aufgefordert, sorgfältig in gemeinsamen Rate den Mann zu suchen, den sie mit Gott und zur Ehre der Kirche an die höchste Stelle des Reiches stellen könnten. Auf einmal riefen viele Laien: Lothar soll König sein! Sie ergreifen ihn, setzen ihn auf ihre Schultern und heben ihn hoch, während er sich gegen den Königsruf sträubt und wehrt. Viele Fürsten, vor allem die bayerischen Bischöfe, zürnten aber, daß man das große Werk ohne gehörigen Rat und so tumultuarisch tue ... Denn drinnen trugen die einen ihren König unter gewaltigem Lärm herum, andere aber drängten von draußen unter lautem Geschrei herein, um den König, den sie noch gar nicht kannten, zu preisen."54 Auch hier könnte es auf den ersten Blick so scheinen, als sei das Geschehen von überbordender Emotionalität geprägt. Wahrscheinlich ist jedoch, daß hier die spontan wirkenden Formen akklama-torischer Zustimmung sehr rational zur Unzeit benutzt wurden, um vollendete Tatsachen zu schaffen, was im übrigen ohne Erfolg blieb. Jubel und überschäumende Freude waren Elemente, die auch zu jedem Herrscherempfang in Bischofsstadt oder Kloster gehörten. Vielfältige Forschung hat gezeigt, wie nahtlos scheinbar emotionale und spontane Äußerungen des Volkes in das Zeremoniell des Herr-scher-Adventus integriert waren.55 53 Langgärtner/May, Art. Akklamation, in: LexMA, Bd. 1, Sp. 251 f. 54 Narratio de elecüone Lotharii, cap.4f., S.511: ... prineipes admoneren-tur ut communicato consilio diligenti ratione personam quererent, quam, se-cundum Deum et honorem ecclesiae regno perficerent, subito a iaicis quam pluribus: Lotharius rex sit! clamor exoritur, Lotharius rapitur, Lotharius hu-meris imponitur, et regiis laudibus renitens ac reclamans extollitur. Prineipes i>ero quam plurimi maximeque Bawaricae provinciae episcopi rem tantam inconsulte et inpetuosefactam abhorrentes ... Luis regem suum deintus con-crepando circumferentibus, Ulis ad laudem regis quem ignorabant deforis cum summo clamore currentibus (Übersetzung nach Geschichte in Quellen, Bd. 2, S. 378 f.); zur Forschungsdiskussion um diese Königs wähl vgl. Schmidt, Königswahl und Thronfolge, S. 46 ff. 55 Vgl. dazu die Hinweise von Kölzer, Art. Adventus regis, in: LexMA, Bd. 1, Sp. 170f.; vgl. zu den vielfältigen Ausdrucksformen von Begrüßung wie Abschied jetzt Fuhrmann, Willkommen und Abschied, mit vielen weiteren Hin-weisen. 278 Kommunikation Empörung, Tränen, Zerknirschung 279 Auch die Traurigkeit hatte in diesem System eine wichtige Funktion: Tristitia oder gar tristitia magna, öffentlich gezeigt, signalisierte eine Trübung von Beziehungen, hatte die Funktion einer ernsten Warnung, die ausgesandt wurde, bevor man sich entfernte und zu den Waffen griff.56 Konkretisiert wurde sie durch die Verweigerung jener heiter-leutseligen Stimmung, mit der sich die Mitglieder einer Gruppe gegenseitig den guten Zustand ihrer Beziehungen testierten. Wenn jemand in solcher Situation nicht sprach, nicht lachte, gar das Essen verweigerte und stumm die Tischplatte mit dem Fingernagel zerkratzte, dann sandte er in der Tat unmißverständliche Signale aus. Das gerade zitierte Verhalten soll Heinrich IV. beim Versöhnungsmahl in Canossa an den Tag gelegt haben.57 Wirkungsvoller konnte man ihm nicht vorwerfen, er habe es an Friedensbereitschaft fehlen lassen. Er hatte es ja selbst unmißverständlich zum Ausdruck gebracht. Der Streifzug durch Szenen vermeintlich aufgeladener Emotiona-lität sei hier abgebrochen, da eine Einordnung der Beobachtungen wichtig ist. Es sollte deutlich geworden sein, daß die Emotionen in den geschilderten Fällen Zeichen waren und Funktionen hatten. Es handelte sich um Verhaltensmuster, die in bestimmten Situationen formelhaft verwendet wurden. Die gezeigten Emotionen unterstrichen die Ernsthaftigkeit des Vorgangs; es waren verbindliche Absichtserklärungen sei es der Konflikt-, sei es der Friedensbereitschaft. Bestimmte Emotionen gehörten zu bestimmten Vorgängen wie die entsprechende Kleidung, wie die entsprechende Sprache der Gesten und Gebärden. Mit all diesen Einschätzungen dürfte deutlich sein, daß sie alles andere als unkontrolliert, irrational, grobschlächtig oder von ungezügelter Direktheit waren. Vielmehr waren sie wichtiger Bestandteil des Kommunikationsstils dieser Zeit - der insgesamt mehr durch Demonstration geprägt wurde als durch Argumentation. So wie die Zahl der Begleiter, ihre Ausrüstung und ihre Waffen viel bzw. alles über den Rang des Herrn aussagten;58 so wie die Rituale der Begrüßung dem Verständigen die 56 Vgl. dazu Althoff, Königsherrschaft und Konfliktbewältigung (in diesem Band), S.2öf.; grundsätzlich zur Bedeutung solcher Zeichen für die mittelalterliche Kommunikation bereits Fichtenau, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts, Bd. 1, S.48ff. " Überliefert ist es bei Ranger von Lucca, Vita metrica S. Anselmi, V, 3207f., S. Í224; vgl. dazu Althoff, Der frieden-, bündnis- und gemeinschafts-stiftende Charakter des Mahles, S. 13ff. 58 Vgl. dazu Kalifelz, Das Standesethos des Adels, S. 21 ff.; Fichtenau, Le- Rangordnung der Anwesenden verdeutlichte59 oder wie die huldvolle Geste oder ein Lächeln über die familiaritas oder die Freundschaft von Personen informierte,69 so transportierten auch die gezeigten Emotionen Botschaften - und zwar solche sehr zweckrationalen Charakters. Die Beschreibung dieses Kommunikationsstiis bliebe aber unvollständig, wenn nicht auch die Frage angegangen würde, warum er sich so und nicht anders entwickelte, inwieweit er sich aus spezifischen Bedürfnissen und Eigenarten der mittelalterlichen Gesellschaft erklärt. Hierzu wird man folgendes hervorheben: Die mittelalterliche Gesellschaft war eine extrem ranggeordnete und rangbewußte Gesellschaft. Der honor einer Person, die Summe aus Rang, Stellung, Besitz und Ehre ist ein Zentral begriff für das Verständnis dieser Ordnung. Ihn zu achten, war eine fundamentale Voraussetzung jedweder Interaktion namentlich in der Öffentlichkeit.61 Genau diesem Zweck waren eine Fülle von Handlungen verpflichtet, die wir unter den Begriffen Ritual, Zeremoniell oder auch Repräsentation zu verstehen versuchen.62 Viele dieser Interaktionen stellten Selbstvergewisserungen der Beteiligten dar, ob die bestehende Rangordnung noch von allen anerkannt wurde. Huldigung, Investitur, höfisches Fest und Hoftag und die in diesem Zusammenhang begegnenden demonstrativen Akte sind aus dieser Perspektive der bensordnungen des 10. Jahrhunderts, Bd. 1, S. 11 ff. und S.92ff.; zur Rangordnung unter Bischöfen vgl. Zotz, Pallium. 59 Vgl. dazu die Hinweise bei Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 299 ff. 60 Beispiele für Zeichen der Huld und der familiaritas bei Althoff, Huld (in diesem Band), S.215ff. - Die in diesem Beitrag vorgenommene Interpretation der Emotionen als Zeichen schließt an Theorien und Untersuchungen der Semiotik an, wie sie von verschiedenen Disziplinen zunehmend intensiver genutzt werden, vgl. dazu Trabant, Zeichen des Menschen; Schmid (Hrsg.), Die Zeichen der Historie; Evans, Medieval studies and semiotics. 61 Zu Recht ist der Begriff Ehre in das Werk Geschichtliche Grundbegriffe aufgenommen worden (vgl. Zunkel, Art. Ehre, in: Bd. 2, S. 1-63); doch wie nicht selten in diesem Standardwerk gilt der Bedeutung des Begriffs in den mittelalterlichen Jahrhunderten eher wenig Aufmerksamkeit. Zum Stellenwert vgl. etwa Rassow, Honor imperii, bes. S. 54ff., der jedoch den Inhalt des Begriffes nicht grundsätzlich diskutiert; Stürner, ,Salvo debito honore et reverentia', S. 18 f. Aug. und für andere Epochen und Kulturen vgl. jetzt Vogt/Zingerle (Hrsg.), Ehre; Schiffauer, Die Gewalt der Ehre. K Zum Verständnis solcher Vorgänge scheinen Einsichten von Nachbardisziplinen hilfreich, vgl. etwa die Angaben in Anm. 13; Wiedenmann, Ritual und Sinntransformation. 280 Kommunikation Empörung, Tränen, Zerknirschung 281 Selbstvergewisserung besser verständlich.63 Wer teilnahm, anerkannte die Ordnung des Verbandes und verpflichtete sich damit zur Einhaltung und Bewahrung dieser Ordnung in der Zukunft. Gewiß stärkte die feierliche Form, in der solche Anerkennung gemeinschaftlich vollzogen wurde, das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit zusätzlich. Auf diese Weise versicherte man sich aber nicht nur ungetrübter Beziehungen, man signalisierte auch Probleme, drohende Verschlechterungen, Bruch des Konsenses. Und durch solche frühzeitigen Signale setzte man die Mechanismen in Gang, die die Gesellschaft des Mittelalters besaß, um Probleme und Konflikte zu entschärfen bzw. zu vermeiden. Wichtig war die Eindeutigkeit solcher Zeichen und Verhaltensweisen nonverbaler Art - und hierfür sorgten die emotionalen Ausdrucksformen; sie bewirkten genau die geforderte Unmißverständlichkeit. Da sie eben gerade nicht unkontrolliert waren, erlaubten sie ein entsprechendes Eingehen auf die Botschaft, etwa ein Einlenken im drohenden Konfliktfall. Mit der Benutzung solcher Zeichen und Signale kompensierten die Ordnungen des Mittelalters eine Schwäche ihrer öffentlichen Kommunikation. Zu einer kontroversen Diskussion, zu verbalem Ringen um eine Entscheidung war man nicht fähig, da der honor der Personen keinen öffentlichen Widerspruch ertrug, er wurde als Beleidigung aufgefaßt.64 Ersatz für den weitgehenden Verzicht auf verbales Argumentieren in der öffentlichen Kommunikation holen in gewisser Weise die unterschiedlichen „Windstärken" der emotionalen Äußerungen: Sie ermöglichten es, politische Positionen durchaus differenziert zum Ausdruck zu bringen und dem Gegenüber sehr konkrete Informationen zukommen zu lassen, wenn er die Sprache der Emotionen zu verstehen imstande war. So trugen Signale aus dem Arsenal emotionaler Ausdrucksformen eher zur Stabilisierung als zur DeStabilisierung mittelalterlicher Ordnungen bei, denn sie wurden so rational aufgenommen und verstanden wie sie ausgesandt wurden. Nur eine Frage noch zum Abschluß: Benutzen wir eigentlich in unserer öffentlichen Kommunikation noch dieses Zeichenpotential 63 Das bei solchen und anderen Anlässen gezeigte Verhalten bedeutete eine verbindliche Absichtserklärung für zukünftiges Verhaften, die teilnehmende Öffentlichkeit wurde so gewissermaßen zum Zeugen eines Rechtsaktes. 64 Vgl. hierzu bereits Althoff, Coüoquium familiäre (in diesem Band), bes. S. 167ff. der Emotionen? Setzen wir mit anderen Worten Emotionen noch zweckrationa! ein? Sicher nicht in gleicher Weise wie im Mittelalter. Zu konstatieren ist vielmehr ein tiefgreifender Wandel, der seinen Beginn und seine Ursachen in der Kultivierung individuellen Gefühlslebens im 18. Jahrhundert gehabt haben dürfte.65 Die steigende Wertschätzung der Emotionalität bedingte die negative Bewertung ihrer Instrumentalisierung als Zeichen. Folgerichtig traten Emotionen als Zeichen in der öffentlichen Kommunikation zurück. Öffentliche Emotionen haben heute wohl nur dann - wenn überhaupt - eine Chance akzeptiert zu werden, wenn sie als echte aufgefaßt werden. Doch ist die Grenze zwischen echt und aufgeführt gewiß schwer zu erkennen und dürfte heute wie im Mittelalter häufig auch fließend sein. Ein aktuelles Beispiel für diesen Sachverhalt bot etwa die Rede Oskar Lafontaines auf dem Mannheimer SPD-Parteitag 1995. Lafontaine zeigte Emotionen und er erntete Emotionen. Fast folgerichtig spielte der sachliche Gehalt der Rede bei der späteren Analyse in den Medien eine geringere Rolle als die Frage: War das Ganze eine Inszenierung oder ein abgekartetes Spiel; waren folglich auch die Emotionen aufgeführt und damit alles andere als spontan und echt?66 Eins ist jedoch klar: Den Inszenierungscharakter einzugestehen hätte in diesem wie in anderen Fällen erhebliche - und negative - Folgen gehabt. Heute setzt man Emotionen nicht mehr ein, man wird von ihnen allenfalls überwältigt. Ob sich allerdings alle und immer an diese Regel halten, darf bezweifelt werden.67 Diese Differenzierung zwischen echt und aufgeführt aber war dem Mittelalter noch fremd. Doch wäre es gewiß ein anachronistisches Urteil, den Agierenden auf den politischen Bühnen des Mittelalters die Aufführung der Emotionen zu verübeln und sie mit dem Hinweis auf fehlende Echtheit zu kritisieren. 65 Vgl. dazu Emmel, Art. "Empfindsamkeit", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.2, Sp.455f.; Luhmann, Liebe als Passion, S. 123ff.; Vin-cent-Buffault, Histoire des larmes. 66 Vgl. hierzu Meyer, Die Inszenierung des Scheins, dort S. 13f., das Beispiel des Niederkniens von Willy Brandt in Warschau, bei dem gleichfalls die Frage: spontane Handlung oder Inszenierung wichtig war. Andere Beispiele Meyers beweisen die Dominanz der Inszenierung auf diesem Feld. 67 Hierauf weisen nachdrücklich bekannte umgangssprachliche Wendungen hin wie „Führe dich nicht so aufi" oder „Sei nicht so theatralisch!".